Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Deutschland, öffne dich!: Willkommenskultur und Vielfalt in der Mitte der Gesellschaft verankern
Deutschland, öffne dich!: Willkommenskultur und Vielfalt in der Mitte der Gesellschaft verankern
Deutschland, öffne dich!: Willkommenskultur und Vielfalt in der Mitte der Gesellschaft verankern
Ebook386 pages4 hours

Deutschland, öffne dich!: Willkommenskultur und Vielfalt in der Mitte der Gesellschaft verankern

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Ohne Zuwanderung würde die Bevölkerung in Deutschland in den nächsten Jahrzehnten dramatisch schrumpfen. Migration ist die andere Seite des Zusammenwachsens der Länder in Europa und in der Welt. Deutschland ist in den letzten Jahrzehnten bunter und vielfältiger geworden und braucht weitere Zuwanderer.
In diesem Kontext stellen sich Fragen, die für die Zukunft des Landes entscheidend sind. Wie kann sich Deutschland so aufstellen, dass es gleichermaßen attraktiv für bisherige Migranten, neue Zuwanderer und Einheimische wird? Wie kann die kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt so gestalten werden, dass jeder Bürger unabhängig von seiner Herkunft Wertschätzung erfährt und der Zusammenhalt in der Gesellschaft bewahrt wird? Das stellt Politik und Verwaltung vor neue Herausforderungen im Bereich der Zuwanderungssteuerung und Integrationsgestaltung. Es bedeutet aber vor allem einen Perspektivwechsel für eine Gesellschaft, die eine neue öffentliche Willkommens- und Anerkennungskultur entwickeln und die verbreitete Skepsis gegenüber Fremdem im eigenen Land überwinden muss.
LanguageDeutsch
Release dateJan 15, 2013
ISBN9783867934879
Deutschland, öffne dich!: Willkommenskultur und Vielfalt in der Mitte der Gesellschaft verankern

Related to Deutschland, öffne dich!

Related ebooks

Globalization For You

View More

Related articles

Reviews for Deutschland, öffne dich!

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Deutschland, öffne dich! - Verlag Bertelsmann Stiftung

    Nachholbedarf: Vom Einwanderungsland wider Willen zu einem Land mit Willkommenskultur

    Ulrich Kober, Rita Süssmuth

    »Willkommenskultur« ist ein neues Modewort in der öffentlichen Debatte über Zuwanderung und Integration in Deutschland geworden. So unscharf der Begriff noch sein mag, so deutlich ist die Zielrichtung der Rede von Willkommenskultur, vor allem in wirtschaftlichen und politischen Kreisen: Deutschland soll sich stärker für Einwanderer* öffnen und mit einer attraktiven Infrastruktur insbesondere auch qualifizierte Zuwanderer und ihre Familien anziehen.

    Willkommenskultur: Ausdruck eines Perspektivwechsels

    Die Debatte um den Fachkräftemangel ist der Kontext, in dem die Rede von der Willkommenskultur in den letzten Jahren entstanden ist. Der Begriff impliziert die Überzeugung, dass Deutschland nicht mehr »Einwanderungsland wider Willen« bleiben darf, das es seit dem Anwerbestopp in den 70er Jahren vor allem war. Vielmehr soll es ein selbstbewusstes Einwanderungsland sein – aus soziokulturellen, ökonomischen und demographischen Erfordernissen und wohlverstandenem Eigeninteresse.

    Damit wird der Blick auch frei für einen neuen Steuerungsansatz in der Zuwanderung. Bis heute herrscht die Logik der Begrenzung und Befristung vor, auch wenn der Anwerbestopp mittlerweile durch zahlreiche Ausnahmen durchlöchert wurde und es Ansätze zur Werbung um Hochqualifizierte gab und gibt. Diese Logik ist letztlich dafür verantwortlich, dass das geringe Bildungsniveau der – genau wegen dieses Profils – in den 60er und 70er Jahren angeworbenen Einwanderer fortgeschrieben wurde. Denn Einwanderung war seit dem Anwerbestopp fast nur auf dem Weg der Familienzusammenführung möglich. Deutschlands Einwanderungsbevölkerung ist deshalb gegenüber anderen Einwanderungsgesellschaften wie Kanada, den USA oder England vergleichsweise weniger qualifiziert, was auch Auswirkungen auf das Bild des Einwanderers bzw. der Einwanderin in der Gesellschaft hatte und hat. Diese Logik der Begrenzung und Befristung ist auch dafür verantwortlich, dass bisherige Anwerbungsversuche für Hochqualifizierte wie die Green Card erfolglos blieben.

