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Bubis Kinnertied. Tüsken Wieken un Wullgras: Eine Kindheit in Ostfriesland und im Emsland in den 1930er und 1940er Jahren
Bubis Kinnertied. Tüsken Wieken un Wullgras: Eine Kindheit in Ostfriesland und im Emsland in den 1930er und 1940er Jahren
Bubis Kinnertied. Tüsken Wieken un Wullgras: Eine Kindheit in Ostfriesland und im Emsland in den 1930er und 1940er Jahren
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Bubis Kinnertied. Tüsken Wieken un Wullgras: Eine Kindheit in Ostfriesland und im Emsland in den 1930er und 1940er Jahren

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Dies sind die Lebenserinnerungen Artur Plaisiers, herausgegeben von seinem Sohn Detlef. Der Text beschreibt Arturs Kindheit in Ostfriesland und im Emsland von seiner Geburt 1927 bis in die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges hinein. Er zeugt mit viel Detailtreue von der großen Liebe zur ostfriesischen Heimat. Gleichzeitig eröffnen die unbeschönigten Aufzeichnungen Einblicke in den Alltag der Menschen.
Artur Plaisiers Niederschrift reicht von der liebevollen Beschreibung seines Geburtsorts Holte und seiner Kindheit in Westrhauderfehn über ostfriesische Gebräuche wie die "Teetied", die Geschichte des emsländischen Hümmlings bis zu lokalen Geschichten und Legenden sowie Marienerscheinungen im Emsland.
Neben dieser Heimatgeschichte sind es vor allem die Schilderungen seiner Erlebnisse zu Zeiten des Dritten Reichs, über das Strafgefangenenlager Esterwegen und das Konzentrationslager Börgermoor, wo sein Vater in der Mooradministration tätig war, die seine Biografie zu einem wichtigen Werk der geschichtlichen Aufarbeitung machen. In diesem Zusammenhang sind auch die Auszüge aus dem Kriegstagebuch seines Bruders zu sehen.
LanguageDeutsch
Publisheracabus Verlag
Release dateMar 1, 2017
ISBN9783862824724
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    Bubis Kinnertied. Tüsken Wieken un Wullgras - Detlef M. Plaisier

    Auszug aus der Stammfolge Plaisier

    Anmerkung zur Namensführung

    Ostfriesland und die Niederlande standen zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter französischer Besatzung. Mit kaiserlichem Dekret vom 18. August 1811 verfügte Napoleon für diese Gebiete, dass alle Untertanen, die bislang noch über keinen Familiennamen und festen Vornamen verfügten, innerhalb eines Jahres an ihrem Wohnort beim „Maire", dem Ortsbürgermeister, eine entsprechende Erklärung abgeben sollten.

    Ostfriesland bildet eine geschlossene Namenslandschaft mit eigenem Charakter. Die sogenannte patronymische Namensbildung ist hier einmalig. „Bis zum Jahr 1811 war es in Ostund Westfriesland alter Brauch, Kindern, ohne daß sie einen Familiennamen führten, dem eigenen Vornamen den Namen des Vaters mit der Endung „s hinzuzufügen. Bis zu dieser Zeit nannte man sich z.B. Freerk Harms. Das bedeutet: Ich heiße Freerk und bin der Sohn des Harm. Im Rheiderland ging man oft auch einen Schritt weiter. Da war der Name des Großvaters ebenfalls ein Teil des Namens, bei dem man ein „sen (eine Abkürzung für „sien Söhn oder „sien Dochter) anhing. So nannte man sich z.B. Freerk Janssen Harms. Das bedeutete: Ich heiße Freerk, bin ein Sohn des Harm, dessen Vater Jan hieß. Aus dieser Zeit stammen viele der häufigsten ostfriesischen Namen (Janssen, Claasen, Dirksen usw.)."¹ So ist es verständlich, dass sich die Einwohner Ostfrieslands der napoleonischen Anordnung widersetzten. Sie taten es auf ihre Art: Sie wählten nicht den seit Generationen gebräuchlichen patronymischen Zweitnamen, sondern entschieden sich für lächerliche Namen oder Phantasienamen. So nannten sich Einwohner im Amt Stickhausen Nett, Hübsch, Liebe oder sogar Snuitje (Schnäuzchen).

