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Engeltod in Pilsum. Ostfrieslandkrimi
Engeltod in Pilsum. Ostfrieslandkrimi
Engeltod in Pilsum. Ostfrieslandkrimi
Ebook253 pages3 hours

Engeltod in Pilsum. Ostfrieslandkrimi

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»Wir haben eine Tote! Beim Leuchtturm!« Kommissarin Femke Peters traut ihren Ohren kaum, als die Meldung ihres Kollegen Lars Brodersen hereinkommt. Denn gerade in diesem Moment kommt sie von einem Ausflug zum Pilsumer Leuchtturm zurück. Das auf dem dortigen Parkplatz verdächtig abseits stehende Auto hatte sie bemerkt, aber nicht geahnt, dass sich darin eine tote junge Frau befand. Schnell steht die Todesursache fest: Pia Becker starb an einer Überdosis. Genauso wie schon zwei weitere junge Erwachsene aus der Region in den letzten zwölf Monaten. Alle drei Opfer hatten erfolgreich einen Drogenentzug hinter sich gebracht. Rückfall oder Mord? Geht ein Serientäter in Ostfriesland um, der es auf ehemalige Drogenabhängige abgesehen hat und ihnen das neue Leben nicht gönnt? Die Motive sind rätselhaft, weshalb das Team der Kripo Aurich Pias gesamtes Umfeld unter die Lupe nimmt. Tragische Ereignisse kommen ans Licht, und die Jagd nach dem Täter wird zu einem reinen Nervenspiel...

LanguageDeutsch
PublisherKlarant
Release dateMar 15, 2021
ISBN9783965863460
Engeltod in Pilsum. Ostfrieslandkrimi

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    Engeltod in Pilsum. Ostfrieslandkrimi - Rolf Uliczka

    1. Kapitel

    Nach tagelangem Schietweer an der ostfriesischen Nordseeküste endlich mal wieder ein Tag, der schon mit einem wunderschönen Sonnenaufgang begonnen hatte. Eigentlich war es viel zu warm für die Adventszeit und so fehlte auch die weiß gepuderte Landschaft. Trotzdem wollte heute Kommissarin Femke Peters mit ihrer zwölfjährigen Tochter Eske nach Greetsiel zum Weihnachtsmarkt fahren. Um siebzehn Uhr sollte der Weihnachtsmann mit einem Krabbenkutter kommen und Geschenke verteilen. Aber vorher hatten die beiden noch etwas anderes vor.

    Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren waren sie das letzte Mal gemeinsam mit Eskes Vater beim Pilsumer Leuchtturm gewesen und hatten dort einen traumhaften Sonnenuntergang erlebt. Im vergangenen Jahr war Femkes Ehemann und Eskes Papa bei einem Einsatz seines Spezialeinsatzkommandos ums Leben gekommen. Obwohl Oma Peters gerne mit ihrer Tochter und ihrer Enkelin zum Weihnachtsmarkt mitgekommen wäre, hatten beide deshalb um Verständnis gebeten, dass sie allein fahren wollten.

    Als sie bei dem weithin sichtbaren und markant angestrichenen Leuchtturm ankamen, schwebte bereits die rot glühende Sonnenkugel am Horizont scheinbar nur noch wenige Zentimeter über der Nordsee. Beide standen stumm und sahen zu, wie der rote Ball langsam in die See einzutauchen schien und den Himmel an dieser Stelle in ein orangerot leuchtendes Szenario verwandelte. Femke hatte ihre Arme um ihre Tochter gelegt, die sich an ihre Brust schmiegte. Sie ließen keinen Blick von dem Schauspiel, und beiden rannen Tränen die Wangen hinunter.

    »Wir brauchen ein Bild«, hauchte Eske und griff in die Tasche ihrer dicken Winterjacke, um mit dem Smartphone einige Fotos zu machen.

    Sie waren nicht die Einzigen beim Turm, die das Himmelsschauspiel genießen wollten. Manche Urlaubsgäste verbrachten auch die Weihnachtstage und den Jahreswechsel an der Küste und genossen heute so ein Postkartenwetter auch gerne mit einem Blick auf die über dem Meer untergehende Sonne. Und manches Bild wanderte über den Äther in die Social-Media-Welt.