    Mit der Rede der Willkommenskultur kommt ein neues Bild in den Blick: Einwanderer gelten nicht mehr als »Belastung« oder »Problemfälle« für die deutschen Bildungs- oder Sozialsysteme, sondern als Bereicherung und Potenzial für das Land. Mit diesem Perspektivwechsel gewinnt Deutschland Anschluss an die Praxis fortgeschrittener Einwanderungsgesellschaften, die Einwanderung mit dem Fokus auf Fachkräfte steuern. Für Deutschland ist das ein veritabler Paradigmenwechsel, den die Zuwanderungskommission Anfang des Jahrtausends bereits vorgeschlagen hatte, der aber bisher politisch nicht durchsetzbar war.

    Willkommenskultur: Eine Kategorie der Aufnahmegesellschaft und die »Körpersprache« eines Landes gegenüber Einwanderern

    Ist der Entstehungskontext des Begriffs »Willkommenskultur« auch die Frage nach qualifizierter Zuwanderung, so thematisiert er einen Aspekt, der in der oft emotionalisierten Debatte über gescheiterte Integration und Parallelgesellschaft vergessen wird. Willkommenskultur lenkt den Blick von der Integrationsbereitschaft der Migrantinnen und Migranten auf die Aufnahmegesellschaft und ihre Attraktivität und verweist damit auf die zweite Seite der Integrationsmedaille. Denn Integration ist keine Einbahnstraße im Sinne einseitiger Anpassungsleistungen an eine vermeintliche Leitkultur, die Einwanderer zu erbringen hätten. Integration ist nach EU-Verständnis ein Prozess des gegenseitigen Entgegenkommens von Migranten und Aufnahmegesellschaft – auf der Grundlage des EU-Wertekanons.

    Das ist ein neuer und überfälliger Akzent in der deutschen Debatte. Denn es geht nicht mehr nur – wie in den letzten Jahren vorrangig – um die notwendigen Integrationsleistungen und vorhandenen Defizite von Migranten, sondern es geht darum, wie aufnahmebereit und -fähig das Land für Zuwanderer ist. Die Frage nach den begehrten Einwanderern wird also zur Frage, was das Land begehrenswert macht.

    Was die Aufnahmegesellschaft hier zu leisten hat, bringt der Begriff der Willkommenskultur auf den Punkt. Es geht um die »Körpersprache« (body language) eines Landes und seiner Vertreterinnen und Vertreter in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft: Erleben Einwanderer – bildlich gesprochen – verschränkte Arme, wenn sie mit Deutschland in Kontakt kommen, oder erfahren sie Offenheit und Hände, die sich entgegenstrecken? Diese Haltungen beziehen sich nicht nur auf Wirtschaft und Politik, sondern auf die gesamte Gesellschaft. Hier gibt es entmutigende Zeichen wie die anscheinend noch immer weit verbreitete Fremdenfeindlichkeit und die jüngsten schockierenden Terrorakte von Rechtsextremen gegenüber Bürgern mit Migrationshintergrund.

    Aber es gibt auch ermutigende Phänomene wie das traditionelle hohe Engagement der Bürgergesellschaft vor Ort für Integration und den ausgeprägten Integrations- und Migrationsrealismus, der sich in den Umfragen des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Migration und Integration in den Barometern der letzten drei Jahre ausdrückt. Die Mehrheitsgesellschaft ist bereit für mehr Zuwanderer – übrigens nicht nur Hochqualifizierte. Das sollte der Politik Mut machen, attraktive Bedingungen für Einwanderer zu schaffen.

    Willkommenskultur findet Ausdruck in rechtlichen Strukturen und im Umgang mit Vielfalt

    Damit kommen wir zum Kern des Begriffs der Willkommenskultur: Es geht weniger um Wohlfühlrhetorik, sondern um attraktive Lebensbedingungen für Einwanderer und ihre Familien und damit auch um Strukturen. Was macht ein Land für Migranten der ersten und zweiten Generation wirklich anziehend?

