Niemand nimmt dir deine Krone!: Momentaufnahmen
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All dies ist wirklich.
In 25 Porträtgeschichten spiegelt sich pures Leben wider – authentisch, zeitkritisch und emotional berührend. Sie erweitern den Blick für die Menschen um uns und lassen erkennen: Jedem gebührt seine Krone.
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Book preview
Niemand nimmt dir deine Krone! - Patricia Smolka
Patricia Smolka
Niemand nimmt dir deine Krone!
Momentaufnahmen
Impressum
© Telescope Verlag 2018
www.telescope-verlag.de
Vorwort
Montagmorgen, es ist kurz nach Sechs. Ich stehe frierend am Bahnsteig und warte auf den Zug. Eine junge, blondhaarige Frau stellt sich neben mich. Ich sehe: Mit einer Hand umklammert sie ein Metallgestell, das an ihrem Hund befestigt ist. Mit der anderen hält sie ein Handy ganz dicht an ihr Gesicht. Sie ist blind.
Sommerurlaub mit meinem Mann in der Bretagne. Wir sitzen in einem Strandcafè und beobachten einen alten Mann. Er geht mit einem Baguette unter dem Arm langsam auf das Meer zu. Seine Kleidung ist zerschlissen, das Haar verfilzt. Passanten weichen vor ihm zurück. Plötzlich scheint sich der Himmel zu verdunkeln, eine riesige Möwenschar fliegt auf den Alten zu. Die Vögel schnappen kreischend nach den Brotkrumen.
Ich sitze im Zug nach München. Ein Junge mit semmelblonden Haaren lässt sich mir gegenüber in den Sitz fallen. Er blättert in einem kleinen dicken Buch mit einem roten Einband. Es handelt sich um eine Bibel, deren Inhalt er im Kopf hat. Bei einem kurzen Gespräch erfahre ich, dass er im Domspatzenchor Regensburg singt und den Solopart des Klavierkonzertes Nr. 1 b-Moll von Tschaikowski beherrscht. Das Kind ist 11 Jahre alt.
Drei flüchtige Begegnungen. Offene Fragen und Vermutungen blieben.
In mir reifte der Wunsch, mehr über meine Mitmenschen zu erfahren.
Ich traf Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer, die mir freimütig von sich erzählten. Menschen, die nie im Licht der Öffentlichkeit standen. Viele glauben, ihre Geschichte sei nichts Besonderes. Das stimmt nicht: Jeder Mensch ist einzigartig und wertvoll, jede Lebensgeschichte erzählens- und zuhörenswert.
Inzwischen sehe ich die Menschen, denen ich begegne, mit anderen Augen und frage mich: Wie ist deine Geschichte?
Überholspur
Luisa (38 Jahre)
DDR – das liest sich wie ein Autokennzeichen. In dieses Land mit den drei Großbuchstaben wurde ich geboren und erlebte im Alter von zwölf Jahren dessen Ende.
Mein Bruder und ich hatten eine ganz normale Kindheit: Kinderkrippe, Kindergarten, Schule, Schulhort. Schlüsselkinder eben, weil unsere Eltern arbeiteten. Ich konnte einfach nur Kind sein, denn alles war geregelt. In der Schule kümmerten sich die Großen um die Kleinen. Wir machten uns um einen Ausbildungsplatz keine Gedanken. Die Wege waren vom Staat vorbestimmt und jeder lebte sein Leben, ohne große Erwartungen. Ich sorgte mich nie um meine Zukunft. Niemand stürzte ab. Heute habe ich Angst, allein durch einen Park zu gehen. Damals dachten wir nicht darüber nach, ob uns etwas passieren kann. Es gab ja keine bösen Menschen, jeder war nett. Ich ging vom Kindergarten und der Grundschule aus allein nach Hause. Das gehörte zum Großwerden. Ich liebte den Sandmann und Makkaroni mit Wurst und Käse. An einer Losbude konnte man Ketchup gewinnen, den gab es im Konsum nicht zu kaufen. Geträumt habe ich von einem eigenen Kinderzimmer. Aber davon träumten viele meiner Freunde im Neubaublock. Sauer war ich, als die Wende kam und ich nicht mehr das blaue FDJ Hemd anziehen konnte. Ich hätte endlich mein Pionierhalstuch ablegen können. Ein Jahr später wäre es soweit gewesen. Im Sommer 1989 erlebte ich mein letztes Kinderferienlager mit Morgenappell, Nachtwanderung und Lagerfeuer. Alles perfekt organisiert.
