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Yoga und soziale Verantwortung: Sich gründen im Außen und Innen mit Yama und Niyama
Yoga und soziale Verantwortung: Sich gründen im Außen und Innen mit Yama und Niyama
Yoga und soziale Verantwortung: Sich gründen im Außen und Innen mit Yama und Niyama
Ebook301 pages3 hours

Yoga und soziale Verantwortung: Sich gründen im Außen und Innen mit Yama und Niyama

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About this ebook

Ereignisse wie Umweltkrisen, Pandemien und Krisen der Asylpolitik machen deutlich, dass wir eine gemeinsame moralische Basis brauchen, um Probleme in gegenseitigem Respekt und auf demokratische Weise zu diskutieren und zu bewältigen.

Mit diesem Buch schlägt Alexandra Eichenauer-Knoll eine Brücke zwischen dem eigenen Yoga-Übungsweg und der Einbindung der Yama- und Nyama-Prinzipien in den gesellschaftspolitischen Diskurs. Die Autorin befähigt Leser:innen dazu, durch Yoga politisch wirksam zu werden, und ermutigt zur Übernahme von sozialer Verantwortung. Das Buch ist eine Aufforderung zum Tieferdenken auf das Verbindende zwischen Spiritualität und Politik, zwischen moralischen Grundwerten und hinspürender Selbsterfahrung.
LanguageDeutsch
PublisherWindpferd
Release dateFeb 28, 2022
ISBN9783864103643
Yoga und soziale Verantwortung: Sich gründen im Außen und Innen mit Yama und Niyama

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    Book preview

    Yoga und soziale Verantwortung - Alexandra Eichenauer-Knoll

    1. Kapitel

    Auf dem Yogaweg sein – gerade in Krisenzeiten

    »Im utopischen Denken liegt ein großes und starkes Freiheitspotenzial. Und jeder kann sich darin üben etwas zu denken, das nicht dem Mainstream entspricht, das Gesellschaften und Lebensbedingungen verändern, vielleicht sogar verbessern kann.«

    Renata Schmidtkunz¹

    Die Stärkung einer vertrauensvollen Basis

    Wie kommt es, dass eine Yogalehrerin ein Buch über soziale Verantwortung schreiben möchte? Ich unterrichte Yoga seit dem Jahr 2004 und habe fast zeitgleich angefangen, mich auch im Berufsverband Yoga Austria – BYO zu engagieren. Ich startete mit der Verantwortung für eine Mitgliederinfobroschüre, dann entwickelten wir einen Newsletter. Es folgten acht Jahre im Vorstand des Verbandes und bis heute die Mitarbeit in weiteren kommunikativen Belangen. Derzeit bin ich auch wieder im Vorstand des Verbandes aktiv. Ich erlebte und erlebe diese Übernahme von berufspolitischer Verantwortung sehr teamorientiert und im gemeinsamen Bemühen, die Grenzen der anderen zu respektieren.

    Ganz anders entwickelte sich mein Engagement in der Begleitung von geflüchteten Menschen. Ein erstes Kennenlernen erfolgte ab 2013 beim Abhalten von ehrenamtlichen Deutschkursen für Asylwerber:innen, die in einer kleinen Pension im Nachbarort untergebracht waren. Es waren intensive und oft auch sehr heitere Begegnungen. Sie halfen den Menschen, die Traurigkeit zumindest stundenweise durch fleißiges Tun beiseitezuschieben, und vor allem das Grübeln über die völlig ungewisse Zukunft.