    Der zentrale Faktor sind die wirtschaftlichen bzw. beruflichen Chancen: Hier kann Deutschland als ökonomisches Powerhouse Europas einiges bieten. Tatsächlich sind in den letzten Jahren immer mehr junge und qualifizierte Zuwanderer aus den Euro-Krisenländern nach Deutschland gekommen.

    Aber es gibt nach Analysen des Migration Policy Institute in den USA noch weitere Faktoren, sogenannte second-order variables, die für Einwanderer, die mehrere berufliche Optionen in verschiedenen Ländern haben, letztlich den Ausschlag geben. Eine besondere Rolle spielen dabei die Aufenthaltsregeln, die einen dauerhaften Aufenthalt zulassen, die Möglichkeit, die Staatsbürgerschaft relativ einfach zu erhalten, was auch die Option doppelter Staatsbürgerschaften beinhaltet, Chancen für die Familienangehörigen sowie eine faire und tolerante Gesellschaft, die sich unter anderem in einer Antidiskriminierungsgesetzgebung und -praxis ausprägt. Insofern umfasst der Begriff der Willkommenskultur das Einwanderungspaket (total immigration package), das Zuwanderern geboten wird. Es umfasst im engeren Sinne vor allem die rechtlichen Regelungen zur Niederlassung der Einwanderer und ihrer Familien, zur Erlangung der vollen Teilhabe bzw. Staatsbürgerschaft und zum Schutz vor Diskriminierung.

    Im weiteren Sinne meint der Begriff den Umgang eines Landes mit Vielfalt insgesamt. Hier kommen weitere Dimensionen in den Blick, wie in Verfassungen oder politischen Programmatiken fixierte Leitbilder und entsprechende institutionelle Regelungen zum Umgang mit Vielfalt, die Thematisierung ethnischer Vielfalt in Schulcurricula, die Repräsentanz von Menschen mit Migrationshintergrund in der Öffentlichkeit und den Medien, die Finanzierung von Migrantenorganisationen, die Förderung der Mehrsprachigkeit und die aktive Unterstützung benachteiligter Einwanderergruppen. Man kann darüber streiten, ob hoch qualifizierte Einwanderer sich für Zuwandererverbände oder benachteiligte Einwanderergruppen interessieren und von entsprechenden Regelungen profitieren. Unumstritten dürfte sein, dass entsprechende Aktivitäten sich positiv auf den generellen Umgang mit Einwanderern und die Vielfalt in einem Land auswirken.

    Deutschland hat Nachholbedarf im internationalen Vergleich

    Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da? Geht man von der Willkommenskultur im oben beschriebenen engeren Sinne aus, kann der Migration Policy Index (MIPEX) des British Council und der Migration Policy Group als Benchmarking-Instrument herangezogen werden. Besonders interessant ist der Vergleich Deutschlands mit klassischen Einwanderungsländern wie den USA und Kanada, aber auch mit europäischen Mitbewerberländern um Fachkräfte wie Frankreich, England und Schweden. Hinsichtlich der Regelungen des dauerhaften Aufenthalts wird Deutschland im EU-Vergleich im MIPEX 2010 unterdurchschnittlich eingestuft: Gemeinsam mit den USA liegt Deutschland hinter Schweden, den Niederlanden und Kanada, aber vor Frankreich und England. Bei den Einbürgerungsmöglichkeiten liegt Deutschland gleichauf mit Frankreich und England über dem EU-Durchschnitt, aber hinter den USA, den Niederlanden, Schweden und Kanada. Bezüglich der Zusammenführung von Familien liegt Deutschland im EU-Durchschnitt, sogar vor England, Frankreich und den Niederlanden, aber hinter Kanada, den USA und Schweden.

    Den größten Nachholbedarf hat Deutschland bei der Antidiskriminierung, weil es nicht nur unter dem EU-Durchschnitt bleibt, sondern mit beträchtlichem Abstand hinter Kanada, den Niederlanden und den USA, England, Frankreich und Schweden. Ähnlich ist es bei der Gleichstellungspolitik, die im MIPEX eine Untergruppe im Bereich Antidiskriminierung darstellt: Hier fällt Deutschland im internationalen Vergleich noch weiter ab und landet auf dem vorletzten Platz der 31 untersuchten Staaten.

