Fremde Richter: Karriere eines politischen Begriffs
By Georg Kreis
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Book preview
Fremde Richter - Georg Kreis
Inhalt
Einleitung
Woher der Begriff «fremde Richter» kommt
Frühe Abwehr «fremder Richter»
Frühe Abwehr – zweite Runde
Wer die Formel der «fremden Richter» aufgeladen hat
Indirekte Stärkung des Richtertopos
Fanal im Bundesbriefarchiv
Die Bedeutung der «fremden Richter» in der heutigen Europapolitik
Hochstehende Diskussion im Jahr 2013
Endlich ein Ende der Endlosdebatte?
Die Bedeutung «fremder Richter» im Rahmen der Zugehörigkeit zur EMRK
Unzufrieden mit «Strassburg»
Testfälle mit überraschendem Ausgang
Die Schweiz und ihre Richter
«Fremdes» Bundesgericht?
Nur ein Reizwort?
Schlusswort
Anhang
Einleitung
«Keine fremden Richter!» Das ist eine starke Maxime des schweizerischen Selbstverständnisses. Wir begegnen ihr in der Schweiz beinahe täglich in den aktuellen Debatten um die institutionelle Regelung des Verhältnisses mit der Europäischen Union und wegen der Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention sowohl für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg wie auch für das Schweizer Bundesgericht in Lausanne.
Woher kommt die Begrifflichkeit, dieses Bild, dieser Topos? Und was ist damit gemeint? Das Gemeinte lässt sich schneller umschreiben als seine Herkunft. Gemeint ist, dass man die Jurisdiktion in den eigenen Grenzen behalten will. Zugleich steht die Maxime auch im allgemeineren Sinne für die Forderung nach nationalstaatlicher Unabhängigkeit und gegen formale Fremdbestimmung. Zudem verbindet sich damit ein innerer Herrschaftsanspruch – doch dazu erst später.
Es geht freilich nicht nur um Richter, sondern um Gerichte und Gesetze. Darum gilt die Ablehnung sogenannt fremder Richter auch Gerichten, in denen die Schweiz zwar regulär vertreten ist, aber Richter anderer Staaten darin die Mehrheit bilden. Und sie gilt Rechtsverständnissen, die nicht gleichsam dem eigenen Boden entstammen.
In den letzten Jahren ist viel über «fremde Richter» gesagt und geschrieben worden, viel Irrlichterndes, manchmal auch gut Informiertes. Dieses Buch will einen Überblick geben und den Interessierten Klärung anbieten. Es will die Herkunft dieser aufgeblasenen Maxime und deren polemische Nutzung aufzeigen, und es beschreibt die Schwierigkeiten, die sich deswegen ergeben. Es erörtert den Widerspruch zwischen der realen Bedeutung der angeblichen oder tatsächlichen Gefährdung der Souveränität und dem darüber gelegten ideologischen Diskurs. Und es plädiert für Nüchternheit und Gelassenheit im Umgang mit den davon betroffenen Fragen.
Um die wichtigsten Befunde der vorliegenden Abklärungen vorwegzunehmen: Die aus der tiefen Geschichte geholte Formel der «fremden Richter» ist erst in jüngster Zeit zum Schlagwort geworden. Dieses zielt gewiss auf den Geltungsanspruch supranationaler, aber auch der eigenen, nationalen Justiz, und es wird eingesetzt, um in allgemeiner Weise irreale Selbstbestimmung und «freie Fahrt» für rücksichtslose Basisdemokratie zu beanspruchen. «Fremde Richter» gehören zusammen mit «Unabhängigkeit», «Fremdherrschaft», «Geburtsstätte» etc. zu der Reihe von belasteten Wörtern, von denen der Zürcher Mediävist Roger Sablonier postuliert hat, dass sie aus dem Vokabular verschwinden sollten.¹ «Belastet» bedeutet in diesem Fall ideologisch aufgeladen durch das im 19./20. Jahrhundert herrschende Geschichtsbild. Diese Aufladung pflegte ein Verständnis, das sich die Eidgenossenschaft beziehungsweise die Schweiz als einen von aussen bedrohten Hort der Freiheit vorstellte und dabei bestehende Verbindungen mit der «Aussenwelt» sowie die inneren Unfreiheiten ausblendete.