    Mein Lebensgefährte entwickelte später die Idee, ein Begegnungshaus für »Hiesige und Zuagroaste« in unserem Heimatort zu eröffnen. Während wir noch an den Plänen und Konzepten für interessierte Fördergeber:innen tüftelten, überschlugen sich 2015 die Ereignisse, als sich die Grenzen nach Ungarn für kurze Zeit öffneten und unzählige Menschen auf der Flucht durch Österreich kamen oder hier um Asyl ansuchten. Ich erlebte, dass es möglich ist, selbstorganisiert zu handeln und gleichzeitig im Kollektiv mit anderen engagierten Menschen ähnliche Probleme zu meistern. So wurde mir bewusst, dass eine starke Zivilgesellschaft als autonomes Kollektiv Verantwortung übernehmen kann, und zwar ohne politische Beschlüsse abzuwarten. Es waren für mich sehr prägende Erfahrungen von Mitmenschlichkeit, Solidarität und Tatkraft. Zufälligerweise schrieb ich im Sommer 2015 eine Masterarbeit für mein Studium »Spirituelle Begleitung in der globalisierten Gesellschaft« an der Donauuniversität Krems. Ich vergleiche darin Konzepte von Mahatma Gandhi und Ideen der Tiefenökologie. Es war, als würden diese auf einmal wie Samen aufgehen, als könnte es wahr werden: Viele Menschen engagieren sich unabhängig voneinander für das Gute und wachsen zu einer großen Bewegung zusammen.

    Die vielen Helfer:innen wurden rasch sehr selbstbewusst, erfuhren Selbstwirksamkeit und waren bereit, dafür ein hohes Maß an sozialer Eigenverantwortung zu übernehmen. Wenig später wurde allerdings offensichtlich, dass gerade ihre Autonomie den politischen Parteien unbequem wurde. Sie waren zu sehr bei den geflüchteten Menschen, sie sahen die Tatsachen zu differenziert und hinterfragten gängige Klischees und politische Äußerungen, die sich zunehmend auch am Potenzial einer verängstigten und zuwanderungskritischen Wählerschaft orientierten. Das ist schade, denn dieses Kollektiv an interkultureller Integrationskompetenz halte ich für sehr gesellschaftsrelevant.

    Wir hatten Glück und starteten 2016 mit unserem Begegnungshaus, dem »Comedor del Arte« in Hainfeld – mit Deutschkursen, Spielnachmittagen, Workshops, Integrationsfesten und vielen, vielen guten Begegnungen. Das Projekt existiert bis heute.

    Die Corona-Pandemie hat uns inzwischen andere und neue kollektive Erfahrungen beschert. Durchaus auch verbindlich Schönes, aber leider auch schmerzlich Trennendes. Die Diskussionen über die Pandemie spalteten unsere Gesellschaft in einem Ausmaß, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Vor allem sind jetzt, im Gegensatz zu 2015, wirklich alle Bürger:innen in irgendeiner Form in die Maßnahmen und Diskussionen involviert – von meinem fünfjährigen Nachbarsjungen bis zu meiner dreiundachzigjährigen Tante. War es 2015 eine Zivilgesellschaft, die durch direkten, persönlichen menschlichen Kontakt und horizonterweiternde Erfahrungen erstarkte, so verstärken und verbreiten sich heute Meinungsblasen durch kollektives »Liken« und Weiterleiten von algorithmengesteuerten Informationen. Die neue Protestbewegung ist diffus zu verorten, geeint jedenfalls in ihrer kollektiven Skepsis gegenüber den Maßnahmen und Zahlenveröffentlichungen der »Herrschenden«. Der Vertrauensverlust in das Establishment ist so enorm, dass sogar pauschal Journalist:innen verunglimpft und attackiert werden. Die Tatsache, dass durch mehrere Lockdowns persönliche Kontakte untersagt wurden, fördert natürlich auch diese Tendenzen. Ich will hier die Social Media nicht schlechtreden und nehme auch kritische Stimmen ernst. Ich fordere nur zu eigenem Denken statt automatischem, unreflektiertem »Teilen« auf.

