Lebendige Seelsorge 1/2022: Klerikalismus
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Ursprünglich bildete Klerikalismus einen Gegenbegriff zur französischen Laizität. Inzwischen bezeichnet er jedoch vor allem einen Habitus "statusbegründeter Selbstherrlichkeit" (Rainer Bucher), der zu den wichtigsten systemischen Missbrauchsgründen gehört: "Klerikalismus meint ein hierarchisch-autoritäres System, das auf Seiten des Priesters zu einer Haltung führen kann, nicht geweihte Personen in Interaktionen zu dominieren, weil er qua Amt und Weihe eine übergeordnete Position innehat" (MHG-Studie). Kurz gesagt: "Klerikalismus ist Pastoralmacht plus ständisches Kirchenbild" (Michael Schüßler). Oder noch kürzer: "Paternalistische Unterdrückungsfürsorge" (Ute Leimgruber).
Papst Franziskus kritisiert diesen Klerikalismus wie wohl keiner seiner Vorgänger ("Priesterkaste über dem Volk Gottes"). Und er bietet Synodalität, das "gemeinsame Vorangehen" aller auf dem Weg der Nachfolge, als ein probates Gegenmittel an: Kirche als Societas Jesu einer jesusbewegten Weggefährt*innenschaft, die in ihrem ganzen Sein und Wesen die anbrechende Gottes- und nicht Klerikerherrschaft bezeugt. Nathalie Becquart, die neue Untersekretärin der römischen Synodenbehörde, spricht von der entsprechenden Notwendigkeit, aus einer "klerikalen Kirche eine synodale zu machen".
Unsere Kirche steht damit vor einem fundamentalen Paradigmenwechsel: Synodalität oder Klerikalismus – das ist hier die Frage. Den weltweit verbreiteten Klerikalismus theologisch besprechbar zu machen, ist ein wichtiger Zwischenschritt auf dem gerade eingeschlagenen Synodalen Weg – die Einladung zu einer beherzten kirchlichen Selbstevangelisierung im jesuanischen Sinne einer geschwisterlich-synodalen Nachfolgekirche ohne 'Mitbrüder' und 'Hochwürden'.
Da haben wir noch einiges vor uns, findet Christian Bauer.
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Lebendige Seelsorge 1/2022 - Verlag Echter
THEMA
Priesterliche Übermacht
Der Klerikalismus und ein überhöhtes Priesterbild spielen im Missbrauchskontext eine äußerst problematische Rolle. Auch ich habe das am eigenen Leib und an der eigenen Seele erleben müssen. Es ist also höchste Zeit für einen radikalen Wandel. Johanna Beck
Ich habe, nachdem ich für zehn Jahre einen sehr großen Bogen um alles Katholische gemacht hatte, gerade meine jetzige Heimatgemeinde entdeckt und begonnen, wieder regelmäßig in die Kirche zu gehen. Nach dem Gottesdienst unterhalte ich mich kurz mit dem Gemeindepfarrer. Er trägt ein schwarzes Hemd mit Priesterkragen. Während unseres Gesprächs fällt mein Blick immer wieder auf sein Kollar und aus irgendeinem Grund – ich kann es mir selbst nicht erklären – steigt in mir eine unbestimmte und unerklärliche Angst auf. Nein, keine Angst, sondern vielmehr Panik. Mein Puls fängt an zu rasen, ich schwitze und mein ganzer Körper geht in den Fluchtmodus. Krampfhaft versuche ich, gegen dieses Gefühl anzukämpfen und mir nichts anmerken zu lassen. Was um alles in der Welt ist nur los mit mir?
KLERIKALER TRIGGER
Heute – einen MHG-Studien-Erkenntnismoment und eine Therapie später – kann ich diese irritierenden Vorfälle viel besser verstehen und einordnen: Kleriker mit Kollar zählen zu meinen ultimativen Triggern. Trigger nennt man in der Psychologie Schlüsselreize, die die Erinnerung an traumatische und häufig verdrängte Erlebnisse aufbrechen lassen und starke psychische und physische Reaktionen auslösen können. In meinem Fall war es der Anblick eines Priesterkragens, der meine für lange Zeit verdrängten Erinnerungen an den geistlichen Missbrauch und die sexualisierten Übergriffe, die ich als Kind und Jugendliche durch einen Priester erleben musste, erweckte und der diese rätselhaften Reaktionen bei mir verursachte.
