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Das Höllenloch
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Das Höllenloch

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"Das Höllenloch" ist der erste Band eines zweiteiligen Romans von Alexandre DUMAS, dem Älteren, der in den Jahren 1850 und 1851, mit dem Titel "Dieu dispose" (Gott lenkt), zum ersten Mal als Feuilleton-Roman in der Zeitschrift "L'Événement" erschienen ist. Der Roman erzählt die äußerst düstere Geschichte zweier ungleicher Brüder in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zur Zeit der deutschen Befreiungskriege. Der vorliegende erste Band spielt integral in Heidelberg und Umgebung. Die Geschichte erfährt gegen Ende des Bandes ein tragisches, wenn auch provisorisches Ende. Im zweiten Band wird sie, fünfzehn Jahre später, in Paris wieder aufgenommen und dort auch zu Ende geführt. Über die eigentliche Intrige hinaus, interessiert im ersten Band besonders Dumas' Beschreibung der Sitten und Gebräuche an der Universität, die er schon in seinen Reiseberichten beschrieben hatte und die er hier voll in den Erzählstrang mit einfließen lässt. Mit der vorliegenden Übersetzung möchten die Herausgeber besonders diesen Aspekt des wenig bekannten Romans, nicht ohne ein gewisses Augenzwinkern, in Erinnerung rufen. Aus diesem Grunde findet der Leser im Anhang zusätzlich zum Roman, die Übersetzung jener Teile aus den Reise-Impressionen Dumas', die das studentische Leben in Heidelberg betreffen.
LanguageDeutsch
Release dateDec 19, 2021
ISBN9783755788232
Das Höllenloch
Author

Alexandre Dumas

Alexandre Dumas (1802-1870) was a prolific French writer who is best known for his ever-popular classic novels The Count of Monte Cristo and The Three Musketeers.

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    Das Höllenloch - Alexandre Dumas

