Davor. Danach. Heute.
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Mittlerweile sind sie sesshaft geworden und Anna hat einen Job, den sie mag, eine Freundin, die sie liebt, und dann ist da noch ihr Chef Bernd, zu dem sie ein ganz eigenes Verhältnis hat.
Aber in letzter Zeit stimmt etwas nicht mit Mama und auch Annas Beziehung zu Fee verändert sich. Als eine zufällige Entdeckung unvorhergesehene Konsequenzen hat, muss Anna sich auf eine aufwühlende Spurensuche begeben, an deren Ende neben Antworten auch viele neue Fragen stehen.
Enni Rocks zweiter Roman hat die Zutaten und das Tempo eines Thrillers, aber wie schon in ihrem Debüt geht die Autorin im Kern einmal mehr der Frage nach, was Familie und Partnerschaften ausmacht, zu wem wir gehören und warum.
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Book preview
Davor. Danach. Heute. - Enni Rock
Anna ist allein mit ihrer Mutter aufgewachsen, an häufig wechselnden Orten, ohne Kontakt zu den Menschen zu halten, die sie zurückgelassen haben. Solange sie sich erinnern kann, gab es nur sie und Mama.
Mittlerweile sind sie sesshaft geworden und Anna hat einen Job, den sie mag, eine Freundin, die sie liebt, und dann ist da noch ihr Chef Bernd, zu dem sie ein ganz eigenes Verhältnis hat.
Aber in letzter Zeit stimmt etwas nicht mit Mama und auch Annas Beziehung zu Fee verändert sich. Als eine zufällige Entdeckung unvorhergesehene Konsequenzen hat, muss Anna sich auf eine aufwühlende Spurensuche begeben, an deren Ende neben Antworten auch viele neue Fragen stehen.
Enni Rock, 1980 in Kassel geboren, studierte Germanistik sowie Medien- und Kommunikationswissenschaften im In- und Ausland. Als Journalistin und freie Autorin hat sie für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften gearbeitet. »Davor. Danach. Heute.« ist ihr zweiter Roman.
ENNI ROCK
DAVOR. DANACH. HEUTE.
Roman
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung oder Vervielfältigung dieses Buches – auch auszugsweise – sowie die Übersetzung dieses Werkes ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.
© 2020 Enni Rock (www.enni-rock.de)
Cover: Sabrina Hoffmann, »Suche« © 2019
Coverdesign: Verena Förster, d.signbar – Grafik Design & Werbung (www.d-signbar.com)
Lektorat, Korrektorat & Satz: Maren Keller, Kontext-Kassel
(www.kontext-kassel.de)
Verlag: Selfpublishing Kassel (www.selfpublishing-kassel.de)
Bestellung & Vertrieb: Nova MD GmbH, Vachendorf
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN: 978-3-9855117-2-3
Für Steffen – weil es okay ist, nicht den einen perfekten Plan zu haben
VORBEMERKUNG
Die folgenden Ereignisse spielen sich innerhalb von achtundvierzig Stunden ab.
HEUTE
SIE ERWACHT UND einen Augenblick ist sie nur Bewusstsein, nein, noch nicht einmal das. Nur ein schwacher Funke, der noch nicht gezündet hat. Sie ist da und nichts zugleich, schwebend, körperlos.
Dann kommt das Gefühl zurück. Stoßweise. Ruckartig. Mühsam und ratternd. Ein Motor, der nur unter Protest in Gang kommt.
Der Rasenmäher ihrer Eltern. Rot. Blank geputzt, wie neu. Anlasser per Seilzug. Saftig-grüner Rasen, akkurat gestutzt, kein Halm, der es wagen würde, schief zu liegen.
Sie liegt. Spürt etwas Festes unter sich. Ihre Arme, die sich fremd anfühlen, unförmig, fehldimensioniert. Die Beine schwer und bleiern wie ihre Lider. Der Oberkörper irgendwie verdreht, krumm, zusammengezogen. Wie damals, wenn sie sich versteckte, sich in den Bettkasten zwängte, in der Enge ausharrte, versuchte, sich ganz klein und keinen Mucks zu machen, das Niesen zu unterdrücken, wenn der aufgewirbelte Staub ihr in die Nasenlöcher stieg. Bis sie endgültig zu groß und es an der Zeit war, ein neues Versteck zu suchen.
Ihr Mund ist trocken. Sie will schlucken, aber da ist kein Speichel. Wo ist sie?
Stimmen von irgendwoher. Gedämpft, unverständlich, auch sie fremd. Wer ist da? Hallo? Sie will rufen, aber kein Laut dringt aus ihrer Kehle, die Stimmbänder wie verklebt, die Zunge ein wattierter Klumpen.