    „Namensgeber des Familiennamens Plaisier ist Johann Oeltjen, geboren am 02.04.1778 in Elmendorf. Dies ist belegt durch den Taufeintrag seines Sohnes Johan Garrelts Oeltien vom 06.12.1799 in der Gemeinde Detern. Der Eintrag trägt den Zusatz „später Plaisier.

    Wie es nun gerade zu dem Namen Plaisier gekommen ist, lässt sich nur vermuten. Wahrscheinlich entspringt die Wahl auch der Verärgerung über das Namensdekret, zumal ja bereits mit Oeltien ein fester Familienname bestand.

    Das Wort „Plaisier war in der napoleonischen Besatzungszeit geradezu ein Schlagwort und wurde in die plattdeutsche Sprache übernommen, wo es heute noch gebräuchlich ist. So sagt man „plesär für eine Freude oder „plesärelk", wenn man etwas erfreulich findet.

    Die Liste der ersten von Napoleon verfügten Namensannahmen ist vom Amt Stickhausen nicht mehr erhalten. Es existiert aber noch die Liste, in der die Namensannahmen bestätigt werden. Sie stammt aus dem Jahr 1857. Hier bestätigt Wilhelm Plaisier (geb. 16.08.1812), der ältere Bruder von Joachim Rudolph Plaisier, den angenommenen Familiennamen Plaisier. Der „Namensgeber", sein Vater Johann Oeltien, war bereits 1833 verstorben.

    1 http://www.heimatkundlicher-arbeitskreis.de/verschiedenes/namensrecht/namensrecht.htm

    Vorwort: Der lange Weg zu dieser Biografie

    „Vielleicht muss man erst in seinen Siebzigern sein, um sich einen möglichst unverstellten Blick auf sein eigenes Leben und das seiner Familie gestatten zu können. So analysiert es Olaf Ihlau in seinen autobiografischen Aufzeichnungen „Der Bollerwagen, einem Rückblick auf die Flucht aus dem umkämpften ostpreußischen Königsberg im Jahr 1945².

    Mir haben die Suche nach der eigenen Identität, die Rückbesinnung auf die Familie und der Wunsch, mit den unbewältigten Brüchen der eigenen Biografie Frieden zu schließen, den Mut für diesen Blick gegeben.

    Als mein Vater im März 2006 in Hannover starb, lebte ich gerade einige Monate in Leipzig. Der Anruf erreichte mich im Lärm des Hauptbahnhofes. Wenige Tage später fuhr ich in meine Geburtsstadt. Ich wusste, es würde eine unangenehme Reise werden. Die zweite Frau meines Vaters hatte ich nie akzeptiert. Sie gehörte für mich nicht zur Familie, auch weil sie meinen Vater verändert und mir entfremdet hatte.

    Ich wusste von einem gemeinsamen Testament. So galt es für mich nur, Erinnerungen zu sichern: einige Stücke aus der langen Dienstzeit meines Vaters als Polizist, einige Bilder für die Familienforschung. Und dann war da dieses Manuskript. Ich hatte nichts davon gewusst, mein Vater hatte es nie erwähnt. Vielleicht wollte er mir so erzählen, was in den Jahren vor seinem Tod ungesagt geblieben war. Als ich mich entschieden hatte, einen eigenen Weg zu gehen, einen Weg, der nicht mehr seinen übermächtigen väterlichen Ratschlägen folgte, waren wir nicht mehr Vater und Sohn. Ich kam nur noch zu Besuch.

    Wir tranken dann Ostfriesentee, den mein Vater so zubereitete, wie es in diesem Buch beschrieben ist. Er hatte sich, weit von seinem ostfriesischen Himmel entfernt, einige wenige Rituale bewahrt, und erst heute weiß ich, wie sehr er unter dem Verlust der Heimat gelitten hat.