Man kann sich ein Verschwinden dieses Topos wünschen; Topos verstanden als sprachlicher, mentaler Gemeinplatz, als stereotype Redewendung, als vorgeprägtes Bild. Man muss sich zugleich jedoch bewusst sein, dass seine Elimination ein frommer Wunsch ist und es vielmehr darum geht, ihn irrelevant zu machen, indem man die damit angesprochene Haltung abzubauen versucht und anstelle ideologischer Theoreme die konkreten Probleme diskutiert.
Das vorliegende Buch über «fremde Richter» folgt, was den «Ursprung» des später in Schwung gekommenen Schlüsselbegriffs betrifft, einer Haltung, wie Thomas Maissen sie bereits 2015 als nötig und darum wünschenswert bezeichnet hat: «Geschichtsbilder und gemeinschaftliche Normen gehen aus öffentlichen Debatten hervor, aus dem politischen Streit. Deshalb muss er, mit guten Argumenten, geführt werden. Die Geschichtswissenschaft spielt dabei eine kleine, aber wichtige Rolle als jene Instanz, die sagen kann, wo Aussagen über die Vergangenheit fragwürdig werden, wenn man sie an Quellen misst.»²
In diesem Buch sind die einschlägigen Debatten der Eidgenössischen Räte und die Publizistik der «NZZ am Sonntag» systematisch berücksichtigt worden. Weiteres Material kam weniger systematisch aus verschiedenen Quellen hinzu. Der Verfasser dankt den Kollegen der rechtswissenschaftlichen Disziplin und insbesondere der Kollegin Christa Tobler vom Basler Europainstitut und im weiteren Thomas Cottier, Andreas Kley, Giusep Nay sowie Daniel Klingele vom EDA für klärende Gespräche sowie dem Verlag Hier und Jetzt für die Aufnahme dieses Texts in sein Programm und die professionelle wie auch freundliche Betreuung im Produktionsprozess.
Woher der Begriff «fremde Richter» kommt
In der Verwendung der Formel «fremde Richter» lassen sich drei Grundtypen unterscheiden: Entweder wird sie einfach und ohne weitere Reflexion als gegeben genommen, oder sie wird bewusst als verpflichtendes Erbe der «Gründungscharta» des 13. Jahrhunderts verstanden. Und dann gibt es diejenigen, die von ihr reden, weil sie finden, dass man die Formel nicht verwenden sollte. Auch von ihnen wird im Lauf dieser Ausführungen die Rede sein. Zunächst geht es hier aber um den historischen Hintergrund des bekannten Bezugspunkts.
Die Formel «fremde Richter» wird dem auf Anfang August 1291 datierten Bündnis entnommen.³ Dieses Dokument ist 1891 zum Bundesbrief erhoben und damit zur Gründungscharta der Eidgenossenschaft gemacht geworden.⁴ Gemäss diesem Dokument beanspruchten die Stände Uri, Schwyz und Unterwalden tatsächlich ein Richterprivileg: In den urschweizerischen Tälern sollte kein Richter angenommen werden, «der das Amt irgendwie um Geld oder Geldeswert erworben hat oder nicht unser Einwohner oder Landsmann ist». Ähnlich statuierte es bereits eine wenige Monate zuvor von König Rudolf von Habsburg den Schwyzern am 19. Februar 1291 in Baden ausgestellte Urkunde.
Bruno Meier betont, der Bund von 1291 sei kein hochpolitischer, gegen Habsburg-Österreich gerichteter Bund gewesen, wie man dies insbesondere in den bedrohlichen Zeiten während des Zweiten Weltkriegs gerne sah.⁵ Richter und Vogt, Judikative und Exekutive im modernen Sinn, sind in dieser Zeit nicht zu trennen, eine Gewaltenteilung war inexistent. Wenn die Schwyzer eigene und keine gekauften Richter wollten, dann beanspruchten sie eine direkte Beziehung zum König ohne eine Zwischengewalt. Es ging also mehr um Selbstbestimmung nach innen als um die Abwehr «fremder Richter». Wie Clausdieter Schott erläutert, leiteten die Landvögte, die als Richter bezeichnet wurden, das gerichtliche Verfahren bloss, während ausgewählte Landleute die Urteile fällten.
