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Produktivität und inklusives Wachstum: Wettbewerb, Investitionen und Innovationen für Wachstum und Teilhabe
Produktivität und inklusives Wachstum: Wettbewerb, Investitionen und Innovationen für Wachstum und Teilhabe
Produktivität und inklusives Wachstum: Wettbewerb, Investitionen und Innovationen für Wachstum und Teilhabe
Ebook559 pages5 hours

Produktivität und inklusives Wachstum: Wettbewerb, Investitionen und Innovationen für Wachstum und Teilhabe

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Wieso wächst in vielen entwickelten Industriestaaten – so auch in Deutschland – die Produktivität nicht mehr? Lässt sich dieses Phänomen darauf zurückführen, dass sich einige große Unternehmen schneller und dynamischer entwickeln als kleinere und mittlere? Sind Lohnunterschiede und regionale Disparitäten die Folge? Das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung WIFO bearbeitet diese Fragen auf Grundlage der aktuellen Forschungsliteratur.
Die Studie "Produktivität und inklusives Wachstum" beschreibt die Mechanismen hinter der ungleichen Produktivitätsentwicklung. Sie konzipiert einen Analyserahmen, um Politikinstrumente in ihrer Wirkung auf Wachstum und Inklusion beurteilen zu können. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt dabei auf den Politikfeldern Wettbewerbs- und Regulierungspolitik, öffentliche Investitionen und Investitionsförderung sowie Innovationspolitik.
Der Band zeigt drei Wege auf, um Deutschland wieder auf einen inklusiven Wachstumspfad zu führen – erstens: die Schwächen des Produktivitätswachstums aufdecken, zweitens: nach den Ursachen forschen und drittens: intelligente politische Maßnahmen vorschlagen.
LanguageDeutsch
Release dateApr 21, 2020
ISBN9783867938969
Produktivität und inklusives Wachstum: Wettbewerb, Investitionen und Innovationen für Wachstum und Teilhabe

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    Produktivität und inklusives Wachstum - Verlag Bertelsmann Stiftung

    1.Einleitung

    Das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktivität hat sich in den meisten Industrieländern in den 2000er-Jahren merklich abgeschwächt. Seit der Finanzkrise 2007/2008 hat sich dieser Trend noch einmal deutlich verstärkt und auf viele Schwellenländer übergegriffen. Die Ursachen dürften dabei sowohl zyklischer als auch struktureller Natur sein (ECB 2017; Adler et al. 2017; OECD 2015a). So ist die Abschwächung des Produktivitätswachstums in den Jahren nach der Krise unter anderem auf eine schwache Investitionstätigkeit zurückzuführen. Im Zuge des weltweiten Konjunkturaufschwungs sind die Investitionen jüngst in einigen Ländern zwar wieder etwas stärker gestiegen; dennoch zeigen sich deutlich auch längerfristige Trends in der Produktivitätsentwicklung, die struktureller Natur sind.

    In der wissenschaftlichen Debatte haben sich dazu zwei Positionen herausgebildet. Techno-Pessimisten gehen davon aus, dass die Entwicklungen in der Informations- und Kommunikationstechnologie seit den 1990er-Jahren weniger Veränderungspotenzial haben als bahnbrechende Innovationen der Vergangenheit (Gordon 2016; Cowen 2011).¹ Techno-Optimisten gehen hingegen von einem »zweiten Maschinenzeitalter« (Brynjolfsson und McAfee 2014) oder einer »vierten industriellen Revolution« (Schwab 2016) aus, in der die Digitalisierung zu einem neuen Produktivitätsschub führt bzw. führen wird. Die gegenwärtige Produktivitätsschwäche erklären sie durch Zeitverzögerungen bei der Umsetzung technologischer Innovationen, sodass die digitale Revolution erst nach und nach sichtbar wird.

    Die oben skizzierte Debatte dreht sich dabei um die Aussichten an der technologischen Frontier. Die Schwäche des gesamtwirtschaftlichen Produktivitätswachstums liegt allerdings nach Analyse der OECD (2018a) weniger an einer Verlangsamung an der Spitze als vielmehr an seiner mangelnden Breite. So nehmen die Unterschiede im Produktivitätswachstum zwischen Unternehmen und Regionen an der technologischen Frontier und jenen dahinter seit den 2000er-Jahren merklich zu. Die Produktivitätsentwicklung und das Wirtschaftswachstum werden somit zunehmend weniger inklusiv. Einige (insbesondere große) Firmen und einige (insbesondere urbane) Regionen prosperieren, während andere wirtschaftlich zurückbleiben. Auch auf individueller Ebene nehmen die Einkommensunterschiede zwischen Haushalten und Personen zu, in denen sich die Produktivitätsunterschiede widerspiegeln.

    Die gleichlaufende Tendenz steigender (Produktivitäts-)Unterschiede auf der Ebene von Unternehmen, Regionen und Individuen spricht dabei für Rückwirkungen zwischen diesen Entwicklungen, aber auch für gemeinsame, alle drei Ebenen beeinflussende Triebkräfte. So haben Unterschiede in der Produktivitätsentwicklung zwischen Unternehmen an der technologischen Frontier und jenen dahinter auch regionale Auswirkungen, weil hochproduktive Unternehmen oft räumlich stark konzentriert sind (OECD 2018b). Umgekehrt beeinflussen Standortbedingungen und räumliche Prozesse maßgeblich die Produktivität von Firmen. Auch mit der Individualebene gibt es starke Wechselwirkungen: Das Vorhandensein hoch qualifizierter Arbeitskräfte – oft räumlich konzentriert – ist eine wichtige Voraussetzung für Innovation und Produktivitätswachstum. Letzteres schlägt sich dann in höheren Einkommen von Haushalten und Personen nieder, die wiederum die Akkumulation von Humankapital und damit die Produktivität vorantreiben.

