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Dunkles Wasser - Heller Mond: Das Leben des Philosophen Li Zhuowu
Dunkles Wasser - Heller Mond: Das Leben des Philosophen Li Zhuowu
Dunkles Wasser - Heller Mond: Das Leben des Philosophen Li Zhuowu
Ebook440 pages6 hours

Dunkles Wasser - Heller Mond: Das Leben des Philosophen Li Zhuowu

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About this ebook

Die Handlung des Romans spielt in China im 16. Jahrhundert während der Ming-Zeit (1368-1644). Geschildert wird, wie Li Zhuowu von einem mehr oder weniger angepassten Mitglied der Gesellschaft zu einem radikalen Außenseiter wird, der eine Karriere im Staatsdienst aufgibt und schließlich, nach mehreren Schicksalsschlägen, die ihn fast zerstören, seine Familie verlässt und seinen eigenen Weg geht. Dieser Schritt markiert seine Entwicklung zu einem konsequent individualistischen und kritischen Denker, der die als orthodox geltende Strömung innerhalb des Konfuzianismus und ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit rigoros ablehnt und attackiert. Zugleich prangert er die übliche Glorifizierung geistiger Autoritäten im Konfuzianismus an und betont, dass der Maßstab für das richtige Denken und Handeln in jedem einzelnen Menschen natürlich vorhanden ist und schließlich auch nur dort individuell gefunden werden kann. Beeinflusst wird er in seinem Denken von buddhistischen, daoistischen und vor allem konfuzianischen Strömungen, die im Gegensatz zur Orthodoxie stehen. Außergewöhnlich und seiner Zeit weit voraus sind auch seine Vorstellungen zur Bedeutung und Rolle der Frau, die im patriarchalischen Denken des konfuzianischen China und seiner festgefügten patriarchalischen Gesellschaftsordnung ausgesprochen provokativ wirken. Der Roman beschreibt, wie Li Zhuowu immer wieder aufgrund seiner Lehren und seiner Haltung in Konflikt mit konfuzianischen Gelehrten und den von konfuzianischen Beamten geführten staatlichen Behörden gerät, bis er schließlich als für Staat und Gesellschaft gefährlicher Ketzer angeklagt wird und seinem Leben auf dramatische Weise im Gefängnis selbst ein Ende setzt.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateFeb 25, 2022
ISBN9783754186251
Dunkles Wasser - Heller Mond: Das Leben des Philosophen Li Zhuowu

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    Book preview

    Dunkles Wasser - Heller Mond - Wolfgang Ommerborn

    Vorbemerkung

    Dieser Roman wurde von dem außergewöhnlichen, durch Höhen und Tiefen geprägten Leben des in der Ming-Zeit (1368-1644) wirkenden chinesischen Philosophen Li Zhi (1527-1602) inspiriert, der hier unter seinem Pseudonym Li Zhuowu in Erscheinung tritt. In seinem Leben und Denken spiegelt sich der Konflikt und die Zerrissenheit zwischen den konventionellen Verpflichtungen gegenüber der Familie, der Gesellschaft und dem Staat einerseits und dem Drang nach konsequenter Selbstverwirklichung des Einzelnen andererseits im Kontext des vorherrschenden konfuzianischen Systems in aller Deutlichkeit wider.

    Li Zhuowu war ein individualistischer und kritischer Denker, der die zu seiner Zeit als orthodox geltende und das Geistes- und Gesellschaftsleben dominierende Strömung innerhalb des Konfuzianismus und ihre zeitgenössischen Anhänger mit scharfer Zunge attackierte. Zwar hatte auch er eine traditionelle konfuzianische Ausbildung durchlaufen, sogar Ämter in der staatlichen Administration ausgeübt, sympathisierte aber gleichzeitig mit buddhistischen und daoistischen Vorstellungen. Den herrschenden Dogmatismus und seinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit lehnte er rigoros ab. Zugleich prangerte er die Glorifizierung geistiger Autoritäten an, von denen behauptet wurde, dass nur sie den Weg zur Wahrheit aufzeigen würden. Li Zhuowu betonte hingegen, dass der Maßstab für das richtige Denken und Handeln in jedem einzelnen Menschen natürlich vorhanden ist und schließlich auch nur dort individuell gefunden werden kann. Beeinflusst wurde er dabei auch von konfuzianischen Strömungen, die im Gegensatz zur Orthodoxie standen und darum vielfach als ketzerisch inkriminiert wurden. Außergewöhnlich und seiner Zeit weit voraus waren zudem seine Vorstellungen zur Bedeutung und Rolle der Frau, die im patriarchalischen Denken des konfuzianischen China und seiner festgefügten patriarchalischen Gesellschaftsordnung ausgesprochen provokativ wirkten. Immer wieder geriet er aufgrund seiner Lehren und seiner Haltung in Konflikt mit konfuzianischen Gelehrten und den von konfuzianischen Beamten geführten staatlichen Behörden. Als für Staat und Gesellschaft gefährlicher Ketzer angefeindet und angeklagt, endete sein Leben schließlich auf dramatische Weise in einem Gefängnis der kaiserlichen Hauptstadt Beijing.