Wochen später herrschte Chaos in meiner Kinderwelt. Eine völlige Reizüberflutung: neue, bunte Autos auf den Straßen, Dinge in den Geschäften, die wir noch nie gesehen hatten. Die Menschen um mich herum schienen wahnsinnig zu werden. Mit einem Schlag explodierten die Wünsche der Erwachsenen. Wer Geld gespart hatte, konnte dies jetzt ausgeben und seinen Reichtum zeigen. Das gab es zuvor nicht. Alle wurden völlig verrückt. Als Kind verstand ich die Situation nicht. Ich spürte, dass meine Welt auf dem Kopf stand. Plötzlich gab es tausend Dinge in allen Farben zu kaufen. Meine ruhige Welt, meine Ordnung wurden durcheinandergewirbelt. Freunde, Klassenkameraden zogen mit ihren Eltern weg. Arbeitslosigkeit ließ die ersten abstürzen. Menschen, die das zuvor nicht getan hatten, tranken zu viel Alkohol. Andere nahmen sich das Leben.
Alle wahnsinnig. Höher. Schneller. Weiter.
Doch auch ich veränderte mich. Nach dem Abitur entschied ich mich für eine Lehrausbildung. Bei einem Praktikum in England wurde mir klar, dass ich aus der Kleinstadtenge heraus musste. Keine Firma im Osten übernahm damals ihre Lehrlinge. Arbeitslosigkeit war keine Option für mich. Ich bewarb mich sofort für einen Job als Bürokauffrau in München. Dort suchte man gut ausgebildete Leute. Umzug in ein neues Leben, als meine Eltern mit dem Wohnwagen in Frankreich Urlaub machten. Ich war gerade Zwanzig und auf mich selbst gestellt in dieser riesigen Stadt. Ich kannte keinen Menschen und sprach für die anderen komisch. Und die für mich. In den ersten Monaten fuhr ich jedes Wochenende nach Hause.
Seit 20 Jahren lebe ich in München, bin jetzt hier zu Hause. Freundschaften?
Es gibt Menschen, die ich näher kennenlerne. Wir treffen uns für eine gewisse Zeit und das tut beiden gut. Nach ein paar Jahren geht es nicht mehr. Dieses Busprinzip. Kennst du nicht? Ich stelle mir mein Leben wie eine Busfahrt vor. Ich sitze am Steuer. Menschen steigen ein und fahren ein Stück mit und irgendwann steigen sie wieder aus oder ich schicke sie raus. Und dann sind sie weg und das ist richtig. Manche haben sich auf ihrem Platz eingerichtet. Meine Familie sitzt dauerhaft ganz hinten. Sie ruft immer mal vor und will mir die Richtung vorgeben.
Langjährige Freunde mit festen Sitzplätzen sind kostbar und selten. Wir sind nicht voneinander abhängig, aber wir brauchen uns. Mal schauen, wer noch einsteigt. Wer drin ist und wieder aussteigt.
Ich kann dir nicht sagen, wo mein Bus mich hinbringt. Momentan bin ich eingeschränkt durch meine kleine Tochter. Ich hänge erst mal fest, bin nicht so beweglich, wie ich es gern wäre. Das treibt mich schon um. Was meinst du, warum ich ständig meine Möbel wechsle? Ich habe keine Ruhe.
In München war ich anfangs bei einer Zeitarbeitsfirma angestellt. Kollegen halfen mir im Job und bei der Wohnungssuche.
Dann kam meine Tochter auf die Welt. Ich konnte nicht einfach zu Hause bleiben und dem Kind beim Schlafen zusehen. Abends jobbte ich im Kino und in Gaststätten. Ein ehemaliger Kollege bot mir an, zwanzig Stunden in der Woche Büroarbeiten für ihn zu erledigen. Wir brauchten den Zuverdienst, Erziehungsgeld gab es erst Jahre später. Der schmale Verdienst meines Partners und das Kindergeld reichten gerade so für die Miete. Ich nahm 50 Euro in die Hand und meldete ein Gewerbe an. Häufig arbeitete ich von zu Hause aus. Das Ganze nahm eine Eigendynamik an, die ich weder stoppen konnte noch wollte. Ich wurde weiterempfohlen. Ein Netzwerk entstand und funktionierte.
Seit zehn Jahren bin ich selbstständig, Inhaberin einer GmbH. Ich bestimme selbst, was ich tue, wo, wann und mit wem. Meine Horrorvorstellung ist ein Großraumbüro mit festen Arbeitszeiten. Ringsum nur Weiber. Ständige Vergleiche: Gewicht, Körbchengröße, Haare, Falten. Höher, schneller, weiter als die andere.