    Nicht zuletzt beeinflussen internationaler Handel und technologischer Fortschritt als gemeinsame Triebkräfte die Produktivitätsdynamik auf allen drei Ebenen (Unternehmen, Regionen, Individuen), wobei von beiden Faktoren auch erhebliche Einflüsse auf die Verteilung des Wachstums innerhalb dieser Ebenen ausgehen dürften. So ist in der ökonomischen Theorie der Zusammenhang zwischen Außenhandel und heterogenen sowie divergenten Entwicklungen zwischen Firmen, Regionen und Individuen schon länger bekannt (New New Trade Theory, Melitz 2003; Helpman, Melitz und Yeaple 2004). Auch der technologische Wandel ist eine Ursache zunehmender Ungleichheiten, etwa indem Routinetätigkeiten mit mittleren Qualifikationen immer mehr automatisiert werden (Polarisierungsthese; Autor 2015).

    Diesen Entwicklungen steht die Vision gegenüber, dass die Wirtschaftsentwicklung gleichzeitig dynamisch und inklusiv sein soll. Die Wirtschaftspolitik steht somit vor der Herausforderung, die Produktivitätsentwicklung in der Breite zu fördern, ohne das Wachstum an der Frontier zu beeinträchtigen (Abbildung 1). Eine solche Politik orientiert sich nicht allein an den Top-Performern unter den Unternehmen, Regionen und Individuen, sondern wird auch versuchen, möglichst vielen Akteuren die Möglichkeit zu geben, ihre Produktivität zu steigern und ihre Distanz zur technologischen Frontier zu verringern. Es gilt also, Instrumente und Maßnahmen zu finden, mittels derer die Produktivitätsentwicklung sowohl an der Spitze als auch in der Breite gefördert und unterstützt wird. Zumindest aber müssen Trade-offs zwischen diesen beiden Zieldimensionen herausgearbeitet und gegenläufige Wirkungen durch einen Maßnahmenmix abgefedert werden.

    Abbildung 1: Problemstellung, Aufgabenstellung

    Quelle: Eigene Darstellung

    Diese Studie soll dazu einen Beitrag leisten. Ihr Ziel ist, einen konzeptuellen Rahmen zu erstellen, mit dem der Zusammenhang zwischen Produktivität und inklusivem Wachstum abgebildet werden kann. Dieser Rahmen soll sowohl die Tendenzen und Ursachen der ungleichen Produktivitätsentwicklung auf der Ebene von Unternehmen, Regionen und Individuen aufzeigen als auch politische Handlungsfelder zur Beeinflussung der beiden Zieldimensionen untersuchen.

    Die Kernfragen der Studie lauten:

    •Wie entwickeln sich Produktivität und Ungleichheit auf der Ebene von Unternehmen, Regionen und Individuen?

    •Welche Mechanismen erzeugen eine ungleiche Produktivitätsentwicklung?

    •Welche Politikfelder und Instrumente sind für inklusives Produktivitätswachstum maßgeblich?

    •Wie wirken Politikinstrumente auf die beiden Zieldimensionen »Produktivität« und »Inklusion«?

    Die wissenschaftliche Literatur misst dabei den folgenden drei Politikfeldern eine große Rolle bei:

    •Wettbewerbs- und Regulierungspolitik

    •Öffentliche Investitionen und Investitionsförderung

    •Innovationspolitik

    So haben sich etwa die Marktstrukturen durch die Digitalisierung verändert, wodurch die traditionellen Instrumente der Wettbewerbspolitik zunehmend infrage gestellt werden. Winner-takes-all-Dynamiken sowie Hindernisse für den Markteintritt und -austritt können Monopolsituationen verstärken und Monopolrenten erzeugen. Öffentliche Investitionen sind wiederum für die räumliche Verteilung der Produktivitätsentwicklung bedeutsam und die Förderung privater Investitionen hat sicherzustellen, dass nicht nur große Unternehmen an der technologischen Frontier davon profitieren. Für die Innovationspolitik gilt es, den Diffusionsprozess und die Stärkung von Wissens-Spillovers stärker ins Blickfeld zu rücken und sicherzustellen, dass alle Unternehmen und Regionen gleiche Möglichkeiten haben, am Innovationsprozess teilzunehmen. Diese drei Politikfelder stehen daher im Fokus der Studie.

    Gleichzeitig gilt es zu berücksichtigen, dass auch andere Politikfelder, wie etwa Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik oder Governance-Fragen, eine große Rolle spielen (OECD 2018a). Diese werden hier nicht ausführlich behandelt, weil sie den Rahmen der Studie sprengen würden.

    Abbildung 2: Studienaufbau

    Quelle: Eigene Darstellung

    Die Studie ist wie folgt aufgebaut (Abbildung 2): Im ersten, allgemeinen Teil wird der Zusammenhang zwischen Produktivität und inklusivem Wachstum auf den unterschiedlichen Ebenen (Unternehmen, Regionen, Individuen) herausgearbeitet (Kapitel 2). Im zweiten Teil werden die für die Unterstützung und Förderung maßgeblichen Politikfelder näher beleuchtet und die Wirkung unterschiedlicher Instrumente auf Produktivität und inklusives Wachstum untersucht. Im Detail werden dabei die oben angeführten drei Politikfelder behandelt (Kapitel 3 bis 5). Im dritten Teil der Studie wird ein konkreter, operationalisierbarer Analyserahmen ausgearbeitet, mit dem Maßnahmen und Best-Practice-Beispiele in den betrachteten Politikfeldern in ihrer Wirkung auf Produktivität und Inklusion beurteilt werden können (Kapitel 6).

    1Die pessimistische Sichtweise wurde unter dem Schlagwort »Säkulare Stagnation« einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Darunter werden jedoch angebotsseitige wie auch nachfrageseitige Ursachen niedrigen Wirtschaftswachstums diskutiert. Gordon (2016) spricht über das geringere Veränderungspotenzial gegenwärtiger Innovationen hinaus auch andere – tendenziell ebenfalls strukturelle – Gegenwinde an, die das Produktivitätswachstum behindern.