    Der Roman stellt keine exakte Biographie Li Zhuowus dar. Er folgt wichtigen und charakteristischen Phasen und Begebenheiten seines Lebens, wobei Phasen und Begebenheiten, die für die Handlung dieses Romans nicht relevant oder von sekundärer Bedeutung sind, ausgeklammert bleiben. Die authentischen Ereignisse, die geschildert werden, sind durch Biographien über Li Zhuowu bzw. seine Autobiographie oder andere, meist von Zeitgenossen vorgenommene Beschreibungen dokumentiert, wie z.B. die Schicksalsschläge innerhalb seiner Familie oder der Bruch mit seiner Frau und Tochter, wiederum andere sind Fiktion, wie z.B. die Begegnung mit den Piraten oder seine Liebesbeziehung zu einer jüngeren Frau. Aber auch die fiktiven Darstellungen orientieren sich nach Möglichkeit an die den Quellentexten zu entnehmenden Angaben hinsichtlich der Charaktereigenschaften und der Lebensweise dieses Mannes.

    Kapitel 1: Prolog

    Die Verhaftung

    逮捕

    Zeit des Frühlingsfests im 30. Jahr der Regierung des Kaisers Wanli (Anfang Februar 1602).

    Die beiden Männer betraten vom dunklen Hof kommend das einstöckige Gebäude, gingen in einen gedämpft beleuchteten Raum und ließen sich einander gegenüber an einem flachen Tisch nieder. Ein Krug mit warmem Reiswein und zwei Becher standen bereit. Der Raum bestand vor allem aus Regalen, die mit dicht aneinandergereihten oder übereinandergestapelten Büchern und Dokumenten vollgestopft waren. Die Regale, ebenso wie die anderen Möbel, zwei Tische, Stühle und ein mit kunstvollen Schnitzereien verzierter offener Schrank, in dem eine Sammlung kostbarer Jadefiguren den Blick auf sich zog, waren aus rötlich-dunklem Rosenholz. An den Wänden hingen Rollbilder mit Kalligraphien und Landschaftsmalereien. Letztere zeigten steil emporragende und wolkenverhangene Berge, Wasserfälle, die von Bergwänden in einen See hinabstürzten, bizarr und knorrig geformte Bäume, wilde Felsformationen, winzige Menschen, die in den gewaltigen Naturszenen verloren wirkten, und Vögel, die am weiten Himmel davonflogen. Vor einem der holzvergitterten Fenster standen zwei große Keramikvasen mit blauen Drachen- und Wolkenmustern auf weißem Hintergrund. Die Männer nippten an ihren Trinkschalen. Der warme Wein tat ihnen gut, denn als sie den breiten Hof durchquert hatten, war ihnen ein eisig schneidender Wind entgegengeschlagen. Und der Ofen, der in einer Ecke stand, war erst kurz vorher von einem Diener angezündet worden. Es war darum noch kühl in dem Raum.

    Der eine der beiden Männer hieß Li Zhuowu. Er wurde in diesem Jahr fünfundsiebzig Jahre alt und machte einen erschöpften und gebrechlichen Eindruck. Obwohl von großer Gestalt, wirkte er klein, so gebeugt und zusammengekauert hockte er vor seinem Becher. Sein ernstes, von einem bewegten Leben gezeichnetes Gesicht war aschfahl, der Kopf kahlgeschoren. Er sah hager aus, wie ein asketischer buddhistischer Mönch. Aber in seinen Augen konnte man noch das Feuer ahnen, das ihn einmal erfüllt und angetrieben haben musste. Der andere war etwas mehr als zehn Jahre jünger. Er hieß Jiao Ruohou, war von untersetzter Gestalt, mit einem glatten runden Gesicht, und hatte lange als Beamter im Personalministerium in der kaiserlichen Zentralregierung gearbeitet, bis er vor einem Jahr auf eigenen Wunsch in den Ruhestand getreten war. Das Haus, in dem sich die beiden Männer aufhielten, gehörte ihm. Es lag in Tongzhou, einer Stadt östlich der Hauptstadt, die das nördliche Ende des Kaiserkanals markierte.

    „Geht es dir jetzt wirklich besser, Zhuowu?" fragte Ruohou seinen Freund.

    „Wie ich dir schon gesagt habe, ich fühle mich noch immer müde. Aber ich spüre, dass es besser wird. In der letzten Nacht habe ich zum ersten Mal seit langem gut schlafen können."

    Gestern war er am späten Nachmittag in Tongzhou angekommen, nachdem er mehrere Monate unterwegs gewesen war. Die Reise in den Norden im Winter erwies sich als äußerst strapaziös und schwierig. Doch er hatte keine andere Wahl gehabt.

    „Du hast es hierher geschafft, bemerkte Jiao Ruohou, „wir können davon ausgehen, dass du bei mir in Sicherheit bist. Die Behörden werden nicht erfahren, dass du dich hier versteckst.

    „Hoffen wir es, erwiderte Li Zhuowu, „du weißt, in Macheng konnte ich nicht mehr bleiben, nachdem die Kreisbehörde dort herausgefunden hatte, wo ich mich die letzten Jahre verborgen gehalten habe. Sie standen kurz davor, mich zu verhaften. Es war wirklich knapp.

    „Darum ist es auch gut, dass du jetzt hier bist, auch wenn die Reise für dich sehr anstrengend war."

