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Die Köln-Affäre: Thriller
Die Köln-Affäre: Thriller
Die Köln-Affäre: Thriller
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Die Köln-Affäre: Thriller

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About this ebook

Einen Anschlag auf den Kölner Dom? Unvorstellbar – aber genau das plant eine islamistische Terrorzelle in Köln. Und die Pläne sind schon weit gediehen, stehen kurz vor der Vollendung. Dumm nur, dass eins der Mädchen, die konvertiert ist und eigentlich eine tragende Rolle in diesem Anschlag spielen soll, plötzlich Gewissensbisse bekommt. Dumm auch, dass der Vater des Mädchens sie sucht und den Terroristen in die Quere kommt. Und als wäre dies nicht schon genug an Spannung und Dramatik, tobt auch noch zwischen CIA und Mossad ein mehr privater Krieg, der seine Opfer sucht – und findet. Und auch Pfarrer Diefenstein und sein Freund Bassler mischen munter mit, bis eine private Tragödie alles verändert!
LanguageDeutsch
Release dateMar 5, 2022
ISBN9783961361410
Die Köln-Affäre: Thriller
Author

Rolf D. Sabel

Rolf D. Sabel, Jahrgang 1949, unterrichtet Latein und Rechtskunde an einem Kölner Gymnasium. Er ist bekannt für seine gut recherchierten historischen Romane.

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    Die Köln-Affäre - Rolf D. Sabel

    1. Kapitel

    Köln/Domplatte

    Dickes, bitteres Bier, schmutzige Gasthäuser, schmutzige, dicke Frauen und viel Speck.

    (aus dem Kölnbericht eines unbekannten englischen Reisenden, 17. Jahrhundert)

    Aber das war vor mehr als zweihundert Jahren! Heute … Ein Schuss! Panisch flattern Tauben davon und suchen ihr Heil auf den nahen Dächern. Menschen schreien auf, blicken sich irritiert um. Der Mann, dem der Schuss gegolten hat, fällt wie vom Blitz getroffen um, sein Schädel explodiert. Blut und Gehirnfetzen verleihen dem Pflaster auf der Domplatte ein neues, bizarres Muster.

    Aber wie konnte es dazu kommen?

    Ein nahezu tropischer Sommer hatte die Domstadt an diesem frühen Augustabend fest im Griff. Karibik am Dom! Klimaerwärmung am Rhein! Globale Krise. Kennt jeder – fast jeder, wenn man von gewissen amerikanischen Amtsträgern absieht!

    Schwüle, heiße Luft hatte sich wie ein Panzer über die Stadt gelegt, erschwerte die meisten sommerlichen Aktivitäten und machte das Atmen schwer. Die meisten Menschen trotteten in übler Laune dahin und warteten auf die Kühle des Abends, wenn sie dann käme.

    Allerdings kündeten dunkle Wolken im Westen von einem aufziehenden Gewitter, das tatsächlich etwas Abkühlung bringen mochte und mancher Blick richtete sich zum Himmel, hoffnungsvoll oder furchtsam, je nach Stimmungslage. Wer konnte, verzog sich in die überfüllten Schwimmbäder, suchte die Kühle des umliegenden Grüngürtels auf oder lag zu Hause, die Füße in einen Eimer mit kaltem Wasser getaucht, in der Hand ein kühles Getränk, sorgsam darauf bedacht, im Einflussbereich des Ventilators zu bleiben.

    Aber das waren naturgemäß nur wenige. Die, die das nicht konnten, und das waren die meisten, schleppten sich träge dahin, gingen in den Büros und Werkstätten lustlos ihrer Tätigkeit nach und sehnten sich nach dem Feierabend. Nur die meisten Schüler, die jauchzend in den Bädern rumtobten, teilten diese Sehnsucht nicht – sie hatten hitzefrei.

    Die Gegend um den Kölner Dom dagegen war wie immer mit Touristen aus aller Welt überfüllt. Die Kölner überließen das Zentrum der Stadt zu dieser Zeit gerne kampflos den ausländischen Besuchern, die keine Wahl hatten. Sie waren an ihrem heutigen Ziel angekommen, und Wetter hin und Hitze her, jetzt galt es, das touristische Pflichtprogramm abzuwickeln, denn morgen war man schon auf der Kö in Düsseldorf, oder am Brandenburger Tor oder in einem der Märchenschlösser in Bayern oder …

    Und so standen sie schnatternd vor der imposanten Kathedrale, machten mit langen Sticks ihre Selfies, tranken in den anliegenden Brauhäusern ungewohntes Bier aus seltsamen Gläsern und beobachteten mit verzückten Blicken die Ober in ihren blauen Schürzen, die für ihren rheinischen Charme gleichermaßen bekannt waren wie für ihre barsche Art.

    Dä Köbes!