    2.Produktivität und inklusives Wachstum – Überblick

    2.1Entwicklungen

    2.1.1Gesamtwirtschaftliche Produktivität

    Das Wachstum der gesamtwirtschaftlichen Produktivität hat sich in vielen Industrieländern seit den 2000er-Jahren merklich abgeschwächt (Abbildung 3). Seit der Finanzkrise 2007/2008 hat sich dieser Trend noch einmal deutlich verstärkt und auf viele Schwellenländer übergegriffen. Zudem ist seit Mitte der 1990er-Jahre auf der Länderebene eine abnehmende Konvergenz der Produktivitätsentwicklung festzustellen. Besonders in den EU-Ländern nahm der Produktivitätsabstand zu den USA wieder zu (OECD 2018a).

    Abbildung 3: Produktivitätswachstum in der OECD 1995–2017 (BIP je Erwerbstätigen in PPP, Referenzjahr 2010)

    Quelle: OECD, Productivity statistics, http://www.oecd.org/sdd/productivity-stats/

    Die Zerlegung des Wirtschaftswachstums in seine Determinanten zeigt, dass der Rückgang sowohl auf geringere Beiträge der Kapitalintensität als auch auf eine schwächere Entwicklung der Multifaktorproduktivität² zurückzuführen ist (OECD 2016a), was für eine Mischung aus zyklischen und strukturellen Ursachen spricht. Der wichtigste zyklische Faktor sind dabei wohl die Investitionen in physisches Kapital, die vor allem nach der Krise aufgrund eines schwachen konjunkturellen Umfelds, erhöhter Unsicherheit und von Finanzierungsproblemen in vielen Ländern verhalten waren (Summers 2014).

    Auf strukturelle Faktoren deutet hingegen das schwächere Wachstum der Multifaktorproduktivität seit den 2000er-Jahren hin. Zudem hat in diesem Zeitraum auch die Streuung des Produktivitätswachstums innerhalb der Länder zwischen Regionen und Firmen deutlich zugenommen. Insbesondere zeigen Untersuchungen, dass die Produktivität von Firmen und Regionen an der technologischen Frontier weiter in hohem Tempo zunimmt, das Produktivitätswachstum aber nicht mehr ausreichend in die Breite übersetzt wird (Andrews, Criscuolo und Gal 2016). Die divergente Produktivitätsentwicklung zeigt sich nicht nur auf der Ebene von Firmen und Regionen, sondern wirkt sich auch auf der individuellen Ebene aus (Abbildung 4).

    Abbildung 4: Analyse der Produktivitätsentwicklung

    Quelle: Eigene Darstellung

    2.1.2Divergenz statt Inklusion

    Firmenebene

    Auf der Ebene der Firmen zeigt sich eine deutliche Divergenz der Produktivitätsentwicklung sowohl global betrachtet als auch innerhalb einzelner Länder. Nach einer Firmendatenanalyse auf OECD-Ebene erhöhte sich der Unterschied im Produktivitätsniveau zwischen den Unternehmen im obersten und im untersten Dezil der Produktivitätsverteilung zwischen 2001 und 2012 um 14 Prozent, mit Zuwächsen der Produktivität in den meisten Ländern (Criscuolo 2018).

    An der globalen technologischen Frontier ist das Produktivitätswachstum dabei robust geblieben bzw. hat sich mancherorts sogar beschleunigt, wohingegen es sich für Firmen, die nicht an der Frontier sind, deutlich verlangsamt hat. So nahm die Arbeitsproduktivität von Firmen an der technologischen Frontier³ in der OECD von 2001 bis 2013 durchschnittlich jedes Jahr um rund drei Prozent zu, während die der Nicht-Frontier-Firmen lediglich um etwa 0,5 Prozent stieg (Andrews, Criscuolo und Gal 2016). Dieses Muster zeigt sich in der Industrie wie auch bei den marktnahen Dienstleistungen (bei Letzteren gar noch etwas ausgeprägter). Bis zur Finanzkrise 2007/2008 war der Wachstumsabstand zwischen der Frontier und den nachfolgenden Firmen sogar noch größer, doch haben seither das Produktivitätswachstum an der Frontier und damit auch die Unterschiede in der Dynamik deutlich abgenommen. Die Produktivität der Frontier-Unternehmen stieg in dieser Teilperiode um durchschnittlich ein Prozent pro Jahr, während die der Nicht-Frontier-Unternehmen stagnierte. Etwa zwei Drittel der Produktivitätslücke, die in der gesamten Periode entstand, wurden bereits vor der Krise aufgebaut. Die Unterschiede waren dabei vor allem auf das Wachstum der Multifaktorproduktivität und weniger auf die Kapitalvertiefung zurückzuführen (ebd.).

    Diese Entwicklungen stehen im Gegensatz zu den Aussagen der Wachstumstheorie (Solow 1956; Aghion und Howitt 2009; Acemoglu, Aghion und Zilibotti 2006), der zufolge Firmen, die einen Produktivitätsabstand zur technologischen Frontier haben, stärker wachsen, weil sie die Möglichkeit haben, Produktivitätssteigerungen durch die Implementierung vorhandener Technologien zu erzielen. Andrews, Criscuolo und Gal (2016) schätzten die Konvergenz in einem neo-schumpeterianischen Wachstumsmodell, in dem das Wachstum der Multifaktorproduktivität von Firmen von ihrem Produktivitätsabstand zur Frontier abhängt. Sie fanden heraus, dass das Produktivitätswachstum von Firmen zwar weiterhin umso höher ist, je größer der Abstand zur Frontier ist; der entsprechende Schätzparameter ging jedoch im Untersuchungszeitraum 1997 bis 2014 deutlich zurück. Alles in allem ist der Aufholeffekt nicht mehr stark genug, um den Produktivitätsabstand zur Frontier verringern zu können (ebd.).