    „Manchmal habe ich geglaubt, dass ich es nicht schaffen würde."

    „Aber das hast du. Und den ganzen Weg über bist du nicht entdeckt worden."

    Li Zhuowu nickte.

    „Bestimmt, fuhr Jiao Ruohou fort, „vermutet dich keiner in der Nähe der Hauptstadt. Dass du dich direkt neben der Tigerhöhle eingenistet hast, darauf wird keiner der Zensoren kommen.

    „Da magst du Recht haben", stimmte Li Zhuowu mit schwachem Lächeln zu.

    Er war in seinem Leben immer wieder in Konflikt mit den Behörden geraten, doch er war noch nie im Gefängnis gewesen. Und das wollte er auch jetzt nicht. Der Gedanke, in einem schmutzigen dunklen Loch zu enden, gedemütigt und gequält von den Schergen des Zensorats, war für ihn unerträglich.

    „Weißt du, Rouhou, wenn es mir unterwegs besonders schlecht ging und ich dachte, dass ich es nicht mehr nach Tongzhou schaffen würde, habe ich mir, um meine Angst und Verzweiflung zu überwinden, gesagt, dass es immer noch besser sein würde, in der Fremde zu sterben und irgendwo in der Wildnis zu verrotten und von Krähen gefressen zu werden, als in einem der Gefängnisse der kaiserlichen Behörden eingesperrt zu sein und dort zugrunde zu gehen."

    Jiao Ruohou betrachtete seinen Freund nachdenklich. Er spürte, wie deprimiert und wie müde vom Leben Li Zhouwu war. Er hat so viel verloren, dachte er, so viele Schicksalsschläge ertragen müssen, aber immer wieder gekämpft, ist immer wieder aufgestanden, hat sich nicht angepasst und ist sich selbst, trotz aller Anfeindungen und Schwierigkeiten, treu geblieben und hat sich nicht beugen lassen. Und jetzt ist nur noch wenig Lebenskraft in ihm. Das machte Jiao Ruohou traurig. Aber er nahm sich vor, seinem Freund so gut es ging dabei zu helfen, wieder Lebensmut zu gewinnen. Wenn er erst einmal einige Zeit hier bei mir gewesen ist, so hoffte er, wird es ihm besser gehen.

    Vier Tage später wurde am Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, heftig an das Tor von Jiao Ruohous Haus geklopft. Als ein Diener das Tor öffnete, wurde er von einem Soldaten unsanft zur Seite geschoben. In dem langen mit Stickereien versehenen roten Gewand, dem schwarzen Gürtel, der schwarzen Kappe und dem Krummschwert war dieser als Offizier der Garde in Brokatkleidern zu erkennen, die zur Geheimpolizei des Hofes gehörte. Er und seine mit Lanzen bewaffneten Männer drangen in das Anwesen ein.

    „Wo ist Li Zhuowu?" rief der Offizier in barschem Ton, als sie in einem größeren Hof angekommen waren.

    Inzwischen waren mehrere Diener herbeigeeilt, auch Jiao Ruohou kam aus einem der angrenzenden Gebäude heraus, um zu sehen, was es mit dem Lärm auf sich hatte.

    „Was ist los?" fragte er den Offizier.

    „Seid Ihr der Besitzer dieses Anwesens?"

    „Der bin ich."

    „Wir haben gehört, dass Ihr einen gewissen Li Zhuowu beherbergt. Wir haben den Auftrag, ihn zu verhaften."

    In diesem Moment trat Li Zhuowu in den Hof, um zu sehen, was vor sich ging. Als Ruohou den Freund bemerkte, wurde er bleich vor Schreck und versuchte, diesem ein Zeichen zu geben, dass er sich entfernen sollte. Dem Offizier, der den Ankömmling ebenfalls erblickt hatte, blieb Ruohous Reaktion nicht verborgen.

    „Das muss er sein, rief er seinen Männern zu, während er auf Li Zhuowu zeigte, „ergreift ihn.

    Jiao Ruohou lief zu seinem Freund und stellte sich schützend vor ihn.

    „Geht zur Seite, befahl der Offizier, „von Euch wollen wir nichts. Unser Auftrag heißt, den Ketzer Li Zhuowu zu verhaften.

    Zwei der Gardisten schoben Jiao Ruohou zur Seite, die anderen packten Li Zhuowu, der sich widerstandslos festnehmen ließ. Dann wurde er abgeführt.

    „Ich will mitkommen", rief Jiao Ruohou dem Offizier hinterher.

    „Das geht nicht", erwidert dieser.

    „Wo wird er hingebracht?"

    Der Offizier antwortete nicht und verließ mit seinen Männern das Anwesen.

    Jiao Ruohou stand, umgeben von den aufgeregten Dienern und Dienerinnen, ratlos im Hof. Er wollte nicht glauben, was gerade geschehen war. Woher wussten die Behörden, dass Zhuowu sich bei mir versteckt hält? fragte er sich. Er sah seine Angestellten mit strengem und prüfendem Blick an.

    „Hat einer von euch meinen Freund Li Zhuowu verraten?" fragte er mit grimmiger Stimme.

    Alle schüttelten verängstigt den Kopf.