    Und die, die nicht nur drei Stunden durch die Stadt hetzten, sondern sie mit aufmerksamem Blick durchstreiften, nahmen eine Menge Dinge wahr. Sie nahmen mit Erstaunen wahr, dass schwule Pärchen hier völlig unbehelligt durch die Menge flanierten, dass neben wunderschönen Altbauten Neubauten von erschreckender Hässlichkeit standen, dass die Straßen vielfach recht schmutzig waren, dass Kölsch offenbar nicht nur ein Getränk, sondern auch eine Sprache war, dass die wenigen Einheimischen, mit denen sie manchmal in Kontakt kamen, eben komisch, aber mit liebenswürdigem Akzent sprachen und von überbordender, leider aber auch meist oberflächlicher Freundlichkeit waren, dass es so viele Einheimische aber auch gar nicht mehr gab, weil ein hoher Anteil der Menschen hier einen Migrationshintergrund zu haben schien. Dass es viele wunderschöne Kirchen gab, aber die meisten leer waren, dass die Kölner auch auf Beerdigungen schon mal Karnevalslieder sangen und Trauer deshalb hier auch schon mal schnell in Frohsinn überging.

    Dass das Verkleiden und Absingen seltsamer Lieder zu einer bestimmten winterlichen Jahreszeit, neuerdings sogar im Sommer üblich war und die Straßen zu dieser Zeit voller feiernder Menschen waren, von denen allerdings viele total betrunken waren und sich auch nicht scheuten, an Kirchen und Denkmäler zu urinieren.

    Und dass es zu dieser Zeit nur hier eine Jungfrau gab, die eindeutig männliche Geschlechtsmerkmale hatte, dass es auch einen bekannten Fußballverein gab, der aber schon deutlich bessere Zeiten gesehen hatte und dass das alles in einer Stadt möglich war, wofür eigentlich mehrere Städte nötig gewesen wären.

    Das alles nahmen Touristen in Köln wahr, wenn sie nur lange genug da blieben.

    Aber es waren ja nicht alle Touristen auf der Domplatte.

    Der Mann, der mit eiligem Schritt über die Domplatte ging, jene Domplatte, die Silvester vor zwei Jahren Schauplatz unsäglicher Ausschreitungen gewesen war und im Bewusstsein der aufnahmewilligen Bevölkerung so vieles verändert hatte, gehörte zweifellos nicht zur Gattung der Touristen.

    Er hatte keinen Stadtplan unter dem Arm, keine Wasserflasche in der Hand und keinen Rucksack auf dem Rücken. Er machte keine Selfies und fragte niemanden nach irgendwelchen Wegen. Ihn interessierten nicht die Pflastermaler und nicht die Bettler, die mit gekrümmten Händen und Mitleid heischendem Gesicht um den Dom herum saßen.

    Er war etwa Mitte Dreißig, von durchschnittlicher Größe, mit vollem schwarzem Haar, einem markanten Gesicht und kräftiger Figur. Sein beigefarbiger Anzug passte genau und verhüllte diskret die Pistole P226 X-Six Classic, die er in einem Schulterhalfter trug. Er war nur wenige Schritte vom Domhotel entfernt, dem ältesten und prächtigsten Grandhotel Kölns aus dem Jahr 1893, das nach den Zerstörungen im Krieg vereinfacht wieder aufgebaut worden war, aber wegen erheblicher Baumängel, die bei einem Sanierungsversuch vor einigen Jahren aufgetaucht waren, nun schon seit Jahren geschlossen war. Hier in Köln dauert so etwas eben länger als geplant und übersteigt die veranschlagten Kosten gerne um das Dreifache. Aber das stört den Kölner an sich nicht, er lebt nach der Devise:

    Et hätt noch immer jot jejange!

    Aber dann passierte es.

    Ein Schuss, laut hörbar, offenbar aus geringer Entfernung abgegeben. Er traf den Mann in den Hinterkopf, ließ seinen Schädel förmlich explodieren und verteilte Blut und Gehirnmasse in bizarren Mustern auf dem Pflaster. Ohne einen Laut sank der Mann zusammen, während die Menschen in seiner Nähe in Panik schreiend auseinander stoben und die beiden japanischen Touristinnen, die gerade das Hotel fotografieren wollten, in namenlosem Entsetzen die Hände vor den Mund schlugen.

    Nur wenige Minuten später eilten die Beamten von der nahen Wache der Bundespolizei am Bahnhof herbei. Wenige Minuten später rasten drei Streifenwagen der Kölner Polizei auf die Domplatte, ihr zuckendes Blaulicht spiegelte sich in den zahllosen Fenstern des verlassenen Hotels, schien ihnen für kurze Zeit ein geisterhaftes Leben zu verleihen.

    Die neuen Beamten lösten die Kollegen der Bundespolizei ab, die nur für den Bahnhofsbereich, nicht aber für die davor liegende Domplatte zuständig waren und kurze Zeit später hatte sich die Szene in einen veritablen Tatort verwandelt, wie ihn die Gaffer aus dem Fernsehen zu kennen schienen.

    „Dat is ja wie im Fernsehen", rief ein Taxifahrer seinem Kollegen zu und biss genussvoll in sein Salamibrötchen.

    Mit rot-weißen Bändern, mit grimmigen Beamten, die den Tatort großräumig absperrten, mit zwei Stellwänden um das Opfer und einem Notarztwagen der Kölner Feuerwehr, deren Besatzung freilich schnell einsah, dass hier weniger ein Arzt als vielmehr ein Bestatter zum Zuge kommen würde.