    Die Unterschiede in der Produktivitätsentwicklung bleiben auch bestehen, wenn für höhere Mark-ups – den Preisaufschlag auf die (Lohn-)Stückkosten – korrigiert wird. Die unterschiedliche Dynamik von Frontier- und Nicht-Frontier-Unternehmen spiegelt also nicht nur eine zunehmende Marktmacht Ersterer, auch wenn es dafür (besonders im Dienstleistungssektor) deutliche Evidenz gibt (OECD 2018a). Eine mögliche Erklärung sind Winner-takes-all-Dynamiken, die dazu führen, dass Frontier-Unternehmen produktiver werden und Marktanteile gewinnen (siehe Abschnitt 2.1.3). Es gibt allerdings einen statistisch signifikanten negativen Zusammenhang zwischen dem Wachstum der Produktivität eines Sektors insgesamt und dem Produktivitätsabstand zwischen Frontier und anderen Firmen in diesem Sektor – sowohl in der Industrie als auch im Dienstleistungsbereich (Andrews, Criscuolo und Gal 2016). Dies spricht dafür, dass zunehmende Divergenz bzw. das Davonziehen der Frontier-Unternehmen negative Auswirkungen auf die Produktivitätsentwicklung nachhinkender Unternehmen haben.

    Wären Produktivitätswachstum und Divergenz positiv korreliert, würde das einer gesunden Dynamik des Innovations- und Wachstumsprozesses entsprechen, weil in diesem Fall ein schnelles Innovationstempo zwar bedingt, dass die Frontier-Unternehmen davonziehen, aber auch, dass nachholende Firmen zumindest teilweise davon profitieren. Hingegen führen Winner-takes-all-Dynamiken, die bewirken, dass Frontier-Unternehmen produktiver werden und Marktanteile gewinnen, nicht notwendigerweise dazu, dass die gesamtwirtschaftliche Produktivität steigt, wenn Nicht-Frontier-Firmen durch diese Prozesse am Aufholen gehindert werden. Es gibt schwache Evidenz, dass Winner-takes-all-Phänomene das durchschnittliche Produktivitätswachstum behindern; das Produktivitätswachstum aufholender Firmen ist umso niedriger, je stärker die Frontier wächst (ebd.).

    Ähnliche Muster finden sich in der Produktivitätsverteilung großer und kleiner Firmen (OECD 2017a, 2017b, 2018b). So erzielen KMU im verarbeitenden Gewerbe in der OECD persistent niedrigere Produktivitätsniveaus als große Unternehmen, wobei sich diese Lücke bei den kleinsten Unternehmen seit der Krise noch vergrößert hat: Mikrounternehmen erzielten 2008 nur rund 45 Prozent und 2014 nur 37 Prozent des Produktivitätsniveaus großer Unternehmen; bei kleineren und mittleren Unternehmen waren es hingegen 62 Prozent bzw. 75 Prozent. Im Dienstleistungsbereich ist diese Lücke zwar deutlich kleiner, hat sich aber seit der Krise ebenfalls vergrößert. Die OECD (2018b) führt das zumindest teilweise auf Marktkonzentration und Winner-takes-all-Dynamiken zurück.

    Regionale Ebene

    Auf Ebene der Regionen haben sich die Konvergenzprozesse in den Produktivitätsniveaus im Verlauf der 1990er-Jahre ebenso abgeschwächt. Besonders seit der Finanzkrise 2007/2008 sind die Konvergenzprozesse innerhalb der EU fast völlig zum Erliegen gekommen. Während sich die Unterschiede im BIP pro Kopf zwischen 1995 und 2007 noch verringerten, sind sie seither weitgehend konstant.

    Die Abnahme der Ungleichheit zwischen den Regionen der EU bis zur Krise war durch die Konvergenz des BIP pro Kopf zwischen den Ländern getrieben. Innerhalb der Länder sind die Unterschiede zwischen den Regionen hoch geblieben und haben sogar noch zugenommen. So waren in der EU 1995 noch 75 Prozent der Ungleichheit zwischen den Regionen – gemessen am Theil-Index für das BIP pro Kopf – durch Länderunterschiede bedingt. Bis 2007 gingen die Unterschiede zwischen den Ländern deutlich zurück, während die Ungleichheit innerhalb der Länder zunahm. 2007 waren bereits 50 Prozent der Unterschiede durch die Ungleichheit zwischen den Regionen innerhalb eines Landes bedingt. Ähnliche Entwicklungen zeigen sich bei der Arbeitsproduktivität, mit dem Unterschied, dass die Ungleichheit zwischen den Ländern (und damit auch insgesamt) hier auch nach der Krise weiter abnahm und dass die Ungleichheit zwischen Ländern immer noch den Hauptbeitrag dazu leistet (OECD 2016a, 2018b).

    Auffallend ist, dass die Reduktion der Ungleichheit in der EU in diesem Zeitraum vor allem durch das Aufholen der entwicklungsschwächsten Regionen in Bulgarien, Polen, Rumänien, der Slowakei und Ungarn erfolgt ist (OECD 2018b). Vor der Krise waren daran auch Regionen mit mittlerem Einkommen – z. B. in Griechenland und Spanien – beteiligt, in denen die Einkommen nach 2007/2008 stagnierten oder fielen. Dies ist zum einen der lang anhaltenden Krise in diesen Ländern geschuldet; zum anderen ist aber auch die Ungleichheit innerhalb der Länder – etwa in Italien und Spanien – nach der Krise weiter gestiegen.

    Diese Entwicklungen manifestieren sich in einer starken Persistenz der regionalen Unterschiede beim BIP pro Kopf und bei der Produktivität innerhalb eines Landes. Viele Regionen, die in den 1990er-Jahren schon zu den reichsten eines Landes zählten, waren das auch 2014 noch (OECD 2018b).