    „Nein, Herr, das haben wir bestimmt nicht. Ihr habt uns doch befohlen, nichts darüber nach außen dringen zu lassen. Daran haben wir uns gehalten", antwortete der Älteste unter ihnen, der schon seit drei Jahrzehnten im Haus der Familie Jiao beschäftigt war und dessen Loyalität außer Zweifel stand.

    „Kannst du dich für alle, die hier arbeiten, verbürgen?" wollte Jiao Ruohou wissen.

    Der alte Diener sah seinen Herrn unsicher an.

    „Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von ihnen das getan haben soll .... Ich kenne sie doch alle …", erwiderte er stotternd.

    Doch am nächsten Tag erfuhr Jiao Ruohou, nachdem er von einer Besorgung in der Stadt nach Hause zurückgekehrt war, von einer Dienerin, dass ein jüngerer Diener für eine hohe Belohnung den Behörden den Aufenthaltsort von Li Zhuowu verraten hatte.

    „Er hat es mir selbst heute Morgen erzählt, Herr, um damit vor mir zu prahlen und Eindruck zu machen, sagte sie empört, „ich wollte Euch das gleich melden, aber Ihr wart nicht im Haus.

    Jiao Ruohou war außer sich und wollte den Verräter zur Rede stellen und bestrafen. Nachdem dem Diener aber klar geworden war, dass die Dienerin zu ihrem Herrn laufen würde, um diesen von seinem Verrat in Kenntnis zu setzen, hatte er umgehend das Anwesen verlassen und war verschwunden. Vergeblich versuchte Jiao Ruohou in den nächsten Tagen seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen.

    Kapitel 2: Die Jahre 1536-1552

    Vater und Sohn

    父子

    Frühsommer im 15. Jahr der Regierung des Kaisers Jiajing (1536).

    Li Baizhai betrachtete liebevoll seinen Sohn. Zhuowu war neun Jahre alt, ein hochgewachsener schlanker Junge mit feinen Gesichtszügen und wachen Augen. Er hockte an seinem kleinen Schreibtisch, vor ihm ein aufgeschlagenes Buch und ein Heft mit Notizen. Seit seinem fünften Lebensjahr hatte sein Vater, ein Akademiker mit dem Grad eines Shengyuan, der als Lehrer arbeitete, damit angefangen, ihn zu Hause zu unterrichten. Der Junge lernte erstaunlich schnell. Schon nach zwei Jahren fing er an, die wichtigsten konfuzianischen Texte zu lesen. Jetzt konnte er zahlreiche Stellen daraus aus dem Gedächtnis rezitieren. Er schrieb kleine Aufsätze zu Themen, die ihm sein Vater stellte, und er übte sich in Kalligraphie und im Gedichteschreiben. Bei all dem zeigte er ein außergewöhnliches Talent. Sein Vater war stolz auf ihn. Zhuowu war aber auch eigensinnig. Wenn er nicht lernen wollte, konnte ihn nichts dazu bringen, ein Buch aufzuschlagen oder eine Zeile zu schreiben. Li Baizhai akzeptierte das. Er ließ ihn dann nach draußen, auf die Straße oder in den nahegelegenen Park. Dort konnte Zhuowu sich frei bewegen und seine große Neugier auf all das befriedigen, was er entdeckte und ihn interessierte. In den Straßen faszinierten ihn die geschäftstüchtigen Straßenhändler, die lautschreiend und hartnäckig jedem, der sich ihnen näherte, ihre Waren feilboten, oder die in Lumpen gehüllten Bettler mit ihren ausgemergelten Gesichtern, die im Staub der Straße hockten und den Vorübergehenden die schmutzigen dürren Hände entgegenstreckten. Ihn interessierten die Tagelöhner, die gebeugt von Traglasten durch die Straßen eilten oder mühsam vollbeladene Karren hinter sich herzogen und sich mit warnenden Rufen einen Weg durch die Menge bahnten. Manchmal gab es auch besondere Ereignisse. Zum Beispiel, wenn ein langer Trauerzug vorbeizog, mit den dem Sarg folgenden professionellen Klagerufeschreiern, die es Zhuowu immer besonders angetan hatten, weil ihr herzergreifendes Jammern und Zetern die ganze Straße erfüllte und alle anderen Geräusche erstickte. Oder es tauchte ein Trupp bewaffneter Soldaten auf, die martialisch mit Waffen und Uniformen hoch erhobenen Hauptes auf nervös tänzelnden und wiehernden Pferden vorbeiritten. Zugleich ängstigten ihn aber der Lärm und die vielen Menschen. Er hielt sich immer versteckt, hinter einem Baum oder einer Mauer, wenn er das Treiben beobachtete. Die Menschenansammlungen, auf die er in den Gassen und Straßen seiner Heimatstadt traf, betrachtete er lieber aus einer sicheren Distanz. Kam ihm in seinem Versteck jemand zu nahe, lief er sofort davon. Oft suchte er aber auch die Ruhe und Abgeschiedenheit und zog sich in den Park zurück, der nur zwei Straßen von dem Haus seines Vaters entfernt lag. Die Anlage war alt und vernachlässigt und mittlerweile völlig verwildert. Schon seit Jahren kümmerte sich niemand mehr um sie. Zhuowu mochte diesen Ort. Dort war er allein, nur wenige Menschen verirrten sich dorthin. Er lauschte dem Gesang der Vögel in den Bäumen oder folgte mit angestrengtem Blick ihrem Flug am weiten Himmel so lange, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Er beobachtete die vielen herumschwirrenden und herumkrabbelnden Insekten, in ihren bizarren Gestalten, betrachtete die wild wachsenden und in allen Farben leuchtenden Blumen und die üppig wuchernden Sträucher und Bäume, deren Namen er häufig kannte. Stundenlang konnte er auf einer verwitterten Steinbank oder einem moosbedeckten Felsen sitzen, versunken in den Anblick der Pflanzen und Tiere, eingehüllt in die geheimnisvolle Atmosphäre des alten Parks, der dann nur ihm gehörte. Wenn Zhuowu von seinen Ausflügen nach Hause zurückkehrte, setzte er sich meist unaufgefordert an seinen kleinen Tisch und war wieder ein eifriger und gelehriger Schüler.