Aber ich beließ es nicht bei einer rein psychologischen Aufarbeitung, sondern begann parallel dazu, Licht in meinen Fall zu bringen, sagte gegen den Priester von damals vor dem Kirchengericht aus und befasste mich – auch um meinen Fall besser verstehen und einordnen zu können – intensiv mit dem Thema Missbrauch in der katholischen Kirche. Im Zuge dessen kam in mir jedoch eine neue brennende Frage auf: Warum habe ich mich damals nicht gegen diesen Priester gewehrt?
Johanna Beck
Literaturwissenschaftlerin, studiert Theologie im Fernkurs; Mitglied im Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz und im Zentralkomitee der deutschen Katholiken sowie Gastmitglied der Synodalversammlung. Im März erscheint ihr Buch Mach neu, was dich kaputt macht. Warum ich in die Kirche zurückkehre und das Schweigen breche (Freiburg i. Br. 2022).
„OH, WIE GROSS IST DER PRIESTER!"
Die Antwort lautet: Ich wusste zu diesem Zeitpunkt gar nicht, dass ich mich wehren kann, ja darf – schon gar nicht gegen einen Kleriker! Das lag völlig jenseits meiner Vorstellungskraft! Ich bin in einer katholisch-fundamentalistischen Gruppierung aufgewachsen, in der noch in den 90er Jahren ein Priesterbild vorherrschte, das für lange Zeit auch in der gesamten katholischen Kirche gang und gäbe war (und das in bestimmten Kreisen gerade eine beunruhigende Renaissance erlebt).
Priester wurden durch ihre vermeintlich wesensverändernde Weihe den normalen, weltlichen Menschen entrückt und mit dem Nimbus der Heiligkeit, der moralischen Überlegenheit und der Unantastbarkeit versehen. Sie standen in der absolutistischen Kirchenhierarchie ganz weit oben und das Gottesvolk war ihnen zu völligem Gehorsam verpflichtet. Darüber hinaus hatten sie durch ihre uneingeschränkte Pastoralmacht, wie Michel Foucault sie bezeichnet hat, die völlige Herrschaft über die Seelen und den Intimbereich ihrer Gläubigen inne. Das wichtigste Herrschafts- und Kontrollinstrument hierfür war das Bußsakrament, sodass „der Beichtstuhl für die Pastoralmacht fast wichtiger noch als der Altar" (Bucher, 89) war.
Als ‚Schutzpatron‘ dieses hochproblematischen Priesterbildes gilt Jean-Marie Vianney, der Pfarrer von Ars, von dem folgende Worte überliefert sind: „Oh, wie groß ist der Priester! Wenn er sich selbst verstünde, würde er sterben. Gott gehorcht ihm. […] Nach Gott ist der Priester alles!" (zitiert nach Benedikt XVI.). Diese klerikalistische Vormachtstellung und dieses sakralisierte und überhöhte Priesterbild stattete die Gottesmänner mit einer immensen und unkontrollierten Machtfülle und somit auch mit umfangreichen Manipulations- und Zugriffsmöglichkeiten aus. All das stellte eine hochproblematische bis gefährliche Kombination dar – wie ich es auch leidvoll erleben musste und es ebenso diverse Missbrauchsstudien in den letzten Jahren bewiesen haben. So führt beispielsweise die MHG-Studie an: „In diesem Zusammenhang wird für sexuellen Missbrauch im Kontext der katholischen Kirche der Begriff des Klerikalismus als eine wichtige Ursache und ein spezifisches Strukturmerkmal genannt. […] Klerikalismus meint ein hierarchisch-autoritäres System, das auf Seiten des Priesters zu einer Haltung führen kann, nicht geweihte Personen in Interaktionen zu dominieren, weil er qua Amt und Weihe eine übergeordnete Position innehat. Sexueller Missbrauch ist ein extremer Auswuchs dieser Dominanz" (MHG-Studie, Zusammenfassung, 10).
Ich wusste zu diesem Zeitpunkt gar nicht, dass ich mich wehren kann, ja darf – schon gar nicht gegen einen Kleriker!