    Mit einem Psychotherapeuten arbeitete ich die Beziehung zu meinem Vater auf. Ich musste viele schmerzhafte Dinge zulassen, um Frieden zu schließen. Erst im Jahr 2013 entschloss ich mich, das Manuskript meines Vaters zu bearbeiten und als Biografie zu veröffentlichen. Es sollte der letzte Schritt sein, der Abschluss einer Versöhnung. Was ich las, war ein Faustschlag. Aus der Lokalbiografie wurde Zeitgeschichte: Meine Großeltern waren in die Maschinerie des NS-Staates verstrickt.

    Wieder gab es Gespräche mit dem inzwischen vertrauten Psychotherapeuten. Wir sprachen über Glauben und über die Ursprünge von Angst. Zum ersten Mal wurde ich mit dem gesellschaftlichen Phänomen der Kriegsenkel konfrontiert. Ich spürte: Das hat etwas mit meinem Leben zu tun. Warum bin ich so rastlos? Warum fehlt mir die innere Ruhe? Und warum sehe ich Neues zuerst immer negativ? Ich begann, mich in das Thema einzulesen, verschlang die grundlegenden Werke von Sabine Bode, konnte Katja Thimms „Vatertage nicht mehr aus der Hand legen, verschlang Kathleen Battkes „Trümmerkindheit, fühlte mit Alexandra Senffts Familiengeschichte „Schweigen tut weh und informierte mich über die Möglichkeiten von Kriegskindern und Kriegsenkeln in der Psychotherapie. Den Roman „Bild des Vaters des sorbischen Schriftstellers Jurij Brězan, der im Jahr 2006 achtzehn Tage vor meinem Vater starb, fand ich in einer abgegriffenen Ausgabe in einem öffentlichen Bücherschrank. Er ist gewidmet „Den Enkeln meines Vaters".

    Ich brauchte lange, um zu verstehen, dass meinem Vater zeit seines Lebens der emotionale Zugang zu den Kriegserfahrungen und damit zu seinen wichtigsten Prägungen fehlte. Für ihn war alles normal, nichts Besonderes; Millionen andere Menschen hatten es doch auch so erlebt. Sein extremes Bedürfnis nach materieller Sicherheit und die Angst vor Veränderungen im gewohnten Ablauf des Lebens prägten meine Erziehung. Was ich oft als Zurückweisung und mangelnde Liebe empfand, war nichts anderes als verdrängte Aufarbeitung. Erst das Aufschreiben der Erinnerungen löste die Selbstbetäubung meines Vaters.

    Es fehlte noch ein Schritt: Ich fuhr an die Orte des Geschehens, um mich zu stellen. Es war eine gute Entscheidung. Ich traf auf Wärme und Verständnis, fand neue Verwandte und brachte viele Bilder mit. Inzwischen hat sich der Kreis geschlossen: Ich bin ins Emsland gezogen, nur wenige Kilometer von dem Ort entfernt, wo mein Großvater in einem der Emslandlager Opfer des NS-Regimes beaufsichtigte.

    Der Text meines Vaters entstand 50 Jahre nachdem er Ostfriesland als Lebensmittelpunkt verlassen hatte. Ich habe seine Aufzeichnungen behutsam sprachlich angepasst. Aufgrund der großen zeitlichen Distanz der Schreibzeit zur beschriebenen Zeit mussten sich zwangsläufig geografische und historische Ungenauigkeiten und auch Verklärungen einschleichen. Um dies einzuordnen und auszugleichen, habe ich dem Text Fußnoten angefügt und Kommentatoren unter der Rubrik „Nachgefragt" gebeten, ihre Sicht der Dinge zu ergänzen. Ich habe als Herausgeber bewusst darauf verzichtet, einzelne Schilderungen oder Ereignisse der Zeitgeschichte zu werten.

    Einige Fragen müssen im Bereich der Spekulation bleiben. Welche Rolle spielte mein Großvater im Lagerkomplex Esterwegen? Wie groß war seine Verantwortung oder gar Schuld? Die Bewacher waren je nach Lagerart, aber auch in den KZ im Jahr 1933, unterschiedlich: Eingesetzt waren SA, Polizei, SS oder Justiz, Freiwillige oder zuletzt ab 1942 überwiegend Abkommandierte. Wann genau also war mein Großvater in Esterwegen? Hätte er vor 1942 eine Tätigkeit als Wachmann aufgenommen, so müsste er Mitglied der SA gewesen sein. War er überhaupt Wachmann, ein „Blauer in der blauen SA-Uniform, oder ein „Grüner in der grünen Justizuniform? Oder war er Ziviler, „nur" angestellt bei der Mooradministration?