    Hinter der Stellwand kniete ein schmaler Mann um die vierzig, schlank und hoch gewachsen, mit kurzem schwarzem Bart, grauen stechenden Augen und einem schlecht sitzenden, karierten Jackett, das er schon in den Tagen der Polizeischule getragen haben muss. Hauptkommissar Leo Breuer musterte den Toten aufmerksam.

    Mit Handschuhen fischte er vorsichtig die Brieftasche des Mannes aus der Jacke und blickte überrascht auf das Siegel mit dem Adler, das auf dem Ausweis des Mannes prangte: Gordon Rush, Central Intelligence Agency C18 Field Agent Er pfiff leise durch die zusammengepressten Lippen. CIA!

    Was macht ein Agent dieses ausländischen Dienstes hier bei uns? Und weshalb wurde er umgebracht? Da wartet eine Menge Arbeit auf uns! Oder auch nicht? Vermutlich wird das LKA die Sache an sich reißen. Oder der BND. Egal, erst mal weitermachen!

    Ohne weiter etwas zu berühren, wandte er sich an seinen uniformierten Kollegen: Spurensicherung und Rechtsmedizin verständigt?"

    „Sind in fünf Minuten da?"

    Breuer nickte. Jetzt galt es, die Kollegen abzuwarten und darauf zu achten, dass der Tatort nicht kontaminiert wurde, aber wie sein Blick zeigte, hatten die Kollegen ganze Arbeit geleistet.

    Fünfzehn Minuten später bog ein grauer Mazda auf die Domplatte, die sich inzwischen mit Gaffern und neugierigen Touristen gefüllt hatte. Ein Polizist winkte sie durch. Eine Frau in einem grauen Hosenanzug stieg aus, die langen grauen Haare zu einem Zopf gebunden, in der Hand trug sie einen schwarzen Ärztekoffer. Mit festem Schritt bahnte sie sich ihren Weg durch die Gaffer und eilte auf die Stellwände zu.

    „Ah, Frau Dr. Wendler. Schön, dass Sie so schnell hier sein konnten."

    „Herr Breuer."

    Die angesprochene Rechtsmedizinerin, eine resolute Endvierzigerin in einem altmodischen, grauen Kostüm, nickte knapp, zog ihre Handschuhe an und machte sich an die Arbeit.

    Sie drehte den Kopf des Opfers, betrachtete die grässliche Wunde am Hinterkopf und unterzog den restlichen Körper einer kurzen Untersuchung. Dann machte sie einige Fotos vom Kopf des Toten. Dachte einen Augenblick nach.

    „Tod durch Gewehrschuss. Projektil ausgetreten, sollte hier in der Nähe zu finden sein. Nach der Größe der Wunde vermute ich, dass es sich um ein großes Kaliber gehandelt hat, vielleicht 12 mm. Der Schütze war kaum mehr als hundert Meter entfernt. Tod trat unmittelbar ein. Alles Weitere nach der Obduktion."

    Sie vermaß den Schusswinkel und blickte auf das Domhotel. „Schuss kam wahrscheinlich von dort, sie deutete auf das Hotel. „Vielleicht zweiter oder dritter Stock.

    Dr. Wendler war nicht gerade für übermäßige Geschwätzigkeit bekannt, ihre Analysen waren knapp aber zutreffend, weshalb sie bei der Polizei sehr geschätzt wurde.

    Breuer nickte und schickte sofort einige Beamten zum Domhotel, auch wenn er ahnte, dass der Täter dort wohl kaum auf die Beamten warten würde.

    Inzwischen hatte sich der Himmel verdunkelt, in einiger Entfernung durchzuckten erste Blitze das drohende Grau der Wolken.

    „Danke, Dr. Wendler. Wir sehen uns bei der Obduktion. Sie geben meinem Büro den Termin?"

    „Morgen früh, zehn Uhr!", lautete die knappe Antwort, bevor die Ärztin so unauffällig verschwand, wie sie gekommen war. Sofort machte sich die Spurensicherung an die Arbeit und die Blitze der Fotoapparate hellten die zunehmende Dunkelheit auf.

    Kurz darauf leitete ein Donnerschlag einen heftigen Regenguss ein, der Gaffer und Touristen vertrieb und Spuren zunehmend verwischte. Nur Breuer und seine Kollegen standen im Regen und machten ihre Arbeit, während ihnen das Wasser über die grauen Wangen lief.

    2. Kapitel

    Warschau (eine Woche vorher)

    Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.

    (Paracelsus)

    Die polnische Hauptstadt lag friedlich in der Abendsonne, froh, einen weiteren Tag kaum erträglicher Hitze überstanden zu haben.

    Unweit vom Kulturpalast, dem Warschauer Wahrzeichen, das die Sowjetunion im Jahre 1952 dem polnischen Volk zum Geschenk gemacht hat (die Alternative wäre der Bau einer U-Bahn gewesen, was weniger prestigeträchtig, aber praktischer gewesen wäre), der im Baustil des sozialistischen Klassizismus immer noch alle anderen Bauwerke Warschaus wie auch Polens überragt, liegt die Ul.Grzybowska. Sie verbindet das Geschäfts -und Bankenviertel Wola mit der Innenstadt und der Zlote Tarasy, dem modernen, großen Einkaufszentrum, ist Tag und Nacht belebt und von zahllosen Geschäften, Bars und Restaurants aller Ausrichtungen gesäumt.