    Die OECD (2018b) unterscheidet zwei Typen von Ländern innerhalb der EU: (1) Länder, in denen Frontier-Regionen zwar weiterhin eine hohe Produktivität haben, der Großteil des aggregierten Produktivitätswachstums aber in den nachhinkenden Regionen erfolgt; in diesen Ländern (Österreich, Deutschland, der Tschechischen Republik, Spanien, Italien, Polen, Portugal, Rumänien) konnten nachhinkende Regionen ihren Produktivitätsabstand von 2000 bis 2014 minimal verringern. (2) Länder, in denen der Großteil des gesamtwirtschaftlichen Produktivitätswachstums in den Frontier-Regionen stattfindet und die Produktivitätslücke zwischen der Frontier und nachhinkenden Regionen bestehen bleibt.

    In den Ländern des ersten Typs war das Produktivitätswachstum an der Frontier von 2000 bis 2014 im Durchschnitt schwächer als in denen des zweiten Typs. Gesamtwirtschaftlich war es jedoch höher, weil nachhinkende Regionen stärker dazu beitrugen. In Typ-2-Ländern nahm die Ungleichheit zwischen Regionen – gemessen am Gini-Koeffizienten für das BIP pro Kopf – zudem deutlich stärker zu als in Typ-1-Ländern (OECD 2018b).

    Individuelle Ebene

    Auch auf der Individualebene ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine steigende Ungleichheit von Einkommen, Vermögen und Wohlbefinden zu beobachten, die eng mit der ungleichen Produktivitätsentwicklung zusammenhängt.

    So hat die Ungleichheit innerhalb der Lohneinkommen in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich zugenommen. Der Medianlohn ist im Verhältnis zum Durchschnittslohn in den vergangenen 20 Jahren in fast allen OECD-Ländern gesunken (OECD 2018a). Das ist zu einem großen Teil auf das starke Lohnwachstum im höchsten Perzentil der Einkommensverteilung zurückzuführen, dessen Anteil an den Lohneinkommen deutlich gestiegen ist (Alvaredo, Atkinson und Morelli 2016; OECD 2018a). Niedrige Einkommen wachsen hingegen kaum mehr und Jüngere ersetzen zunehmend Ältere als Gruppe der am stärksten armutsgefährdeten Personen. Zudem finden sich große regionale Unterschiede im Einkommen innerhalb eines Landes, getrieben durch Unterschiede im Produktivitätswachstum (OECD 2018b).

    Es besteht dabei eine deutliche Korrelation zwischen der Einkommensungleichheit auf der Individualebene und jener zwischen Firmen (Berlingieri, Blanchenay und Criscuolo 2017). Die ungleiche Einkommensentwicklung ist also in erster Linie den Lohnunterschieden zwischen Firmen und weniger den Unterschieden innerhalb von Firmen geschuldet. So ist die Lohnungleichheit zwischen Firmen innerhalb eines Landes und Sektors (gemessen am 90/10-Verhältnis – zwischen dem neunzigsten und zehnten Perzentil der Lohnverteilung) in vielen OECD-Ländern zwischen 2001 und 2012 um mehr als zwölf Prozent gestiegen (Berlingieri, Blanchenay und Criscuolo 2017). Die Divergenz war dabei am unteren Ende (50/10-Verhältnis) stärker als am oberen (90/50-Verhältnis). Das entspricht weitgehend dem Muster bei der Produktivitätsentwicklung: Auch hier nahmen die Unterschiede zwischen Firmen innerhalb von Sektoren und Ländern über die Zeit deutlich zu. Diese Evidenz spricht dafür, dass diese beiden Entwicklungen zusammenhängen, wobei die Korrelation zwischen Produktivitäts- und Lohnentwicklung an der Spitze und am Ende der Produktivitätsverteilung schwächer ausgeprägt ist als in der Mitte (ebd. 2017).

    Globalisierung und technologischer Wandel dürften dabei eine maßgebliche Rolle spielen. So korrelieren unterschiedliche Maße für die Offenheit einer Volkswirtschaft und die IKT-Intensität mit der Lohndisparität (Berlingieri, Blanchenay und Criscuolo 2017). Zudem erhöht die Einbeziehung dieser Maße tendenziell die Korrelation zwischen Lohn und Produktivität. Dies spricht dafür, dass Unternehmen, die im globalen Wettbewerb stehen, einen Anreiz haben, ihre Produktivität zu steigern, und diese Produktivitätsvorteile auch über höhere Löhne weitergeben. Höhere Mindestlöhne, ein höherer Organisationsgrad von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerschutzrechte reduzieren hingegen tendenziell die Lohnungleichheit (ebd.).

    Darüber hinaus kann eine ungleiche Einkommensentwicklung auf Haushaltsoder Personenebene nur teilweise mit der ungleichen Produktivitätsentwicklung erklärt werden. Das Lohnwachstum hat sich bis zu einem gewissen Grad von der Produktivitätsentwicklung abgekoppelt. So ist die Lohnquote in den drei vergangenen Jahrzehnen in allen Industrieländern deutlich gesunken. Nur in einem Drittel der Länder stiegen die Löhne stärker als die Produktivität; in mehr als der Hälfte dieser Länder ist das allerdings mit einem schwachen Produktivitätswachstum verbunden.

    Es fällt auf, dass in jenen Ländern, in denen die Lohnquote gesunken ist, auch abnehmende Lohnquoten an der technologischen Frontier zu beobachten sind (OECD 2018c). Diese Entwicklung spiegelt Marktanteilsgewinne der Frontier-Unternehmen, sodass diese ihre Mark-ups erhöhen können. Marktanteilsgewinne können auch temporärer Natur aufgrund einer höheren Wachstumsdynamik sein, wenn innovative und stark wachsende Unternehmen kurzfristig Wettbewerbsvorteile erlangen, die erst über die Zeit »wegkonkurrenziert« werden. Darauf deutet hin, dass sich steigende Marktkonzentration besonders in Industrien mit einem höheren technologischen Wandel findet (Autor et al. 2017) oder in IKT-intensiven Dienstleistungen, wo der technologische Wandel schneller war (Calligaris, Criscuolo und Marcolin 2018).