    An diesem Tag wollte Li Baizhai im Unterricht über das Prinzip der Pietät sprechen.

    „Du weißt", hatte er am Tag zuvor zu seinem Sohn gesagt, „dass für Konfuzius die Pietät eines der wichtigsten moralischen Prinzipien ist. Versuche darum bis morgen in den Gesprächen des Konfuzius Stellen zu finden, in denen dieses Prinzip besprochen wird."

    Als er nun Zhuowu nach den Stellen abfragte, stellte er fest, dass dieser ihm alle aufzählen und die Inhalte wortwörtlich wiedergeben konnte.

    „Gut, sagte der Vater mit einem Lächeln, „jetzt hast du wiederholt, was du gelesen hast, und es wie ein Papagei nachgeplappert.

    „Ich bin kein Papagei, rief Zhuowu entrüstet, „und wenn ich einer bin, Baba, dann musst du auch einer sein.

    Li Baizhai konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

    „Gut pariert, mein Sohn, sagte er, „dann sind wie eben beide Papageien ... Oder sind wir vielleicht doch etwas mehr? Zeig mir, dass du kein Papagei bist. Sag mir, was hältst du von dem, was Konfuzius zur Pietät sagt?

    Zhuowu sah den Vater mit seinen wachen Augen an.

    „Konfuzius sagt, dass Pietät die Wurzel der Menschlichkeit ist. Ich kann nur dann ein guter Mensch werden, wenn ich dich, Baba, achte und liebe."

    „Das ist gut gesagt. Und, achtest und liebst du mich?"

    Der Junge nickte eifrig.

    „Ja, das tu ich. Du bist mein Baba. Du sorgst für mich und hast mir schon viel beigebracht."

    „Nun, das ist ja ein schönes Kompliment ... Und wie kannst du mir zeigen, dass du mich achtest und liebst?"

    „Ich lerne fleißig und mache dir keinen Ärger."

    Li Baizahi lächelte.

    „Soso, das meinst du also."

    „Stimmt das etwa nicht?"

    Zhuowu sah seinen Vater mit fragenden Augen an.

    „Ich will mich nicht beklagen, beruhigte ihn Li Baizhai schmunzelnd, „aber sagt Konfuzius nicht auch, dass der Sohn dem Vater dienen und sich seinem Willen fügen muss?

    „Was heißt das, dass der Sohn sich seinem Willen fügen muss?"

    „Konfuzius sagt, der Sohn soll, wenn er seinem Vater dient, das tun, was dieser von ihm verlangt, und zwar ohne Murren und ohne Widerrede."

    „Er soll alles machen, was ihm der Vater sagt? Und wenn der Vater etwas von ihm will, das falsch ist, muss er das dann auch machen?"

    „Hör einmal zu, Zhuowu, was der berühmte Sima Guang dazu gesagt hat: ‚Dem Befehl des Vaters wagt der Sohn niemals zu widersprechen. Wenn der Vater dem Sohn sagt, er soll vorwärts gehen, dann geht er vorwärts. Wenn der Vater dem Sohn sagt, er soll stehen bleiben, dann bleibt er stehen. Gehorcht ein Sohn dem Befehl des Vaters nicht, dann ist er ohne Pietät und muss bestraft werden.‘"

    Zhuowu sah seinen Vater angestrengt an.

    „Baba, manchmal willst du etwas von mir, was ich nicht möchte. Und dann mach ich das auch nicht …"

    „Ja, das ist mir auch schon aufgefallen", bemerkte Li Baizhai und versuchte, ein strenges Gesicht zu machen.

    „Bin ich darum kein pietätvoller Sohn?" fragte Zhuowu verunsichert und machte ein gequältes Gesicht.

    „Oh doch, Zhuowu, das bist du, beruhigte ihn der Vater, „du bist genau der Sohn, den ich mir gewünscht habe.

    Li Baizhai fuhr mit seiner Hand zärtlich durch das Haar des Jungen, der sich sofort an seinen Vater schmiegte und ihn erleichtert anschaute.

    „So, mein pietätvoller Sohn, möchtest du jetzt nicht lieber aufhören und draußen etwas unternehmen?"

    Zhuowu ließ sich das nicht zweimal sagen. Ohne ein Wort zu erwidern, sprang er wie ein freigelassener Grashüpfer von seinem Stuhl auf, ließ alles liegen und rannte freudestrahlend und voller Entdeckerdrang aus dem Zimmer.