    Von Mutter und Tochter, die immer noch eng umschlungen mit tränenden Augen auf dem Deich standen, hatte kaum jemand Notiz genommen.

    »Was meinst du, ob Papa uns jetzt von oben zuschaut?« Das Mädchen schaute ihre Mutter mit traurigem Blick von unten her an. Für ihr Alter war sie bereits jetzt schon außergewöhnlich groß und reichte ihrer Mutter, die mit einem Meter achtzig auch nicht gerade klein war, schon bis an das Kinn.

    Femke drückte sie noch fester an sich: »Ganz sicher tut er das, meine Kleine! Und wir haben ihn immer bei uns. Ganz tief in unseren Herzen. Und es ist sicher auch ein Zeichen, dass wir gerade heute wieder einen solchen Sonnenuntergang erleben und deinen Papa hier bei uns fast spüren können.«

    Mutter und Tochter standen noch eine ganze Weile eng verschlungen beieinander und schauten dem in einiger Entfernung langsam abfließenden Wasser und dem Farbspiel der hinter dem Horizont verschwundenen Sonne zu. Vor eineinhalb Stunden hatten sie Hochwasser gehabt. Die Gezeiten an der Wattenmeerküste hatten fast so etwas wie das Auf und Ab des Lebens. Man hätte meinen können, die Natur atmet.

    »Jetzt wird es aber Zeit, dass wir uns auf den Weg machen. Sonst ist der Weihnachtsmann nachher noch vor uns da«, trieb Femke ihre Tochter zur Eile an. Aber bis sie in Greetsiel endlich einen Parkplatz gefunden hatten und beim Alten Siel ankamen, war dieser tatsächlich bereits da und hatte seine Geschenke schon verteilt. Für Mutter und Tochter war an diesem Tag aber das schönste Geschenk mit bildhaften Erinnerungen an den geliebten Mann und Vater vom Himmel selbst gekommen.

    Sie schlenderten noch an den Buden vorbei, die allerlei kleine und größere Präsente für den Weihnachtsabend im Angebot hatten. Der Duft von Zimt, Glühwein, Spekulatius und Bratwurst lag in der Luft. Und sie genossen an einem der Stände einen heißen Kinderpunsch. Da hätten nur noch ein wenig kältere Temperaturen und ein bisschen Schnee gefehlt, um die vorweihnachtliche Stimmung perfekt zu machen.

    Schließlich hatte Eske für ihre Oma noch ein mit Kirschkernen gefülltes Kissen gefunden. Das würde ihrem Rücken nach Aufwärmung im Kachelofen guttun. Und für ihren Opa nahm sie ein paar Räucherkerzen mit Tannenduft mit. Dann saßen beide wieder im Wagen auf dem Weg nach Hause. Zum Abendessen würden sie nachher bei den Großeltern sein. Das sparte Femke für diesen Abend den Gang in die eigene Küche.

    Als sie noch bei ihren Eltern gelebt hatte, betrieben diese in Großheide im ostfriesischen Landkreis Aurich eine Landwirtschaft mit Milchkühen. Eigentlich hätte mal ihr Bruder den Betrieb übernehmen sollen, aber mit seinen modernen Vorstellungen von ökologischer Landwirtschaft hatte sich ihr Vater nicht so recht anfreunden können. Und bevor die Meinungsverschiedenheiten eskalierten, war der Sohn seiner Liebe zu einer Urlauberin aus Bayern gefolgt. Die Eltern verkauften und verpachteten die Weiden und Äcker. Der Scheunenteil des großen Gulfhofes wurde zu Ferienwohnungen umgebaut und durch eine Anlage mit fünf einzeln stehenden Ferienhäusern ergänzt. Femkes Eltern konnten es sich auf ihrem »Altenteil« gemütlich machen und brauchten sich nicht mehr so in der Landwirtschaft abzuschuften.

    Femke war nach dem Abitur in den Polizeidienst eingetreten. Dort hatte sie ihren Mann kennengelernt und war schließlich nach Abschluss der Ausbildung zu ihm nach Lübeck gezogen. Von der Eheschließung der beiden wussten in der dortigen Polizeidienststelle nur Eingeweihte, da beide ihren eigenen Familiennamen behalten hatten. Inzwischen war Eske zur Welt gekommen und Femke zur Fallanalytikerin ausgebildet worden. Etwa ein Jahr nach dem gemeinsamen Weihnachtsurlaub vor zwei Jahren bei ihren Eltern in Großheide war ihr Mann bei einem Polizeieinsatz in Lübeck ums Leben gekommen.