Bis weit ins 19. Jahrhundert konnte es schon deswegen keine autoritativen Bezüge auf die Bundesformel der «fremden Richter» geben, weil das auf das Jahr 1291 datierte Dokument nicht bekannt war. Bekannt war der Bund von Brunnen von Dezember 1315, der immer als der erste Bund gegolten hatte. Die wiederholte Behauptung, man habe während 700 Jahren gegen «fremde Richter» gekämpft, ist falsch, wie ja auch die Behauptung völlig falsch ist, dass «seit Jahrhunderten» das Volk die oberste Instanz sei, wie Christoph Blocher immer wieder herausstreicht und auch an der Albisgüetli-Tagung 2016 betonte.⁶
Bezeichnenderweise kommt der erst später bekannt gewordene Topos im berühmten Drama «Wilhelm Tell» (1804) nicht vor. Der deutsche Nationaldichter Friedrich von Schiller (kein «fremder Richter», aber eigentlich ein fremder Dichter) lässt den Schwyzer Stauffacher in der Rütliszene (ein Mondregenbogen im Hintergrund), zweiter Aufzug, zweite Szene, immerhin das Folgende deklamieren: «Unser ist durch tausendjährigen Besitz / Der Boden – und der fremde Herrenknecht / Soll kommen dürfen und uns Ketten schmieden, Und Schmach antun auf unsrer eignen Erde?»
Christoph Blocher, von Student Damian Rossi 2013 befragt, war der Meinung, das Wort der «fremden Richter» stamme von Schiller, und dieser habe sich auf den Bundesbrief von 1291 gestützt.⁷ In Schillers Drama ist aber nicht von «Richtern» die Rede, und das Dokument von 1291 dürfte ihm höchstwahrscheinlich unbekannt gewesen sein. Es war zwar 1760 vom Basler Gelehrten Johann Heinrich Gleser publiziert und 1780 von Johannes von Müller in seiner «Schweizer Geschichte» registriert worden, erhielt aber erst nach 1804 einen kanonischen Platz in der Geschichtsschreibung. Damals bildete einzig der legendäre Rütlischwur von 1307 und noch nicht der «Brief» von 1291 den vermeintlichen Ausgangspunkt der Eidgenossenschaft.⁸
Von «fremden Richtern» hätte allenfalls die Rede sein können, sofern die Formel gegen Ende des 15. Jahrhunderts geläufig gewesen wäre, als das Verhältnis zu dem 1495 geschaffenen Reichkammergericht geklärt werden musste. Da ging es aber um Reichsrecht und nicht um internationales Völkerrecht, das es als solches noch gar nicht gab. Im Frieden von Basel von 1499 erzielten die Eidgenossen die grundsätzliche Befreiung vom Reichskammergericht. Einzelne Eidgenossen wandten sich aber zum Missfallen ihrer Obrigkeiten dann und wann trotzdem an diese Instanz, zum Beispiel an das in Rottweil eingerichtete Reichsgericht.
Die vollständige Befreiung (Exemption) kam erst im Westfälischen Frieden von 1648 zustande. Bis dahin sah sich die Eidgenossenschaft mehr oder weniger selbstverständlich als Teil des Heiligen Römischen Reiches.⁹ Aber es gab auf eidgenössischer Seite einen geringeren Bedarf und offenbar eine andere Grundeinstellung zur Frage der Konfliktbeilegung und zur «Verdichtung» der Reichsverfassung: Das Gebiet der Eidgenossenschaft war weniger Unruhen ausgesetzt, zudem zog sie politische Lösungen den langwierigen und teuren Rechtsprozeduren vor.¹⁰
Erst zu jenem Zeitpunkt, also in den westfälischen Friedensverhandlungen, setzte der eidgenössische Gesandte unter dem Einfluss Frankreichs, das die schweizerische Ablösung vom Reich und damit indirekt von Habsburg-Österreich betrieb, auf nationale Souveränität. Ein Streit um «eigene» oder «fremde Richter» war dies nicht, und in der heutigen Debatte über nationale und supranationale Zuständigkeiten bildet dieser Teil der Geschichte bezeichnenderweise keinen aufgeladenen Bezugspunkt.