    Viele der Bars und Diners verfügen über eine Außengastronomie und die Menschen gönnen sich nach einem heißen Arbeitstag gerne einen kühlen Drink an den kleinen, mit bunten Decken gedeckten Tischen. Hier trifft man den Banker ebenso wie den Handwerker, die Studentin sitzt neben dem Touristen, der Busfahrer neben dem Versicherungsangestellten. Die Hausfrau hat ihre Einkäufe abgestellt und schlürft Hugo, der Arzt, der bemüht ist, Abstand von seiner Praxis zu bekommen, trinkt genüsslich seinen Weißwein.

    Dazwischen Jugendliche, die neben ihren Eltern sitzen und unbekümmert auf ihre Smartphones hämmern, als gäbe es kein Morgen mehr. Sie haben der Welt ihre Belanglosigkeiten mitzuteilen oder spielen ihre Spiele, immer in dem Bemühen, ein Leben mehr zu erreichen. Andere checken ihren Account bei Facebook und kontrollieren die Zahl ihrer Follower. Schon wieder fünf neue! Wieder andere, die unvermeidlichen Kopfhörer in den Ohren, nippen gedankenverloren an ihrer Cola und wippen im Takt berauschender Töne mit, von ihrer Umwelt nehmen sie kaum noch etwas wahr.

    An einem der Tische saß eine attraktive junge Frau, die die vierzig noch nicht erreicht hatte. Ihr langes blondes Haar fiel in Locken weit über die Schulter. Sie trug einen engen, schwarzen Rock, der ihre sportliche Figur vorteilhaft betonte und eine weiße Bluse, die einen dezenten Blick auf ihre schmalen Brüste zuließ. Ihr Gesicht war ebenmäßig, aber herb, weil sich an den Mundwinkeln Falten eingegraben hatten, die von vielen, wohl auch leidvollen Erfahrungen zeugten.

    Die hochhackigen Pumps hatte sie ausgezogen und neben den Tisch gestellt.

    Sie zog an ihrer Zigarette, nippte an einem Cocktail, blätterte durch ein englisches Modejournal und ignorierte völlig die interessierten Blicke, die die Männer ihr zuwarfen. Ein Bild völliger Entspannung, wie es nur jemand bieten kann, der mit sich und der Welt im Reinen ist. Eher keine gestresste Touristin, vielleicht eine entspannte, einheimische Urlauberin? Oder eine erfolgreiche Geschäftsfrau?

    Von der Straße näherte sich ein Mann von mittlerer Größe und untersetzter Figur.

    Sein beigefarbener Anzug war ein wenig zu groß und verdeckte die sehnige Gestalt.

    Die stechenden grauen Augen waren unter einem gleichfarbigen, breitkrempigen Sommerhut und einer schmalen Sonnenbrille verborgen. Er schien einen Tisch zu suchen und steuerte den Tisch neben der Frau an.

    „Autsch! Can’t you be careful?"

    „Oh, I am so sorry, Madam!" Englisch mit deutlichem Akzent. Der Mann hatte die Frau angerempelt und die Frau hatte einen kurzen, stechenden Schmerz in der Seite gespürt, der sie zu dieser unwirschen Bemerkung veranlasst hatte.

    Der Mann murmelte einige weitere Worte der Entschuldigung, entfernte sich aber dann wieder, ohne an einem der Tische Platz zu nehmen. Irritiert blickte die Frau ihm nach, griff nach ihrer juckenden Hüfte, maß dem Vorfall aber keine Bedeutung bei. Sie widmete sich wieder ihrer Lektüre.

    Minuten später, der Mann war längst aus dem Blickfeld verschwunden, griff die Frau plötzlich an ihren Hals. Die Zigarette glitt aus ihren Fingern, Schaum trat aus ihrem Mund und sie begann zu röcheln. Ihr Gesicht wurde weiß wie ein Tischtuch, verkrampfte sich zu einer grauenhaften Fratze.

    Die Kellnerin ließ vor Schreck einen Cappuccino auf das Bein eines russischen Touristen fallen, der empört aufschrie und fluchend mit seiner Zeitung nach der Kellnerin schlug.

    Ein kleines Mädchen starrte entsetzt auf die Frau und fing in Panik an zu schreien.

    An den Nebentischen sprangen Männer auf und eilten zur Hilfe.

    Aber jede Hilfe kam zu spät!

    Die Frau verdrehte ihre Augen, die Hände verkrampften sich und das Modejournal fiel auf den Boden. Sie schrie vor Schmerzen auf und sank auf den Boden.

    „Tut doch was!"

    „Holt die Ambulanz"

    „Die Polizei! Alarmiert die Polizei!"

    „Lockert den Kragen!"

    Die Männer überschlugen sich in blindem Aktionismus und dem vergeblichen Versuch Hilfe zu holen.