    INHALTSVERZEICHNIS

    Vorwort

    TEILI DAS HÖLLENLOCH

    1 Ein Lied im Gewitter

    2 Was da erschienen war

    3 Morgen im Mai - Tag der Jugend

    4 Fünf Stunden in fünf Minuten

    5 Blumen und Pflanzen misstrauen Samuel

    6 Vom Vergnügen zum Getöse, die sich, für manche, widerstreiten

    7 Fuchscommerz

    8 Wo Samuel fast erstaunte

    9 Wo Samuel fast gerührt ist

    10 Das Spiel von Leben und Tod

    11 Credo in Hominem ...

    12 Der Leibfuchs

    13 Lolotte

    14 Duell mit Wein

    15 Triumph eines Tropfens über acht Eimer Wasser

    16 Duell zu viert

    17 Engelsgebet, Feen-Glücksbringer

    18 Zwei Arten, die Liebe zu betrachten

    19 Die Nonne der Wälder

    20 Das Höllenloch

    21 Die gelehrten Blumen

    22 Drei Wunden

    23 Beginn der Feindseligkeiten

    24 Der Tugendbund

    25 Überraschungssieg

    TEIL II DAS DOPPELTE SCHLOSS

    26 Improvisation in Stein

    27 Für wen das Schloss gebaut wurde

    28 Gegen wen das Schloss gebaut wurde

    29 Der Feind vor Ort

    30 Samuel als Arzt

    31 Wer dieses Schloss gebaut hat

    32 Beleidigung der Pflanzen und des Kindes

    33 Die Frage ist gestellt

    34 Zwei Versprechen

    35 Das doppelte Schloss

    36 Die Höhle des Löwen

    37 Der Liebestrank

    38 Trichters Herz- und Geldleiden

    39 Was konnte er schon gegen drei ausrichten!

    40 Der Verruf

    41 Die Vorsicht der Schlange und die Kraft des Löwen

    42 Fluch und Umzug

    43 Mysterium einer Nacht und einer Seele

    44 Mit dem Verbrechen darf man nicht spielen.

    45 Christiane hat Angst

    46 Gaudeamus igitur

    47 Der Bürgermeister Pfaffendorf

    48 Punsch im Wald

    49 Programme, die nicht lügen

    50 Wo Trichter und Fresswanst den Höhepunkt erreichen

    51 Ein Feuerwerk in mehrerer Hinsicht

    52 Generalprobe

    53 Die Räuber

    54 Manchmal fehlt es der Tugend an Geschick

    55 Wo die Fatalität ihren Lauf nimmt

    56 Alles hat seinen Preis

    57 Frau und Mutter

    58 Die Nacht des Abschieds

    59 Klingelzeichen

    60 Das Schicksal hilft Samuel

    61 Der Krupp

    62 Die Versuchung der Mutter

    63 Die andere Hälfte des Unglücks

    64 Die Frage

    65 Napoleon und Deutschland

    66 Samuel will Josua nachahmen80

    67 Die Zange des Schmerzes

    68 Trichter trunken vor Angst

    69 Das Gift

    70 Wo Samuel erblasst

    71 Selbstmord und Neugeburt

    72 Die Straße nach Paris

    73 Das Höllenloch

    ANHANG

    Anmerkungen

    Sitten und Gebräuche deutscher Studenten

    Die Universitäten Deutschlands

    Reisen an die Ufer des Rheins

    Vorwort

    Dieses Buch ist die deutsche Übersetzung des ersten Bandes eines wenig bekannten Romans von Alexandre Dumas. Der Roman wurde ursprünglich in der Zeitschrift l’Événement, in Form eines vierteiligen Feuilleton-Romans mit dem Titel Dieu dispose abgedruckt.¹ Der erste Teil, mit Namen Prologue, Le Trou de l’Enfer, erschien in der Ausgabe vom 28. Juni 1850. Ein Jahr später, nach insgesamt 137 Kapiteln, wurde der Roman in der Ausgabe vom 16. Juni 1851 abgeschlossen. Schon im Dezember 1850 wurden die ersten beiden Teile des Romans in Buchform veröffentlicht und mit dem Titel Le Trou de l’Enfer (»Das Höllenloch«) in der Bibliographie de France eingetragen. Die beiden letzten Teile folgten im Januar 1851 in einem zweiten Band mit dem Titel Dieu dispose (»Gott lenkt«). Diese Vorgehensweise bewirkte, dass ein an sich zusammenhängender Roman plötzlich zwei verschiedene Titel trug, eine Untugend, die auch in den folgenden Jahren immer wieder wiederholt wurde und für Verwirrung sorgte. Allerdings unterscheiden sich die zwei Bände sowohl örtlich als auch zeitlich voneinander. So spielt Band I in den Jahren 1810-1811 in Heidelberg und Umgebung und schließt ab mit einem tragischen, aber offenen und provisorischen Ende der Erzählung. Band II nimmt die Erzählung im Paris der 1830er Jahre wieder auf und führt sie zu Ende. Thematisch stehen im ersten Band die Intrigen des Hauptprotagonisten Samuel Gelb, unter Einbezug der Heidelberger Studentenschaft im Vordergrund, während im zweiten Band die deutschen Freiheitskämpfe und die 1829er Revolte gegen Karl X eine größere Rolle spielen.

    Die Idee, den Roman vom Französischen ins Deutsche zu übersetzen, kam uns, Anfang 2021, anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Heidelberg Alumni International. Wie schon vermerkt, spielt der erste Band in Heidelberg und Umgebung. Die Universität, mit ihren Studenten, ihren Sitten und Gebräuchen am Anfang des 19. Jahrhunderts, nimmt eine große Rolle ein. Dazu der historische Kontext, mit den deutschen Freiheitsbewegungen gegen Napoleon, sowie die literarische Einbettung der Erzählung in die deutsche Romantik, alles Gründe, die uns das Buch für eine Übersetzung ins Deutsche interessant erscheinen ließen. Soweit wir feststellen konnten, gab es zu diesem Zeitpunkt keine deutsche Ausgabe auf dem Markt. Nachdem wir unsere Rohübersetzung schon zu Ende gebracht hatten, stießen wir allerdings auf eine integrale deutsche Übersetzung des Romans aus dem Jahre 1850, mit dem Titel »Gott lenkt«². Der deutsche Übersetzer, W. L. Wesché, lebte seit 1842 in Paris, kannte Dumas und hat viele seiner Werke ins Deutsche übersetzt. Seine Übersetzung ist insofern von besonderem Interesse, als sie fast zeitgleich mit der Erscheinung des Originals veröffentlicht wurde und, anders als das französische Original, in einem einzigen Buch zusammengefasst wurde.

    Für die vorliegende Veröffentlichung haben wir uns, wie seinerzeit bei der Erstveröffentlichung in Buchform, für eine Herausgabe in zwei Bänden entschieden. Dieser erste Band beschränkt sich demnach auf die ersten beiden Teile des Romans, Le Trou de l’Enfer (»Das Höllenloch«) und Le Château double (»Das doppelte Schloss«). Wie auch bei anderen Veröffentlichungen gibt das erste Kapitel dem Band den Namen: »Das Höllenloch«.

    Für die Übersetzung benutzten wir den Original-Text der o. g. Feuilleton-Ausgabe sowie verschiedene elektronische Versionen des französischen Originaltextes, die, frei zugänglich, im Internet³ zur Verfügung gestellt werden. Daneben nutzten wir eine, 2008 bei Phébus erschienene, von Claude Schopp⁴ sachkundig zusammengestellte und mit zahlreichen Fußnoten und Kommentaren versehene Druckversion.

    Für die Illustrationen ließen wir uns von den sehr schönen Zeichnungen von J. A. Beaucé und Lancelot, in einer Version des Romans aus dem Jahre 1860, inspirieren.


    ¹ Ausgaben der Zeitschrift vom 28. Juni 1850 bis 16. Juni 1951 (Cf. https://www.retronews.fr/titre-de-presse/evenement-1848-1851)

    ² Leipzig, 1850/1851, Verlag Christian Ernst Kollmann, Wien, bei Wittenecher, Sigel und Kollmann.Vgl Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Ludwig_Wesché

    ³ z. Bsp.: https://www.dumaspere.com, https://www.ebooksgratuits.com/

    ⁴ Dumas, Alexandre, Le Trou de l’Enfer, Dieu dispose, Hrsg. Schopp, Claude, Phébus libretto, 2008

    ⁵ Dumas, Alexandre, Le trou de l’enfer, publiziert von Dufour et Mulat, Lécrivain et Toubon, Librairies, 1860 (digitized by Google)

    TEIL I

    DAS HÖLLENLOCH

    1

    Ein Lied im Gewitter

    Wer waren die beiden Reiter, verirrt zwischen den Schluchten und Felsen des Odenwalds, während der Nacht vom 10. Mai 1810, ihre besten Freunde hätten sie aus vier Fuß Entfernung nicht erkannt, so schwarz war die Nacht. Vergebens hätte man am Himmel einen Mondstrahl, das Flimmern der Sterne gesucht: Der Himmel war finsterer als die Erde, und die schweren Wolken, die vorbeizogen, sahen aus wie ein umgestürzter Ozean, der die Welt mit einer neuen Sintflut bedrohte.

