Die Neuerfindung der Städte: Metropolen sichern unsere Zukunft
By Petra Roth
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Unsere Schulen sind marode, die Kitas überfüllt, Bibliotheken und Theater werden geschlossen, Buslinien eingestellt - kurzum: Unsere Städte bluten aus. Gleichzeitig zieht es immer mehr Menschen in die Städte und Metropolen. Wie geht das zusammen? Petra Roth zeigt, warum Länder immer überflüssiger werden und es zukünftig stattdessen vielmehr heißen muss: Alle Macht den Städten!
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Die Neuerfindung der Städte - Petra Roth
1 Mit Fortunas Hilfe -Herausforderungen der Gegenwart
Michail Sergejewitsch Gorbatschow brachte es auf den Punkt. Die Europäer haben die Zeitenwende zum Ende des 20. Jahrhunderts erlebt. Sie haben auch die Gunst der Stunde mit dem Fall der Mauer und der zügigen Vereinigung der beiden deutschen Staaten genutzt. Und doch vermochten sie es aus der Sicht Gorbatschows nicht, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nachhaltig anzugehen: die Armut, die Demografie, das Klima. Allesamt Herausforderungen, die vor uns liegen.
In den Städten entscheidet sich, ob der Wandel gelingt. In den großen Städten und den Metropolregionen müssen die Bürger ihn angehen. Deswegen wächst den Städten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung im Zusammenhang mit diesen weit über unsere eigene Gegenwart hinausweisenden Megathemen des klimatischen wie des demografischen Wandels sowie der Integration zu. Gelingt es dort, die Weichen richtig zu stellen, muss es uns für die weitere Zukunft, die es aufzustoßen gilt, nicht bange sein. Aber momentan machen die deutschen Städte nicht den Eindruck, dafür gerüstet zu sein, also zukunftsfest zu sein. Ganz im Gegenteil: Wieder stehen sie im Rahmen des föderalen Systems der Republik als Bittsteller da. Den Städten muss endlich die gebührende Bedeutung zukommen, denn die Energiewende wird nicht ohne ihre Verkehrspolitik, ohne ihre Bildungspolitik und ohne ihre Umweltpolitik gelingen. Alles andere wäre eine Verkennung von Tatsachen. So wie man früher gesagt hat, dass Rüsselsheim, die Stadt der Autobauer, einen grippalen Infekt habe, wenn Opel huste, muss man heute wohl sagen: Wenn die Städte nicht in die Lage versetzt werden, sich den zentralen Anforderungen des 21. Jahrhunderts zu stellen, muss man sich um die Zukunft der Republik sorgen.
Neulich in Leipzig habe er mit jungen Menschen gesprochen, die über die Verhältnisse der Gegenwart gejammert hätten, berichtete Gorbatschow beim 20. Jahrestag der Einheit, am 3. Oktober des Jahres 2010, in der Frankfurter Paulskirche. Da habe er sie gefragt, ob man die deutsche Einheit besser wieder zurücknehmen solle. So seien ihre Bedenken nicht gemeint, hätten die jungen Menschen ihm schnell und eifrig entgegengehalten. Da habe er ihnen angeboten, dass Deutsche und Russen ihre Probleme der Gegenwart kurzerhand einfach tauschen könnten, berichtete Gorbatschow weiter.
Der Präsident der Perestroika, dieser weitsichtige Gestalter jener Epoche, sprach an einem ganz besonderen Jahrestag, an dem zur gleichen Zeit der damals gerade neu gewählte Bundespräsident Christian Wulff eine grundsätzliche Rede hielt, die die Integrationsleistungen der Deutschen für die Gegenwart zum Thema hatte. Wulff sprach über die Vergangenheit der jungen Bundesrepublik, in der es das gemeinsame Bemühen um christlich-jüdische Traditionsbezüge gegeben habe, und er sprach über das Heute, das er vor allem mit den Muslimen in Verbindung brachte. Kein Wunder, dass dies bei einigen für Irritationen sorgte und die Kirchen sich zu dem Hinweis genötigt sahen, dass 50 Millionen Menschen in Deutschland doch noch immer christlichen Glaubens seien.