DECKMANTEL
Das überhöhte Priesterbild und der herrschende Klerikalismus sowie die damit einhergehende Männerbündigkeit sind also nicht nur zunehmend mit einer demokratischen Gesellschaft unvereinbar, sondern auch nachweislich mitursächlich für die vielen furchtbaren Missbrauchstaten im Rahmen und im Namen der katholischen Kirche. Zudem immunisierten die klerikalistischen Strukturen und der Priester-Nimbus die Geistlichen sowohl gegen jegliche Kontrolle ihrer Macht als auch gegen jegliche Kritik und Anschuldigungen von außen. Gerade im Missbrauchskontext führte dies erschreckend oft dazu, dass den Betroffenen – wenn sie überhaupt den Mut und die Worte fanden, über ihre Missbrauchserfahrungen zu sprechen – nicht geglaubt wurde oder sie sogar für ihre Aussagen abgestraft wurden, denn „ein Pfarrer tut so etwas nicht". Zudem weist die MHG-Studie darauf hin, dass „ein autoritär-klerikalistisches Amtsverständnis dazu führen kann, dass ein Priester, der sexuelle Gewalt ausgeübt hat, eher als Bedrohung des eigenen klerikalen Systems angesehen wird und nicht als Gefahr für weitere Kinder oder Jugendliche" (MHG-Studie, Zusammenfassung, 11). Dies hatte regelmäßig zur Folge, dass Missbrauchsfälle vertuscht und der Schutz des klerikalistischen Systems über den Schutz der Opfer gestellt wurde und die Betroffenen somit an den Rand gedrängt, ihr Schicksal und ihr Leid negiert und sie erneut verletzt wurden.
Angesichts dessen drängt sich mir eine weitere schmerzvolle Frage auf: Was ist das nur für eine Kirche, in der „es nicht so sein" (Mk 10,43) sollte und in der es dann genau so beziehungsweise noch viel schlimmer gekommen ist? Ich habe darauf zwei Antworten: (1.) All das ist sicherlich NICHT ‚im Sinne des Erfinders‘! (2.) Es kann und es DARF kein ‚Weiter so‘ geben!
Die himmelschreienden Zeugnisse der Betroffenen über die dunkle Seite der katholischen Macht und die Empfehlungen der MHG-Studie, die in diesem Zusammenhang eine grundlegende „Änderung klerikalistischer Machtstrukturen sowie „eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Weiheamt des Priesters und dessen Rollenverständnis
(MHG-Studie, Zusammenfassung, 14) anmahnt, dürfen nicht mehr weiter ignoriert oder gar negiert werden. Vielmehr müssen sie als handlungsleitend betrachtet werden. Ihrer Maxime folgend müssen zum einen die klerikalistischen, absolutistischen und männerbündigen Machtstrukturen in der Kirche endlich aufgebrochen und radikal reformiert werden. Macht und Leitung in der katholischen Kirche müssen generell reduziert, (geschlechter-)gerecht verteilt, kontrolliert, transparent gemacht und partizipativ gestaltet werden. Zum anderen muss das Priesteramt ‚entheiligt‘, vom Sockel geholt, geerdet und bei dieser Gelegenheit am besten generell neu – und natürlich im Zuge dessen auch geschlechtergerecht – gedacht werden.
Die jesuanische Form der Machtausübung dreht die herrschenden, missbräuchlichen Asymmetrien komplett um, denn hier geht es um die Macht der Machtlosigkeit, der Verletzlichkeit, der Augenhöhe und des Dienstes.
EVANGELIUMSGEMÄSSE MACHTFORMEN
In diesem Kontext erweist sich – wie so oft – ein Blick ins Evangelium als besonders hilfreich, denn wenn es um die Machtfrage geht, so ist das Evangelium ein Lehrbuch par excellence: „Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein" (Mk 10,43–44). Die jesuanische Form der Machtausübung dreht die herrschenden, missbräuchlichen Asymmetrien komplett um, denn hier geht es um die Macht der Machtlosigkeit, der Verletzlichkeit, der Augenhöhe und des Dienstes. Wobei Dienst natürlich kein bloßes Etikett sein darf, das die eigentliche Macht kaschiert, vernebelt und somit jeglicher Kontrolle entzieht, wie es in der Kirche viel zu lange der Fall war. ‚Dienst‘ muss Ausdruck einer wirklich demütigen, gewaltlosen, menschenfreundlichen und respektvollen Leitungsform sein.
MÖGLICHE AUSWEGE
Einen guten und wichtigen Schritt in die richtige Richtung stellt der Synodale Weg dar, der als Reaktion auf die Ergebnisse der MHG-Studie ins Leben gerufen wurde und dessen Gast-Mitreisende ich bin. Er ist eine der wenigen – und vielleicht letzten – Chancen, grundlegende Veränderungen in der den Machtmissbrauch tragenden DNA der Kirche (vgl. Bischof Heiner Wilmer: „Der Missbrauch von Macht steckt in der DNA der Kirche.") herbeizuführen. Gerade die fundierten und wegweisenden Texte des Forums ‚Macht und Gewaltenteilung‘ entwerfen eine Kirche, wie sie sein könnte, ja sein sollte. Allerdings sind die Beschlüsse des Synodalen Weges bekanntlich nicht bindend, weshalb es letzten Endes in den Händen der Bischöfe