    Und während die Frau ihre letzten Atemzüge tat, stand der Mann mit den stechenden Augen und dem breitkrempigen Sommerhut keine zweihundert Meter entfernt im Eingang eines Wohnhauses und betrachtete die Szenerie mit unverhohlener Befriedigung.

    Zufrieden verließ er den Tatort.

    3. Kapitel

    Berlin/Nicolaiviertel

    (zwei Wochen vorher)

    Rache ist keine Zierde für eine große Seele.

    (Lessing)

    Das Nicolai-Viertel im Ostteil gilt als der historische Kern der Stadt, eine romantische Altstadt, schon zu DDR-Zeiten liebevoll restauriert, eine überraschende Oase der Ruhe in der Hektik der Großstadt. Hier findet man sorgsam restaurierte Häuser aus der Barockzeit, die älteste Kirche, die kürzeste Gasse, um die dreißig Gaststätten jeglicher Couleur, fünf Museen und vierzig Läden. In den verkehrsberuhigten Gassen kann man entspannt bummeln oder einkaufen oder am Ufer der Spree die Seele baumeln lassen. Und das alles nur wenige Minuten vom Alex entfernt, dem pulsierenden Alexanderplatz, der früheren Mitte Ostberlins, der Hauptstadt der DDR. Dieses Viertel ist nicht nur das älteste, sondern nach Ansicht vieler auch das schönste der deutschen Hauptstadt. Kein Schmutz auf den Straßen, keine Junkies, die herumhängen und Passanten belästigen. Ein Bild des Friedens – in der Hauptstadt eher ungewöhnlich.

    Für all das hatte der Mann, der an diesem Abend seelenruhig auf seinem Bett in einem Hotel unweit vom Nikolaikirchplatz lag, keine Augen. Weder für das Wohnhaus des berühmten Dichters Lessing, der um die Ecke gewohnt hatte, noch für das Ephraim-Palais, einen beeindruckenden Bürgerpalast aus dem 18. Jahrhundert, der gegenüber lag oder den Gasthof Zum Nussbaum, der 1507 erbaut, später zerstört und originalgetreu wieder aufgebaut worden war. Immerhin hatte er dort schon gegessen und war von der Qualität angenehm überrascht. Das war nicht der übliche Touristenfraß, das war exzellente Küche.

    Eisbein mit Sauerkraut und Klößen!

    Die Hälfte musste er zurücklassen, köstlich aber zuviel! Das hätte seiner Figur geschadet, und die war für seinen Job wichtig, lebenswichtig. Er maß 180 Zentimeter, war schlank und durchtrainiert, sein markantes Gesicht zierte ein Oberlippenbart, sein blondes Haar war voll und dicht. Ein gut aussehender Mann.

    Zum Schluss hatte er sich einen Calvados gegönnt und das Lokal hochzufrieden verlassen.

    Aber der Mann war kein Tourist.

    Er war Feldagent Second Grade der CIA und er war hier, um einen Job zu erledigen.

    Und er hatte ihn erledigt.

    Er hatte eine Liste besorgt, die man in Langley hocherfreut zur Kenntnis nehmen würde. Eine Liste von Agenten des russischen FSB, dem früheren KGB, die hier in Deutschland aktiv waren, und zwar so aktiv, dass sie auch seiner Regierung schaden könnten. Man würde sich um sich kümmern müssen. Der Kalte Krieg war zwar vorbei, nicht aber die Tätigkeit der Agenten auf beiden Seiten. Vieles hatte sich geändert und die Dienste waren heute oftmals mehr an wirtschaftlichen als an militärischen Informationen interessiert, trotzdem konnte es nicht schaden, wenn man wusste, wer da unterwegs war und mit welchem Ziel. Und es hatte ihn nicht einmal eine Kugel gekostet! Nein, für läppische zehntausend Dollar hatte er die Liste bekommen.

    Ihr Wert? Sehr viel größer!

    Und für diese Summe gab ein geldgieriger russischer ExAgent gerne mal Informationen, die er keinesfalls hätte geben dürfen. Wenn man das in Moskau wüsste, wäre das sein Todesurteil.

    Oder zwanzig Jahre in einem Gulag, einem der berüchtigten Arbeitslager.

    Wie auch immer!

    In vier Stunden ging sein Flug nach Washington und er freute sich auf seine Familie, seine Frau Judith und den kleinen Dean. Er hatte ihm einen kleinen deutschen Polizeiwagen gekauft und Dean würde das kleine Mitbringsel lieben. Er liebte alles, was mit der Polizei zusammenhing, und ein Wagen aus Deutschland war etwas Besonderes.

    Der Mann schloss die Augen. Noch ein Stündchen Ausruhen. Er hatte den Wecker in seinem Smartphone gestellt, er würde nicht verschlafen. Er dämmerte langsam ein. Seine Pistole lag griffbereit auf dem Nachttisch. Man konnte nie wissen, obwohl er sich hier sehr sicher fühlte.

    Deutschland kam ihm sehr sicher vor, sauber, ordentlich und sicher.

    Zu sicher?