    Was mir am meisten Sorgen bereitet, ist der spürbare Vertrauensverlust in die politischen Entscheidungsträger:innen. Sie tragen mit ihrem manchmal schwer verständlichen Pandemiemanagement und empörenden Korruptionsskandalen natürlich selbst maßgeblich zu diesen Tendenzen bei. So ärgerlich diese Geschehnisse sind, so klar ist für mich trotzdem, dass es nur einen guten Weg geben kann: Wir müssen unsere Demokratie stärken und uns mit unserem Engagement, unserem Denken und unserer Bereitschaft zur Eigenverantwortung einbringen. Wir dürfen unser Schicksal weder den Algorithmen der Social Media noch den Eigeninteressen von politischen Eliten oder offensichtlich demokratiefeindlichen Kräften überlassen.

    Für mich stellen sich jetzt Fragen wie diese: Wie überbrücken wir die Risse in unserer Gesellschaft, wie entwickeln wir neue heilsame Ideen für eine gemeinsame Zukunft? Auf welche gemeinsamen Werte können wir uns einigen? Und vor allem: Wie aktivieren wir wieder unser Vertrauen in eine funktionierende Demokratie und in die Wirksamkeit von sozial engagiertem, kollektivem Tun?

    Die soziale Verantwortung ist im zwanzigsten Jahrhundert in die Liga einer moralischen Kategorie aufgestiegen und zu einem existenziellen Wert für die Weltgemeinschaft geworden. Um zu erläutern, wie es dazu gekommen ist, werde ich im folgenden Kapitel einen Blick zurück in die Geschichte werfen. Trotzdem ist die Idee, soziale Verantwortung für andere zu übernehmen, im Sinne davon, ganzheitlich zu denken und die Folgen für die Natur und für die nächsten Generationen in das eigene Handeln einzubeziehen, noch nicht so ganz in der Gesellschaft angekommen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander, neue Lebensentwürfe machen Hoffnung, aber auch Angst sowie individuelle Überforderung und Erschöpfung sind weit verbreitet.

    Was wir allerdings alle spüren, ist, dass wir eine Zeit des Wandels erleben. Klimakrise und Flüchtlingsbewegungen und jetzt auch noch die Corona-Pandemie machen deutlich, dass unsere Probleme sich nicht regional und im Alleingang lösen lassen. Alles ist mit allem verbunden. Ich möchte meinen bescheidenen Beitrag dazu leisten, indem ich die Grundwerte des Yoga und auch die Übungsmethode Yoga in diese Diskussion über soziale Verantwortung hineintrage. Yoga hilft jedenfalls, das Grund- und auch das Selbstvertrauen zu stärken.

    Was kann der Yoga zu gesellschaftlichem Engagement beitragen?

    Der Yoga ist ein komplexes System aus moralischen Handlungsempfehlungen, Körper- und Atemübungen bis hin zu meditativen Techniken und spirituellen Weisheitslehren. Immer wieder fließt eins ins andere, ein laufend sich umschichtender Prozess – vom Groben ins Feine, vom Gedanken zum Atem, von außen nach innen, von der tiefen Erkenntnis zurück zum alltäglichen Tun … Wir lernen, uns selbst zu beobachten und unsere individuellen Belastungsgrenzen zu erkennen, aber auch, unsere Ressourcen zu stärken und Selbstwirksamkeit zu erfahren. Mit der Übung wächst die Lust, sich zu erproben – auf der Matte und in den Begegnungen in der Gesellschaft. Yoga macht Lust auf selbstwirksame, soziale Begegnungen. Soziale Verantwortungsübernahme ist ein großes Übungsfeld dafür.

    Yoga ist – trotz aller Lehrmeinungen, Schulen und der Entwicklung von unzähligen Yogastilen in den letzten hundert Jahren – immer ein Erfahrungsweg. Nur die Erfahrung macht das möglich, was Yoga ist – ein Ankommen im Hier und Jetzt, ein Seinszustand. Die Erfahrung entsteht durch das Hinspüren – auf das, was gerade präsent ist: Gedanken, Körpergefühle, Stimmungen … Yoga lässt uns die eigene Lebendigkeit spüren. Und damit wächst der Wunsch, auch zukünftige Begegnungen im Außen lebendiger und heilsamer zu gestalten. Yoga vermittelt uns eine Vision für ein achtsames, respektvolles Miteinander. Soziale Verantwortungsübernahme ist ein großes Erfahrungsfeld dafür.

