Das Korsett
By Weber Ruth
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Das Korsett - Weber Ruth
Lena
Ich hatte meine Grossmutter lange nicht mehr besucht. Nun, ein paar Tage vor Weihnachten, schob ich sie in einem Rollstuhl in den Aufenthaltsraum, in dem ein geschmückter Baum stand. Ich begann leise Weihnachtslieder zu singen «Oh du fröhliche», «Inmitten der Nacht». Meine Hand, mit der ich die ihre umfassen wollte, um sie meine Anwesenheit spüren zu lassen, um ihr und mir zu zeigen, dass wir miteinander verbunden sind, schob sie energisch zur Seite. Die Kraft ihrer Bewegung, die Energie ihres schmalen Körpers, der nur mehr aus kühler Haut und durchschimmernden Knochen zu bestehen schien, liess mich zusammenzucken. «Sein lassen», sagte sie mit brüchiger Stimme. Und nochmals, «sein lassen», diesmal lauter. Ich blieb noch ein wenig neben ihr sitzen, in einem mit Kunstleder bezogenen Lehnstuhl und wusste nicht, was ich zu ihr sagen könnte. Die Welt, in der sie sich zu befinden schien, war für mich unerreichbar. Ihre Finger spielten mit dem goldenen Geschenkband, mit dem ich das Glas mit Bienenhonig geschmückt hatte. Ich hatte nicht gewusst, was ich ihr schenken könnte und mich nach einigem Überlegen für etwas entschieden, das mir sinnvoll und praktisch erschien. Sie begann am Band zu ziehen, das Glas drehte sich und kippte um. Sie nahm es regungslos zur Kenntnis, ihre Augen unaufhörlich auf mich gerichtet. Ich nahm das Glas und stellte es für sie unerreichbar auf den Tisch. Die Augen, die mich durchdrangen, ihre Wortlosigkeit, die auch mir die Worte nahm, lösten in mir ein Unbehagen aus, das mich in meiner Tasche nach einem Taschentuch kramen liess, nach einem Hustenbonbon, einem Kaugummi. Ich stellte mir vor, dass sie aufstehen, nach dem Honig greifen und ihn nach mir werfen würde. Ein Gedanke, der mich erschreckte, hatte ich doch die Grossmutter nie wütend erlebt, kaum einmal traurig oder erfreut.
Und doch konnte ich eine Spannung spüren, die von ihr ausging und sich wie ein feines Netz über diesen fensterlosen Raum mit dem blauen Linoleumboden legte, über den Weihnachtsbaum und bis zur Türe, die zum Korridor hin offenstand. Ich hatte mir den Besuch anders vorgestellt, hatte gedacht, dass ich sie trösten würde. Dass die Grossmutter kein Mensch war, der getröstet werden wollte und es wohl lange her war, dass sie andere tröstete, daran hatte ich nicht mehr gedacht. Ich war mit der Sicherheit hergekommen, dass sie meinen Trost brauchen würde, ja, ich dachte, sie würde sich über meinen Besuch freuen. Nun fühlte ich mich beschämt und wütend, wütend über mich selbst, über meine Erwartung, freudig empfangen zu werden. Dabei war ich es, die es Monate nicht für nötig empfunden hatte, sie zu besuchen. Mein Unbehagen löste sich erst, als ein junger Pfleger in den Raum kam, um sie abzuholen.
«Sie möchte ins Bett», sagte er, «sie möchte immer um diese Zeit ins Bett. Vielleicht sollten Sie jetzt gehen.» Erleichtert und doch unsicher, wie ich mich verabschieden sollte, strich ich mit der Hand leicht über ihre Wange. Ich könnte sie umarmen, meinen Arm um ihre schmalen Schultern legen, meine Wange an die ihre drücken, dachte ich. Doch wir hatten uns nie umarmt, und mir fehlte die Gewohnheit, es einfach zu tun.
Wenige Wochen nach meinem Besuch war sie tot. Ich fuhr noch einmal zum Altersheim. Mit geschlossenen Augen lag sie in ihrem Bett. Ihre Hände waren zusammengefaltet wie zum Gebet und fühlten sich kalt an. Das Nachthemd, das sie trug, war aus weissem Leinen und hatte an den Ärmeln Spitzenborten. Es sah aus, als hätte sie es davor noch nie getragen. An den Ärmeln und über dem Bauch waren Falten, die sich in den Stoff geprägt hatten.