    Ich bin überzeugt, dass die meisten Menschen den Begriff des Gefangenenlagers eher mit einem Konzentrationslager denn mit einem Strafgefangenenlager verbinden. Die Unterscheidung zwischen beiden Lagerarten ist mir wichtig: Zu leicht entsteht der Eindruck, ich habe zwecks besserer Vermarktung von KZ und nicht von Strafgefangenenlagern gesprochen.

    Hat mein Vater seinen Vater wirklich über das KZ Börgermoor oder Esterwegen sprechen hören, oder meinte er „nur" das Strafgefangenenlager? Vielleicht hat sich erst beim Aufschreiben der Erinnerungen der Begriff KZ in seine Erinnerungen hineingedrängt. Aber auch das ist Spekulation und bleibt offen.

    Und nun übergebe ich das Wort an meinen Vater.

    Detlef M. Plaisier

    Westrhauderfehn, im September 2016

    2 Siedler Verlag, 2014

    Abb. 1: Artur Plaisier im Jahr 1997

    Moin, liebe Leser!

    Als ein „Fehntjer Junge" habe ich meine Kinderzeit als Zeitzeuge der deutschen Geschichte verlebt. Dazu kommt die in mancher Hinsicht lehrreiche Erfahrung, die ich mit den Menschen in zwei völlig unterschiedlichen Regionen, nämlich in Ostfriesland und im Emsland, machen konnte und die mein späteres Leben mit geprägt hat.

    Was ich in meinen Aufzeichnungen schildere, ist wirklich passiert und entspricht den Tatsachen. Ich habe darauf verzichtet, Namen von Personen zu nennen, die ich im Nachhinein belasten würde oder deren Nachkommen dadurch in ein falsches Licht gerückt würden. Das trifft ganz besonders für die Ortschaft Bockhorst zu.

    Noch heute komme ich mir wie ein Aussätziger vor, wenn ich im Emsland bin oder auch nur diesen Landstrich durchfahre. Zu tief sitzen die dort in der eigenen Familie erlittene Hexenjagd und die Ausgrenzung als Kind aus der Schulgemeinschaft wegen meines evangelischen Glaubens.

    Aber es gab zum Glück auch fortschrittlich denkende Menschen im Emsland in der Ortschaft Bockhorst, denen ich an dieser Stelle ganz besonders meinen Dank zum Ausdruck bringen möchte.

    Meine Kinder- und Jugendzeit war alles in allem ein schöner, von vielen positiven Erlebnissen geprägter Lebensabschnitt. Schmerzhafte Einschnitte, die durch die unmittelbare Kriegseinwirkung entstanden, sowie die persönliche Erfahrung mit den KZ-Lagern des Dritten Reiches haben einen prägenden Eindruck hinterlassen und mein späteres Handeln beeinflusst.

    Ich bin in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem Toleranz und Menschlichkeit auch in einer politisch abnormen Zeit die wertvollsten Tugenden waren und wonach auch das tägliche Leben ausgerichtet war. Wohlbehütet konnte ich so eine Jugendzeit verbringen, die ausgefüllt war mit kindlicher Freude, Liebe zur Natur und den Tieren allgemein sowie der Vorbereitung auf die späteren Pflichten des Lebens. Dafür bin ich meinen Eltern sehr dankbar.

    Ihnen danke ich dafür, dass Sie meinen Erinnerungen Ihre Aufmerksamkeit schenken.

    Artur Plaisier, genannt Bubi …

    Mein Geburtsort Holte

    Geboren wurde ich Ende des Monats Oktober im Jahr 1927 in dem kleinen ostfriesischen Ort Holte. Zu meinem ersten Schrei auf dieser Welt verhalf mir die Hebamme Frau Hündling, die weit und breit alle werdenden Mütter betreute. Ich habe sie später in Westrhauderfehn mit ihrem Fahrrad bei uns in der 1. Südwieke fahren sehen. Am Lenker hing stets die braune Hebammentasche.