    Yoga basiert auf moralischen Handlungsanweisungen, sowohl für Begegnungen im Außen als auch für die eigene Lebensführung – die Yamas und Niyamas, auf die ich später genauer eingehen werde. Wir üben im Yoga, diese Prinzipien inwendig fühlbar zu machen und so von innen nach außen nicht nur eine bessere Aufrichtung der Wirbelsäule, sondern auch ein moralisches Rückgrat zu entwickeln, das uns im Alltag Haltung bewahren lässt. Wenn wir spürend verstehen, warum Haltung unverzichtbar ist, können wir sie auch selbstbewusster in die Gesellschaft hineintragen und vertreten. Das ist wichtig zu verstehen. Wenn ich beispielweise auf der Matte möglichst ohne Druck übe, also ohne Ehrgeiz und Anspannung, sondern stattdessen mit Hingabe und Wohlwollen, dann kann dieser achtsame Umgang mit Druck, der ja auch eine Form von Gewalt ist, auch meine sozialen Beziehungsmuster verändern. Yoga ist ein ganzheitlicher Weg, ein Lebensweg. Ich mache nicht Yoga und dann etwas anderes. Wenn ich danach mit jemandem spreche, bleibe ich trotzdem im achtsamen Spüren und bleibe meinen moralischen Prinzipien treu. Der Alltag und das Üben auf der Matte sind also auf einer tieferen Ebene nicht wirklich voneinander zu trennen. Die innere Haltung sollte dieselbe sein. Ich kann nicht einen Menschen verletzend behandeln und mich danach genüsslich auf der Yogamatte entspannen. Das ist nicht authentisch. Genauso vice versa: Ich kann kein ganzheitliches Leben führen, wenn ich zwar den anderen die Wahrheit einschenke, über meine eigenen Gefühle und Handlungsmuster hingegen lieber im Unklaren bleibe und meine eigene Selbsterforschung ablehne. Yoga wirkt immer in beide Richtungen – nach innen und nach außen. Yoga ist eine Haltung, die man im Leben einnimmt, und wird spürbar durch das moralische Rückgrat. Soziale Verantwortungsübernahme ist ein großes Betätigungsfeld, um Haltung zu zeigen.

    Glücklicherweise gibt es genügend Menschen, die intuitiv richtig handeln und gute Taten setzen. Mit und ohne Yoga. Für alle verantwortungsbewussten Menschen ist es dennoch sinnvoll, die eigenen moralischen Werte und Positionen gelegentlich durchzudenken. Dies dient der Selbsterforschung und liefert eine gefestigtere Basis für konstruktive Gespräche und mehr Entscheidungssicherheit. Warum?

    Der norwegische Philosoph und Umweltaktivist Arne Næss prägte Anfang der 1970er Jahre den Begriff »Tiefenökologie«, der später von der Amerikanerin Joanna Macy übernommen wurde. Die Tiefenökologie versteht sich demnach als »tief«, weil die Fragestellungen über Zweck und Wert tiefgründig sind, weil die Fragen bis an das Fundament reichen müssen.² Damit unterschied Næss sich von dem, was er als »shallow ecology movement« bezeichnete, einen Umweltaktionismus ohne ethische Basis. Næss forderte einen gravierenden Paradigmenwechsel in den Industriegesellschaften und ging davon aus, dass dieser auf einer soliden Basis gegründet sein muss – auf sorgfältig begründeten Normen und Werten und logisch verknüpften Argumentationsreihen: »Mit anderen Worten: Der argumentative Zusammenhang zwischen den je relevanten Grundwerten und den konkreten Entscheidungen lässt sich im Einzelfall nicht immer nachvollziehen. Wie man von Grundwerten wie Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit zur konkreten politischen Umsetzung dieser Prinzipien gelangt, ist auch heute noch ein Buch mit sieben Siegeln.«³ Denn in der Praxis fehlt oft der argumentative Mittelbau, also die argumentative Herleitung zwischen den Grundwerten und den konkreten Maßnahmen. Næss bringt ein Beispiel aus dem norwegischen Schulsystem: Im Curriculum wird zum Beispiel Hilfsbereitschaft gefordert, in konkreten Prüfungssituationen ist Hilfsbereitschaft aber verpönt.⁴