Nach dem Angebot zum Tausch, so setzte Gorbatschow in der Paulskirche die Schilderung seiner Begegnung in Leipzig fort, sei das Gespräch mit den jungen Menschen alsbald zu Ende gewesen. Umso besser sei es, dass die Deutschen »ernsthafte Krankheiten« aus den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung inzwischen überwunden hätten und mittlerweile den 3. Oktober mit Volksfesten würdigen könnten. Erst heute, diesen Eindruck hinterließ der Redner bei seinem Publikum, erschließe sich die Republik die Dimensionen der Zeitenwende, die der Westen in seiner gesamten sozialpolitischen Routine nicht ermessen konnte.
Man kann wohl aus unserer heutigen Sicht der Dinge auch niemandem einen Vorwurf daraus machen, dass in dem knappen Jahr zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 vielleicht manches zu hastig, manches aber auch zu langsam angegangen worden ist. Man sollte sich vielleicht gelegentlich die Ungleichzeitigkeiten östlicher wie westlicher Lebenswelten im Augenblick des Mauerfalls vor Augen halten: Nach langen und kontroversen Debatten hatte der Deutsche Bundestag am 9. November 1989 zunächst die Rentenreform verabschiedet und dafür eine breite Mehrheit aus Union, SPD und FDP gefunden. In diesem Augenblick ging man davon aus, ein bedeutendes Gesetzeswerk im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung geschaffen zu haben. Damals dachte kein Mensch daran, künftig Reformwerke für ein geeintes, für ein plötzlich gewachsenes Deutschland angehen zu müssen. Wenige Stunden nach diesem Votum des Bundestags erreichte das Parlament in Bonn die Nachricht, Ostberlin öffne die Grenze. Der damalige Chef des Bundeskanzleramts, Rudolf Seiters, erklärte nach einer kurzen Unterbrechung der Parlamentssitzung für die Bundesregierung, dass »diese Entscheidung der DDR-Führung einen Schritt in Richtung auf eine echte Liberalisierung in der DDR darstellt«. Bundeskanzler Helmut Kohl machte noch einmal deutlich, »einen Weg des Wandels« stützen zu wollen.
Ein merkwürdiger Tag, dieser 9. November 1989. In Frankfurt am Main ist mir ein grauer Tag in Erinnerung geblieben. Dort ist meine Partei, die CDU, auch Monate nach der Kommunalwahl noch damit befasst, den Sieg einer rot-grünen Koalition und das Ende einer mit Walter Wallmann einsetzenden Wende nach den Jahren der Sozialdemokraten zu verarbeiten. Dabei hatte sich bundespolitische Prominenz in den Wahlkampf eingemischt, brachte Helmut Kohl eine europapolitische Tagung eigens nach Frankfurt am Main. Denn völlig klar schien: Ein Machtverlust am Main würde dem Kanzler nicht guttun. Selten maß man damals von Bonn aus einer Kommunalwahl eine solche Bedeutung zu. Die Sozialdemokraten in Bonn gaben ihrem Frankfurter Frontmann, Volker Hauff, mit auf den Weg, sich von den Linken in Frankfurt nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und ganz ausdrücklich auf die Dienstleister zu zielen, um neue Wählergruppen zu erschließen. Drei Jahre später erst, 1992, übernehme ich die Spitze der Frankfurter CDU, die 1989 einen schweren Einbruch erlebt hatte. Zum Zeitpunkt der historischen Zäsur bin ich selbst Abgeordnete des Hessischen Landtags.