    Tabelle 1: Migration Policy Index, Rangliste bestimmter Länder im Vergleich ausgewählter Bereiche

    Willkommenskultur im weiteren Sinne wird im Multiculturalism Policy Index (MCP) der Queen‘s University in Kingston/Kanada gemessen. Auch dabei lässt sich angesichts einer unterdurchschnittlichen Performanz ein Nachholbedarf hierzulande ausmachen, selbst wenn das Land seit 2000 gegenüber einigen europäischen Ländern Boden gutgemacht hat. So lag Deutschland im Jahr 2000 mit einem Punktwert von 2,0 (von 8,0 möglichen Punkten) im Blick auf seine Politiken zur Anerkennung und Gestaltung von Vielfalt knapp unterhalb des europäischen Durchschnitts (2,1), gleichauf mit Frankreich, hinter den USA (3,0), Schweden (5,0), England (5,5) und Kanada (7,5). Im Jahr 2010 hat Deutschland (2,5) seine Position leicht verbessert, Frankreich (2,0) überholt und den Abstand zu den USA (3,0) und England (5,5) verringert, bleibt aber deutlich hinter Schweden (7,0) und Kanada (7,5). Spitzenreiter war übrigens sowohl 2000 als auch 2010 Australien mit dem Maximalwert von 8,0 Punkten.

    Tabelle 2: Multiculturalism Policy Index

    Man kann über den Sinn und Unsinn solcher Benchmarks streiten. Sie sind heuristische Versuche, das internationale Wettbewerberfeld zu vermessen, in dem begehrte Fachkräfte sich bewegen. Wenn Deutschland eine attraktive Willkommenskultur für Hochqualifizierte entwickeln will, muss es sich an anderen Einwanderungsgesellschaften orientieren, denen es besser gelingt, solche Einwanderer ins Land zu holen – was nicht nur eine Frage der Zuwanderungsregeln ist, sondern eben auch des Einwanderungspakets und Umgangs mit Vielfalt im Land.

    Auf dem Weg zu einer Anerkennungsstruktur

    Das deutsche Zuwanderungs- und Integrationsrecht ist trotz beachtlicher Reformen in den letzten Jahren immer noch eher in den Kontext eines »Abwehrrechts« eingebunden gewesen. Nur wenn sich dieser Ansatz grundlegend ändert, wird Deutschland attraktiv werden. Dafür braucht das Land neben transparenteren und einfacheren Zuwanderungsregeln auch weitere Reformen in den Bereichen des Aufenthaltsrechts und der Einbürgerungspraxis. Die leichtere Zulassung doppelter Staatsbürgerschaften ist dafür ein Testfall: So droht wegen der Optionspflicht ab 2013 eine langsame Welle von »Zwangsausbürgerungen«, weil junge Deutsche ihren zweiten (nicht deutschen) Pass nicht abgeben. Darüber hinaus braucht es aber auch eine aktivere Antidiskriminierungs- und eine effektivere Gleichstellungspolitik.

    Entsprechende Reformschritte werden nicht nur attraktiv für Fachkräfte sein, sondern ein Umdenken und einen Kulturwandel in der Gesellschaft einleiten, sodass sich am Ende tatsächlich die bisher »verschränkte« Körpersprache des Landes gegenüber Einwanderern ändert. So wird die geforderte und beschworene Willkommenskultur strukturell abgesichert und beeinflusst eine entsprechende Haltung in der Aufnahmegesellschaft, die sich in kulturellen Routinen verankert. Deutschland hat sich durch die Weiterentwicklung seiner Zuwanderungs-, Einbürgerungs- und Integrationspolitiken auf den Weg gemacht – am Ziel ist es noch lange nicht.

    Die eingeleiteten und vollzogenen Schritte in Richtung Willkommenskultur können und dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Öffnung und Abwehr gegenüber Zuwanderern noch immer im Streit miteinander liegen.