Ich bin die einzige Frau in einem Männerteam, trete züchtig auf, immer im Kostüm. Mein Rock endet eine Handbreit unter dem Knie. Ganz bewusst spiele ich die Fraukarte aus. Niemals gebe ich vor, alles zu wissen. Männer funktionieren so, dass sie dir helfen möchten. Ein uralter Beschützerinstinkt. Sie erklären gern, ich lobe die guten Ideen. Letztendlich machen sie dann genau das, was ich geplant habe. Die IT- Branche ist eine Männerdomäne und doch bin ich auf Augenhöhe mit ihnen. Eine Drachenlady kann in so einem Umfeld nur scheitern. Die Jungs werden gegen sie arbeiten. Sexuelle Anzüglichkeiten gibt es immer wieder. Ich bemerke relativ spät, wenn meine Freundlichkeit fehlinterpretiert wird. Das macht mich vorsichtig. Aber es ist trotzdem traurig, wenn Freundlichkeit mit Flirten verwechselt wird.
Manchmal wird es laut, wenn der Druck zu hoch ist. Es gibt Tage, an denen ich die ganze Zeit schimpfe. Und es gibt Tage, da sagen meine Kollegen: „Mädel, fahre nach Hause und mache das Handy aus." Ich bin an meiner Belastungsgrenze und merke es selbst nicht. Und doch könnte ich mir nicht vorstellen, etwas anderes zu machen.
Entspannung finde ich beim Laufen. Manchmal stellt mir meine Tochter die Turnschuhe wortlos hin. Ich laufe alles heraus. Ab dem dritten Kilometer zählt nur noch der nächste Schritt. Nichts weiter. Ich dusche und bin wie neu.
Meine Tochter ging in die Kinderkrippe. Völlig normal. Dachte ich. Aber im anderen Deutschland bleibst du als gute Mutter zu Hause und sorgst für dein Kind. Am besten, bis es 18 Jahre alt ist. Die Kindereinrichtung bot Betreuung bis 17.00 Uhr an. Dies wollte ich nutzen, weil ich Vollzeit arbeitete und es spät werden konnte. Eine Erzieherin fragte mich, ob ich mein Kind nur bekommen habe, um es abzugeben.
Diejenigen Mütter, die damals das größte Unverständnis zeigten, sitzen heute immer noch zu Hause und warten, bis ihr Kind aus der Schule heimkommt. Das ist das größte Ereignis des Tages. Mensch Mädels! Abitur, Studium, Berufsausbildung- wofür? Ihr projiziert euer eigenes Leben auf das eurer Kinder und definiert euch über sie. Und da rede ich noch nicht mal über die finanzielle Abhängigkeit vom eigenen Mann. Mir würde es schwerfallen, mit einer Helikoptermutter befreundet zu sein. Worüber will ich da reden? Sie verweichlicht ihre Kinder. Ihre Halbwüchsigen wissen doch gar nicht, wie ein Bus von innen aussieht, kennen das System von U- und S- Bahn nicht.
Der Vater meines Kindes ist im Westen Deutschlands groß geworden. Unsere Vorstellungen von Kindererziehung sind so unterschiedlich, dass wir ständig aneinandergerieten. Wir trennten uns.
Meine Tochter weiß, dass ich auch nach dem Abendessen noch am Computer sitze, um unser Leben zu finanzieren. Neulich meinte sie: „Mama, warum musst du so viel arbeiten? Da fahren wir einmal weniger in den Urlaub." Irgendwann wird sie verstehen, dass es nicht nur um das Geldverdienen geht. Dass man das für sich selbst braucht: andere Menschen kennenlernen, rauskommen, denken müssen. Nur deswegen kann ich zu Hause entspannt sein.
Meine zehnjährige Tochter ist ein Hans - Guck - in - die Luft - Kind und hat sich zu Hause schon ausgesperrt. Ich kann sie vor solchen Situationen nicht bewahren. Sie muss sich selbst helfen können. Problemlos würde sie allein nach Hause finden, wenn sie sich verlaufen hat. Zum Gitarrenunterricht in den Nachbarort fährt sie mit dem Bus. Andere Kinder werden mit dem Auto gebracht und die gute Mutti wartet eine Stunde, bis sie ihr Kind zurückfahren darf. Ich bin eine schlechte Mutter, denn ich erziehe mein Kind zur Selbstständigkeit.
Nie möchte ich im Streit mit meinem Kind abends ins Bett gehen. Die Dinge müssen vorher geklärt sein. Wir haben nicht viel Zeit miteinander, aber die nutzen wir intensiv. Zusammen Kochen, auf dem Küchenboden sitzen und reden. Sie darf immer ihre Freunde mit nach Hause bringen. Es übernachtet ständig jemand bei uns. Ich möchte, dass meine Tochter geerdet bleibt. Sie neigt dazu, den Kopf in rosa Wolken zu haben. Sie soll die Füße auf dem Boden behalten und Grenzen akzeptieren.