    Von meinem Geburtshaus wurde mir berichtet, dass auf dem Dach, vermutlich auf einem dort montierten Wagenrad aus Holz, Jahr für Jahr ein Storchenpaar nistete und den Nachwuchs großzog. Man kann in meinem Fall also durchaus sagen, dass mich der Storch gebracht hat.

    Gestatten Sie bitte, dass ich von dem Geburtsort und von der Umgebung nachfolgend etwas ausführlicher berichte. Ich komme damit vielen Fragenden entgegen, die sich immer wieder nach der Lage und den früheren Ereignissen erkundigen. Es ist sozusagen eine Art Heimatkunde.

    Holte ist als Ortsname nicht unbekannt. Es gibt derer sicherlich zwei Dutzend in der Bundesrepublik. Das ostfriesische Holte ist ein Bauerndorf. Es liegt zwischen dem sehr fruchtbaren Hammrich einerseits und der sandigen Geest andererseits.³ Holte, mein Geburtsort, nahm in der Gründerzeit der Fehnkompagnie eine herausragende Rolle ein.

    Alle im ostfriesischen Raum gedruckten Kalender veröffentlichten die Termine der Viehmärkte von Holte an exponierter Stelle. Hier trafen sich alle, die etwas zu verkaufen hatten oder etwas erwerben wollten. Entsprechend groß war der Auftrieb an schwarz-bunten Kühen, Kälbern und Bullen sowie Schlacht- und Zuchtschweinen. Darunter waren auch Sauen mit zwei bis drei Wochen alten Ferkeln. Auch ostfriesische Milchschafe und Hauskaninchen fehlten auf den Märkten nicht. Die umfassende Beschickung des Marktes und der rege Handel sind der sehr günstigen Lage der Ortschaft Holte zuzurechnen. Holte grenzt an die Liegenschaften des Ortes Stickhausen. Das war ein wichtiger Mittelpunkt im täglichen Ablauf des Landlebens. Das Amt Stickhausen war für das Overledingerland, wie dieser Bezirk offiziell hieß, in allen behördlichen Angelegenheiten zuständig. Das galt für die zu entrichtende Steuer ebenso wie für den Ankauf von Grundstücken. Amtsschreiber und Gerichtsdiener des Amtes Stickhausen bevorzugten als ständigen Wohnsitz die Ortschaft Holte, weil sie so in der Nähe der Arbeitsstelle waren. Zeugnis dieser Sesshaftwerdung legen noch heute zwei Grabdenkmäler auf dem Friedhof in Holte⁴ ab. Sie wurden errichtet für den Amtsvogt Johann Enno Stockstrom und den Gerichtsvogt M.F. Stockstrom.⁵ Somit war mein Geburtsort in früheren Zeiten, und auch noch in meinem Geburtsjahr, Treffpunkt vieler Menschen von nah und fern.

    Ich möchte daran erinnern, dass im Ortsteil Griepenburg-Holte noch heute ein zweistöckiges aus Stein erbautes Gebäude steht, das die Einheimischen „die Burg nennen. Man muss dazu wissen, dass die dort zu damaligen Zeiten erbauten Bauernhäuser in der Bauweise recht klein gehalten waren. Besonders bei auflaufender Flut und bei Sturmfluten an der Nordseeküste fegte ein eisiger Wind über das Overledingerland, und das nicht selten in Orkanstärke. Um dem wütenden Sturm möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, passte man den Baustil der Häuser durch eine niedrig gehaltene Bauweise an. So trug man den rauen Witterungsbedingungen zum Schutz von Mensch und Tier am besten Rechnung. Das zweistöckige Steingebäude überragte also die Bauernhäuser und erhielt mit Recht die Bezeichnung „Burg.