    Die Aufforderung zur Willkommenskultur ist leichter formuliert als gelebt. Zu erinnern ist an die Schlagworte, die 2010 und 2011 gegen Migration und Integration um die Welt gegangen sind. Thilo Sarrazins Thesen in »Deutschland schafft sich ab« oder die Studie des Berlin-Instituts »Ungenutzte Potenziale. Zur Lage der Integration in Deutschland« provozierten einen Rückschlag in der Integrationsdebatte. Diese Tonlage verschärfte sich mit den Slogans: Multikulti ist gescheitert – Integration ist gescheitert. Die neue Vielfalt und eine breite Diversity mit neuen Herausforderungen an Pluralität und Wertezusammenhalt im Miteinander beinhalten eine höchst anstrengende und anspruchsvolle Auseinandersetzung mit der eigenen und mit anderen Kulturen, verbunden mit einer stärkeren Ausrichtung auf das Gemeinsame als auf das Trennende.

    Die Willkommenskultur unterstreicht Akzeptanz und Wertschätzung, aber sie kann die bestehenden Vorurteile und Benachteiligungen nicht außer Acht lassen. Sie sind noch keineswegs überwunden.

    Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) hat eine Expertise für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes im Juli 2012 vorgelegt (ADS 2012). Der Bericht behandelt »Benachteiligungserfahrungen von Personen mit und ohne Migrationshintergrund im Ost-West-Vergleich«. Die wahrgenommene Diskriminierung befindet sich insgesamt auf einem niedrigen Niveau und zeigt keine deutlichen Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Befragten. Aber Personen mit Migrationshintergrund sind fast doppelt so häufig von Benachteiligungserfahrungen betroffen wie die Mehrheitsbevölkerung. Diskriminierungen wurden am stärksten in den Bereichen Ämter und Behörden sowie auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen. In die Befragung einbezogen waren außerdem Bildung, Nachbarschaft, Religionsausübung, Freizeitaktivitäten, öffentliche Transportmittel und Wohnungssuche (ADS 2012: 10 ff., 47). Gravierend sind nach wie vor auch die Diskriminierungserfahrungen in der Bildung, bei der Wohnungssuche und in öffentlichen Verkehrsmitteln.

    Die Befunde zeigen, dass nach wie vor ein erheblicher Verbesserungsbedarf in der Willkommenskultur besteht. So wichtig der Willkommensempfang für neu ankommende Migrantinnen und Migranten ist – entscheidend sind die Alltagserfahrungen im weiteren Verlauf des Aufenthalts.

    Ethnische Heterogenität auf dem Arbeitsmarkt wird zwar zunehmend stärker von den Unternehmen wie auch von den Beschäftigten verbal bejaht, doch die Benachteiligungserfahrungen sind die andere Seite der Medaille. Die Unternehmerinitiative zur »Charta der Vielfalt« ermutigt. Sie ist ein entscheidender Schritt von einem defizithin zu einem ressourcenorientierten Ansatz. Aber unverkennbar besteht nach wie vor eine Diskrepanz zwischen genereller Befürwortung und tatsächlich praktizierter Vielfalt am Arbeitsplatz.

    Große Skepsis besteht hinsichtlich der gemeinsamen schulischen Bildung von Kindern ohne und mit Migrationshintergrund. Die Mehrheit aller Befragten lehnt es ab, ihre Kinder in Bildungseinrichtungen mit einem hohen Anteil von Zuwanderungskindern zu schicken. Darin drückt sich auch Misstrauen in die Leistungsfähigkeit von Bildungseinrichtungen mit heterogener Schülerschaft aus. »Bei Bildung herrscht über alle Bildungsniveaus hinweg Einigkeit in der Einschätzung, dass das deutsche Bildungssystem es nicht schafft, eine überzeugende Antwort auf die Herausforderungen heterogener Schülerschaften zu geben« (Bade 2011: 181).

    Integration bleibt ein zentrales Thema in der Zukunftspolitik. Wir haben es einerseits mit den jungen Einwanderungseliten, den Aufsteigern zu tun und andererseits mit den Verlierern. Das führt bei den einen zur Abwanderung bzw. Rückwanderung in die ihnen oft fremden Heimatländer, weil sie – wie viele erklären – in Deutschland keine Heimat gefunden hätten.

