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Die letzte Reise des Karl Marx
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Ebook92 pages1 hour

Die letzte Reise des Karl Marx

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Ein Muss (und Genuss) für alle, die sich für Karl Marx interessieren

Zu Beginn des Jahres 1882 reist Karl Marx, um die Folgen diverser Krankheiten zu lindern, über Paris, Marseille und Algier nach Monte Carlo, wo er für einige Wochen in die Kasinobourgeoisie eintaucht und ihr Milieu studiert. Von Marx-Biographen bisher weitgehend unbeachtet, zeigt Hans Jürgen Krysmanski die Bedeutung dieser letzten Reise - nicht zuletzt auch für das Verständnis des Werks von Karl Marx.
LanguageDeutsch
Release dateAug 11, 2014
ISBN9783864895623
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    Die letzte Reise des Karl Marx - Hans Jürgen Krysmanski

    Kapitel I

    Von London ans Mittelmeer

    London, 19. Januar 1882, Karl Marx in seinem Arbeitszimmer in der Maitland Park Road. Der lichtdurchflutete Raum, an dessen Seitenwänden sich Bücherschränke befinden, ist über und über mit Büchern gefüllt, und bis zur Decke stapeln sich Zeitungspakete und Manuskripte. Gegenüber einem Kamin und an einer Seite des Fensters stehen zwei Tische voll mit Papieren, Büchern und Zeitungen. In der Mitte des Raums, im günstigsten Licht, befinden sich ein einfacher kleiner Arbeitstisch und ein Lehnstuhl aus Holz. Vor einer anderen Wand steht ein Ledersofa, auf dem Kaminsims liegen ebenfalls Bücher, dazwischen Zigarren, Zündhölzer, Tabaksbehälter, Briefbeschwerer, viele Fotografien.¹ Friedrich Engels und Lenchen Demuth (die Betreuerin des Hauses) treten ein.

    Engels: »Los geht’s, Mohr.«

    Lenchen: »Aber vergiss nicht den Grocer …«

    Marx und Engels verlassen das Haus. In der Haustür steht Lenchen und ruft ihnen durch Kälte und Nässe noch etwas nach. Die beiden haben es eilig, denn im nahegelegenen Haus von Engels wartet Besuch. Marx blickt noch grimmiger als sonst. Kurz zuvor hatten Deutschlands Bourgeoisblätter verkündet, nach dem Tod seiner geliebten Frau Jenny liege nun auch er im Sterben. Marx trauert unendlich über den Verlust und ist nicht gesund, aber er hatte ausgerufen: »Sehr amüsant. So muss ich, der mit der Welt zerfahrene Mann, also den Gazetten zuliebe mich notwendig wieder aktionsfähig machen.«²

    Engels, der in der Marx’schen Familie auf den englisch ausgesprochenen Spitznamen General (»Dschäneräll«) hört, rät dem lungenkranken Freund schon seit langem zu einer gründlichen Heilkur, denn Kurzaufenthalte am Meer, auf der Isle of Wight, haben wenig genützt.

    Die beiden überqueren die nahe Eisenbahnbrücke. Aus Engels’ Manteltasche ragt ein Bündel Zeitungen. Marx deutet drauf mit seiner angerauchten Zigarre.

    »Please, Fred! Fort mit diesem Geschreibe über meinen Tod.«

    Er tut einen tiefen Zug.

    »Eh ich’s vergess: Die vierzig Pfund, die du mir gabst für die Kur in Ventnor, sind aufgebraucht. Und Lenchen fehlt Haushaltsgeld.«

    Er hustet, wirft die Zigarre weg.

    Engels wickelt sich enger in seinen weiten Mantel: »Nächste Woche sind stärkere Summen flüssig.«

    Das Zeitungsbündel droht, sich selbständig zu machen. Marx ergreift die Blätter, zerreißt sie und lässt die Schnipsel von der Brücke flattern.