    Eine verschwommene Masse, die sich an dunklen Hängen entlang bewegte, das war alles, was selbst das geübteste Auge in der Dunkelheit von den beiden Reitern hätte erkennen können. Zuweilen ein ängstliches Wiehern, übertönt vom Pfeifen des Sturms in den Tannen, ein paar Funken von den Hufeisen der stolpernden Pferde, das war alles, was man von den beiden Weggefährten sehen und hören konnte.

    Das Gewitter kam immer näher. Große Staubwolken blendeten die Reisenden und ihre Reittiere. Im Herzen des Orkans bogen sich knarrend die Äste; klagendes Geheul jagte durch das Tal, schien dann, von Fels zu Fels springend, den wankenden, wie vor dem Zusammenbruch stehenden Berg hochsteigen zu wollen; – und jedes Mal, wenn sich eine solche Wasserhose von der Erde zum Himmel erhob, sprangen die Felsen aus ihrem steinernen Bett und polterten mit Krach in die Tiefe und die uralten Bäume, entwurzelt, lösten sich von ihrem Grund und stürzten sich, verzweifelten Tauchern gleich, kopfüber in den Abgrund.

    Nichts ist schrecklicher als die Zerstörung in der Dunkelheit, nichts ist erschreckender als ein Geräusch im Schatten. Wenn das Auge die Gefahr nicht einschätzen kann, wächst die Gefahr ins Unendliche und die entsetzte Einbildung sprengt alle Grenzen des Möglichen.

    Plötzlich legte sich der Wind, das Getöse verstummte, alles blieb still, nichts bewegte sich; die Natur hielt die Luft an und wartete auf einen Neuausbruch des Gewitters.

    In dieser Stille hörte man die Stimme eines der beiden Reiter:

    »Um Gottes Willen, Samuel, welch unglückliche Idee, Erbach zu dieser Stunde und bei diesem Wetter zu verlassen. Wir logierten in einem wunderbaren Gasthaus, dem besten, das wir seit unserer Abreise von Frankfurt vor acht Tagen hatten. Du hast die Wahl zwischen deinem Bett und dem Sturm, zwischen einer ausgezeichneten Flasche Hochheim und einem Wind, gegen den der Scirocco und der Mistral milde Lüftchen sind, und du wählst den Sturm und den Wind!« … »Hoo! Sturm!«, unterbrach sich der junge Mann, um sein Pferd im Zaum zu halten, »Hoo!«, und fuhr fort, »Wenn wir wenigstens zu einem charmanten Rendezvous unterwegs wären, wo wir gleichzeitig die Morgenröte und das holde Lächeln einer Geliebten antreffen würden! Aber die Geliebte, die wir antreffen werden, ist eine alte Schachtel, die man die Universität Heidelberg nennt. Das Rendezvous, das uns erwartet, ist wahrscheinlich ein Duell auf Leben und Tod. Auf jeden Fall sind wir erst für den 20. vorgeladen. Oh! Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr finde ich, dass wir total verrückt sind, nicht dageblieben zu sein, trocken und geschützt. Aber so bin ich; ich gebe dir immer nach; du gehst voraus und ich laufe dir hinterher!«

    »Nun beschwere dich auch noch, dass du mir folgst!«, antwortete Samuel mit einem leicht ironischen Unterton, »Wo ich es doch bin, der dir den Weg zeigt. Wäre ich nicht vor dir her geritten, du hättest dir schon zehn Mal das Genick gebrochen beim Sturz den Berg hinunter. Nun stemme dich in deine Steigbügel, da versperrt eine Tanne den Weg!«

    Es war eine Weile ruhig und man hörte, wie beide Pferde nacheinander über den Baum sprangen.

    »Hoo«, sagte Samuel und drehte sich um zu seinem Freund.

    »Siehst du, mein armer Julius!«, sagte er.

    »Siehst du!«, sagte Julius. »Ich beschwere mich weiterhin über deine Starrköpfigkeit, und ich habe recht: anstatt den Weg zu nehmen, den man uns angibt, nämlich dem Flüsschen Mümling zu folgen, welches uns geradewegs zum Neckar geführt hätte¹, nimmst du eine Abkürzung, die du zu kennen vorgibst, obwohl ich mir sicher bin, dass du niemals in dieser Gegend gewesen bist. Ich wollte einen Führer nehmen.« »Ein Führer! Wofür? Ich kenne den Weg!« »Ja, du kennst ihn so gut, dass wir uns jetzt im Gebirge verloren haben, wir wissen weder wo der Norden noch der Süden ist, wir kommen weder vor- noch rückwärts. Und jetzt müssen wir uns bis zum Morgen auf Regen gefasst machen, und welchen Regen! … Hier fallen schon die ersten Tropfen … Nun lach, du, der über alles lacht, wie du wenigstens immer behauptest.«

    »Und weshalb sollte ich nicht lachen?« sagte Samuel. »Ist es nicht lachhaft, einen großen Jungen von zwanzig Jahren zu hören, Student in Heidelberg, der sich beschwert wie eine Hirtin, die ihre Herde nicht rechtzeitig im Stall hat? Lachen! Welch großer Verdienst läge darin! Ich kann etwas Besseres, lieber Julius, ich werde singen.«

    Und in der Tat begann der junge Mann mit einer rauen und vibrierenden Stimme die erste Strophe eines bizarren, uns unbekannten Liedes zu singen, das wohl improvisiert war, der Situation aber wenigstens Rechnung trug.

    »Ach, der Regen schert mich nicht!

    Himmels Schnupfen bloß, nicht mehr

    Gegen bitt’res Tränenmeer

    Wenn das Herz an Schwermut bricht.«²

    Kaum waren das letzte Wort und die letzte Note von Samuels Lied verklungen, als ein gewaltiger Blitz die Wolkendecke, mit der das Gewitter den Himmel überzog, vom einen zum anderen Ende des Horizonts aufriss und die beiden Reiter mit einem grellen und unheimlichen Licht anstrahlte.