Das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) hat an diesem Tag überaus schwierige Fragen im Zusammenhang mit einem zum Untergang neigenden Staat zu beantworten. Günter Schabowski berichtet darüber, wie an den Abenden zuvor, der bereits gespannt wartenden internationalen Presse in Ostberlin, die den plötzlichen Reformeifer der SED mit großem Interesse begleitet. Schabowski spricht vor laufenden Kameras. Ungewöhnlich genug für ein Mitglied des Politbüros, dass er sich direkt Fragen stellen lässt von Journalisten aus aller Welt. Kurz vor dem Ende der Pressekonferenz kommt schließlich Riccardo Ehrmann zu Wort. Er ist Vertreter der italienischen Nachrichtenagentur ANSA. Und er will jetzt wissen, ob Schabowski den vor wenigen Tagen vorgestellten Entwurf für ein Reisegesetz inzwischen als Fehler bewerte. Schabowski antwortet auf Ehrmanns Frage: »Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der VPKÄ – der Volkspolizeikreisämter – in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dabei noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen.« Schabowski wirkt so, als könne er manches von dem, was er sagt, selbst kaum glauben. Immer wieder macht er lange Pausen.
Später am Abend dieses 9. Novembers sind die Bilder von der Pressekonferenz mit Schabowski immer wieder in den Programmen der Fernsehsender zu sehen.
Frankfurt sitzt vor dem Fernseher. Daniel Cohn-Bendit auch. Er habe diesen Tag in Frankfurt am Main erlebt, erinnert sich Jahre später der damals gerade Dezernent gewordene Mann an seinen 9. November. Cohn-Bendit ist zu diesem Zeitpunkt damit befasst, die Gründung des republikweit ersten Amtes für multikulturelle Angelegenheiten auf den Weg zu bringen. Aus heutiger Sicht kann man darüber nur sagen: Frankfurt hatte sich mit wichtigen Impulsen an das Thema gemacht und sucht seitdem nach Wegen gelingender Integration.
Alle haben sich am Abend dieses 9. Novembers gefragt, wer eigentlich Schabowski diesen kleinen, die Welt verändernden Zettel zugesteckt habe, mit dem der SED-Mann noch während der Pressekonferenz wichtige Informationen bekommen hat. Eine Sequenz, mit der man sich an diesen Tag erinnert. Der kleine Zettel macht augenblicklich alles anders. »Ständige Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD erfolgen«, berichtet Schabowski weiter. Wann das alles in Kraft trete, wollen die Journalisten wissen. Schabowski blättert in seinen Unterlagen: »Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.«
Zu diesem Zeitpunkt wirkt Jürgen Sparwasser als Amateurtrainer bei Eintracht Frankfurt. Als er beim Autofahren von Schabowskis Auftritt hört, berichtet der Mann, der als Schütze des 1:0 für die DDR im Gruppenspiel der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 gegen die Bundesrepublik Fußballgeschichte geschrieben hat, habe er in seiner totalen Verwunderung am liebsten sofort anhalten wollen, um auf seiner Heimfahrt vom Training kurz innezuhalten. Erst später habe er den Augenblick angemessen gewürdigt: »Zu Hause habe ich mit meiner Frau dann ein Glas Sekt getrunken.« Auf den 9. November 1989. Ein gutes Jahr zuvor waren die Sparwassers in die Bundesrepublik geflohen. Mehr als anderthalb Jahre habe er dann mit seiner Tochter Silke nur telefonisch reden können. Auf einmal durften die Sparwassers wieder zu ihrer Tochter fahren. Von West nach Ost. Das muss man erst einmal begreifen.