Als Kind sah ich ihr zu, wie sie die gebügelte Wäsche in den Schrank in ihrem Schlafzimmer legte. Im obersten Regal lagen die Nachthemden, die sie von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte. Wir strichen mit den Händen darüber, und in meiner Nase war ein feiner Geruch von dem Stück Seife, das sie dazwischen gelegt hatte. Dass die Nachthemden zu schade zum Tragen seien, sagte die Grossmutter, vielleicht später einmal. Später einmal, sie sagte das oft, und man ahnte, dass es dieses Später niemals geben würde.
Nun, da sie tot war, trug sie eines dieser Hemden, und der Gedanke daran, dass erst nach ihrem Tod der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war, machte mich traurig. Ich dachte an die Ferientage, die ich bei ihr verbracht hatte. An meine Kinderhand, die ich beim Spazieren in ihre Manteltasche gesteckt hatte. Der Mantel war bordeauxfarben und der Kragen aus schwarzem Fell. Und wenn ich an die Farbe des Mantels dachte, hatte ich den Geruch von gekochten Brombeeren in der Nase.
1983, Lena
Neben dem Haushaltsgeschäft ist das Kühlhaus. Wenn wir darinstehen, ist Nebel um uns, und die Grossmutter verschwimmt zwischen den Schränken. Wenn sie wieder auftaucht, sieht sie aus wie Maria, die den Kindern auf dem Feld erscheint. Um ihren Kopf ein Schein aus kalter Luft, in der Hand hält sie Beutel mit gefrorenen Beeren, die sie im Sommer gesammelt hat. Auf dem Heimweg sehen wir den Herrn Bänziger. Herr Bänziger, sagt die Grossmutter zu ihm.
Grüezi sagt sie auch, aber es ist kaum zu hören, das Wort murmelt in den Tiefen der Grossmutter wie ein Bergbach in einem entfernten Tal. Ich schaue die Grossmutter von der Seite an und wundere mich, dass es in einem Menschen, der kaum grösser ist als ich, so tief hinunter gehen kann. Der Herr Bänziger war Lehrer, sagt sie, als er weitergegangen ist. Die Tante war bei ihm in der Schule und der Vater auch.
Vor dem Abendessen sitzen wir am Stubentisch und warten, bis der Grossvater aus der Schreinerei heraufkommt. Vom Buffet herab blickt mich die Tante an. Das Foto, das in einem silberfarbenen Rahmen steckt, wurde aufgenommen, als sie ein Mädchen war. Sie trägt eine karierte Schürze. Die Zöpfe sind dicht und fallen nach vorne, und ihre Augen blicken in die Ferne. Vielleicht hat sie da schon gewusst, dass sie weggehen wird. Das Foto des Buben ist auf der rechten Seite des Buffets unter dem Bild mit den Appenzeller Geissen. Ich sehe den Vater, es ist sein Gesicht ohne die Jahre darin. Dass auch er ein Kind war, kann ich mir nicht vorstellen. Er lächelt und hält eine Kreidetafel in der Hand. Er hat schwarze Haare und dunkle Augen, und ich weiss nicht, wohin er sieht. Es gelingt mir nicht, seinen Blick auf mich zu lenken, auch wenn ich es von verschiedenen Seiten her probiere. Seine Augen schauen an mir vorbei, ich kann mich anstrengen, wie ich will, unsere Blicke begegnen sich nicht.
Lena
Die Geschichte meiner Grossmutter Anna zu erzählen, heisst, ein Leben zu inszenieren, das mir zu grossen Teilen fremd ist. Es sind Fragmente, die ich zu einem Ganzen zusammendenke. Erinnerungen, Beobachtungen und Gefühle, die mich mit ihr verbinden und die mir helfen, ihr Leben und damit auch das Leben meiner Familie verstehen zu können. Die Ferien, die ich als Kind bei den Grosseltern in Speicher verbrachte, haben sich mir eingeprägt. Es ist der Geruch der Wohnung, des dunklen Treppenhauses, des Estrichs, der Backerbsensuppe. Es ist das Geräusch der herannahenden Trogenerbahn, es ist das Warten auf der gegenüberliegenden Strassenseite mit dem Milcheimer an der Hand auf den Milchmann, es ist der Geschmack von stichfestem Vanillejoghurt, es sind Brombeeren, die wir am Waldrand pflückten.