    Beide schienen gleich alt, so zwischen neunzehn und einundzwanzig Jahren, darauf beschränkte sich ihre Ähnlichkeit.

    Der eine, wahrscheinlich Julius, elegant, blond, blass, mit blauen Augen war mittelgroß, aber wohlproportioniert. Man hätte ihn für den jungen Faust³ halten können.

    Der andere, wahrscheinlich Samuel, groß und schlank, mit seinen grauen Augen, seinem schmalen spöttelnden Mund, seinen schwarzen Augenbrauen und Haaren, seiner hohen Stirn und seiner hervorstehenden und spitzen Nase schien wie das lebende Abbild von Mephisto.

    Beide trugen einen kurzen, dunklen Gehrock, der an der Hüfte mit einem Lederriemen zugeschnürt war. Außerdem bestand ihre Kleidung aus Strumpfhosen, weichen Stiefeln und einer weißen Kappe mit einem Kettchen.

    Aus den paar Worten von Julius ging hervor, dass sie beide Studenten waren.

    Überrascht und geblendet vom Blitz, zuckte Julius zusammen und schloss die Augen. Samuel hingegen hob den Kopf und kreuzte einen ruhigen Blick mit dem Blitz.

    Dann wurde es wieder stockdunkel.

    Der Blitz war kaum erloschen, als ein kräftiger Donnerschlag ertönte und in fortlaufenden Echos bis tief in den Berg zu vernehmen war.

    »Mein lieber Samuel«, sagte Julius, »ich glaube es wäre besser, wenn wir jetzt hier Halt machten. Wir könnten den Blitz anziehen.«

    Aber Samuel lachte nur und gab seinem Pferd die Sporen, das in einer Wolke von Funken und Steinsplitter galoppierend davonstob, während der Reiter sang:

    »Ach was mich der Blitz auch schert!

    Streichholzfeuer der Chemie,

    Bist, bizarrer Zickzack, nie

    Düst’ren Blickes Feuer wert?«

    Er legte so ein paar hundert Schritte zurück, schwenkte dann abrupt um und galoppierte auf Julius zu.

    »Um Gottes willen!« schrie dieser, »bleib doch ruhig Samuel, was soll dieses Husarenstück? Ist das jetzt der Moment zum Singen? Pass auf, dass Gott deine Herausforderung nicht annimmt!«

    Ein zweiter Donnerschlag, schrecklicher und lauter noch als der erste, ertönte über ihren Köpfen.

    »Dritte Strophe!« sagte Samuel. »Ich bin ein privilegierter Jäger: der Himmel begleitet mein Lied und der Donner singt den Refrain.«

    Und, nachdem der Donner lauter gegrollt hatte, sang Samuel umso lauter:

    »Auch du Donner scherst mich nicht!

    Sommers Husten auf Gedeih,

    Was bist du gegen den Schrei

    Einer Liebe die zerbricht?«

    Da der Donner aber diesmal Verspätung hatte, rief er, zum Himmel emporschauend:

    »Aber, aber! Wo bleibt der Refrain! Donner, du hast den Einsatz verfehlt!«

    Aber statt des Donners war es der Regen, der Samuels Aufforderung nachkam und begann sich in Strömen zu ergießen. Bald mussten Donner und Blitz nicht mehr provoziert werden und sie folgten aufeinander, ohne Unterbrechung. Julius empfand jenes Unbehagen, gegen das auch der Tapferste sich nicht wehren kann, wenn er der Allmacht der Elemente ausgesetzt ist: die Hilflosigkeit des Menschen gegenüber dem Zorn der Natur gab ihm ein flaues Gefühl im Magen. Samuel hingegen strahlte. Eine wilde Freude leuchtete in seinen Augen; er stellte sich in die Steigbügel, schwenkte seine Mütze, als ob er die Gefahr vor ihm flüchten sähe und sie zurückrufen wollte; froh zu spüren, wie die nassen Haare ihm ins Gesicht schlugen, lachend, singend, glücklich.

    »Was sagtest du vorhin, Julius?«, fragte er übertrieben freundlich. »Du wolltest in Erbach bleiben? Du wolltest diese Nacht verpassen? Spürst du denn nicht die wilde Lust, im strömenden Regen zu galoppieren, mein Lieber? Gerade weil ich dieses Wetter erhoffte, habe ich dich mitgenommen. Ich war den ganzen Tag mit den Nerven am Ende, aber das hier hat mich beseelt. Es lebe der Orkan! Wieso zum Teufel spürst du nicht dieses Fest! Passt dieses Gewitter nicht fantastisch zu den Gipfeln und Abgründen hier, zu diesen Trümmern und Ruinen? Bist du 80 Jahre alt, dass du alles reglos und leblos habenwillst wie dein Herz? Auch du hast deine Leidenschaften, so beherrscht du auch bist. Also lass den Elemente die ihren! Ich bin jung; mein zwanzigstes Lebensjahr singt tief in meinem Herzen, eine Flasche Wein brodelt in meinem Hirn, und ich liebe den Donner. König Lear nannte den Sturmseine Tochter⁴, ich nenne ihn meine Schwester. Bange nicht um uns, Julius, ich lache nicht über den Blitz, ich lache mit dem Blitz. Ich verachte ihn nicht, ich liebe ihn. Das Gewitter und ich sind zwei Freunde. Es würde mir kein Leid antun, ich bin seinesgleichen. Die Menschen glauben, es sei bösartig, aber sie sind naiv! Gewitter sind notwendig. Dies ist der Moment, ein bisschen Wissenschaft zu betreiben. Diese gewaltige elektrische Kraft, die grollt und blitzt, tötet und zerstört hier und dort, nur um das gesamte pflanzliche und tierische Leben zu vermehren. Ich bin ein Gewitter-Mensch. Jetzt ist der Moment gekommen, ein bisschen zu philosophieren. Ich selbst würde zweifellos das Böse benutzen, um zum Guten zu gelangen⁵, den Tod benutzen, um Leben zu schaffen. Es kommt nur darauf an, dass ein höherer Zweck diese extremen Taten beseelt und das tödliche Mittel mit dem Nutzen des Resultats rechtfertigt.«