    Es soll in Holte noch ein Haus mit zwei Stockwerken gegeben haben. Es war die „Bessenbörg". Erster Eigentümer war der in Holte bekannte und geachtete Rittmeister Menno Bunger. Er verstarb 1678 in Holte. Zu seinen Ehren wurde ein Denkmal aus schwarzem Basalt errichtet. Es ist noch heute hinter der Treppe zum Orgelboden in der Rhauder Kirche zu besichtigen.

    Holte war ein Treffpunkt für Jung und Alt. Wenn man bedenkt, dass vor 250 Jahren in der Ortschaft zwanzig Schankwirtschaften existieren konnten, hat man etwa eine Vorstellung von dem Leben im Ort. Mit der Zeit nahm die Anzahl der Wirtschaften dann ab. Eine von ihnen erreichte auch das 20. Jahrhundert, die dann um 1920 vom Bauernsohn Gerhard Meinhard Meinders erworben wurde.

    Auch in Ostfriesland war die Zeit nicht stehen geblieben. Es wurden an verschiedenen Orten bereits Poststellen eingerichtet. Es war der Manufakturkaufmann Thoben, der sich im Gemeinderat mit dem Ansinnen durchsetzte, bei der Kaiserlichen Postadministration den Antrag auf Eröffnung einer Poststelle in der Ortschaft Holte zu stellen. Schon sehr bald hielt der damalige Ortsbürgermeister Wilhelm Strenge die Genehmigung in den Händen. Der Gemeinderat beschloss, die Landpoststelle Holte in der Gastwirtschaft Meinders einzurichten. Heinrich Meinders hatte die entsprechenden Vorkehrungen in seiner Gastwirtschaft zu treffen. Eine Bierbrauerei lieferte für den neuen Posthalter eine Außenlampe, die mit der Bezeichnung „Schankwirtschaft zur Post" versehen war.

    Aller Anfang war schwer für den Posthalter. Schließlich musste er die unterschiedlichen Wertzeichen fein säuberlich und vor allem trocken aufbewahren, die Post mit der entsprechenden Marke versehen und schließlich mit dem eigens für Holte gelieferten länglichen Stempel markieren. Der eigentliche runde Poststempel befand sich in Stickhausen, dem zuständigen Amtssitz der Post für diese Region.

    Abb. 2: Artur Plaisier mit seinem Vater, Jahr unbekannt

    Mein Vater wurde in Rinzeldorf geboren. Dieser Ort liegt ebenfalls im Bereich des damaligen Amtes Stickhausen. Den Poststempel von Stickhausen kenne ich persönlich. Wir haben zu den Feiertagen, wie in Ostfriesland allgemein auch heute noch üblich, Post von den dort wohnenden Verwandten, den Seemanns⁸, bekommen. Ich glaube, Herr Seemann war von Beruf Handwerker (Mühlenbauer). Die Post von Seemanns wurde in Stickhausen aufgegeben. Stickhausen durfte die Briefmarken abstempeln, während Holte nur den länglichen Bearbeitungsstempel mit der Poststellennummer 23 auf dem Briefumschlag anbrachte.

    Mit den Telefonverbindungen war es zu dieser Zeit noch mager bestellt. Es gab nur wenige private Anschlüsse. Wer ein Gespräch führen wollte, konnte das von Holte aus tun. In der Landpoststelle befand sich ein Telefonapparat. Man wurde durch den Posthalter mit der Verbindungsstelle für Gespräche in Westrhauderfehn verbunden und konnte so telefonieren. Die Gebühren erfragte man jeweils bei der Hauptstelle in Westrhauderfehn nach Ende des Gespräches.

    In Holte gab es nach Einrichtung der Kaiserlichen Post auch den als Amtsperson hoch geachteten Landbriefträger. Das war Aufgabe des Posthalters, der bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad über Land fuhr. Die Poststelle versorgte dann seine Frau Henriette.

    Auch mit dem Feierabend war das so eine Sache. Nicht selten wurde noch spätabends ein Telegramm per Fernsprecher durchgegeben. Das musste dann noch zugestellt werden. Oft war es ein weiter Weg bei denkbar schlechtem Wetter, bei dem man sprichwörtlich keinen Hund vor die Tür jagen würde. Aber Posthalter zu sein hieß eben auch, nach Dienstschluss die Funktion des Landbriefträgers zu übernehmen, wenn es denn die Pflicht verlangte.