    Er ahnte nicht, dass zum gleichen Augenblick ein Mann langsam die Treppe heraufkam und vor seiner Tür stehen blieb. Unten in der Empfangshalle war der Teufel los. Die einen reisten ab, die anderen kamen an. In diesem Durcheinander war es kein Problem, sich unauffällig an der Rezeption vorbei zur Treppe zu schleichen.

    Und unauffällig war der Mann auch. Unauffälligkeit war sozusagen sein Markenzeichen, sein zweiter Vorname. Der Mann war von untersetzter Figur, aber sehnig und schlank. Er trug einen schwarzen Regenmantel und Sportschuhe. Was an ihm vielleicht am meisten auffiel, waren seine grauen stechenden Augen. Augen, die Furcht einflößen konnten.

    Der Mann holte aus seiner Tasche einen Dietrich und öffnete leise und problemlos die Tür, das gehörte zu den vielen Fertigkeiten, die sein Beruf mit sich brachte.

    Behutsam betrat er den Raum, leise und geräuschlos wie ein Leopard beim Anschleichen an seine Beute. Er blickte sich um, alles war aufgeräumt, bereit zum Aufbruch. Aber dieser Gast würde nie mehr aufbrechen, dafür würde er sorgen.

    Er sah sein Zielobjekt auf dem Bett liegen. Er schlief wie erhofft. Er hatte ihn den ganzen Tag beobachtet, hatte die Übergabe beobachtet und ahnte, dass sein Opfer jetzt müde sein würde.

    Er schlief – zum letzten Mal und für immer! Seine Pistole lag neben ihm, aber die würde ihm nichts nützen.

    Er holte aus seinem Mantel eine CZ 2075 Rami Pistole 9mm Luger, seine Lieblingswaffe. Leicht und handlich, eine subkompakte Pistole mit Leichtmetallgriffstück, fester Visierung und 10 Schuss Magazin, der Schalldämpfer war bereits aufgeschraubt.

    Er nahm Maß.

    Unerbittliche Augen richteten sich auf das Opfer.

    Plopp! Plopp!

    Zwei Schüsse in Stirn und Herz!

    Das Opfer gab einen leisen Laut von sich, während sich Blut und Gehirnfetzen auf dem Kopfkissen verteilten. Der Schütze gab einen grunzenden Laut der Zufriedenheit ab. Dann zog er Handschuhe an und holte eine Brieftasche aus der Jacke des Toten.

    Er schlug sie auf.

    Phil Peterson, Central Intelligence Agency C34 Fieldagent, darüber das Siegel des amerikanischen Geheimdienstes mit dem grimmig guckenden Adler und dem roten Stern.

    Außerdem achtzig Euro und zweihundertfünfzig Dollar in Scheinen und ein Flugticket der Deutschen Lufthansa, Flug LH 9233, Platz 34 C. Der Platz würde wohl leer bleiben!

    Voller Befriedigung steckte er die Brieftasche zurück, an Geld hatte er kein Interesse.

    Die brisante Liste, die daneben steckte, übersah er allerdings. Auftrag erledigt!

    Yaakov Goodman hatte seinen Job getan. Diesmal war es kein Job seines Arbeitgebers, des Mossad, gewesen. Diesmal hatte er auf eigene Rechnung gehandelt, aber die Befriedigung war umso größer.

    Still und unauffällig verließ er das Hotel, während in Amerika bald eine Witwe in Tränen ausbrechen würde.

    4. Kapitel

    Köln/Innenstadt

    Das Leben ist voller Leid, Krankheit, Schmerz – und zu kurz ist es übrigens auch.

    (Woody Allen)

    Genau da, wo einst das malerische Pantaleonstor als Teil einer mittelalterlichen Befestigung stand, das zusammen mit anderen Toren und Mauerabschnitten 1881 einem unseligen Abriss aus Gründen der Stadterweiterung zum Opfer fiel, steht heute die einzige altlutherische Kirche Kölns. Im Krieg wurde der schöne, neugotische Bau aus dem Jahre 1900 völlig zerstört und durch einen schmucklosen Neubau Anfang der fünfziger Jahre ersetzt.

    Eine für Köln leider alltägliche Erscheinung! Andere Städte …, aber lassen wir das!

    Die Kirche verfügt im Erdgeschoss über einen großen Raum, der für Gottesdienste genutzt wird, und im Obergeschoss über eine Dreizimmerwohnung, die der Pfarrer mit seiner Familie bewohnt.

    In der Küche dieser Wohnung stand Doris Bassler und schnibbelte mit müden Händen an den Zutaten eines Salats. Von Zeit zu Zeit unterbrach sie ihre Arbeit, um mit ihren Händen über den Leib zu fahren. Schon seit Wochen wurde sie von Übelkeit und Erbrechen geplagt, Appetitlosigkeit und ständige Müdigkeit kamen dazu. Dazu kam ein steter Gewichtsverlust, eine Erscheinung, die sie in früheren Zeiten begrüßt hätte. Aber jetzt? Sie war kein ängstlicher Mensch, aber ihr desolater Zustand beunruhigte sie zunehmend.