    »Sei still, Samuel, du verleumdest dich!«

    »Du sagst Samuel, als ob du sagtest: Samiel! Abergläubisches Kind! Da wir in der Kulisse des Freischütz⁶ reiten, stellst du dir vor, ich sei der Teufel, Satan, Beelzebub oder Mephistopheles, und dass ich mich in eine schwarze Katze oder einen Pudel verwandeln würde? Oh, Oh? Was ist denn das hier!?«

    Dieser Aufschrei entfuhr Samuel, nachdem sein Pferd plötzlich gescheut und sich erschrocken auf das von Julius zurückgeworfen hatte.

    Der Weg barg eine Gefahr, ohne Zweifel. Der junge Mann beugte sich zu der Seite, wo die Gefahr zu vermuten war, und wartete auf einen Blitz. Er brauchte nicht lange zu warten. Der Himmel brach auf, ein Feuerstrahl zog quer über den Himmel und beleuchtete die Gegend.

    Die Straße war von einer tiefen Kluft gespalten, der Blitz schlug in die Wände einer Schlucht und erlosch, bevor die beiden jungen Leute die Tiefe erahnen konnten.

    »Das ist aber ein großartiges Loch!« meinte Samuel und lenkte sein Pferd näher an den Abgrund heran.

    »Pass doch auf!« schrie Julius.

    »Mein Gott, ich muss mir das aus der Nähe ansehen!« entgegnete Samuel.

    Er stieg vom Pferd, warf Julius den Zaum zu, näherte sich neugierig dem Abgrund und beugte sich hinüber.

    Sein Blick konnte die Dunkelheit aber nicht durchdringen, also stieß er ein Stück Granit den Abgrund hinunter.

    Er horchte, hörte aber nichts.

    »Gut!«, sagte er, »mein Stein ist wohl auf weichen Grund gefallen, denn er hat nicht das leiseste Geräusch gemacht.«

    Kaum hatte er das gesagt, als ein lautes Geklapper in der dunklen Tiefe ertönte.

    »Ah! Der Abgrund ist tief«, sagte Samuel. »Wer zum Teufel kann mir sagen, wie man dieses Loch nennt?«

    »Das Höllenloch!«, antwortete von der anderen Seite des Abgrunds eine klare und ernste Stimme.

    »Wer antwortet mir da«, rief Samuel, erstaunt und sogar ein wenig erschreckt, »ich sehe niemanden!«

    Ein neuer Blitz erleuchtete den Himmel und auf dem Weg gegenüber der Spalte erblickten die beiden jungen Leute eine seltsame Erscheinung.

    2

    Was da erschienen war

    Ein junges Mädchen, aufrecht stehend, mit zerzaustem Haar, die Beine und Arme nackt, um ihr Haupt eine schwarze, vom Wind aufgeblähte Haube, mit kurzem rötlichem Rock, der im Schein des Blitzes hellrot aufleuchtete, von einer seltsamen und wilden Schönheit, an ihrer Seite ein gehörntes Tier, das sie an einer Leine führte.

    Daswar die Vision, die den beiden jungen Männern am anderen Rand des Höllenlochs erschienen war.

    Der Blitz erlosch und damit auch die Erscheinung.

    »Hast du gesehen, Samuel?«, fragte Julius, etwas verunsichert.

    »Zum Teufel! Gesehen und gehört.«

    »Weißt du, wenn es intelligenten Menschen erlaubt wäre, an Hexen zu glauben, könnten wir ohne Weiteres denken, gerade eine gesehen zu haben?«

    »Aber das ist eine Hexe«, rief Samuel, »das möchte ich doch hoffen! Du hast gesehen, dass da nichts fehlt, nicht einmal der Ziegenbock! Auf jeden Fall ist sie hübsch: He! Kleine!«, rief er nochmal.

    Und er horchte, wie er es getan hatte, als er den Stein in den Abgrund rollen ließ. Aber auch jetzt erhielt er keine Antwort.

    »Beim Höllenloch!«, sagte Samuel, »das kann mir niemand falschmachen.«

    Er zügelte sein Pferd, schwang sich in den Sattel und umrundete, ohne auf Julius’ Warnungen zu hören, in einem Satz galoppierend den Abgrund. Augenblicklich war er an der Stelle, wo das Mädchen erschienen war; doch mochte er noch so viel suchen, er konntenichts mehr erblicken: weder das Mädchen noch das Tier, weder die Hexe noch den Ziegenbock.

    Samuel war keiner, der sich so schnell zufrieden gab: er inspizierte den Abhang, durchforschte Gebüsch und Dornengestrüpp, erkundete seinen Weg, hin und zurück. Aber schließlich, nachdem Julius ihn gebeten hatte, seine vergeblichen Durchsuchungen aufzugeben, schloss er sich wieder seinem Kameraden an, mürrisch und unzufrieden: er war einer jener Geister, die gewöhnlich jeden Weg bis ans Ende, jeder Sache auf den Grund gehen, und bei denen der Zweifel nicht Träumereien, sondern Ärger hervorrief.

