Ästhetiken der Intervention: Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters
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Book preview
Ästhetiken der Intervention - Verlag Theater der Zeit
»Noch einen Schritt weitergehen«
Überlegungen zu weißer Imagination, Interventionen und dekolonialen Ästhetiken
ich werde
noch einen schritt weitergehen
bis an den äußersten rand
wo meine schwestern sind
wo meine brüder stehen
wo
unsere
FREIHEIT
beginnt
May Ayim, grenzenlos und unverschämt (1990)
1.Nachdenken über Black Lives Matter
»Noch einen Schritt weitergehen«, so lautet eine Zeile aus dem Gedicht grenzenlos und unverschämt der Afrodeutschen Aktivistin und Poetin May Ayim, die als Wegbereiterin für viele Schwarze und Afrodeutsche Künstler:innen sowie aktivistische Bewegungen gilt. Obwohl aus dem Jahr 1990, ist die Gedichtzeile aktueller denn je. In den letzten Monaten hat sich aber auch viel bewegt. Die Morde an den Afroamerikaner:innen George Floyd, Ahmaud Arbery und Breonna Taylor durch die US-amerikanische Polizei haben weltweit zu Solidarisierungen und Protesten geführt. Auch die deutsche Black Lives Matter-Bewegung hat zahlreiche große Demonstrationen in Großstädten organisiert, an denen sich junge Schwarze, People of Color (PoC) und weiße Menschen beteiligt haben. Es wurde gegen Rassismus im Alltag und gegen institutionellen Rassismus demonstriert, gegen Racial Profiling und gegen durch Rassismus motivierte Gewalt staatlicher Organe.¹
Auch in den Mainstream-Medien wurde breit über Rassismus diskutiert und zwar in einer Form, die weder nach der Aufdeckung der rechtsradikalen und terroristischen Gruppe NSU noch während deren Aufarbeitung, bei der die Verstrickungen deutscher Staatsapparate aufgedeckt wurden, möglich war. So wurden beispielsweise die Berliner Verkehrsbetriebe kurzerhand ›übermütig‹ und wollten die U-Bahn-Haltestelle »Møhrenstraße« in die nicht weniger problematische »Glinkastraße« umbenennen, was einerseits großen Jubel, andererseits aber auch Kritik auslöste und letztlich durch den Berliner Senat widerrufen wurde. Schließlich wurde der Vorschlag von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und Berlin Postkolonial e.V. sowie anderen Vereinen und Initiativen, die sich bereits lange für eine Umbenennung von rassistischen und kolonialen Straßennamen durch sinnvolle Alternativen (etwa Umbenennungen nach wichtigen Schwarzen deutschen Persönlichkeiten) eingesetzt hatten, nachgegeben. Die Møhrenstrasse soll bald schon nach dem ersten Afrodeutschen Philosophen Antonio Wilhelm Amo umbenannt werden.
Nicht nur ›auf der Straße‹, auch im Theater ist plötzlich einiges möglich. Ab der Spielzeit 2020/2021 leitet Julia Wissert als erste Schwarze Intendantin Deutschlands das Schauspiel Dortmund.² Die Benennung der politischen Selbstbezeichnung Schwarz sowie ihr Geschlecht sind notwendig, um die Diskrepanz zwischen Behauptungen und der Realität am deutschen Theater zu betonen. Denn die Statistiken verweisen immer noch darauf, dass die künstlerische Leitung von deutschen Staats- und Stadttheatern erdrückend weiß und männlich dominiert ist.