    Über Freunde hatte Femkes Vater vor einiger Zeit erfahren, dass der Dienstposten eines Fallanalytikers in Aurich durch Pensionierung frei wurde. Sie hatte sich daraufhin beworben und die Stelle bekommen. Eins der zur Wohnanlage gehörenden Ferienhäuser ließen die Eltern auf Femke übertragen. Dort wohnte sie seitdem mit ihrer Tochter. Das hatte den Vorteil, dass Eske versorgt war, auch wenn Femke mal überraschend in einen Einsatz musste. In Lübeck hatte diese Rolle eine Nachbarin übernommen, die sich als gelernte Kindergärtnerin auch als Tagesmutter betätigte.

    Femke hatte gerade ihren Wagen in der Garage abgestellt, als ihr Handy klingelte. »Du kannst die Sachen für Oma und Opa hier im Auto lassen und schon mal rübergehen. Ich komm gleich nach«, sagte sie zu ihrer Tochter, bevor sie sich am Telefon meldete.

    Ihr Kollege, Kriminalhauptkommissar Lars Brodersen, war am Apparat: »Moin Femke, wir haben einen Fall und du wirst eine Sonderkommission einrichten müssen.«

    »Moin Lars, was ist denn passiert, dass es nicht noch bis morgen Zeit hätte? Ich komme gerade mit meiner Tochter vom Pilsumer Leuchtturm und vom Weihnachtsmarkt in Greetsiel und wir wollten bei meinen Eltern zu Abend essen.«

    »Wir haben eine Tote! …Beim Leuchtturm!«, blieb ihr Kollege hartnäckig.

    »Damit willst du wahrscheinlich sagen, ich hätte mir die Heimfahrt sparen können, oder? Aber geht’s auch ein bisschen konkreter?« Femke schätzte diesen ostfriesischen Seebären, der sie noch fast um einen halben Kopf überragte, eigentlich sehr. Manchmal musste man ihm zwar die Würmer aus der Nase ziehen. Aber sie war ja selbst hier geboren und aufgewachsen und kannte das von ihrem Vater.

    »Jo, hättste dir wohl sparen können. Aber was hätten wir dann mit deiner Tochter gemacht? ’Ne junge tote Frau, möglicherweise durch Überdosis, ist ja wohl wirklich nichts für Kinder.«

    »Überdosis?! Im Frühjahr, kurz vor meinem Dienstantritt hier, hattet ihr auch einen Toten mit Überdosis. Da waren mein Vorgänger und du doch der Meinung, das wäre einfach nur ein tragischer Todesfall durch Selbstverschulden und nichts für eine Fallanalyse. Und das, obwohl es innerhalb weniger Monate bereits der zweite Todesfall dieser Art hier in der Gegend war. Für dich waren das nur zwei Tote, die offensichtlich die Wirkung der Substanzen unterschätzt haben. Also nur zwei Unglücksfälle. Außerdem meintest du, dass wir hier in Ostfriesland und nicht in einer Großstadt sind, wo man hinter jedem Toten aus der Szene gleich einen Revierkampf vermuten muss. Was hat denn deinen Sinneswandel ausgelöst? Vielleicht weil es diesmal wieder eine Frau ist?«

    »Quatsch! Es gab in beiden Fällen auch nach dem Bericht der Rechtsmedizin keine Hinweise auf Gewalteinwirkung. Soweit ich das hier sehen kann, wahrscheinlich auch diesmal nicht. Aber drei Tote mit Überdosis in einem Jahr, und das ausgerechnet in unserer beschaulichen Urlaubsregion, das ist mir dann doch ein bisschen Zufall zu viel. Also, Femke, du hast wahrscheinlich recht und daher ist das wohl doch ein Fall für dich!«

    Die Kommissarin war viel zu sehr mit ihrem Beruf verbunden, als dass sie jetzt noch hätte widersprechen wollen. Da war sie wie ein Spürhund. Sie hatte Witterung aufgenommen und war nicht mehr zu halten. »Okay, Lars. Meine Mutter hat Emder Matjes für das Abendessen eingekauft. Den lass ich mir auch jetzt nicht entgehen. Tote hin oder her. Aber in einer Stunde bin ich da.«

    »Passt! Unser Rechtsmediziner, Dr. Rabe aus Oldenburg, ist auch noch unterwegs. Und es ist Sonntag. Die Spurensicherung wird gerade erst zusammengetrommelt.«

    »Wo wurde die Tote denn genau gefunden? Ich war vorhin ja noch selbst am Turm.«

    »Auf dem Parkplatz beim Pilsumer Leuchtturm«, antwortete Lars.