    Engels bleibt gelassen: »Mich freut, dass du dich stark genug fühlst für die Reise nach dem Süden!«

    Marx grummelt: »Nach den preußischen Todeswünschen muss ich ja den verdammten Hunden zum Trotz erst recht lange leben!³ Aber warum partout Algier?«

    »In Italien würdest du verhaftet. Und du hast keinen Pass.«

    Marx denkt: »Wenn diese verfluchte Krankheit einem nur nicht das Gehirn angriffe.«

    Der wohlhabende Engels hat die finanziellen Voraussetzungen geschaffen für eine lange Erholungsreise seines Freundes in wärmere Breitengrade. Zunächst soll ein Aufenthalt in Algier Linderung der Beschwerden bringen, welche (wie Engels meint) die Arbeit an weiteren Bänden von Das Kapital beeinträchtigen. Die französische Kolonialbastion im Maurenland ist ein bevorzugter Kurort der englischen Oberschicht. Es wird eine teure Reise. Doch für Engels und Marx ist ihre finanzielle Symbiose eine Selbstverständlichkeit. Wo anders hinein als in Wissen, in Zukunftswissen, ist Geld besser investiert. Der allgemeine Forscherdrang des 19. Jahrhunderts zahlt sich aus an diesem konkreten Punkt des Universums. In ihrer Zwei-Personen-Denkfabrik ist in vierzig Jahren ein einzigartiger Wille zum Wissen herangewachsen.

    »Jetzt erst recht«, hat Marx gesagt, als seine Krankheit schlimmer wurde.

    Und Engels hat gemahnt: »Jetzt aber anders.«

    Alles, was Marx von nun an denkt und schreibt, wird in sein Reisegepäck, in eine dicke Extramappe passen müssen oder in die Briefumschläge, die er an seine Töchter, an Engels und Freunde adressiert. Der in London Bleibende und der in den Süden Aufbrechende spüren, dass ihre große Kapitalanalyse und ihre eigensinnige Geschichtsauffassung noch eine erweiterte, eine andere Perspektive vertragen können. Das Milieu des Fin de Siècle und der Wille zur Macht, den einige der »neuen Denker« verkünden, fordern zwei alte Aufklärer heraus. Und sie denken längst nicht mehr nur an die Organisation der Arbeiterklasse, sondern sie wollen die neue Eigentümerklasse mitten ins Herz – das Herz aus Börsengold – treffen.

    Das Wissen der Zeit, das Marx und Engels unablässig sammeln und ordnen, dient also nicht mehr einzig und allein der Beratung der neuen Arbeiterbewegungen in Europa und Nordamerika. Sie wollen mehr, vor allem wollen sie wissen, wie man die wuchernden Börsen zum archimedischen Punkt der Revolution machen kann.

    Die Londoner Wohnungen von Engels und Marx sind private Forschungsinstitute, die einen ständigen Strom politischer Flüchtlinge, ratsuchender Revolutionäre und neugieriger Professoren bewältigen. An diesem 19. Januar 1882 warten im schönen Haus von Engels eine kleine sächsische Arbeiterdelegation und eine Gruppe russischer Revolutionäre. Unter ihnen ist Wera Iwanowna Sassulitsch⁵, eine ebenso hübsche wie entschlossen wirkende junge Frau. Diese Narodniki, die alle kaum englisch, aber sehr gut deutsch sprechen, stellen Fragen und wollen Antworten zur »revolutionären Situation der Zeit«. Die Sachsen hören brav zu. Engels’ Lebensgefährtin Lizzy serviert Tee und Gebäck.

    Schon in einem früheren Brief an Marx hatte Wera Sassulitsch⁶ wissen wollen, ob Geschichte sich immer nach einem bestimmten Schema entwickelt. Bestand die historische Notwendigkeit, die in Russland weitverbreiteten, auf Gemeineigentum beruhenden Dorfgemeinschaften erst der Zerstörung durch den Kapitalismus zu überlassen, bevor aus all den Trümmern der Weltsozialismus aufgebaut werden könne? Hatten Marx und Engels nicht schon im Kommunistischen Manifest von 1848 (das von Wera Sassulitsch wunderbar ins Russische übersetzt worden war) und später im Kapital den ehernen Gang der Weltgeschichte genau so beschrieben? Galt das alles aber vielleicht nur für Westeuropa und dessen nordamerikanischen Abzweig? Konnte es in Russland nicht einen direkten Übergang von der Welt dörflicher Gemeinschaften in den Sozialismus geben? Ohne vorheriges Chaos?

    Und nun fragt Wera Marx von Angesicht zu Angesicht. Ist der Weg der Verwandlung des feudalistischen Privateigentums in kapitalistisches Privateigentum und dann in sozialistisches Gemeineigentum nicht ein anderer als der mögliche russische Weg der Verwandlung von bäuerlichem Gemeineigentum in sozialistisches Gemeineigentum – auch wenn eine Übergangsperiode des Privatkapitalismus sich dazwischen schöbe? Bei diesen Fragen konnte einem schon schwindlig werden.

    Marx macht nicht die beste Figur in dieser Diskussion.

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