    2.1.3Mechanismen/Triebkräfte

    Die oben beschriebene Zunahme der Ungleichheit auf Ebene der Unternehmen, Regionen und Individuen spricht dafür, dass es gemeinsame Triebkräfte und sich gegenseitig verstärkende Mechanismen gibt, die auf allen drei Ebenen wirken. Sie stehen in engem Zusammenhang mit den strukturellen Verschiebungen, die in den letzten zwei Jahrzehnten stattgefunden haben: Globalisierung, Digitalisierung und die zunehmende Bedeutung von implizitem Wissen (Andrews, Criscuolo und Gal 2016). Diese wirken über mehrere Kanäle, wobei in der wissenschaftlichen Literatur vor allem folgende genannt werden:

    •Winner-takes-all-Dynamiken

    •Abnehmende Diffusionsgeschwindigkeit von Innovationen

    •Geringere Unternehmensdynamik

    •Agglomerationsdynamiken

    •Polarisierung

    Abbildung 5: Ursachen der gegenwärtigen Dynamik

    Quelle: Eigene Darstellung

    Winner-takes-all-Dynamiken

    Ein erster in der wissenschaftlichen Literatur genannter Kanal, über den die oben genannten Entwicklungen – Globalisierung, Digitalisierung, implizites Wissen – zu einer ungleichen (Produktivitäts-)Entwicklung führen können, besteht in Winner-takes-all-Dynamiken, die Unternehmen an der Frontier begünstigen und sich über Rückkoppelungseffekte selbst verstärken (Brynjolfsson und McAfee 2011).

    Neue (digitale) Technologien sind oft mit Netzwerkexternalitäten oder natürlichen Monopolen verbunden. Als natürliches Monopol wird eine Marktform bezeichnet, in der sich aufgrund hoher Fixkosten und niedriger Grenzkosten besonders ausgeprägte steigende Skalenerträge ergeben. In diesem Fall sind die Gesamtkosten zur Bereitstellung eines Gutes deutlich niedriger, wenn nur ein Unternehmen (und nicht mehrere konkurrierende Unternehmen) den Markt versorgt. In der Literatur werden vor allem öffentliche Versorgungsunternehmen, bei denen sehr hohe Fixkosten für den Aufbau eines Netzes (z. B. Verkehrswege, Telefon-, Post-, Energie- und Wasserversorgungsnetze) vergleichsweise geringen Betriebskosten gegenüberstehen, als Beispiel für natürliche Monopole genannt (Borrmann und Finsinger 1999).

    Infolge der Digitalisierung sinken jedoch die Grenzkosten der Produktion für immer mehr Güter und Dienstleistungen (Zero Marginal Cost Society; Rifkin 2014). Diese Entwicklung fördert die Marktkonzentration durch das Entstehen von Großunternehmen, die Treiber und Profiteure der digitalen Transformation sind, während kleine und mittlere Unternehmen durch fehlende Strukturen und eingeschränkten Zugriff auf große Datenbestände an Wettbewerbsfähigkeit einbüßen. Zweiseitige Plattformmärkte und andere Netzwerke, deren Vorteil mit der Nutzerzahl steigt, können ebenfalls zu einer steigenden Marktkonzentration führen. Monopolrenten an der technologischen Frontier, die nicht durch Wettbewerb »wegkonkurrenziert« werden, erzeugen permanente Wettbewerbsvorteile und können die Marktposition etablierter Firmen festigen.

    Die Folge sind höhere Mark-ups und eine entsprechend höhere Profitquote. Wenn die Monopolgewinne durch Gewinnteilung teilweise an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer weitergegeben werden, erzeugt dies auch eine Ungleichheit innerhalb der Lohneinkommen auf individueller Ebene. Dies spiegelt sich in der oben beschriebenen Tendenz zur steigenden Lohnungleichheit zwischen Firmen.

    Die Digitalisierung wirkt dabei als Verstärkerin: Nullgrenzkosten aufgrund digitaler Technologien können dazu führen, dass einzelne Unternehmen (Qualitätsführer) den größten Teil eines Marktes oder den gesamten Markt erobern und keinen oder kaum Anteile für zweitbeste Unternehmen lassen, obwohl die Qualitätsunterschiede nur minimal sind. Zudem können Netzwerkexternalitäten einzelnen dominanten Firmen zusätzliche Vorteile verschaffen, auch wenn ihre Produkte nicht notwendigerweise besser sind. Beide Prozesse werden potenziell durch die Globalisierung verstärkt, weil der potenzielle Markt größer wird. Die Einführung digitaler Technologien hat zudem neue Möglichkeiten eröffnet, die Produktion entlang der Wertschöpfungskette aufzuteilen und zu globalisieren. Das Potenzial für Standortverlagerungen und der Importwettbewerb der Niedriglohnländer haben den Druck auf die Lohnquote in den entwickelten Volkswirtschaften erhöht (OECD 2015a).