2.Nachdenken über die weiße Imagination
Auch der Erfolg von Anta Helena Reckes Inszenierung von Mittelreich an den Münchner Kammerspielen im Jahr 2017, die programmatisch als sogenannte »Schwarzkopie«³ der Inszenierung von Anna Sophie Mahler angekündigt wurde, ist gekoppelt an rassistische Rückschläge und kolonial-stereotype Rezeptionen seitens Theatermacher:innen und Theaterkritiker:innen. So schrieb beispielsweise Bernd Noack in der NZZ:
Man kann einen modernen farbigen Film mittels Fernbedienung in einen schwarz-weissen verwandeln; dass man dadurch auch die Zeit und die Atmosphäre des Films und um einen selber herum ändert, bleibt eine Illusion. Wenn man nun im Theater aus Weiss Schwarz macht, erzielt man einen ähnlichen Effekt: die Umkehrung der Wirklichkeit – ohne wirkliche Wirkung. Regisseurin Anta Helena Recke kann kaum vermitteln, was diese Irritation eigentlich soll. Provokation? Im Publikum sitzt niemand, den die »farblich« augenfällige Umbesetzung auch nur im geringsten stören, gar empören würde. Inhaltlich? Es ergibt keinerlei Sinn, dass der alte Bauer nicht mehr die voralpenfrische rosige Hautfarbe hat; und dass der Chor der Flüchtlinge jetzt wie eine Gruppe Migranten aus unseren Tagen aussieht, trägt auch nicht unbedingt zum tieferen Verständnis dieser eigentlich rein deutschen Geschichte bei, die von Welt- und Nachkriegszeiten, von geplatzten deutschen Träumen, von in der BRD dumpf nachhallendem Nazismus, wachsenden Vorurteilen und sexuell übergriffigen Katholiken erzählt.⁴
Das Postulat der »Umkehrung der Wirklichkeit«, das Noack hier bemüht, ist in Wahrheit eine Verkennung der deutschen Realität, die nicht erst seit dem Anwerbeabkommen im Jahre 1955 nicht »weiß« (als soziale Konstruktion) ist. Die Verkennung (oder bewusste Unsichtbarmachung) der Existenz von Schwarzen Deutschen, aber auch deutschen Juden und Jüdinnen, Sinti:ze und Rom:nja und weiteren Ver-Anderten als Teil der deutschen Gesellschaft, wird mit der Forderung nach Authentizität des alten Bauern mit »voralpenfrische[r] rosige[r] Hautfarbe« zusätzlich untermauert. Wenn also mit der kolonial und patriarchal gefärbten Brille die Intention der Regisseurin nur als »Irritation« und »Provokation« gedeutet wird, dann deswegen, weil nicht nur der Theaterraum immer noch als weiß imaginiert wird.
Auch die Theaterkritikerin der Süddeutschen Zeitung Eva-Elisabeth Fischer, die sowohl über die Intention der Regisseurin wie auch der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung bzw. Empowerment- Bewegung Schwarzer Menschen genau Bescheid zu wissen scheint, reproduziert rassistische und koloniale Bilder und Stereotypen:
Recke erklärt die Hautfarbe wortreich zum Politikum der Aufführung: »In Mahlers Mittelreich-Fassung werden auch nicht-deutsche Körper thematisiert ... Da bin ich gemeint, weil ich den deplatzierten Schwarzen Körper habe« – ein Zitat, dass [sic!] einen fast 60 Jahre nach der stolzen Propagierung schwarzen Selbstbewusstseins mit dem Slogan »Black is beautiful« doch ziemlich irritiert. So schwarz sind sie dann ja auch wieder nicht, diese neuen sechs Körper und Gesichter. Dass man über die Farbschattierungen der Darsteller nachdenkt, hat mit zweierlei zu tun: Einerseits stellt sich ziemlich schnell heraus, dass deren Hautfarbe für das Bühnengeschehen völlig irrelevant ist. Denn eine ähnliche Familiensaga um Schuld, Verdrängung, Missbrauch, Flüchtlingsproblematik und Erbstreitigkeiten wäre, vom oberbayerischen Lokalkolorit, das von Mahler und folglich auch von Recke in ihrer 1:1-Einstudierung sorgfältig wegretuschiert wurde, einmal abgesehen, wohl überall vorstellbar.⁵
Während die Theaterkritikerin sich hier mit »Farbschattierungen« beschäftigt, die »für das Bühnengeschehen völlig irrelevant« seien, war »Hautfarbe« nie das Anliegen von Anta Helena Recke und der Inszenierung von Mittelreich. Im Gegenteil, in Interviews und in Artikeln verweist Recke darauf, dass es ihr um »das Schwarze Deutschsein«⁶ geht. Mit Schwarz ist eine politische und soziale Konstruktion in einem globalen Zusammenhang gemeint, die unter anderem auf die Dehumanisierung durch jahrhundertelange koloniale und epistemische Gewalt verweist.⁷ Schwarz (mit einem großgeschriebenen S) ist eine von »Menschen afrikanischer und afro-diasporischer Herkunft, schwarzen Menschen, Menschen dunkler Hautfarbe und people of colo(u)r«⁸ gewählte Selbstbezeichnung.