    Erwähnen möchte ich an dieser Stelle auch die Ortschaft Ostrhauderfehn-Holterfehn mit der Schank- und Gastwirtschaft Meyerhoff in der Holterfehner Straße. Das Haus liegt schon von jeher verkehrstechnisch günstig. So war es in den Jahren, als hier noch Güter auf den Kanälen transportiert wurden, eine Ankerstelle, die zum Anlegen und Verweilen bei Meyerhoff einlud. An diesem Punkt treffen zwei Wasserläufe zusammen. So konnte man an diesem günstigen Haltepunkt eine Verschnaufpause einlegen. Gerade beim Transport von Brenntorf auf dem Wasserweg war die Arbeit mühsam und anstrengend. Es gab so gut wie keine Fortbewegung durch Motorkraft auf den Stichkanälen. Vielmehr wurden die mit Torf beladenen Kähne durch Menschenkraft fortbewegt. Am Bug der Kähne waren jeweils rechts und links dicke Taue angebracht, die bis ans Ufer reichten. Hier wurden die Taue in einer Zugvorrichtung, die über Bauch und Rücken geführt wurde, befestigt. Es war ein sehr haltbares, extra für diesen Zweck aus Segeltuch gefertigtes Zugband, welches je nach Uferseite rechts oder links unter dem Arm durchgeführt werden musste. Man sollte auf keinen Fall die Schwere des zu ziehenden Gewichtes unterschätzen. Der Torf war ja nicht lose in den Rumpf des Kahnes gekippt worden. Das hätte zu viel Laderaum eingenommen und den Gewinn geschmälert. Vielmehr wurde der kantige Torf säuberlich Schicht auf Schicht im Kahn verstaut. Es war keine Seltenheit, dass dabei bis zu 20 Schichten Brennmaterial über den Rand des Schiffes gestapelt waren und nach oben hin in Form eines Daches verliefen. Meistens standen auf dem Kahn zwei Personen, eine hinten und die andere vorn, die mit langen Staaken das Schiff auf Kurs hielten. Vorne zogen meist Frauen den Kahn mit der umgehängten Zugvorrichtung.

    Heute ist aus der Schankwirtschaft Meyerhoff ein Restaurant mit Hotelbetrieb auf der gut ausgeschilderten Fehnroute geworden. Natürlich wird hier auch die Tradition des Ostfriesentees gepflegt. Wer motorisiert ist, kann von Meyerhoff aus zu Tagesausflügen starten. In der Nähe liegen die Papenburger Meyer Werft, die Nordseeküste und die Gedenkstätte des ehemaligen KZ Esterwegen.

    Es passt an dieser Stelle, wenn ich einmal auf den echten Ostfriesentee eingehe und kurz die Firmen nenne, die von jeher die Mischung der Teesorten beherrschen, die das Nationalgetränk der Ostfriesen so schmackhaft und bekömmlich machen. Die führenden Teekontore Ostfrieslands sind die Firmen Onno Behrends, Bünting und Wilken Tee. Zwar gibt es auch andere Sorten. Sie gehören aber nicht zu den von alters bekannten und wegen ihrer gleichbleibenden Qualität bevorzugten Sorten in Ostfriesland.

    Wer in Ostfriesland einen Besuch macht, sollte vor allem eine Regel beachten: Tee gibt es zu jeder Tageszeit. Er wird dem Besucher bis zum Abend in den für Ostfriesland typischen kleinen Teetassen gereicht.

    Von einem Kollegen ist mir in den fünfziger Jahren Folgendes berichtet worden:

    Er hatte als Nichtostfriese in der Gegend um Ostrhauderfehn eine Kollegin besucht und wurde von der Mutter mit Tee empfangen. In einem Stövchen brannte ein Teelicht und hielt den Tee in der darauf abgestellten Teekanne warm. Kanne und Tassen waren aus hauchdünnem Porzellan gefertigt und mit dem traditionellen Muster „Ostfriesische Rose" kunstvoll verziert.