    Sie machten sich wieder auf den Weg.

    Die Blitze zeigten ihnen den Weg und boten ihnen ein wunderbares Spektakel. Immer wieder erglühte der Wald, oben auf dem Berg und tief unten im Tal, in purpurroter Farbe, und der Fluss zu ihren Füßen erschien kalt wie Stahl.

    Julius hatte seit einer Viertelstunde nicht mehr gesprochen, und Samuel lästerte ganz allein gegen die letzten abklingenden Donnerschläge, als Julius plötzlich sein Pferd anhielt und ausrief:

    »Ha! Hier kommt was für uns.«

    Und er zeigte Samuel eine heruntergekommene Burg, die sich zu ihrer Rechten erhob.

    »Diese Ruine?«, fragte Samuel.

    »Ja, dort wird es doch wohl eine Ecke geben, in der wir Schutz finden können. Wo wir das Ende des Unwetters oder zumindest des starken Regens abwarten können.«

    »Ja, und unsere Kleider werden uns auf dem Rücken trocknen, und wir werden uns eine gehörige Lungenentzündung einhandeln, indem wir nass und untätig abwarten! Aber egal! Schauen wir, was diese Burg uns zu bieten hat.«

    Mit wenigen Schritten waren sie am Fuß der Ruine; jedoch war es nicht so leicht hineinzugelangen. Die verlassene Burg war von Gestrüpp überwuchert. Der Eingang war versperrt mit Pflanzen und Gesträuchen, wie man sie oft an zerfallenem Gemäuer findet. Samuel trieb sein Pferd durch das Dickicht, wobei das arme Tier nicht nur die Sporen, sondern auch noch die Stiche der Dornen zu spüren bekam.

    Julius’ Pferd trabte hinterher, und so befanden sich beide Freunde schließlich im Innern des Schlosses, sofern man bei zusammengestürzten, nach allen Seiten offenen Trümmern überhaupt noch von Schloss und Innerem reden konnte.

    »Oh! Oh! um uns zu schützen, führst du uns her?«, sagte Samuel und schaute sich um, »mir scheint, dazu bräuchte es zumindest ein Dach oder eine Decke: leider gibt es hier aber weder Dach noch Decke.«

    In der Tat war aus diesem ehemals vielleicht mächtigen und glorreichen Schloss mit der Zeit ein erbärmliches Skelett geworden; von den vier Wänden waren nur noch drei übrig, allerdings von übergroßen Fensterlöchern durchbrochen; die vierte war bis zum letzten Stein zusammengefallen.

    Die Pferde stolperten bei jedem Tritt;Wurzeln drückten die Steinplatten hoch und schossen an mehreren Stellen durch die Spalten, als ob es die dreihundert Jahre lang vergrabene Vegetation über die Zeit hinweg geschafft hätte, mit ihren hartnäckigen und knotigen Fingern die steinerne Decke ihres Kerkers zu durchbohren.

    Die drei Mauern neigten und hoben sich unter den heftigen Windstößen. Alle Arten von Nachtvögeln tummelten sich in dieser offenen Halle und hießen jeden Atemzug des Orkans und jedes Donnerrollen willkommen, mit furchtbarem Gejohle, aus dem das Gekreische des Adlers, dessen Schrei der Stimme eines Menschen, den man gerade umbringt, ähnelt, hervorstach.

    Samuel beobachtete alles mit dieser seiner eigenen Art zu beobachten.

    »Also gut! Wenn es dir beliebt, hier bis zum Morgen zu warten, soll es auch mir recht sein. Wir sind hier wunderbar aufgehoben, fast so wie unter freiem Himmel, und wir haben darüber hinaus den Vorteil, dass der Wind hier weit zorniger tobt. Genauer gesagt, wir befinden uns hier im Trichter des Sturms. Und Mist, diese Raben und diese Fledermäuse sind als Zutaten wahrlich nicht zu verschmähen. Diese Unterkunft gefälltmir. He! Schau mal! diese Eule, der Vogel des Philosophen, die ihre scharfen Augen auf uns richtet, ist sie nicht die anmutigste der Welt. Außerdem werden wir uns brüsten können, durch einen Speisesaal galoppiert zu sein.«

    Und indem er dies sagte, gab Samuel seinem Pferd die Sporen und warf es in Richtung der fehlenden Wand; aber kaum hatte es zehn Tritte getan, als das Pferd so heftig aufbäumte und sich um sich selbst drehte, dass es den Kopf voll ins Samuels’ Gesicht rammte.

    Im selben Moment erschallte eine Stimme:

    »Halt! Der Neckar!«

    Samuel neigte den Kopf.

    Er hing fünfzig Meter über dem gähnenden Abgrund. Bei der Wendung hatten die beiden Vorderhufe des Pferdes einen Halbkreis ins Leere gezogen.

    Der Berg sank an dieser Stelle abrupt in die Tiefe; die Burg war über dem Abgrund errichtet worden, was ein Teil der Stärke ihrer Position ausmachte. Ein Blattwerk von Kletterpflanzen verlief, wie eine am rauen Granit befestigte Girlande, so dass es aussah, als ob die alte, über Jahrhunderte entwurzelte und dem Abgrund, in den sie zu fallen drohte, zugeneigte Burg nur noch von einer dünnen Schlinge aus Efeu zurückgehalten werde. Ein Schritt weiter und es war der Tod des Reiters und des Pferdes.

    Deshalb zuckte das Pferd bei hochgestellter Mähne, dampfenden Nüstern und schäumendem Maul mit allen Muskeln zusammen, zitterte an allen Gliedern.