Am Abend der Maueröffnung und in den Tagen danach habe sie die Bedeutung des Ereignisses nicht gleich erfasst, räumte später auch die CDU-Politikerin Angela Merkel in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung ein. »Ich habe nicht sofort daran gedacht, dass die deutsche Einheit sehr schnell kommen wird.« Wenig später, erinnert sich die heutige Bundeskanzlerin, sei sie als Wissenschaftlerin zu Besuch in Polen gewesen: »Und die Polen waren der Meinung, da wird nicht viel Zeit vergehen.« Eine Zeit lang hofften die Ostdeutschen auf einen »dritten Weg«, eine Alternative zu Sozialismus und Kapitalismus. Sie selbst, sagt Merkel, habe daran nicht geglaubt. Die Diskussion über den dritten Weg erwies sich als »Kampf um Anerkennung«: Während Ostdeutsche darauf bauten, eigene Traditionen in die neue Zeit retten zu können, tat sich für manche im Westen die Perspektive einer politischen Alternative auf. In Frankfurt konnten sich vor allem manche Sozialdemokraten mit dem Gedanken anfreunden, dass der Fall der Mauer die Möglichkeit der Reform bringen könnte. Eine Idee, die sich im Laufe der Verhandlungen über die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten alsbald als Illusion erwiesen hat: Das Vorbild für die künftige Verfasstheit des zusammenwachsenden Landes sollte aus guten Gründen partout die Bundesrepublik sein.
Plötzlich ist alles anders gewesen, mischen sich auf einmal meist ganz hellblau gehaltene, nicht sonderlich robust wirkende Autos unter die Wagen, die in den kommenden Wochen auf dem Anlagenring in Frankfurt am Main unterwegs sind. So stellten sich die Frankfurter ihre Ossis wohl immer vor: In ihren Trabis wagten sie sich in den Tagen nach dem 9. November in eine europäische Hochburg des Konsums, holten sich an kalten Samstagen ihr Begrüßungsgeld und guckten sich den früheren Geburtsort der Freiheit, die Paulskirche, in der Innenstadt an. Frankfurt erschien ihnen als lohnendes Ziel, allein wegen der Hochhäuser steuerten sie die City an. Acht Wochen früher hätten sie sich die 53. Internationale Automobil-Ausstellung ansehen können.
Zu diesem Zeitpunkt ist Dolf Sternberger gerade ein paar Monate tot. Ende Juli starb er als einer der Doyens der bundesrepublikanischen Politikwissenschaft nach 1945. Kurz zuvor hatte man ihn in der Stadt am Main noch mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Im Grunde ist es Sternberger gewesen, der den politischen Bemühungen von 1989 frühzeitig mit seinen Überlegungen über das Wesen des Politischen die Richtung vorgab. Denn »der Gegenstand und das Ziel der Politik ist der Friede«, notierte der Gelehrte in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Heidelberg schon zu Beginn der 1960er Jahre. »Das Politische müssen und wollen wir zu begreifen versuchen als den Bereich der Bestrebungen, Frieden herzustellen, Frieden zu bewahren, zu gewährleisten, zu schützen und freilich auch zu verteidigen. Oder anders ausgedrückt: Der Friede ist die politische Kategorie schlechthin. Oder noch einmal anders ausgedrückt: Der Friede ist der Grund und das Merkmal und die Norm des Politischen, dies alles zugleich.« Das klingt wie ein Vermächtnis. Wie die Erbschaft dieser Zeit, die Sternberger im Namen des Nachkriegsdeutschlands festschreibt, das in Europa seine Rolle gefunden hatte. 140 Jahre nach dem Scheitern der von der Paulskirche ausgehenden Reformbestrebungen erfährt die Republik mit der friedlichen Revolution eine überaus glückliche Wendung: Deutschland ist 1989 auf dem Weg in die Freiheit. Mit der Perspektive, diese Freiheit als geeintes Land zu erreichen.