    Ich versuche mich ebenfalls an zwei Beispielen: Hilfsbereitschaft hat einen hohen moralischen Stellenwert in unserer Gesellschaft. Wenn allerdings Seenotretter:innen Geflüchtete aus dem Mittelmeer ziehen, werden sie behindert, möglicherweise sogar bestraft, zum Schutze der europäischen Außengrenzen – und was heißt das anderes als zum Schutze der europäischen Bürger:innen, und dazu zähle auch ich. Anderes Beispiel: Plastikvermeidung hat inzwischen einen hohen moralischen Stellenwert in unserer Gesellschaft, aber wenn ich beim dörflichen Kaufmann meines Vertrauens einkaufe, um diesen zu stärken und mein Auto nicht zu benützen, dann bekomme ich fast alle Lebensmittel in Plastikverpackung.

    Wie löse ich mit meinen konkreten Handlungen diese moralischen Dilemmata? Was kann ich als einzelne Person tun? »Nichts kann ich tun« ist die schlechteste Antwort, denn was passiert, wenn unsere moralischen Ansprüche mit unseren konkreten Handlungen nicht mehr zusammenpassen? Unsere Sätze werden zu hohlen und unglaubwürdigen Phrasen, und unsere Herzen müssen sich vor den Argumentationen der Politiker:innen, die für uns keinen mehr Sinn ergeben, verschließen. Verdrängung alles dessen, keine Nachrichten mehr hören oder lesen?

    Ich denke, viele Menschen sehnen sich nach moralischer Stimmigkeit und einem authentischen Leben. Der Yoga bietet einen wunderbaren Baukasten an moralischen Grundwerten. Es wäre also genug Rüstzeug da, um sich im Tieferdenken zu üben und den moralischen Mittelbau bis hin zu konkreten Handlungen durchzudenken. Wir streben im Yoga Stimmigkeit und Entfaltung an, im Körper wie im Atem, in unseren Gefühlen und Gedanken. Warum also nicht auch im Hinspüren auf unsere moralische Befindlichkeit im Hier und Jetzt?

    Arne Næss entwickelte ein komplexes System, um moralische Werte von oben nach unten durchzudenken. Ich versuche in diesem Buch etwas anderes: die Yamas (Grundwerte) über konkrete, selbst erlebte Situationen zu reflektieren und dabei mit dem Wahrnehmen, was gerade ist, also mit Erfahrung und Fühlen zu verknüpfen. Das ist für mich Yoga – einen global existierenden Grundwert in meinem Mikrokosmos Mensch aufzuspannen und ganz auf mein eigenes Maß und meine Möglichkeiten zu hinterfragen. So regt mich Yoga zum Tieferdenken an. Soziale Verantwortungsübernahme ist ein großes Feld, um Grundwerte konstruktiv und authentisch in Handlungen umzusetzen.

    Dass der Yoga als ein spiritueller Weg der inneren Einkehr gilt, ist dabei kein Widerspruch. Denn der Weg nach innen, die Mystik der Stille, hat in allen spirituellen Traditionen immer auch eine Kehrseite – einen Weg in die Begegnung, hin zu den anderen: die Mystik der Tat.

    Welche Schritte werden wir in diesem Buch gehen?