Es gelingt ihr, die Augen zu öffnen, aber was sie sieht, sagt ihr nichts, hilft nicht. Nichts um sie herum ist ihr bekannt. Ein Zimmer, ein Fenster, dahinter nur ein Stück Himmel, draußen wie drinnen ein Rest von Tageslicht. Ist schon Abend?
Ihr Blick gleitet nach unten, fällt auf ihren Arm, ihre Hand. Sie mag keine Spritzen, hat sie nie gemocht, kann kein Blut sehen. Einmal ist sie beim Blutabnehmen umgekippt, der Kreislauf. Wie lange ist das her?
Ihr Kopf fällt zurück. Ermattet. Der Nebel, der sich kurz an die Ränder ihrer Wahrnehmung zurückgezogen hat, kommt wieder näher.
Wie lange? Seit wann ist sie hier? Vielleicht sucht schon jemand nach ihr.
Sie will sich auflehnen, aufrichten, aber ihre Muskeln gehorchen ihr nicht. Stattdessen Schmerz, der sie ohne Vorwarnung durchzuckt, sie sich einem Instinkt folgend zusammenkrümmen lässt. Seltsam vertraut, als seien er und sie alte Bekannte. Und aus dem Nebel greift noch etwas anderes nach ihr, etwas Kaltes, Hartes. Ebenso Vertrautes.
Angst.
Wo ist sie? Wie ist sie hier hergekommen? Wer –? Und dann weiß sie es.
Blut ist dicker als Wasser. Vergiss das nicht.
Die Stimme ist ganz nah diesmal, zu nah, in ihr drin, rollt wie eine Woge durch sie hindurch, schäumt, breitet sich aus, wird von ihrer Hülle, den Knochen und der darüber gespannten Haut zurückgeworfen. Ein Echo, das nicht leiser, sondern lauter wird.
Der Nebel umkreist sie, drückt sie tiefer hinab, zurück in die Leere, aus der sie eben erst aufgetaucht ist. Und beinahe ist es verlockend, nachzugeben, aufzugeben, nicht zu wissen. Aber sie weiß jetzt.
Sie haben sie gefunden. Er hat sie gefunden. Nach all der Zeit. Er hat sie gefunden und jetzt gibt es kein Entkommen. Diesmal wird es sie treffen.
Ein letztes Mal versucht sie, sich aufzubäumen, den Schmerz zu ignorieren, zu rufen, zu schreien. Aber stattdessen drängt plötzlich ein neuer Gedanke an die Oberfläche und widersteht der entgegengesetzten Strömung gerade lange genug, um sie erstarren zu lassen, erlahmen, ihr den Atem zu rauben.
Anna.
Und sie dann gewaltsam mit hinab in die Tiefe zu ziehen.
DANACH
BLINKEN, ABBIEGEN, TEMPO aufnehmen. Anna weiß, sie ist zu schnell, aber sie ignoriert es, reißt das Lenkrad mehr herum, als dass sie es dreht, schaltet mit mehr Gewalt, als nötig wäre. Das Fahrzeug toleriert es, gehorcht ihr, und die Reifen knapp auf, aber nie über der Randmarkierung halten sie gemeinsam die Spur, trotzen der Fliehkraft, die an Karosserie und Fahrerin zerrt. Bis sie die Kurve verlassen und auf den Beschleunigungsstreifen schießen, noch schneller werden und dann nach links schwenken, direkt auf die mittlere und dann weiter auf die linke Spur ziehen. Der geringe Verkehr lässt es zu und Anna jagt den Motor des Mietwagens weiter hinauf. Hundertsechzig, hundertsiebzig, hundertachtzig Stundenkilometer. Rechts von ihr bleiben Lastwagen und andere Verkehrsteilnehmer zurück, links von ihr die weißen Schilder mit den roten Kreisen, die sie ihren Führerschein kosten können. Was ohnehin leicht zu verschmerzen wäre, ist jetzt vollends ohne Bedeutung.
Sie fährt sonst nie schneller als erlaubt und auch auf freien Streckenabschnitten nie in diesem Tempo. Zu gefährlich. Und wozu? Sie hatte es schon früher nicht eilig anzukommen, und damals wie heute wird sie unruhig, wenn der Fahrtwind zu dröhnen und die blecherne Rüstung um sie herum zu vibrieren beginnt, selbst wenn ihr Fahrzeug heute wesentlich leiser ist und beinahe sanft dahinfliegt. Mama, hier ist Hundert. Mama, pass auf, der da vorne will ausscheren. Mama, wir sind doch nicht auf der Flucht. Aber vielleicht waren sie es doch.
Sie umklammert das Lenkrad fester, konzentriert sich. Richtet den Blick abwechselnd nach vorne, in den Rück- und dann den Außenspiegel. Checkt Abstände, nimmt etwas Gas weg, wenn ein Laster auf der Mittelspur auftaucht, nur um gleich wieder zu beschleunigen.