    Bei den Verlierern besteht die Gefahr sich steigernder Empörung, aggressiver Wut, von Hassausbrüchen oder Apathie aufgrund von Perspektivlosigkeit. Bislang ist Deutschland davon noch nicht direkt betroffen, aber Erfahrungen in europäischen Nachbarstaaten mahnen, unsere Integrationsanstrengungen weiter zu erhöhen und auf keinen Fall zu reduzieren.

    Das vorliegende Buch möchte dazu ermutigen, weiterzukommen auf dem Weg zu einer Gesellschaft, die für neue Zuwanderer offen ist und auch der bereits im Land lebenden Bevölkerung mit Migrationshintergrund umfassende Teilhabe ermöglicht. Es fließen Impulse und Beiträge ein, die auf zwei Veranstaltungen diskutiert wurden: bei einem Roundtable zur Zuwanderungssteuerung, den die Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit dem Transatlantic Council on Migration und dem Migration Policy Institute im Dezember 2011 in Berlin veranstaltet hat, sowie auf einer gemeinsamen Tagung des British Council und der Bertelsmann Stiftung im März 2012 unter dem Motto »Diversity Matters!«, bei der erörtert wurde, wie Vielfalt in der Mitte der Gesellschaft verankert werden kann.

    Im ersten Teil des Buches geht es um Einwanderungsregelungen und Willkommenskultur. Zunächst wird in zwei Beiträgen der schillernde Begriff der Willkommenskultur spezifiziert: Hannes Schammann, Nikolas Kretzschmar und Robert Gölz vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge konkretisieren den Begriff der Willkommens- und Anerkennungskultur und Klaus Bade, der Nestor der deutschen Migrations- und Integrationsforschung, untersucht Abwehrhaltungen und Willkommenskultur in der Einwanderungsgesellschaft. In den folgenden Beiträgen geht es um Zuwanderungssteuerung: Aus internationaler Sicht stellen Demetrios Papademetriou und Madeleine Sumption vom Migration Policy Institute in Washington zunächst punktebasierte und arbeitgebergesteuerte Zuwanderungssysteme auf den Prüfstand; dann skizzieren Holger Kolb und Simon Fellmer, beide tätig beim Sachverständigenrat Deutscher Stiftungen für Integration und Migration, die aktuellen Entwicklungen bei der Vorrangprüfung, einem bisher entscheidenden Faktor bei der Zuwanderungssteuerung in Deutschland. Den Zusammenhang zwischen Integration und unbefristetem Aufenthaltsrecht untersucht abschließend Triadafilos Triadafilopoulos von der University of Toronto.

    Der zweite Teil lenkt den Blick auf die Wahrnehmung und den wertschätzenden Umgang mit Vielfalt in der deutschen Gesellschaft als zweite Seite der Willkommenskultur. Naika Foroutan von der Berliner Humboldt-Universität identifiziert den Reformbedarf der deutschen Gesellschaft beim Umgang mit Vielfalt am Beispiel der Muslime hierzulande. Chadi Bahouth von den Neuen deutschen Medienmachern plädiert für einen angstfreien Umgang mit Vielfalt. Anke Knopp, die sich in der Bertelsmann Stiftung mit erfolgreichen Integrationsinitiativen beschäftigt, berichtet von einem gelungenen Beispiel des Umgangs mit Vielfalt in der Stadt Herne. Die Journalistin Corina Weber zeigt auf, wie über kommunale Ansätze hinaus Deutschland insgesamt zu einer offenen und gerechten Gesellschaft werden kann, was den Kern eines angemessenen Umgangs mit Vielfalt ausmacht.

    Im dritten Teil geht es um konkrete Strukturen einer Willkommenskultur, wie sie in der Praxis bereits jetzt greifbar sind. Birte Steller skizziert die aktuelle Entwicklung des Begriffs der Willkommenskultur und beschreibt die Arbeit des Welcome Center in Hamburg. Nina Wolfeil und Mareike Kunze informieren über die Arbeit des Akademischen Auslandsamtes der Universität Cottbus und die dortige Willkommenskultur. Beate Ramm berichtet von neuen Ansätzen der Ausländerbehörden im Kreis Düren, in Hamm, Solingen, Wuppertal und im Kreis Hersfeld-Rotenburg. Von kommunalen und konkreten Anfängen zu etablierten Strukturen: Orkan Kösemen, der einige Monate im Auftrag der Bertelsmann Stiftung in Kanada recherchiert hat, analysiert abschließend die Willkommensstrukturen in Toronto/Kanada anhand von drei Beispielen. Die Beiträge zeigen, so das Fazit von Orkan Kösemen am Ende des Buches, dass sich Deutschland auf den Weg gemacht hat – und in welche Richtung die Reise weitergehen muss.