Wenn nun die Theaterkritikerin das Schwarzsein (»So schwarz sind sie ja auch nicht«) und damit auch die Intention des Schwarzseins in Frage stellt, dann offenbart sich darin zum einen die Kontinuität der »Kolonialität von Macht und Wissen«⁹, indem Schwarze Menschen weiterhin als Objekte weißer Subjektivität imaginiert werden – die weiße Theaterkritikerin definiert anhand ihrer eigenen Vorstellungen, was schwarz ist und spricht den Performer:innen ihr Schwarzsein ab. Zum anderen wird sogar Schwarzes Deutschsein aus der deutschen Geschichte herausgedacht.
Dass diese Denkmuster nicht nur in der Rezeption vorzufinden sind, sondern in den eigenen Reihen – und in diesem Fall sogar im eigenen Haus –, schildert Anta Helena Recke in ihrem Text »Uh Baby it’s a white world«:
Als im Haus allmählich bekannt wurde, dass ich diese Aneignung auf die Bühne bringe, entgegneten einige: »Hey, ich hab’ gehört, dass du Mittelreich mit Flüchtlingen umbesetzen willst. Das ist ja lustig!« Zudem wurden mir im Castingprozess immer wieder wahllos Schwarze Menschen oder Geflüchtete oder Schauspieler*innen, deren Muttersprache nicht deutsch ist, vorgeschlagen. Das heißt, wenn man sagt, man besetzt Mittelreich mit Schwarzen Schauspieler*innen um, verstehen die Leute, man besetzt es mit Geflüchteten und Ausländer*innen. Hier zeigt sich das Unvermögen der weißen Kolleg*innen in der weißen Imagination selbst, sich einen Schwarzen Körper jenseits von Prekarität, Armut, Not, Exotik oder Flucht vorzustellen.¹⁰
Die weiße Imagination, in der Schwarze und weitere ver-anderte Subjekte nur eine ihnen zugewiesene Rolle und eine konkrete Funktion erfüllen, ist tief in den Strukturen des deutschen Theaters verwurzelt. Kritische Auseinandersetzung, wie sie beispielsweise durch die Theaterwissenschaftler:innen Katrin Sieg und Lisa Skwirblies geschieht, versucht diese strukturelle Asymmetrie aufzuzeigen, zu hinterfragen, aufzubrechen und neu zu denken.¹¹
3.Nachdenken über Anfänge und Diskontinuitäten
Insgesamt sind die Diskussionen um rassistische und Ausschluss produzierende Strukturen im Theater (und anderen deutschen Kulturinstitutionen) nicht neu. Spätestens seit dem Erfolg des Ballhaus Naunynstraße, das mit seinem selbstgewählten Label »postmigrantisch« in den Mainstream der deutschen Theaterszene intervenierte, wird eine größere Repräsentation der Diversität der deutschen Realität gefordert. Trotz dieses sich langsam abzeichnenden Wandels zeigt sich die Abwehrreaktion von den Verantwortlichen in Politik und Verwaltung wie von Intendant:innen deutlich, wenn es etwa beschwichtigend heißt: »Einen Schritt nach dem nächsten!«¹²
Denn wenn in diesem Beitrag in der Ausgangsfrage eine Verbindung zur Black Lives Matter-Bewegung gestellt wird, dann auch um auf die Verwobenheit von Politik und Kunst, Intervention und das reine Überleben in einer mehrheitlich weißen Gesellschaft für Schwarze Menschen zu verweisen. Es geht darum, die Erfahrung von Schwarzen Menschen ins Zentrum zu stellen. Daher steht entsprechend weniger die Frage, ob oder wie die weiße Imagination Schwarzes Leben in ihrer Vielfalt zulässt, sondern wie durch Intervention und Aneignung, in diesen von einer weißen Imagination besetzten Raum (im wahrsten Sinne des Wortes) eingegriffen werden kann. Dabei – und das ist Teil der Kolonialität der Strukturen, – werden diese Interventionen durch hegemoniale Narrative immer wieder strukturiert, ausgesiebt, exkludiert, vergessen und geteilt, um sie beherrschbar zu machen.