Im Rausch der Freiheit – was von 1989 bleibt
In der Tat stehe diese knappe Zeit zu Beginn der 1990er Jahre für eine Zäsur, unterstrich Gorbatschow an diesem ganz eigenen 20. Jahrestag in der Paulskirche, an dem der Mann, der im politischen Russland heute von der Staatsführung nach wie vor mit der Pflege der deutsch-russischen Beziehungen betraut ist, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten Revue passieren lässt. Schließlich sei es im Zusammenhang mit dem Fall der Mauer gelungen, dass Russen, Briten und Franzosen wirklich ihre zunächst durchaus fundamental wirkenden Vorbehalte, die sie nach den Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegen die Deutschen hegten, aus dem Weg räumten. Dieser Prozess sei alles andere als einfach gewesen, das müsse er unterstreichen, betonte Gorbatschow, und er erinnere sich nur zu gut an Frankreichs Präsidenten Frangois Mitterand, der ihm deutlich gemacht habe, Deutschland so liebzuhaben, dass er am liebsten zwei davon hätte. Und selbst dieser Staatsmann, der zunächst von einem größeren Deutschland partout nichts wissen wollte, habe schließlich – ähnlich wie die britische Premierministerin Margaret Thatcher, die Deutschland an sich am liebsten auf große Distanz gehalten hätte – im Laufe der Verhandlungen mit seinem Freund Helmut Kohl den Widerstand gegen ein Zusammengehen der beiden deutschen Staaten aufgegeben.
Der Widerstand gegen den zweiten Totalitarismus für die Ostdeutschen innerhalb von gerade vier Jahrzehnten kam aus den Städten des Ostens. Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, als vollziehe sich dort nach, was in früheren Zeiten und im gesamten Lande verpasst worden sei. Von 1989 aus sollte man eine Traditionslinie zum Widerstand gegen Hitler ziehen können. 1989 ist im Grunde eine späte Absage an Hitler und alle totalitären Staatsmänner gewesen: Unfreiheit sollte es in Deutschland, diesem über den demokratischen Gedanken zusammenfindenden Land, seitdem nie wieder und nirgendwo mehr geben. Der Antitotalitarismus ist der Grundkonsens des vereinten Deutschlands, an den man in politisch schwierigen Zeiten wie diesen durchaus erinnern darf: Im Streit der Parteien ringt die repräsentative Demokratie um die besten Ideen. Hinter den Willen zur Demokratie tritt der Gedanke an die Einheit der Nation zurück. Aus diesem Grund ist es auch so überaus schwierig, für Vorstellungen einer deutschen wie demokratischen Leitkultur Resonanz zu finden, die von allen akzeptiert werden kann.
Für die US-Amerikaner, die Briten, die Franzosen und die Russen stand die Vereinigung stets in einem Zusammenhang damit, das 20. Jahrhundert zu einem Abschluss zu bringen: 1989 ging in dieser Sicht der Dinge zu Ende, was 1914 seinen Ausgang genommen hatte. In diesem Sinne sollte nun auf jeden Fall doch noch das Unerledigte auf den Tisch kommen, verhandelte man in einem Zuge über den Abzug der alliierten Truppen aus Deutschland, über Hilfen für die nicht selten in Ungewissheit rückkehrenden Soldaten der russischen Armee und über die Schaffung von Fonds, die der Versöhnung mit vielen osteuropäischen Staaten gewidmet waren. Aus diesen Geldtöpfen sollten Opfer des nationalsozialistischen Regimes, die bis dahin nichts bekommen hatten, eine späte Wiedergutmachung erfahren. Erst lange nach den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen legte die Bundesregierung gemeinsam mit einer eigens geschaffenen Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft einen mit insgesamt fünf Milliarden Euro dotierten Entschädigungsfonds für ehemalige NS-Zwangsarbeiter auf. Ohne die Sammelklagen gegen deutsche Unternehmen in den USA und das Drängen des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton wäre aus diesem Entschädigungstopf wohl nichts geworden. Im Übrigen leisteten auch die Städte, die Zwangsarbeiter für Reparaturen und Instandsetzungen nach Bombardements während des Krieges eingesetzt hatten, einen Beitrag zu dieser Politik der Wiedergutmachung.