    Fuzhou

    福州

    Frühjahr im 31. Jahr der Regierung des Kaisers Jiajing (1552).

    Als Zhuowu das Gasthaus Phönix und Drache in einer kleinen Seitengasse gefunden hatte, atmete er erleichtert auf. Er stand vor einem einfachen zweistöckigen Gebäude mit schlichtem Satteldach aus graugebrannten Tonziegeln, das aber ordentlich und sauber aussah. Ein Freund der Familie, der öfter in die Provinzhauptstadt reiste, hatte es ihm empfohlen. Er war froh, sich nach seiner Reise endlich ausruhen zu können. Kurz hielt er noch inne. Die Menschen, die vorbeigingen oder sich in den kleinen Geschäften und Werkstätten neben und gegenüber dem Gasthaus aufhielten, betrachteten ihn neugierig. Mit seinen fünfundzwanzig Jahren war er von großer Statur, eine beeindruckende Erscheinung. Das bartlose helle Gesicht war fein geschnitten und drückte Entschlossenheit aus. Das dichte lange Haar hatte er unter einer schwarzen Kappe zusammengesteckt. Seine Augen leuchteten wach und aufmerksam. Von ihm ging etwas Besonderes aus, das denjenigen, die ihn sahen, nicht verborgen blieb.

    Als er den Schankraum des Gasthauses betrat, richteten sich die Blicke der wenigen Gäste auf ihn. Es waren einfache Leute, Handwerker, Straßenhändler oder Tagelöhner. Ihre Stimmen verstummten für einen Moment. Als er in die Runde schaute, wandten einige verlegen die Augen von ihm ab. Andere tuschelten miteinander. Hinter einem großen Tisch entdeckte er den Wirt des Gasthauses und ging auf ihn zu. Der Wirt, ein Mann um die fünfzig mit kahlem Kopf und rundem Gesicht, sah ihm direkt in die Augen. Er zeigte keine Verlegenheit oder Unsicherheit und wirkte aufrichtig. Das gefiel Zhuowu. Wenn er das Gefühl hatte, einen ehrlichen oder standfesten Menschen vor sich zu haben, konnte er diesen, ganz gleich, ob es sich um einen hohen Beamten oder Gebildeten, einfachen Bauern oder wie hier einen Wirt handelte, als ebenbürtig akzeptieren.

    „Da haben wir ja noch einen hochgelehrten Akademiker", rief der Wirt aus.

    Zhuowu blieb ruhig und ignorierte den spöttischen Unterton. Jeder konnte an seinem dunkelblauen Gewand erkennen, dass er den ersten akademischen Grad eines Shengyuan erlangt hatte. Seit der erfolgreich bestandenen Prüfung in der Präfekturhauptstadt seiner Heimat vor zwei Jahren war es ihm gestattet, dieses besondere Gewand zu tragen.

    „Habt Ihr noch ein Zimmer für mich?" fragte er den Wirt.

    „Für Leute wie Euch immer, erwiderte dieser in weiterhin spöttischem Ton, „ein Akademiker ist uns stets willkommen, denn er bringt Ehre für unser Haus. Bestimmt seid Ihr wegen des Provinzexamens hier.

    Zhuowu nickte, sagte aber nichts. Der Wirt reichte ihm einen Schlüssel.

    „Für Euer Zimmer. Es ist eins mit herrlicher Aussicht, eines Akademikers würdig. Ihr könnt auch zu Abend essen, wenn Ihr möchtet. Macht Euch frisch und kommt dann wieder herunter. Wir werden etwas Gutes vorbereiten."

    Zhuowu erklärte sich einverstanden, denn er war hungrig, nahm den Schlüssel und stieg die schmale Holztreppe hinauf. Als er in seinem Zimmer stand und sich umsah, nachdem er eine Kerze angezündet hatte, war er zufrieden. Es war nicht sehr groß, aber sauber. Ein Bett stand in einer Ecke, außerdem gab es einen Tisch, auf dem eine Wasserschüssel mit frischem Wasser stand, und einen Stuhl davor. Seine Sachen konnte er in einem kleinen Schrank verstauen. Dann wandte er sich zum Fenster. Draußen war es zwar dunkel, aber er konnte im Schein einer schwach leuchtenden Lampe erkennen, dass dort ein Innenhof lag, in dem sich in einer Ecke ein großer Misthaufen befand. Das also ist hier in Fuzhou ein „schöner Ausblick", dachte er amüsiert. Er schloss das Fenster, weil der Misthaufen einen strengen Geruch verbreitete. Dann ging er in die Schankstube hinunter.

    „Eine wirklich schöne Aussicht, ich bin begeistert", sagte er lachend, als er an dem Wirt vorbeiging, um sich einen Sitzplatz auszusuchen.

    Der grinste nur.

    „Ihr könnt Eurem Leidensgenossen Gesellschaft leisten. Er sitzt da drüben."