    Literatur

    ADS – Antidiskriminierungsstelle des Bundes (Hrsg.). Benachteiligungserfahrungen von Personen mit und ohne Migrationshintergrund im Ost-West-Vergleich. Berlin 2012. www.antidiskriminierungsstelle.de/

    SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/

    expertise-Ost-West-Vergleich.

    html?nn=1532912 (Download 9.8.2012).

    Bade, Klaus J. »Von der Arbeitswanderung zur Einwanderungsgesellschaft«. Multikultur 2.0. Willkommen im Einwanderungsland Deutschland. Hrsg. Susanne Stemmler. Göttingen 2011. 154–185.

    Huddleston, Thomas, Jan Niessen, Eadaoin Ni Chaoimh und Emilie White. Index Integration und Migration III. Hrsg. British Council und Migration Policy Group. Brüssel 2011.

    Tolley, Erwin. Multiculturalism Policy Index: Immigrant Minorities Policies. Kingston 2011.

    * Wir verwenden in dieser Publikation nicht durchgängig eine geschlechtergerechte Sprache. Mit »Einwanderer«, »Zuwanderer«, »Politiker« etc. sind immer auch Frauen gemeint.

    Einwanderungsregelungen und Willkommenskultur

    Willkommens- und Anerkennungskultur: Konkretisierung eines Begriffs

    Hannes Schammann, Nikolas Kretzschmar, Robert Gölz

    Entwicklung der Integrationsdebatte

    Es ist noch nicht lange her, dass Nichtregierungsorganisationen, Verbände und sogar Staatschefs wie Lech Kaczynski und Recep Tayyip Erdoğan Deutschland vorwarfen, eine ausschließlich abwehrende Migrationspolitik und eine einseitig assimilative Integrationspolitik zu betreiben (vgl. u.a. »Lech Kaczynski …« 2008; Rasche 2011). Dieser Vorwurf wurde genährt durch einen Blick auf die mediale Diskussion um Migration und Integration, in der Schlagworte wie »Leitkultur«, »Parallelgesellschaft« oder »Integrationsverweigerer« den Ton angaben.

    Von den Asyldebatten der 90er Jahre bis Ende 2009 – und damit weit über die Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes 2005 hinaus – dominierte die Frage, was Deutschland von seinen Zuwanderern verlangen dürfe und welche einseitigen Anpassungsleistungen unumgänglich seien. Doch als die weltweite Finanzkrise Arbeitsplätze in Deutschland zu gefährden drohte, als Thilo Sarrazin den unglücklichen Versuch unternahm, Intelligenz und ethnische Herkunft in einen Zusammenhang zu setzen, und als einige Fachleute einen drohenden Anstieg von Fremdenfeindlichkeit in Deutschland prognostizierten, drängte sich ein neuer Begriff in den Mittelpunkt der politischen Bühne: »Willkommenskultur«.

    Bildungsministerin Annette Schavan sprach davon, dass Deutschland, dessen Bevölkerung schrumpfe, aktiv an dem Wettbewerb um die besten Köpfe teilnehmen müsse: »Die müssen spüren, dass es hier die besten Angebote gibt. Wir brauchen eine Willkommenskultur« (Kamann und Vitzthum 2010). Der frühere Bundesminister des Innern, Thomas de Maizière, betonte: »Wir haben in Deutschland leider keine ›Willkommens-Kultur‹. Entscheidend ist doch auch, wie die Menschen behandelt werden, die zu uns kommen. Da liegt manches im Argen« (Bundesregierung 2010).