    Sobald der Besucher seine Tasse ausgetrunken hatte, wurde ihm nachgeschenkt. Mehrmals sagte er, dass er nun keinen Tee mehr wolle – aber es wurde dennoch ein Kluntje nachgelegt und die Tasse erneut gefüllt. Nachdem mein Kollege, wie er glaubhaft erzählte, seine achte Tasse Tee getrunken hatte und ihm erneut nachgeschenkt wurde, fiel ihm auf, dass außer ihm niemandem in der Runde nachgeschenkt wurde. Er schaute sich unauffällig um und stellte fest, dass seine Tischnachbarn ohne Ausnahme den zierlichen Teelöffel von der Untertasse entfernt und senkrecht in die Obertasse gestellt hatten. Nachdem er die neunte Tasse geleert hatte, machte er es ihnen nach und wartete gespannt auf das Ergebnis. Und tatsächlich: Es wurde ihm kein Tee mehr angeboten.

    Daraus mag nun jeder Besucher Ostfrieslands erkennen, dass selbst ein Lob des köstlichen Tees mit der Bekundung, man wolle keine weitere Tasse mehr, von Gastgebern als reine Höflichkeitsfloskel angesehen und ignoriert wird. Allein das Signal des aufgestellten „Teelepels" mit der ostfriesischen Rose am Stil wird ernst genommen.

    Warum meine Eltern von Holte weggezogen sind und ein Haus in Westrhauderfehn in der 1. Südwieke als Wohnsitz nahmen, ist mir unbekannt. Ich habe die Gründe nie erfahren können. Es ist und bleibt eines der vielen ungelösten Rätsel meines Lebens.

    3 „Holte (462 Einwohner) gehört zum Kirchspiel Rhaude. Freundliches Dorf inmitten prächtiger Wallhecken, auf kleiner Anhöhe (Stauchmoräne) gelegen. Gastwirtschaft Röben. Holte auf dem Heuweg nach N verlassen. An der Stelle des letzten Hofes auf der linken Seite stand einst die Burg des Ortshäuptlings. Der Burggraben ist auf der rechten Seite des Weges noch zu erkennen. Leichter Gelän-deabfall in den Hammrich (Niederungsmoor auf Sand). Nach etwa 1 km links abbiegen in Richtung auf kleine, baumbestandene Höhe, die sich mitten im Hammrich erhebt. Wunderschöner Blick auf Holte und über den Hammrich hin …" (Siebels 1955)

    4 Gemeint ist der Friedhof in Rhaude. In Holte gab es keinen Friedhof.

    5 Es handelt sich um die Vögte Stockstrom: Amtsvogt Johann Enno Stockstrom (gest. 1. 8.1850 in Rhaude) und Gerichtsvogt Michael Friedrich Stockstrom (gest. 19.9.1882 in Rhaude). Beide wurden in Holte geboren. Die Familie Stockstrom nahm dieses Amt über viele Generationen wahr. Die Angaben stammen aus dem Kirchenbuch Rhaude, übermittelt von Wilhelma Heinze.

    6 Die große Anzahl der Gastwirtschaften und Schenken in Holte darf bezweifelt werden. Es gibt keine Belege dafür, obwohl die Zahlen immer wieder genannt werden. Aufgekommen ist diese Angabe durch die Erinnerungen von Pastor Stellwagen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er beklagte sich als Pastor darüber, dass seine „Schäfchen" sich lieber in den Schenken aufhielten als in der Kirche. Eine konkrete Zahl nannte er jedoch nicht. In einer 1955 verfassten Chronik von Holte benennt Wilhelm Korte um das Jahr 1840 nur sieben Gastwirtschaften im Ort und die Namen der Inhaber, gestützt auf Unterlagen aus dem Staatsarchiv Aurich. Für einen kleinen Ort wie Holte war das schon eine beträchtliche Anzahl von Schenken. Die Dörfer in der Umgebung hatten höchstens zwei oder drei Gastwirtschaften. So könnte es eine mögliche Erklärung sein, dass mit der großen Anzahl von Gaststätten nicht ausschließlich der eigentliche Ort Holte gemeint war, sondern die

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