    Sie hatte Markus, ihrem Mann, diese Probleme bis jetzt verschwiegen, aber sie ahnte, dass ein Gang zum Arzt unausweichlich war, ein Gang, den sie höchst ungern hinter sich brachte. Ärzte waren ihr ein Gräuel. Beim Gedanken an ihren Mann nahm ihr Gesicht einen liebevollen Ausdruck an. Seit fast dreißig Jahren waren sie verheiratet und sie hatte die Verbindung mit dem jungen stürmischen Theologiestudenten nie bereut. Sie hatten sich auf einer landesweiten Protestdemo gegen die Erhöhung der Studiengebühren kennengelernt,

    schnell verliebt und noch schneller geheiratet, auch wenn die Eltern zunächst mit dem bärtigen Revoluzzer, wie Vater ihn nannte, nicht einverstanden waren.

    Leider blieb ihnen die Erfüllung ihres Kinderwunsches verwehrt, aber auch ohne diese Erfüllung, die ihnen als Höhepunkt ihrer Partnerschaft erschienen wäre, führten sie eine sehr harmonische Partnerschaft, eine Partnerschaft, ohne die ihr bester Freund, Monsignore Dr. Peter Diefenstein von der benachbarten Basilika St. Pantaleon, auskommen musste.

    Es tat gut, einen solchen Mann zum Freund zu haben und sie pflegten diese Freundschaft über alle Konfessionsgrenzen hinweg schon seit Studienzeiten.

    Doris Bassler hatte seinerzeit ihren Lehramtsabschluss in Theologie, Geschichte und Italienisch gemacht, ohne je ein Klassenzimmer betreten zu haben. Irgendwie war es nie dazu gekommen und sie fühlte sich als Frau eines Pfarrers mit all den Tätigkeiten, die das rege Gemeindeleben mit sich brachte, vollkommen ausgelastet.

    Sie leerte das Brett mit den geschnittenen Tomaten, Gurken und Zwiebeln in eine Schüssel, gab Öl und Essig, Salz und Pfeffer dazu und durchmischte den Salat. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass Markus sicher bald von seinem Besuch bei einem schwer erkrankten Gemeindemitglied zurückkehren würde.

    Es schellte.

    Hat Markus etwa seinen Schlüssel vergessen?

    Mit schweren Schritten eilte sie zur Tür, ihr Magen regte sich wieder.

    Sie öffnete die Tür und hatte keine Ahnung, dass sich mit der jetzigen Begegnung ihr Leben für immer ändern würde.

    „Ja?"

    Vor der Tür stand eine verhärmte Frau, schlank, fast dürr, das lange, strähnige Haar zu einem Zopf gebunden. Sie trug ein verschlissenes Sommerkleid und ihre Hände klammerten sich an eine Louis-Vitton-Tasche, die so wenig zu ihr passte, wie eine Nerzstola zu einem Eisbär.

    Ein billiger Fake aus China, durchzuckte es sie, während die Frau sie ängstlich ansah.

    „Ich … ich bin Frau Mundorf, Elke Mundorf.

    Doris Bassler blickte die Besucherin irritiert an. Wer ist das denn?

    „Sie kennen mich nicht mehr, oder?"

    Doris Bassler kramte in ihrem Gedächtnis. Irgendwo hatte sie die Frau schon mal gesehen. Aber wo?

    „Ehrlich gesagt nicht. Und was kann ich für Sie tun? Oder wollen Sie zu meinem Mann?"

    Die Frau versuchte sich in einem Lächeln und offenbarte ein krummes, stark pflegebedürftiges Gebiss.

    „Ihr Mann, der Herr Pfarrer, hat meine Anne, das ist meine Tochter, konfirmiert. Vor zwei Jahren war das."

    „Aha."

    Doris Bassler war immer noch nicht klar, was die Frau wollte und sie hatte wenig Lust, sie hereinzubitten um das herauszufinden. Sie fühlte sich krank und die Frau war ihr wenig sympathisch.

    „Probleme. Wir haben große Probleme mit Anne, und da haben wir gedacht … wir haben gedacht, mein Mann und ich, der Herr Pfarrer könnte uns vielleicht helfen. Er war doch damals so freundlich zu Anne … und zu uns."

    Unwillig gab Doris Bassler den Weg frei.

    „Kommen Sie doch herein, Frau äh … Mundorf."

    Die Frau nickte erleichtert und hauchte ein Dankeswort, zögernd betrat sie die Wohnung.

    „Ich störe Sie doch wohl nicht?"

    Und wie!, dachte Doris Bassler, setzte aber ein Lächeln auf.

    „Nein, keineswegs, bitte nehmen Sie Platz."

    Sie führte die merkwürdige Besucherin in das geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer und wies auf einen der bequemen Sessel.

    „Kann ich Ihnen etwas anbieten?"

    „Ein Glas Wasser vielleicht, wenn es keine Umstände macht."

    „Gerne."

    Doris Bassler stand auf, um kurze Zeit später mit einem Glas Wasser und einer Flasche zurückzukehren. Sie stellte es vor die Besucherin und schaute sie aufmerksam an. Ihr Unwillen und ihre Müdigkeit waren mit einem Schlag verflogen. Wenn Hilfe gebraucht wurde, war sie zur Stelle, das hatte sie in den vielen Jahren an der Seite ihres Mannes gelernt.