    Im Kontext der Diskussion um einen vielfach diagnostizierten Fachkräftemangel zog die Willkommenskultur, von vielen zunächst für eine Leerformel ohne reale Konsequenzen gehalten, immer weitere Kreise: Kommunale Verwaltungen und Bundesbehörden versuchen mittlerweile, den Begriff mit Leben zu füllen und Deutschland attraktiv für Zuwanderer zu machen. Doch was genau geschieht hier? Ist die Diskussion einfach nur der Auftakt zu einer neuen Gastarbeiterphase? Handelt es sich um ein letztes Aufbäumen des totgesagten Multikulti – um ein Strohfeuer des guten Willens? Oder hat sich die Perspektive auf Migrations- und Integrationsthemen in Deutschland sukzessive gewandelt?

    Der vorliegende Beitrag geht diesen Fragen nach und skizziert, wie sich »Willkommenskultur« von einem Modebegriff zu einem integrationspolitischen Programm entwickeln könnte. Dazu werden zunächst einige Entwicklungen und Maßnahmen der letzten Jahre vor dem Hintergrund eines zweiseitigen Integrationsbegriffs eingeordnet. Anschließend wird ein grobes Phasenmodell der Migration vorgestellt und eine Erweiterung des Begriffs »Willkommenskultur« um den der »Anerkennungskultur« vorgeschlagen. Außerdem werden konkrete Handlungsfelder zur Etablierung einer Willkommenskultur benannt, zu denen einige Projekte und geplante Maßnahmen vorgestellt werden, die aktuell von zwei Expertengruppen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge diskutiert werden. Der Beitrag versteht sich damit als eine Art Gerüst, an dem weitere Ideen ansetzen und den Modebegriff »Willkommenskultur« mit Leben füllen können.

    Der Integrationsbegriff zwischen Assimilation und Aushandlung

    Integration gilt vielen Wissenschaftlern seit Langem als »chaotic concept: a word used by many but understood differently by most« (Robinson 1998). Auch in der Debatte um Willkommenskultur tut man daher gut daran, sich des eigenen Integrationsbegriffs bewusst zu werden. Nach einer weit verbreiteten Definition von Hartmut Esser (2001, 2006) kann individuelle Sozialintegration definiert werden als ein Prozess, in dem das Individuum um Teilhabe an den ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen der Gesellschaft ringt. Dieser Prozess findet in vier Bereichen statt, die üblicherweise mit struktureller, kultureller, sozialer und identifikationsstiftender Integration bezeichnet werden (vgl. dazu auch Filsinger 2008; Geisler 2008).

    In jeder dieser Dimensionen sieht sich das Individuum mit bestimmten Anforderungen und Rahmenbedingungen konfrontiert. Um Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen zu erhalten, hat es – vereinfacht gesprochen – die Möglichkeit, sich entweder den herrschenden Rahmenbedingungen anzupassen oder zu versuchen, diese zu verändern. Die offensichtliche Aussichtslosigkeit, als Einzelne/r gesellschaftliche Rahmenbedingungen, wie etwa die Hegemonie deutscher Sprache, in einer kurzen Zeitspanne zu verändern, führt Esser zu dem umstrittenen Schluss, dass erfolgreiche Integration nur als Assimilation stattfinden könne (Esser 2001: 21).

    In der Praxis unterstützen die gesetzlich verankerten Integrationskurse oder das Case Management der Migrationsberatung das Individuum tatsächlich dabei, sich innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen zurechtzufinden. Mit den Paragraphen zur Integration (§§ 43–45 AufenthG) verfolgt das 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz jedoch keine »Assimilationsideologie«, sondern geht im Sinne der einzelnen Zuwanderer einen sehr pragmatischen, an den kurzfristigen individuellen Bedürfnissen der Zielgruppe orientierten Weg.

    Deutlich wird das zweiseitige Integrationsverständnis auch darin, dass die Bundesregierung diesen scheinbar assimilativen Maßnahmen Aushandlungsprozesse auf kollektiver Ebene zur Seite gestellt hat. In der Deutschen Islam Konferenz (DIK) wird beispielsweise diskutiert, durch welche Anpassungen seitens der Arbeitgeber die Teilhabe von Muslimen und Muslimas auf dem Arbeitsmarkt erleichtert werden kann (BAMF 2012). In ähnlicher

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1