Klar bin ich in der Elternvertretung der Schule. Es muss ja jemand Verantwortung übernehmen, andere halten sich da heraus. Sie sehen nur das eigene Kind. Man könnte ja, ich würde ja – immer diese unverbindlichen Konjunktive. Dann mache doch! Ein befreundetes Ehepaar aus Leipzig denkt genauso. Wir haben einfach andere Werte in der Erziehung unserer Kinder.
Meine Kollegen wissen, dass ich aus dem Osten komme. Ich bin nicht die Einzige. Mit ehemaligen DDR-Kindern in meinem Arbeitsumfeld habe ich eine besondere Verbindung. Das ist schwer zu erklären. Ein Sympathiebonus. Es gibt jemanden, der kommt von dort, wo ich geboren wurde. Ein Grundzusammenhalt ist in dem Moment vorhanden, wenn beide es wissen. Wir haben dieselbe Vergangenheit.
Mein Kind ist jetzt fast so alt wie ich, als die Mauer fiel. Das Geradeaus, das Organisierte im sozialistischen Teil Deutschlands kam meinem Naturell entgegen. Ich war aufgeräumt und behütet. Mir konnte nichts passieren. Wir kamen vom Spielen heim, wenn die Glocken läuteten oder die Laternen angingen. Das hat sich so verändert! Wir müssen unsere Kinder heute ganz anders einstellen: Sprich nicht mit Fremden. Sei vorsichtig. Ohne Handy schicke ich mein Kind nicht mal um die Ecke. Ich kann es nicht allein mit der Fernbedienung vor den Fernseher setzen.
Meine Kleine besuchte einen katholischen Kindergarten und bringt gute Noten im Fach Religion heim. Sie soll selbst entscheiden, ob sie sich taufen lassen möchte. Ich glaube nicht an Gott. Aber ich glaube daran, dass es etwas gibt, das wir nicht begreifen können. Ich war fünfzehn und gerade dabei, in ein Auto zu laufen. Das hätte mich aufgegabelt, es wäre vorbei gewesen. Plötzlich glaubte ich die laute Stimme meiner längst verstorbenen Großmutter zu hören: „Mädel, bleib stehen!" Ich erschrak mich furchtbar und blieb stehen. Totalschaden im letzten Moment abgewendet.
Es gibt heute viele Freiheiten, welche die Menschen überfordern. Manche wissen nicht, wo sie andocken sollen. Jeder braucht doch seinen Fixpunkt. Wer nicht gefestigt ist, bewegt sich wie ein Blatt im Wind. Er wird in alle Richtungen gezogen und weiß nicht, wo er hingehört. Manche stürzen ab.
Als ich noch fest in einer Firma angestellt war, sah ich auf dem Weg zur Arbeit immer an der gleichen Stelle der Maximilianstraße einen Penner sitzen. An dem musste ich vorbei. Er sah nicht verwahrlost aus. Irgendwann grüßten wir uns. Er bat mich um Geld, das gebe ich nie. Aber ich brachte ihm eine Brezel und einen Kaffee mit. Wir unterhielten uns. Ich erfuhr, dass er mit seiner Scheidung nicht nur seine Familie und seine materiellen Güter verlor, sondern jeglichen Halt. Vom Hauseigentümer zum arbeitslosen, später obdachlosen Menschen. Höflich, gebildet, sauber. Vom erbettelten Geld gönnte er sich jeden zweiten Tag eine Dusche im Hauptbahnhof. Über Wochen holte ich zwei Kaffee und zwei Brezeln. Der Bäckermann war neugierig. Ich erzählte ihm, wem ich das Frühstück mitbrachte. Mein Sommerurlaub stand bevor. Ich bezahlte im Voraus für zwei Wochen Kaffee und Brezeln für meinen Bekannten und stellte ihn im Geschäft vor. Als ich zurückkam, saß er nicht mehr an seinem Platz auf dem Fußweg. Ich weiß nicht, was passiert ist. Wir haben uns nie wiedergesehen. Aber ich halte an der Hoffnung fest, dass er den Absprung geschafft hat und wieder glücklich ist. Wahrscheinlich sieht die Realität anders aus, aber die möchte ich nicht sehen. Er war ein Penner; er gehörte zu den Menschen, an denen man achtlos oder gar verächtlich vorbeigeht. Mich hat diese Begegnung geprägt. Ich sehe diese Menschen mit anderen Augen und frage mich: Wie ist deine Geschichte?
Wir leben heute im Überfluss und wissen das oft nicht zu schätzen. Das finde ich schade. Höher, schneller, weiter- das macht die Menschen zu Gewinnern oder Verlierern. Eine Mischung der Werte wäre toll: Auf andere zu achten, Respekt und Rücksichtnahme, gepaart mit Freiheit. Nach rechts und links zu