    Die Polizistin musste schlucken. »Wo? Auf dem Parkplatz des Leuchtturms? Wann habt ihr denn die Meldung reinbekommen?«

    »Gegen achtzehn Uhr. Aber die Tote muss schon länger da mit ihrem Wagen in der äußersten Ecke des Platzes gestanden haben.«

    »Ein dunkler Kastenwagen neuerer Bauart, wie ihn manche Handwerker fahren?«

    »Jo. Bist du Profilerin oder Hellseherin?«

    »Immer noch Fallanalytikerin, auch wenn Profilerin cooler klingt. Aber Hellseherin? Nein. Eske und ich haben uns vom Leuchtturm aus den tollen Sonnenuntergang angeschaut und hätten beinahe noch den Weihnachtsmann verpasst. Aber da war mir der allein in der hintersten Ecke stehende Wagen aufgefallen. Die meisten Leute versuchen doch, möglichst nah beim Imbisswagen oder beim Ausgang zum Leuchtturm zu parken. Und der Parkplatz ist in dieser Jahreszeit ja nicht sehr stark belegt, also waren im vorderen Bereich jede Menge Plätze frei. Aber die Sonne stand schon ziemlich niedrig über dem Horizont und da sind wir schnell über den Deich zum Turm, und später wollte Eske natürlich den Weihnachtsmann nicht verpassen. Sonst hätte ich bestimmt mal nach diesem Wagen geschaut.«

    »Ein Jogger, der auch auf dem Platz geparkt hatte, war durch das merkwürdige Verhalten seines Hundes aufmerksam geworden und hat uns verständigt. Na, du weißt ja jetzt, wo du uns findest. Bis dann.«

    Femke wurde bereits von ihren Eltern und ihrer Tochter am Esstisch der geräumigen Küche des modernisierten ostfriesischen Bauernhauses erwartet. Nur die alten Kacheln an der Wand links und rechts von dem offenen Kamin zeigten noch etwas von dem Charme der vergangenen Jahrhunderte. Ansonsten war die Küche sehr modern ausgestattet. Selbst die Friesencouch von Femkes Oma hatte weichen müssen. Sie konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, als sie mit ihrer Oma dort gesessen und diese ihr Geschichten vorgelesen hatte, während das Feuer im Kamin an Winterabenden leise knackte.

    »Tut mir leid, Mama. Du hast dir wieder so viel Mühe gemacht und ich muss gleich weg. Wir haben einen Fall.«

    »Un ik hebb di dat Beer openmakt«, meldete sich ihr Vater, Olrik Peters, zu Wort und wollte auf seine Weise andeuten, dass er auch einen Beitrag für ein gemütliches Abendessen geleistet hatte.

    »Deit mi leed, Papa, dat muss du hüüt alleen drinken, ik bün in Deenst.«

    »Und was wird jetzt aus dem Matjes? Ich hab ihn extra nach Hausfrauenart, wie du es immer magst, für dich gemacht. Mit Bratkartoffeln und die Marinade mit Zwiebeln und Äpfeln drin«, zeigte sich ihre Mutter, Aiske Peters, besorgt.

    »Wenn es an Toten überhaupt etwas Gutes gibt, dann dass sie nicht weglaufen«, antwortete Femke schlagfertig ihrer Mutter. Aber im gleichen Moment hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen, als sie den entsetzten Blick ihrer Tochter sah. Deshalb beugte sie sich zu ihr rüber und gab ihr einen herzhaften Kuss auf die Wange. »Sorry, meine Kleine. Aber das gehört nun mal zu meinem Beruf. Du weißt ja inzwischen: Wenn deine Mutter zum Einsatz kommt, ist in der Regel nichts Gutes passiert. Aber was hältst du davon, wenn du heute in deinem Zimmer bei Oma und Opa schläfst? Ich weiß nämlich nicht, wie spät es heute wird.«

    »Au ja. Darf ich dann nachher noch eine Stunde im Kinderkanal Fernsehen gucken?«

    »Aber denk dran, morgen ist Montag und der Schulbus wartet nicht!«, stimmte Femke zu.