    Aber Samuel, ruhig oder eher skeptisch wie gewohnt, fühlte sich von der Gefahr, die er gerade gelaufen war, zu bloß einer Überlegung inspiriert:

    »Nanu! Die gleiche Stimme!«, sagte er.

    In der Stimme, die gerufen hatte: »Halt!« hatte Samuel die Stimme des jungen Mädchens, das ihm schon den Höllenschlund benannt hatte, wiedererkannt.

    »O!«, rief Samuel aus, »dieses Mal werde ich dich erwischen, selbst wenn du das bist, was ich dich beschuldige zu sein, nämlich eine Hexe dritten Grades.«

    Und er warf sein Pferd herum in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.

    Aber auch diesmal konnte er niemanden erblicken, so viel er auch suchte, und der Blitz ihm leuchtete.

    »Komm, komm Samuel!«, sagte Julius, der jetzt nichts dagegen hatte, aus diesen Ruinen voller Gekrächze, Fallen und Abgründe zu verschwinden; »Komm, lass uns weiterziehen! Haben sowieso schon genug Zeit verloren!«

    Samuel folgte ihm, sich umschauend mit einer Enttäuschung, die die Dunkelheit ihm ermöglichte zu verbergen.

    Sie fanden auf ihren Weg zurück und ritten weiter: Julius, ernst und schweigsam; Samuel, lachend und fluchend wie einer von Schillers Räubern⁷.

    Eine Entdeckung machte Julius wieder Hoffnung. Beim Verlassen der Burg entdeckte er einen Pfad, der, wenn auch schon ziemlich abgenutzt, in eher leichtem Gefälle zum Fluss hinabführte. Ohne Zweifel führte dieser begehbare und, wie es schien, auch benutzte Pfad zu einem Dorf oder zumindest einer Wohnsiedlung.

    Aber auch eine halbe Stunde später noch war ihre einzige Begegnung der Fluss, an dessen steilem Ufer sie entlang ritten, seinem tosenden Lauf aufwärts folgend. Nicht die Spur irgendeiner Unterkunft.

    Während all dieser Zeit fiel der Regen mit gleicher Heftigkeit. Die Kleider der beiden Reiter waren durchnässt; die Pferde waren erschöpft von der Anstrengung. Julius konnte nicht mehr weiter; sogar Samuel verlor langsam an Frische.

    »Zum Teufel!«, rief er aus, »es fängt an langweilig zu werden, seit mehr als zehn Minuten haben wir weder Blitz noch Donner gehabt. Dies ist bloß noch ein purer Regenschauer. Das ist wahrlich ein schlechter Scherz des Himmels. Ich akzeptiere gerne eine große Aufregung, aber nicht diese lächerlich kleine Unannehmlichkeit. Der Orkan verspottet mich auf seine Weise: ich fordere ihn heraus mich mit seinem Blitz zu erschlagen, er verpasst mir bloß einen Schnupfen.«

    Julius antwortete nicht.

    »Pass auf!«, sagte Samuel, »ich will es mit einer Beschwörung versuchen.«

    Und mit lauter und feierlicher Stimme fügte er hinzu:

    »Im Namen des Höllenlochs, aus dem wir dich kommen sahen! Im Namen des Ziegenbocks, deines besten Freundes! Im Namen der vielen Raben, Fledermäuse und Eulen, die uns seit unserer glücklichen Begegnung mit dir begleitet haben! Liebe Hexe, die du schon zweimal mit mir geredet hast, ich flehe dich an! Im Namen des Höllenlochs, des Ziegenbocks, der Raben, der Fledermäuse und der Eulen, Erscheine! Erscheine! Erscheine! und sage uns, ob wir uns in der Nähe einer menschlichen Behausung befinden.«

    »Wenn Sie sich verirrt hätten«, ertönte aus dem Schatten heraus die klare Stimme des jungen Mädchens, »hätte ich Sie gewarnt. Sie sind auf dem richtigen Weg; folgen Sie ihm noch weitere zehn Minuten und Sie werden zu Ihrer Rechten, hinter einem Lindenhain, auf ein gastfreundliches Haus stoßen. Auf Wiedersehen!«

    Samuel hob den Kopf in Richtung der Stimme und erblickte eine Art Schatten, der zehn Fuß über seinem Kopf entlang der Bergwand zu schweben schien.

    Er spürte instinktiv, dass das Mädchen gleich verschwinden würde.

    »Halt!«, rief Samuel, »ich habe noch eine Frage an dich.«

    »Welche?«, fragte es und blieb am Ende eines Felsens, dessen Spitze zu schmal schien, als dass selbst der Fuß einer Hexe dort hätte Halt finden können, stehen.

    Er schaute sich um, wie er zu ihr hochsteigen könnte; aber der Pfad, auf dem die beiden Reiter sich bewegten, war in den Felsen geschlagen. Es war ein Weg für Menschen; die Hexe aber wandelte auf einem Ziegenpfad.

    Nachdem er festgestellt hatte, dass er das hübsche Mädchen nicht auf Pferdefüßen erreichen konnte, wollte er es zumindest mit der Stimme versuchen.

    Zu seinem Freund gewendet meinte er:

    »Na gut! mein lieber Julius, ich habe dir vor einer Stunde die Vorzüge dieser Nacht aufgezählt: den Sturm, meine Jugend, den Wein des alten Flusses und Hagel und Donner! ich habe die Liebe vergessen! Die Liebe, die alle anderen beinhaltet, die Liebe, die wahre Jugend, die Liebe, der wahre Sturm, die Liebe, die wahre Trunkenheit.«

    Dann, nachdem er sein Pferd zu einem Sprung näher an das Mädchen heran getrieben hatte, sagte er:

    »Ich liebe dich! reizende Hexe. Liebe du auch mich und wir werden ein schöne Hochzeit feiern. Ja, sofort. Wenn Königinnen sich vermählen, werden die Wasserfontänen aufgedreht und Kanonenschüsse abgefeuert. Bei unserer Hochzeit lässt Gott es regnen und schießt Donnerschläge. Ich sehe, dass du einen echten Ziegenbock mit dir führst, und ich halte dich für eine Hexe, aber ich nehme dich. Ich gebe dir meine Seele, gib du mir deine Schönheit!«

    »Sie sind gottlos und mir gegenüber undankbar«, sagte das Mädchen und verschwand.