Gefühlt hat sie ihre halbe Jugend in Autos verbracht und doch hat sie sich nie mit ihnen anfreunden können. Ihnen nie verzeihen können, dass sie sie forttrugen, herausrissen aus ihrem Leben und an einen anderen, neuen, fremden Ort verbrachten. Das wird toll, du wirst schon sehen. Mamas Stimme, lachend, fröhlich, als wären sie mitten in einem großen Abenteuer.
Vor ihr taucht eine Baustelle auf und Anna bremst den Wagen ab, geht runter auf hundert, schiebt sich durch den Korridor der verengten Fahrbahn, eine Reifenbreite vom Beton entfernt. Seit wann ist sie so eine präzise Fahrerin? Aber vermutlich ist es die Gleichgültigkeit, die sie waghalsig macht.
Wir haben es uns doch immer schön gemacht, du und ich. Du wirst schon sehen, versicherte Mama und ja, das hatten sie. Jedes Mal. Ausnahmslos.
Aber sie zogen trotzdem immer irgendwann weiter, unweigerlich, egal wie schön es war, wie nett der Job, wie gut die Schule und wie lieb die Nachbarn oder Vermieter waren. Gerade von letzteren hatten sie viele über die Jahre, zu viele, als dass Anna sie aufzählen oder in die richtige Reihenfolge bringen könnte. Die meisten kann sie weder beschreiben noch zuordnen. Nur einige wenige stechen heraus.
Da war die alte Dame, bei der sie in einer winzig kleinen Wohnung unter dem Dach hausten, mit nur einem Schlafzimmer, das Anna bekam, während Mama im Wohnzimmer auf der Ausziehcouch schlief. Im Sommer waren sie ohnehin selten drinnen und im Winter erschufen sie sich aus Decken, Kartons und Einkaufstüten oder Zetteln mit eilig darauf gekritzelten Wörtern und den wenigen Möbelstücken weitläufige Fantasiewelten. Und manchmal, wenn Mama noch einmal weg musste, durfte Anna unten bei der alten Dame warten, wo es seltsam roch, aber wo sie Saft und Kekse oder warmen Kakao bekam.
Oder die zwei Schwestern, die sie auf ihrem Hof wohnen ließen, auf dem es längst keine Tiere mehr gab, außer zwei Hunden – Benno und Bodo, die einzigen Männer hier, – und ein paar freilaufenden Katzen. Auf dem die Stallungen und Scheunen stattdessen Leinwände und Staffeleien, Werkbänke und grobe Skulpturen aus Holz und Stein beherbergten. An den Wochenenden kamen ganze Gruppen von Frauen, um zu schnitzen und zu hobeln, zu meißeln und zu malen, und während Mama den Schwestern zur Hand ging, um die vielen Gäste zu versorgen und zu verkosten, durfte Anna überall dabei sein. Abends saßen alle zusammen, manchmal im Freien um ein Lagerfeuer, bei Regen in der großen Küche im Wohnhaus, erzählten Geschichten, lachten, machten Witze, die Anna nicht verstand, oder sangen Lieder, die Anna nicht kannte, aber deren Melodien sie manchmal Jahre später im Radio zu erkennen glaubte. Gefühlt haben sie Ewigkeiten dort verbracht, aber wahrscheinlich war es nur ein Sommer. Anna weinte noch lange, nachdem der Hof im Rückspiegel verschwunden war.
Vor ihr trödelt ein Mercedes auf der linken Spur herum, hat nicht einmal die maximal vorgeschriebenen achtzig Stundenkilometer drauf, und Anna drängelt, fährt dicht auf, macht das, wofür sie sich fremdschämt, wenn andere es tun, aber sie hat keine Zeit und keine Geduld. Der Mercedes zieht endlich genervt auf die rechte Spur hinüber, trotz der durchgezogenen Linie, und Anna gibt Gas und schießt ohne einen Blick vorbei.
Irgendwann später trafen sie Frau Kolbe, bei der sie so lange blieben, dass Anna meint, sich an mehrere Ferien zu erinnern und sogar einen Schulwechsel, der ausnahmsweise nichts mit ihnen zu tun hatte. Das Haus lag in einer Reihenhaussiedlung, Annas Schule nur zwei Straßen weiter, ein Spielplatz auf halbem Weg. Die Wohnung war hell und geräumig, mit ausreichend Zimmern, einem großem Bad mit Badewanne und einem Balkon, auf dem man sitzen konnte, ohne dass unten Autos vorbeibrausten und man sich die Ohren zuhalten musste, so wie sonst, wenn sie in Wohnungen mit Balkon gewohnt hatten. Und es gab einen Garten, den sie mitbenutzen durften. Aber das Beste war nicht die Wohnung, nicht der Balkon oder