    Der Wirt wies auf eine in sich zusammengesunkene Gestalt an einem der Tische. Zhuowu steuerte ihn an. Vor ihm saß ein junger Mann von ungefähr zwanzig Jahren. Er sah blass und schmächtig aus und wirkte aufgewühlt. Seine Augen gingen unruhig hin und her. Die Essschale vor ihm war leer und unbenutzt, die Speisen auf den kleinen Serviertellern hatte er noch nicht angerührt. Zhuowu verneigte sich leicht vor ihm. Der junge Mann erwiderte mit schwacher Geste den Gruß.

    „Mein Name ist Li Zhuowu aus Jinjiang in der Präfektur Quanzhou. Wie mir der Wirt gesagt hat, bist du auch wegen der Prüfung hier. Darf ich mich setzen?"

    Der Angesprochene nickte fast unmerklich.

    „Ich heiße Wang Anning und komme aus Shao‘an in der Präfektur Zhangzhou. Ja, ich nehme morgen an der Prüfung teil."

    Seine Stimme klang gepresst. Er rutschte nervös auf seinem Stuhl herum. Seine Hände waren in ständiger Bewegung. Mal zupfte er an seinem Gewand, mal trommelte er auf den Tisch.

    Anning, der Ruhige, dachte Zhuowu, nun, im Augenblick machst du deinem Namen keine Ehre.

    „Bist du nervös?" fragte er.

    „Und wie. Du etwa nicht?"

    „Nicht so sehr."

    „Von der Prüfung hängt viel ab. Ich habe lange dafür gelernt. Meine Familie macht ordentlich Druck. Du weißt sicherlich, wie hoch die Durchfallquote ist. Aber ich muss es schaffen. Unbedingt."

    Er machte einen eher verbissenen als entschlossenen Eindruck.

    „Du kannst sie wiederholen."

    „Meinem Vater würde das nicht gefallen."

    „Hat er die Provinzprüfung jemals bestanden?"

    „Ja, aber ich glaube auch nicht beim ersten Mal. Meine Mutter hat mal so eine Bemerkung gemacht."

    „Dann solltest du dir nicht so viele Gedanken machen. Das blockiert dich nur und hilft dir nicht. Wenn du morgen in deiner Zelle hockst und das Gefühl hast, dass dir dein Vater im Nacken sitzt, kriegst du nichts zu Papier. Vergiss ihn … Du sagst, du hättest für die Prüfung viel gelernt?"

    „Die letzten zwei Jahre jeden Tag vom frühen Morgen bis in die Nacht. Mein Vater hat mich in unserem Studierzimmer eingesperrt. Ich durfte am Tag immer nur kurz an die frische Luft."

    Darum siehst du so blass und krank aus, dachte Zhuowu.

    „Vor allem der Achtgliedrige Aufsatz macht mir Kummer. Bei den vorangegangenen Prüfungen war das für mich immer der schwerste Brocken."

    „Aber du hast sie bestanden. Dann wirst du es dieses Mal auch schaffen", versuchte Zhuowu sein Gegenüber zu beruhigen.

    Anning schien nicht so überzeugt.

    „Und was sagt dein Vater? Macht der auch Druck?" fragte er.

    „Mein Vater? Nein, der mischt sich nicht ein. Er hat mir Glück gewünscht, als ich abgereist bin. Er hat nie Druck auf mich ausgeübt … Nun, mittlerweile bin ich verheiratet. Ich habe eine eigene Familie, Frau und Kinder, für die ich sorgen muss."

    „Dann hast du ja noch mehr Verantwortung."

    „Ich werde die Prüfung schon bestehen. Du solltest auch mehr Selbstvertrauen haben."

    Zhuowu warf Anning einen aufmunternden Blick zu. Der versuchte sich zusammenzureißen, aber sein Gesicht blieb verkrampft. Zhuowu betrachtete ihn mitleidig. Anning sah elend aus und wirkte verzweifelt. Das Gespräch schien ihn nicht aufzumuntern. Du Armer, dachte Zhuowu, eines Tages wird dich der ganze Bücherballast erschlagen. Anning tat ihm leid, denn irgendwie mochte er ihn. Aber wie hätte er ihm helfen können? Er ist der Sklave eines unbarmherzigen Vaters, der sich nicht wehren kann, dachte Zhuowu. Die Unterwerfung des Sohnes unter einen autoritären Vater war typisch für die konfuzianische Gesellschaft. Zum Glück war sein Vater anders. Zhuowu fixierte Anning, der zusammengesunken auf seinem Stuhl hockte und das Essen noch immer nicht anrühren wollte. Wenn er diese Prüfung bestehen sollte, war er überzeugt, wird sein Vater ihn bestimmt antreiben, auch noch die Prüfungen in der Hauptstadt und die Palastprüfung zu absolvieren. Wenn es ihm jetzt schon so schlecht geht, wie wird er sich dann erst fühlten?

    Zhuowu versuchte weiterhin, seinem Gesprächspartner Mut zuzureden.

    „Du hast sicherlich auch einige der Examensarbeiten von früheren Prüfungen gelesen. Die kursieren doch überall. Mit denen kann man sich optimal vorbereiten."

    Anning nickte.

    „Das habe ich natürlich. Aber manche konnte ich mir nur schlecht einprägen. Es ist viel Stoff, den man sich merken muss."