Der Präsident trommelte sämtliche Beteiligten des Zweiten Weltkriegs zusammen, um ihnen seine Agenda vorzustellen. Sie hieß: »In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert«. Mit diesem Arbeitsprogramm machte Clinton deutlich, dass der Westen die Menschenrechte zum universellen Maßstab der neuen Zeit machen wollte. Wenn damit der Rahmen gesetzt sein sollte, durfte es in der Historie nichts Unerledigtes geben, über das andere hätten sagen könne, solange Verletzungen der Menschenrechte in historischer Perspektive nicht geklärt seien, möge man von den Menschenrechten als Universalprinzip der Welt doch besser schweigen.
Es ging um Standards. Abstrakt gesetzt, konkret gemacht. Das Prinzip ist die Demokratie, ihr Ort die Stadt. Erst recht im 21. Jahrhundert. Städte gelten als Frühwarnsysteme für den Fall, dass sich etwas zusammenbraut, Unzufriedene ihre Verärgerung kundtun. Als Orte, an denen sich früher als anderswo Veränderungen ankündigen, Entwicklungen in Gang kommen. Der Schauplatz des Globalen ist das lokale Feld.
Trotz der historischen Leistungen unmittelbar nach 1989 sollte man sich nichts vormachen, betonte der in der Paulskirche von seinem Publikum gefeierte Gorbatschow: »Die beiden letzten Jahrzehnte brachten uns den globalen Herausforderungen nicht näher.« Der frühere sowjetische Präsident nannte in diesem Zusammenhang den Krieg, den Terror, die Armut und den Klimawandel. In diesen Belangen könne es nur vorangehen, wenn »die Krise des Modells, das auf maßlosen Profit und maßlosen Konsums setzt«, überwunden werde, betonte Gorbatschow. Im Grunde bündelten sich mit der ökologischen Herausforderung sämtliche Probleme, die sich in der Globalisierung stellen. Nur über »eine transkontinentale Gemeinschaft«, in der Russland, Europa und die USA zusammenfänden, ließe sich diese Herausforderung angehen.
In diesem Sinn muss man die Wiederherstellung der Einheit in Frieden und Freiheit auch als ein Projekt von europäischer Dimension verstehen. Über den Augenblick der Geschichte hinaus, den man nicht verpassen darf, hängt der langfristige Erfolg demokratischer Gesellschaften nicht von einzelnen Staatenlenkern ab. Wenngleich man nicht übersehen sollte, dass Politiker wie Gorbatschow Strömungen zu bündeln vermögen und Entwicklungen sprachlich prägen können: So spricht der frühere sowjetische Präsident gern von »dem gemeinsamen Haus Europa«, das es allmählich fertigzustellen gelte. Um das zu schaffen, braucht man vor allem eine Verstetigung demokratischer Prozesse.
Botschaft der Paulskirche – was Demokratie braucht
Um diese Einsicht zu unterstreichen, gibt es wohl kaum einen angemesseneren Ort als die Paulskirche, die bis heute eine überaus bedeutende Erinnerungsstätte geblieben ist. An diesem Ort hat sich die deutsche Demokratie mit dem Gedanken der staatlichen Einheit verbunden. Gemeinsam machten sich die von Freiheit beseelten Demokraten auf den Weg in die politische Realität – und sind in zähen Auseinandersetzungen schlussendlich doch gescheitert. Zwei weitere Anläufe waren nötig, bis es zunächst ein Teil der Deutschen in einen stabilen demokratischen Verfassungsstaat schaffte. Erst 1990 gelang es auch gesamtdeutsch.
Bis heute ist die Paulskirche ein Ort, an dem man versteht, dass es auch anders hätte laufen können. An dem klar wird, dass Demokratie mehr ist als die Schaffung staatlicher Institutionen, die Rechtssicherheit garantieren und somit einen Handlungsrahmen schaffen. Demokratische Handlungsformen wie Teilhabe und Möglichkeiten der Mitbestimmung müssen im Alltag für die Bürger erfahrbar sein. Dafür