    Andrews, Criscuolo und Gal (2016) finden jedoch, dass die steigende Heterogenität der (Multifaktor-)Produktivität nur zu einem Drittel auf eine Zunahme der Marktmacht zurückzuführen ist. Winner-takes-all-Dynamiken können jedoch auch auf Innovationen und Diffusionsbarrieren (siehe unten) wirken. Firmen an der technologischen Frontier sind üblicherweise größer, profitabler und jünger. Sie operieren eher global oder in mehr Ländern als andere und sind stärker in globale Wertschöpfungsketten integriert. Sie sind dadurch in einer besseren Position, Innovationen zu tätigen, weil diese zunehmend nicht nur Investitionen in F&E und fortgeschrittene Technologien benötigen, sondern immer mehr durch die Kombination von technologischem, organisatorischem und menschlichem Kapital im Produktionsprozess entlang der Wertschöpfungskette realisiert werden (OECD 2018a). Frontier-Unternehmen sind damit auch besser in der Lage, das Potenzial der Digitalisierung zu nutzen, weil Ideen, Technologien und Businessmodelle in Wertschöpfungsketten schneller diffundieren und kopiert werden können.

    Ein weiterer wichtiger Faktor ist die steigende Bedeutung von implizitem Wissen, das zunehmend in hochproduktiven Unternehmen konzentriert wird. Dies verstärkt sich durch Selektionseffekte: Erfolgreiche Unternehmen ziehen hochproduktive Arbeitskräfte an; diese Unternehmen sind dadurch noch eher in der Lage, ihre Produktivität zu steigern. Zudem können hohe Marktanteilsgewinne der Top-Unternehmen neue Eintritte erschweren, was wiederum zu geringerem Wettbewerb führt.

    Abnahme der Diffusionsgeschwindigkeit

    Eine divergente Produktivitätsentwicklung bedeutet nicht zwangsläufig, dass nachhinkende Unternehmen nicht von Innovationen und starkem Wachstum an der Frontier profitieren. Ist die Divergenz mit einem höheren durchschnittlichen Produktivitätswachstum verbunden, kann sie die Konsequenz einer dynamischeren Entwicklung an der Frontier sein. Die empirische Evidenz zeigt jedoch, dass die Zunahme der Produktivitätsdifferenzen oft mit einer geringeren gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsentwicklung im entsprechenden Sektor verbunden ist (siehe oben). Das spricht dafür, dass die stärkere Produktivitätsentwicklung an der Frontier mit einer Verlangsamung hinter der Frontier verbunden ist. Zudem hat die Durchlässigkeit der Frontier abgenommen: Die meisten Firmen an der Frontier sind hier schon länger oder waren knapp dahinter; der Anteil etablierter Firmen an der Frontier ist seit Beginn der 2000er-Jahre deutlich gestiegen – für Firmen außerhalb der Top-5-Prozent scheint es jedoch zunehmend schwieriger, die Frontier zu erreichen (Criscuolo 2018).

    In der Wirtschaftswissenschaft spricht man dabei üblicherweise vom »Zusammenbruch der Diffusionsmaschine« (OECD 2015a: 8): Die Diffusion von Innovationen von der Frontier in die gesamte Wirtschaft hat sich merklich verlangsamt (Andrews, Criscuolo und Gal 2015). So zeigt sich, dass das Lernen von der Frontier langsamer und die Durchsetzungsraten neuer Technologien länger geworden sind (Comin und Mestieri 2013). Viele Firmen haben offenbar Probleme mit der Adaptierung neuer Technologien, der Durchführung damit verbundener synergetischer Investitionen oder der Umsetzung begleitender organisatorischer Veränderungen. Zudem ist der Zugang zu Kapital und qualifizierten Arbeitskräften von Firmen hinter der Frontier oftmals beschränkt. Weitere Diffusionsbarrieren bestehen in der meist fehlenden Integration in globale Wertschöpfungsketten oder den fehlenden (nationalen) Verbindungen mit Wissensinstitutionen sowie zu geringem Raum für Experimente.

    Mit der zunehmenden Bedeutung impliziten Wissens und komplexer Technologien (Digitalisierung) dürfte dieser Kanal noch stärker wirksam werden, weil die Kosten für den Umstieg einer produktionsbasierten Ökonomie auf eine Wissensökonomie steigen. Technologische Innovationen müssen – wie schon in den vergangenen drei Jahrzehnten – zunehmend mit komplementären Veränderungen der Organisation oder des Humankapitals kombiniert werden; implizites Wissen spielt dabei eine entscheidende Rolle.

    Rückgang der Unternehmensdynamik

    Auch eine fehlende Marktdynamik kann zur Divergenz der Produktivitätsentwicklung beitragen. In vielen Ländern sind es vor allem die Firmen mit der geringsten Produktivität, die zurückbleiben, was als Zeichen schwacher Selektion gedeutet werden kann (Andrews und Criscuolo 2013). Eine Abschwächung der Marktdynamik hat einerseits zur Folge, dass weniger Druck auf etablierte Firmen ausgeübt wird, sodass deren Anreiz zu Innovation und Verbesserung nachlässt. Andererseits sind dadurch aber auch Ressourcen in wenig produktiven Unternehmen blockiert und können nicht anderswo produktiver eingesetzt werden. Das gesamtwirtschaftliche Produktivitätswachstum könnte von einer laufenden Ressourcen-Reallokation zu produktiverer Verwendung hingegen profitieren; eine Zunahme der Marktdynamik wäre damit förderlich.

    Die empirische Evidenz zeigt, dass der »Firmenumschlag« (Turnover) in den letzten Jahren zurückgegangen ist. So ist die Zahl neu eintretender Unternehmen in den Ländern der OECD nach der Krise deutlich gesunken. Zwar steigt sie seit 2014 wieder, doch ein erheblicher Teil der Gründungen findet in niedrig produktiven Bereichen statt und die Größe der neu gegründeten Unternehmen sinkt. Im Durchschnitt der großen OECD-Länder war das Beschäftigungswachstum seit 2000 in Branchen mit unterdurchschnittlichem Produktivitätswachstum zwischen zwei- und viermal so hoch wie in solchen mit überdurchschnittlicher Effizienzentwicklung (OECD 2018d).