    Die Frau nahm einen hastigen Zug aus dem Glas, nestelte nervös an ihrer gefakten Tasche herum und begann zögernd und mit leiser Stimme.

    „Unsere Anne ist jetzt sechzehn Jahre alt. Vor zwei Jahren, als sie hier konfirmiert wurde, war alles mit ihr in Ordnung. Sie ging zur Realschule und hatte gute Noten, sie trieb sich nicht mit Jungs herum, half mir im Haushalt und guckte nach ihrem Bruder."

    Sie leerte das Glas in einem Zug und atmete tief ein.

    „Sie müssen wissen, wir haben noch einen Sohn. Den Guido. Der ist jetzt sieben."

    Doris Bassler nickte ihr aufmunternd zu und füllte das Glas erneut.

    „Aber jetzt hat sich alles geändert."

    „Wieso?"

    „Wegen Samira!"

    „Samira?"

    „Anne hat in der Schule ein Mädchen kennengelernt. Aus dem Iran. Sie trägt ein Kopftuch und komische Kleider. Die anderen Kinder lachen sie oft aus, aber das macht ihr nichts aus. Die Eltern sind vor einem Jahr aus dem Iran geflohen, weil der Vater für eine Zeitung gearbeitet hat, kritische Kommentare über diese äh … Agatollas, oder wie das heißt, geschrieben hat. Mit der ganzen Familie sind sie geflohen, Hals über Kopf bei Nacht und Nebel. Sie sind eigentlich nicht besonders gläubig, nur die Tochter. Sie wollte ihr Kopftuch nicht ablegen, sie betet dauernd und sagt, Allah habe sie auserwählt."

    Sie brach ihre Rede ab, Tränen standen in ihren Augen. Ihre Finger fuhren fahrig über das Kleid. Sie trank hastig weiter und das Wasser rann aus ihrem Mundwinkel.

    „Samira war ständig mit meiner Tochter zusammen und sie hat meiner Anne Flausen in den Kopf gesetzt. Auf einmal bestand Anne darauf, auch ein Kopftuch zu tragen und hat uns gesagt, sie wolle zum Islam konvertieren. Sie wolle einen Gebetsteppich und weigert sich in die Kirche zu gehen. Sie hat sich einen Koran gekauft, in dem sie dauernd blättert und uns Sachen vorlesen will. Sie lernt sogar Sachen auswendig. Uns nennt sie Ungläubige, die Allah strafen werde. Stellen Sie sich das vor. Vor zwei Jahren konfirmiert und jetzt zum Islam. Im Ramadan hat sie gefastet und vier Kilo abgenommen, und sie ist doch ehe schon nur Haut und Knochen. Mein Mann hat getobt und ihr den Umgang verboten, aber es hat nichts genutzt. Ständig hingen die Mädchen zusammen und haben getuschelt.

    Und wenn sie nicht zusammen waren, hingen sie am Handy. Sie hat kaum noch für die Schule gelernt, keine anderen Freundinnen getroffen, Jungs spielten überhaupt keine Rolle."

    Sie seufzte laut auf.

    „Dabei hat sie doch vorher für den Mark von nebenan geschwärmt, obwohl mein Mann das verboten hat. „Ist doch erst 16, hat er gesagt, „mein kleines Mädchen.

    Schließlich hat mein Mann ihr das Handy weggenommen. Anne hat geweint, gefleht, getobt, dann hat sie es geschluckt. Ich habe aber den Verdacht, dass sie sich heimlich ein neues besorgt hat."

    „Ihr Mann ist wohl recht streng zu ihr?"

    „Mein Mann? Er ist seit fünf Monaten arbeitslos. Sie haben ihn entlassen. Seitdem ist er … anders. Er ist nur noch zu Hause und er trinkt zu viel. Ja, er ist streng, aber er meint es nur gut mit Anne. Sie ist …, sie stockte kurz, „sie war immer seine kleine Prinzessin!

    Es entstand eine kurze Pause, während Doris Bassler ihre Besucherin nachdenklich betrachtete.

    „Und jetzt?"

    „Jetzt ist sie weg!"

    „Wer ist weg?"

    „Samira! Seit einer Woche kommt sie nicht zur Schule und die Eltern haben keine Ahnung, wo sie ist. Sie waren bei der Schule, bei der Polizei, haben überall gefragt, aber keiner weiß was. Und ich habe Angst, dass Anne auch so was macht. Man kann doch dabei nicht zusehen, oder? Vielleicht kann Ihr Mann mit ihr sprechen. Den hat sie doch damals im Konfirmandenunterricht so toll gefunden. Cool sei er gewesen, hat sie damals gesagt, richtig cool. Aber das war, bevor sie mit dieser … Samira zusammen war!"

    Sie schluchzte laut auf, griff nach ihrem Taschentuch und schnäuzte sich vernehmlich.

    Bevor Doris Bassler antworten konnte, hörte sie, wie ein Schlüssel im Türschloss gedreht wurde.

    Markus, Gott sei Dank!

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