Die Überschaubarkeit des Tagesablaufs und das Dorf Speicher, das ich auf unseren Spaziergängen aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtete, liessen in mir das Gefühl aufkommen, mich in einer Märchenwelt zu befinden. Mit der Grossmutter verband mich Kinderglück. Dass dieses irgendwann Risse bekam, bemerkte ich erst, als es zu spät war. Ich wurde erwachsen, und die Grossmutter erschien mir zunehmend distanziert oder vielleicht war ich es, die sich von ihr entfernte. Die Verbundenheit der Kindheit konnte ich nicht mehr spüren, zur Begrüssung reichte uns ein knapper Händedruck, sie erzählte mir von Begegnungen beim Einkaufen und davon, wie sie ihre Mahlzeiten zubereitete. Sie schien sich nicht für mein Leben zu interessieren, und ich erkannte, dass dies wohl schon früher so gewesen war. Dass die Verbundenheit, die ich als Kind gespürt und die Wärme, die mich getröstet hatte, mehr Wunsch als Wirklichkeit gewesen waren. Ich, ein nachdenkliches, scheues Kind und Anna, die Grossmutter, geprägt von einer Kindheit, von der ich keine Ahnung hatte.
Alles an Anna war unauffällig, war zurückhaltend und ohne den Anspruch, etwas Besonderes zu sein. Sie ging mit Dingen und Gefühlen sparsam um. Die Kleider, die sie trug, als ich ein Kind war, trug sie auch noch im Altersheim. Die wenigen Kostbarkeiten, die sie im Stubenbuffet aufbewahrte und die sie uns jeweils an Weihnachten zeigte, befanden sich nach ihrem Tod noch immer in der Originalverpackung. Grosszügig war Anna einzig mit dem Kirsch, den sie dem täglichen Nachmittagskaffee zufügte. Um das heisse Getränk abzukühlen, wie sie sagte. Aussergewöhnlich alt geworden, verbrachte sie die letzten Jahre in einem oberhalb des Dorfs Trogen gelegenen Altersheim. Die Grossmutter hat gern gegessen, was ihrer zierlichen Figur nicht anzusehen war. Ihr schmeckte alles, und auf die Frage, ob es ihr im Altersheim gefalle, antwortete sie, dass das Essen gut sei. Es sei gut und genug, und dazu bekomme sie jeden Tag ein Glas Wein. Sie schien verwundert darüber, dass täglich in ausreichenden Mengen gekocht wurde. Die Nahrungsknappheit, die sie in ihrer Kindheit erlebt hatte, schien sie geprägt zu haben. Und nach den Jahren, die sie nach Grossvaters Tod alleine gelebt hatte, und sich von gebratenen Kartoffeln, Nudeln und Gurken ernährt hatte, schätzte sie das abwechslungsreiche Essen.
Sie war zufrieden, mit dem Essen und dem täglichen Glas Wein, damit, dass alle nett seien, wie sie sagte.
Dabei strich sie mit ihren Händen über die Tischkante, die linke Hand hielt den Tisch, die rechte strich unentwegt. Man hätte ihr sagen mögen, dass sie damit aufhören solle, dass das schabende Geräusch Gänsehaut erzeugte. Doch hat es niemand gesagt. Vielleicht, weil die Bewegung mehr war als blosse körperliche Regung. Ich stellte mir vor, dass es die Hand einer Mutter wäre, die ihrem Kind liebevoll über den Kopf streichen würde. Keiner wusste mit Sicherheit zu sagen, ob sie noch wahrnehmen konnte, was um sie herum geschah. Oder ob sie sich zurückgezogen hatte, Jahre zurück vielleicht, in eine Welt, von der sie uns nie erzählt hatte. Das Leben wich langsam aus ihr, es war ein langsames Zurückziehen, sie verschwand in sich. Ob ihr das Angst machte, ob sie den bevorstehenden Tod akzeptieren konnte und ob sie an die Ewigkeit glaubte, wusste ich nicht. Was von Anna zurückbleiben würde, war nicht mehr als ein schmaler Körper, dazu ein paar Fotos, auf denen Personen abgebildet waren, deren Namen ich nicht kannte und ein Stapel Tischtücher aus weissem Leinen, von ihrer Mutter mit Blumenranken bestickt. Keine Briefe, keine Erinnerungen an eine Kindheit, die von Verlust und Krieg geprägt war. Keine Hinweise auf einen Vater, auf Geschwister, auf verlorengegangene Menschen.
Sie als hilfsbedürftigen, abwesenden Menschen zu sehen, als jemanden, der alles vergessen zu haben schien, was sich in mehr als hundert Lebensjahren ereignete, machte mich betroffen und ich fühlte mich seltsam schuldig. Schuldig, mich nie wirklich für sie interessiert zu haben, mich nicht nach ihrer Kindheit, ihren Jahren als junge Frau und Mutter