    ***

    Als Femke auf dem Parkplatz beim Pilsumer Leuchtturm ankam, war der Rechtsmediziner bereits im Einsatz, und sie ließ sich von ihrem Kollegen, Kriminalhauptkommissar Lars Brodersen, kurz in die Situation vor Ort einweisen. Dann ging sie zu Dr. Rabe, der beim Fahrzeug der Toten beschäftigt war, um sich einen Eindruck von der Leiche und deren Umfeld zu machen. Nachdem sie den Mediziner begrüßt hatte, sagte dieser: »Meine vorläufige Einschätzung zu Todeszeitpunkt und -umständen erhalten Sie und Ihr Kollege Brodersen, sobald ich hier fertig bin. Wenn Sie darüber hinaus jetzt schon Fragen an mich haben, können Sie diese ruhig stellen.«

    »Sie haben die Ärmel sicher aus gutem Grund hochgestreift. Wenn ich die Arme der Toten sehe, dann scheinen die Narben schon etwas älter zu sein. Ist das richtig?«

    »Bis auf den einen Einstich hier in der Armbeuge haben Sie das richtig eingeschätzt. Ist wohl nicht Ihre erste Drogentote?«

    »Nein, Herr Doktor. In Lübeck hatten wir leider öfter solche Fälle. Im Fall dieser Toten stelle ich mir aber bereits jetzt die Frage: Warum? Es deutet doch wohl einiges darauf hin, dass die Frau in der Zwischenzeit clean gewesen ist.«

    »Eine Feststellung, die wir bei der Toten vom Februar und dem Toten im Frühjahr auch gemacht haben. Leider hatten wir auch in Oldenburg schon ähnliche Fälle. Da hatten die Betroffenen bei einem Rückfall wohl nicht daran gedacht, dass manche Drogen inzwischen andere Wirkungen haben. Da wir aber in beiden hiesigen Fällen keine Hinweise auf Fremdverschulden finden konnten, sind wir von Zufall ausgegangen. Ob diese Einschätzung auch jetzt noch Bestand hat, wird sich zeigen.«

    »Das herauszufinden, wird mein Job sein. Wenn ich die Sitzposition der Toten auf dem Rücksitz richtig interpretiere, deutet nichts darauf hin, dass sie mit Gewaltanwendung auf diesen Sitz gebracht wurde. Sehe ich das richtig?«

    »Davon können Sie ausgehen. Bis jetzt sind mir auch keine Anzeichen aufgefallen, die eine andere Schlussfolgerung rechtfertigen. Ich muss allerdings darauf verweisen, meinen Bericht abzuwarten.«

    »So wie es aussieht, scheint die Frau ja auch den Wagen nicht selbst gefahren zu haben.«

    »Aus medizinischer Sicht kann ich das weder bestätigen noch verneinen. Da müssen Sie die Forensik fragen.«

    »Sorry, Herr Doktor. Das war nur mal laut nachgedacht. Ich warte dann bei meinem Kollegen im Einsatzwagen auf Sie.«

    Kurz darauf hatte Dr. Rabe seine vorläufigen Untersuchungen abgeschlossen und setzte sich zu den beiden Kommissaren in den Einsatzwagen. »Nach meiner ersten Einschätzung sitzt die Frau bereits seit gestern Abend tot in dem Auto. Anzeichen von Gewalteinwirkung konnte ich nicht feststellen. Genaueres wie üblich im Bericht. Die Todesumstände ähneln den beiden Fällen vom Anfang des Jahres und vom Frühjahr. Auch hier spricht vieles für eine Überdosierung einer Substanz, die sie sich möglicherweise selbst gespritzt hat. Ein Seidenschal, mit dem sie wohl den Arm abgebunden hatte, hing noch lose über dem Ellenbogen.«

    »Wurde bei den beiden anderen Fällen untersucht, ob sie zum Beispiel mit K.-o.-Tropfen gefügig gemacht worden waren?«, wollte Femke wissen.