    Samuel versuchte noch einmal ihr zu folgen, aber der Hang war definitiv nicht zu bezwingen.

    »Na komm, komm jetzt«, forderte Julius ihn auf.

    »Und wo willst du, dass ich hingehe?«, entgegnete Samuel schlecht gelaunt.

    »Na zu dem Haus, das sie uns angegeben hat.«

    »Gut! du glaubst ihr also?«, meinte Samuel. »Und sollte das Haus existieren, wer sagt dir, dass dort, wohin die ehrliche Person verspätete Reisende hingeleitet, kein Halsabschneider lebt?«

    »Hast du nicht gehört, was sie zu dir gesagt hat, Samuel? Undankbar ihr gegenüber und gotteslästerlich.«

    »Dann lass uns gehen, da du es willst«, gab der junge Mann nach. »Ich glaube es nicht, aber wenn es dir Freude bereitet, dann gebe ich vor, zu glauben.«

    »Schau da, du böser Geist!«, rief Julius zehn Minuten später.

    Und er zeigte seinem Freund den Lindenhain, von dem das Mädchen gesprochen hatte. Ein Licht, das durch die Äste drang, ließ sie hinter den Bäumen ein Haus erkennen. Die zwei ritten unter den Linden durch und erreichten das Gitter des Hauses.

    Julius hob die Hand zur Klingel.

    »Du klingelst dem Halsabschneider?«, fragte Samuel.

    Julius ging nicht drauf ein und klingelte.

    »Ich wette«, sagte Samuel, indem er seine Hand auf den Arm des jungen Mannes legte, »ich wette, es wird das Mädchen mit dem Ziegenbock sein, das uns aufmachen wird.«

    Die Vordertür wurde geöffnet und eine menschliche Gestalt trat mit einer Blendlaterne an das Gitter, wo Julius klingelte.

    »Wer Sie auch sind«, bat Julius die Person, die auf ihn zukam, »berücksichtigen Sie die Zeit und die Situation, in der wir uns befinden; wir ziehen jetzt seit mehr als vier Stunden durch Abgründe und Stürme; geben Sie uns Asyl für die Nacht.«

    »Kommen Sie herein«, rief eine Stimme, die die jungen Leute kannten.

    Es war jene des Mädchens vom Weg zur Burgruine und vom Höllenloch.

    »Siehst du«, sagte Samuel zu Julius, der sich eines Zusammenzuckens nicht erwehren konnte.

    »Was ist dies für ein Haus?«, fragte Julius.

    »Nun, meine Herren! Wollen Sie nicht eintreten?«, fragte das Mädchen.

    »Aber sicher, bei Gott!«, antwortete Samuel. »Ich trete sogar ein in die Hölle, wenn die Pförtnerin hübsch ist.

    3

    Morgen im Mai - Tag der Jugend

    Als Julius am nächsten Tag in einem wunderbaren Bett aufwachte, benötigte er einige Zeit, um zu verstehen, wo er sich befand. Er öffnete die Augen. Ein fröhlicher Sonnenstrahl, der sich durch den geöffneten Fensterladen stibitzt hatte, sprang munter, voller lebendiger Atome auf einem weißen, blank geputzten Holzparkett. Eine lebhafte Melodie eines Vogelkonzerts ergänzte das Licht.

    Julius sprang aus seinem Bett. Er schlüpfte in einen bereitgelegten Morgenmantel sowie in Pantoffel und begab sich zum Fenster.

    Kaum hatte er Fenster und Fensterladen geöffnet, wurde das Zimmer von Gesang, Sonnenstrahlen und Wohlgerüchen überflutet. Vor der Wohnung lag ein lieblicher Garten, voll mit Blumen und Vögeln. Hinter dem Garten durchquerte und belebte der Neckar das Tal. In der Ferne bildeten die Berge den Horizont.

    Und über alldem, der strahlende Himmel eines schönen Maimorgens. Und in alldem, diese Lebensfreude, von der in dieser Jahreszeit die Luft erfüllt ist.

    Das Gewitter hatte die letzte Wolke weggefegt. Das Himmelsgewölbe bestand vollständig aus diesem tiefen, ruhigen Blau, das einen an das Lächeln Gottes gemahnt.

    Ein unerklärliches Gefühl von Frische und Wohlbefinden befiel Julius. Der Garten, erneuert und gedüngt durch diese Regennacht, war voll von Lebenssaft. Spatzen, Grasmücken und Distelfinken, glücklich darüber dem Unwetter entkommen zu sein, verwandelten jeden Ast in ein Orchester. Die Regentropfen, von der Sonne angestrahlt, um sie zu trocknen, machten aus jedem Grashalm einen Smaragd.

    Eine Weinrebe rankte sich spielerisch über Kreuz empor und versuchte ins Zimmer zu gelangen, um Julius einen Freundschaftsbesuch abzustatten.

    Aber plötzlich sah und hörte Julius nichts mehr: Weinrebe, Vögel, Tau im Gras, Gesang in den Blättern, Berge in der Ferne, der herrliche Himmel; alles war weg.

    Eine junge und reine Stimme hatte sein Ohr

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