    Laut OECD (2018a) lag die Produktivitätsentwicklung der Medianunternehmen in der Produktivitätsverteilung (fünftes Dezil) seit der Jahrtausendwende mit jener des produktivsten Dezils gleichauf. Dagegen war die Produktivitätsentwicklung des schwächsten Dezils deutlich negativ. Offenbar gelingt es produktivitätsschwachen Unternehmen zunehmend, trotz Nichtimplementierung neuer Technologien im Markt zu bleiben. Auch die seit den 2000er-Jahren rückläufigen Stilllegungsraten deuten auf eine schwächere Marktselektion und eine Schwächung von Prozessen der kreativen Zerstörung hin (Bartelsman, Haltiwanger und Scarpetta 2013; Andrews und Criscuolo 2013).

    Der Rückgang der Marktdynamik dürfte dabei in engem Zusammenhang mit den oben beschriebenen Winner-takes-all-Dynamiken stehen und durch rezente strukturelle Verschiebungen – Globalisierung, Digitalisierung, zunehmende Bedeutung impliziten Wissens – eine Verstärkung erfahren haben (OECD 2018a).

    Agglomerationsdynamiken

    Auf der territorialen Ebene tragen neben den bereits beschriebenen Effekten auch noch Agglomerationseffekte zur ungleichen Entwicklung bei. Die ökonomische Theorie unterscheidet zentrifugale und zentripetale Mechanismen der räumlichen Entwicklung. Die ältere, neoklassische Wachstumstheorie betont die Möglichkeit von Aufholprozessen (Catching-up) von Regionen hinter der Frontier mit Produktivitätspotenzialen. Durch verstärkte Investitionen in physisches Kapital oder Humankapital aufgrund höherer Grenzerträge des Kapitals sowie die Übernahme technologischer und organisatorischer Innovationen bzw. Lernen von der Frontier können solche Regionen schneller wachsen und die Lücke zur Frontier allmählich schließen. Produktivitätsschwache Regionen verfügen über den Vorteil des Rückstandes – im Sinne der Möglichkeit, durch Übernahme von Innovationen und Technologien aus den fortgeschrittenen Regionen zur Frontier aufzuschließen. Permanente Unterschiede bestehen demnach vor allem in der natürlichen Ausstattung von Regionen, wie etwa dem Vorhandensein von Rohstoffen, klimatischen Bedingungen oder der geografischen Lage (OECD 2018b).

    Neuere Theorien aus dem Feld der New Economic Geography stellen hingegen Agglomerationseffekte heraus, die Metropolregionen und größere Städte begünstigen und so eine ungleiche territoriale Entwicklung erzeugen. Agglomerationsvorteile entstehen dabei einerseits durch Skaleneffekte: Größere Märkte, geringere Transportwege und die Möglichkeit, gemeinsame Lieferanten zu nutzen, erleichtern die Spezialisierung und erhöhen somit die Produktivität. Andererseits ist die Verfügbarkeit hoch qualifizierter Arbeitskräfte in dichteren, urbanen Regionen höher und Arbeitskräfte finden eher eine Beschäftigung, bei der sie effizient eingesetzt werden können (OECD 2018b). Zudem erhöhen die geografische Nähe und die Dichte die formelle und informelle Interaktion und Kommunikation zwischen Firmen (auch über einen stärkeren Wechsel von Arbeitskräften) und ermöglichen so Wissensübertragung und Lerneffekte. Diese Mechanismen sind in der Tendenz selbstverstärkend, weil Agglomerationsregionen durch ihre höhere Dynamik attraktiver für Firmen und hoch qualifizierte Arbeitskräfte sind.

    Agglomerationseffekte können potenziell das Produktivitätswachstum von peripheren Regionen erhöhen, z. B. wenn sie durch Wissensdiffusion oder Migration positive externe Effekte erzeugen, sodass benachteiligte Regionen von der dynamischen Entwicklung an der Frontier profitieren. Der räumliche Entwicklungsprozess kann somit als Wechselspiel zwischen Wissenskonzentration und -diffusion beschrieben werden. Die empirische Evidenz (siehe Abschnitt 2.1.2) deutet jedoch darauf hin, dass der Diffusionsmechanismus auch hier nicht mehr so gut funktioniert wie in der Vergangenheit, sodass dieser Kanal schwächer und der Konzentrationsprozess stärker wurde.

    Globalisierung und technologischer Wandel spielen für diese Entwicklungen eine entscheidende Rolle. Während in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem bereits ausgereifte Technologien wie Maschinenbau und Elektrotechnik dominierten, die zunehmend standardisiert wurden und sich so räumlich ausbreiten konnten (Deagglomeration), begünstigen gegenwärtige Entwicklungen große, urbane Regionen. Dabei dürften die Agglomerationsvorteile bei steigendem technologischem Komplexitätsgrad der Produktion weiter zunehmen, weil aufstrebende wissensintensive Sektoren (Unternehmensdienstleistungen, Creative Industries, IKT-intensive Branchen) auf die Standortvorteile von Städten angewiesen sind. Letztere bestehen vor allem in einer besseren Ausstattung mit Humankapital und Infrastruktur sowie in der Vielfalt wirtschaftlicher Akteure in räumlicher Nähe mit all ihren Vorteilen für Wissenstransfer und Lerneffekte. Die Standortwahl dieser Aktivitäten kann also in Verbindung mit ihrer Rolle für die Produktivitätsentwicklung regionale Disparitäten zugunsten der Zentren weiter vorantreiben (Iammarino, Rodriguez-Pose und Storper 2018).

    Digitale Technologien in Produktions- und Dienstleistungssektoren erzeugen somit auf der einen Seite eine Nachfrage nach hoch qualifizierten Arbeitskräften für Nichtroutinetätigkeiten, die vorwiegend in urbanen Zentren vorhanden sind. Auf der anderen Seite haben sich durch Automatisierung aber auch die Arbeitsplätze in der Industrie verringert und wurden die Kosten für Handel und Transport gesenkt, sodass Industrien zunehmend in globale Wertschöpfungsketten

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