    Rückblick in die Geschichte

    Als ersten Schritt werde ich im nächsten Kapitel im Zeitraffer aufzeigen, wie sich der Verantwortungsbegriff im Laufe der Geschichte geändert hat und warum soziale Verantwortungsübernahme heute so überaus bedeutsam ist. Ich denke, vieles lässt sich in der Gegenwart leichter verstehen, wenn man aktuelle Entwicklungen in einen historischen Kontext stellt.

    Der Schatz des Yoga – die fünf moralischen Grundprinzipien

    Dann kommen wir zu dem Schatz an Weisheit, den der Yoga zu einer gesellschaftlichen Entwicklung heute beitragen kann: zu den fünf Yamas als moralische Grundprinzipien, die uns richtungweisend darin bestärken können, Ziele zu formulieren und Haltung in der Gesellschaft einzunehmen. Die Yamas bilden die erste Stufe des Achtfachen Pfades in den Yoga-Sutren, der einen Weg der spirituellen Transformation beschreibt.

    Ich möchte daher folgende These aufstellen: Ist nicht überhaupt ein heilsames Miteinandersein und damit auch die Übernahme von Verantwortung füreinander der erste Schritt auf dem Weg zu spiritueller Entwicklung? Braucht es nicht zuerst soziales Bewusstsein und Erfahrung im Miteinander, um dann diese Erfahrungen für eine authentische spirituelle Entwicklung zu nutzen? Braucht es nicht moralische Bewährung, bevor man in die Versenkung geht?

    Es wird viele Yogaerfahrene geben, die das so lieber nicht formuliert haben möchten. Es wird auch Yogi:nis geben, die überhaupt verneinen, dass es beide Wege geben muss, und nur für die spirituelle Einsiedelei plädieren. Aber ich nehme an, dass Leser:innen, die sich für das Thema »soziale Verantwortung« interessieren, doch zumindest davon ausgehen, dass sich beide Ausrichtungen, Sinn im Leben zu erfahren, bereichernd ineinander verschränken sollten.

    Für mich keine Frage: Spirituelle Praxis und Rückzug unterstützen uns dabei, gleichmütig und trotzdem energiegeladen in der Welt wirken zu können. Denn ohne eine Methode des Rückzugs und der Rückbindung an das beständig Heilsame laufen wir Gefahr, im selbstlosen Tun auszubrennen. Umgekehrt brauchen wir das sinnstiftende, gesellschaftliche Tun, um unsere Energie und unsere Einsicht in die Welt einzubringen und umzusetzen. Spiritueller Rückzug als alleinseligmachender Weg ist Weltflucht; ein Weg, der zwar keinen Schaden anrichtet, aber auch keinen Beitrag für ein erfüllendes Miteinander leistet.

    Wie kann man moralische Grundwerte üben?

    Sobald ein Yama definiert ist und uns klar geworden ist, warum es uns moralisch bedeutsam ist (ich nenne das im Folgenden »Moralitäts-Check«), können wir mit dem Üben beginnen. Ich möchte eine weitere These aufstellen: Moral, die nur im Kopf ist, wird möglicherweise im konkreten Tun schwer umsetzbar sein. Erstens, weil sie zu abstrakt ist und nicht auf die konkrete Handlung anwendbar scheint. Und zweitens, weil sie gar nicht verinnerlicht ist. Theoretisch ein Spiel beherrschen und die Regeln kennen ist etwas ganz anderes, als es praktisch geübt zu haben. Auch Moral braucht Übung. Ich habe daher zu jedem Yama vier Beispiele aus meinem Leben niedergeschrieben. Meine Gefühle haben mir die Fragen während des Schreibens eigentlich wie von selbst aufgetischt. Ich brauchte dann nur nachzufragen – warum, wieso? So, wie ich meine Schüler:innen im Yogaunterricht ermutige, mit wachem Forschergeist sich selbst bei der Asanapraxis zu beobachten, möchte ich mit

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