Wenn der entscheidende Moment einer postmigrantischen (und postkolonialen) Intervention im deutschen Theater immer wieder nur auf 2008 datiert wird, weil das Ballhaus Naunynstraße in jenem Jahr unter dem selbstgewählten Label »Postmigrantisches Theater« neu eröffnet hat, dann werden damit zugleich die bereits lange existierenden Strukturen von BIPoC-Künstler:innen und Aktivist:innen aus der Theatergeschichte (heraus)gehalten. Dabei waren und sind Proteste und Interventionen immer wieder wichtige Momente für marginalisierte Gruppen, um sich gegen Vereinnahmung und Fremdzuschreibungen zu wehren und Interessen und Anliegen öffentlich zu vertreten. Der Protest der Jüdischen Gemeinde Frankfurt im Jahr 1985 gegen die Inszenierung von Rainer Werner Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod am Schauspiel Frankfurt war in dieser Hinsicht essentiell. So konstatiert Michael Brenner in der Jüdischen Allgemeinen, dass für »das jüdische Leben in der Bundesrepublik diese Bühnenbesetzung einen entscheidenden Einschnitt« markierte.¹³ Zum ersten Mal, 40 Jahre nach der Shoah, traten wichtige Repräsentant:innen der Jüdischen Gemeinde in der deutschen Öffentlichkeit auf. So wurde bei der Veranstaltung EIN/AUSschlüsse und Selbstermächtigung im Kulturbetrieb, die 2017 als Teil des Akademieprogramms des Jüdischen Museum Berlin stattfand, auf die Wichtigkeit dieses historischen Moments des Aufstandes verwiesen.
Auch die historische Initiierung einer Afrodeutschen Frauenbewegung, die sich später in Form der Initiative ADEFRA e. V. – Schwarze Frauen in Deutschland institutionalisiert hat und mit dem Aufenthalt der Afroamerikanischen Poetin und feministischen Theoretikerin Audre Lorde an die FU Berlin ihren Anfang fand, war ein entscheidender Schritt in Richtung eigener Community-Strukturen, die über die die Schwarze Community hinaus von ebenfalls großer Bedeutung war. Lorde war Mitte der 1980er Jahre als Gastprofessorin am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien eingeladen, wo sie selbst explizit eine Einladung an Schwarze deutsche Frauen aussprach, an ihrem Seminar teilzunehmen. Bis dahin waren Afrodeutsche Frauen, so die Historikerin Katharina Oguntoye, als Schwarze weibliche Subjekte in Deutschland isoliert. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Lebenssituationen und -interessen, sei es als Schwarze Deutsche oder Afrikanisch-Deutsche oder Amerikanisch-Deutsche, beriefen sie sich nicht auf eine gemeinsame Identität als Schwarze deutsche Frauen.¹⁴ Die im Anschluss gegründete Bewegung ADEFRA verfolgte das selbstdefinierte Ziel, Räume für eine kollektive Auseinandersetzung mit Schwarzen Lebensrealitäten in Deutschland im Allgemeinen und mit den Existenzweisen Schwarzer Frauen in Deutschland im Spezifischen zu erschaffen. ADEFRA war angetrieben von Visionen einer Community, die einen Ort einer kollektiven Auseinandersetzung, der Wissensund Gesellschaftskritik und einer zugewandten, solidarischen Teilhabe für Afrodeutsche Frauen ermöglichte. Mit Methoden wie Theaterworkshops, Körperarbeit, kreativem Schreiben und Biografiearbeit wurden Grundlagen einer gemeinsamen Wissensgenerierung und -produktion durch eigene Selbst- und Lebensverhältnisse geschaffen. Damit deckten sie Themen auf, die in der offiziellen Geschichtsschreibung selten, und, wenn überhaupt, vorwiegend in den Fußnoten