    »Das prüfen wir in solchen Fällen obligatorisch«, antwortete der Mediziner. »Diese Substanzen bauen sich in der Regel aber relativ schnell im Körper wieder ab. Wenn allerdings der Tod bereits kurz nach der Verabreichung eintritt, verlangsamt sich der Abbauprozess. Das gilt übrigens auch für niedrige Umgebungstemperaturen. Ich erinnere mich, dass wir bei dem letzten Fall noch Restsubstanzen in den Haaren gefunden haben, die aber keinen ganz eindeutigen Rückschluss zuließen. Da auch sonst keine weiteren Verdachtsmomente für Fremdeinwirkung sprachen, hat Ihr Vorgänger nach meiner Kenntnis den Fall schließlich zu den Akten gelegt.«

    »Das ist richtig«, stimmte Lars ihm zu.

    In diesem Moment kam die Leiterin der Spurensicherung, Erste Kriminalhauptkommissarin Maren Wenker, mit einer Sporttasche in den Einsatzwagen. »Moin. Eigentlich hatte ich heute mit meinen Kindern Neujahrswaffelnbacken auf dem Plan gehabt. Aber so spielt das Leben. Ach so, ja, in diesem Fall wohl eher mal wieder das Gegenteil von Leben, so spielt der Tod.«

    »Jo«, bestätigte Lars, »aber deine beiden Töchter sind doch selbst schon Mütter und kriegen das doch wohl auch ohne dich hin, oder?«

    »Neujahrswaffelnbacken ohne Oma? Mensch, Lars, wie bist du denn drauf?«, protestierte die Forensikerin. »Das muss ich mal deiner Engeline stecken. Mal sehen, wie die darüber denkt. Und was ist das denn hier überhaupt für ein Tatortservice? Kein Tee, nicht mal einen Kaffee, geschweige denn ein paar Weihnachtsplätzchen. Da kommt der Herr Doktor am hochheiligen Sonntag von Oldenburg bis an den westlichsten Teil unseres Landes gereist und verdurstet bei uns hier noch. Wie soll er denn da ungestärkt sogar noch den Rückweg schaffen?«

    Sprach’s und zog eine Thermoskanne und vier Blechtassen mit der Aufschrift »Tatort« und dem Logo der gleichnamigen Krimiserie aus ihrer Sporttasche. Kaum waren die Tassen verteilt und mit duftendem Kaffee befüllt, stand auch bereits eine flache Schale mit Weihnachtsgebäck auf dem kleinen Klapptisch. »Alles selbst gebacken. Lasst es euch schmecken.«

    Maren Wenker gehörte mit ihren fünfzig Jahren fast schon zu den Urgesteinen in der Auricher Polizeiinspektion. Die mittelgroße Ostfriesin wirkte mit ihrer kräftigen Figur, ihrem rotbäckigen Gesicht und ihren blonden, schon mit einigen grauen Strähnen durchzogenen wuscheligen Haaren nicht nur gemütlich, sie war es auch. Was aber nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass sie in ihrer Arbeit sehr akribisch war. Aufgrund ihres Humors war sie in der ganzen Inspektion beliebt, obwohl dieser durchaus schon mal ein wenig bissig ausfallen konnte. Allerdings wurde sie nie verletzend, was alle zu schätzen wussten.

    Nachdem alle Anwesenden ihr Weihnachtsgebäck gebührend gelobt hatten, sagte sie in der ihr eigenen Art: »Ich hab gesagt, lasst es euch schmecken. Von Beweihräuchern hatte ich nix gesagt. Aber trotzdem danke! Kommen wir mal zur zweitwichtigsten Angelegenheit, nämlich unserer Arbeit. Also der Wagen gehört nicht der Toten. Jedenfalls steht ein Mann mit einer Adresse in Pilsum als Halter darin. Könnte natürlich der Mann oder Lebenspartner der Toten sein. Vielleicht hat sie sich hier mit dem Lieferanten getroffen und sich gleich danach einen Schuss gesetzt. Das typische Drogenbesteck lag bei ihr im Fußraum des Wagens. Merkwürdig ist aber, dass sie weder Ausweispapiere und

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