    „Mach dir doch keine Sorgen. Das wird schon genügen. Wenn du einige der passenden Vorlagen einfach übernimmst, wirst du die Prüfung bestehen. Die Prüfer haben doch keine Ahnung, was Konfuzius und die anderen Weisen mit ihren Worten wirklich gemeint haben. Sie wollen nur vorgegebenes Wissen serviert bekommen. Und das, was sie lesen wollen, zeigen die alten Prüfungsarbeiten. Du musst dich nur daran halten."

    Zhuowu hatte gut reden. Er hatte hunderte dieser Examensarbeiten gelesen und sich eingeprägt. Das Lernen war ihm nie besonders schwergefallen, seitdem sein Vater ihn als kleinen Jungen in den konfuzianischen Schriften unterrichtet hatte. Natürlich gab es in der Vergangenheit auch Zeiten, in denen er wenig Lust zum Lernen hatte. Aber er fühlte sich jetzt für seine Familie verantwortlich. Darum war er entschlossen. Und erst der Erfolg bei der Provinzprüfung würde ihm die Möglichkeit eröffnen, eine Karriere im Staatsdienst einzuschlagen und so besser für seine Frau und seine Kinder sorgen zu können. Er war sich sicher, dass er auch dieses Mal nicht scheitern würde.

    „Vielleicht hast du recht. Ich sollte mich beruhigen", flüsterte Anning.

    Sehr überzeugt wirkte er aber nicht.

    „Das klingt schon besser. Und jetzt wollen wir gemeinsam essen und einen Becher Wein trinken."

    In der Zwischenzeit hatte man die Gerichte für Zhuowu aufgetragen. Eine Gemüsesuppe und mehrere Fischgerichte. Er langte hungrig zu. Es schmeckte nicht schlecht. Anning versuchte auch etwas zu sich zu nehmen. Aber die meiste Zeit stocherte er mit seinen Essstäbchen lustlos in den Speisen herum. Den Wein lehnte er entrüstet ab.

    „Alkohol. Auf keinen Fall. Morgen beginnt die Prüfung und sie dauert drei Tage. Ich muss fit sein. Da kann ich mir keinen Alkohol erlauben."

    „Aber Anning, der wird dich beleben und inspirieren. Denk doch an unseren großen Dichter Li Bai. Der hat seine schönsten Gedichte geschrieben, als er vom Wein berauscht war."

    Zhuowu leerte den Becher in einem Zug. Dann rezitierte er mit feierlicher Stimme den berühmten Dichter aus der Zeit der Tang-Dynastie:

    „Im Ostturm bin ich gestern eingekehrt

    Gewiss hat mir die Kappe schief gesessen

    Ich weiß nicht, wer mich hinaufschob auf mein Pferd

    Und wann es heimging, hab‘ ich auch vergessen."

    Anning verzog eine Miene, als würde er in eine Zitrone beißen.

    „Ja, und als er eines nachts völlig betrunken eine Bootsfahrt unternommen hat, ist er ertrunken, weil er die Spiegelung des hellen Mondes auf dem dunklen Wasser umarmen wollte. Nein danke."

    Zhuowu musste lachen, nahm Annings Becher und trank ihn aus. Dann bestellte er sich noch einen dritten Becher Wein.

    Die Prüfung

    考試

    Es war früher Morgen als Zhuowu das Gasthaus verließ, um sich auf den Weg zum nahegelegenen Prüfungsamt zu machen. Über der Stadt breitete sich ein wolkenlos blauer Himmel aus. Ein sonniger Tag kündigte sich an, nachdem es in der Nacht geregnet hatte. Die aufsteigende Sonne deckte alles in ein mildes goldenes Licht. Es wurde langsam warm. Vor dem Prüfungsgelände der Provinzhauptstadt bildeten sich lange Reihen von Männern, alten und jungen. Angestellte des Prüfungsbüros achteten darauf, dass es geordnet und gesittet zuging. Mit lauten Rufen sorgten sie dafür, dass keiner aus der Reihe tanzte. Manche der Wartenden redeten miteinander, andere standen nur ruhig und geduldig da. Es waren viele blasse und angespannte Gesichter darunter. Zhuowu entdeckte schließlich Anning am Ende einer Reihe und stellte sich zu ihm. In den umstehenden Bäumen lärmten die Vögel um die Wette.

    „Die haben keine Sorgen", bemerkte Anning.

    Dabei zeigte er auf die Baumkronen und ihre vorlauten gefiederten Besetzer.

    „So weit sind wir schon gekommen, lachte Zhuowu, „dass wir uns wünschen, schimpfende Spatzen zu sein.

    Aber Anning war nicht zum Lachen zumute. Mit jeder Minute, die verstrich, schien er mehr in sich zusammenzusinken. Etwas weiter vorne fiel Zhuowu ein hochnäsiger junger Mann auf. Er trug ein teures Gewand aus Seide und würdigte die Umstehenden keines Blickes. Mit elegantem Schwung fächerte er sich mit einem teuren Sandelholzfächer Luft zu. Hin und wieder zog er ein parfümiertes Taschentuch aus seinem Ärmel, um daran zu riechen. Wenn ihm jemand zu nahekam, wich er angewidert einen Schritt zurück.

    „Schau dir den aufgeblasenen Angeber an, sagte Zhuowu zu Anning, um ihn auf andere Gedanken zu bringen, „der verhält sich so, als wären wir anderen nur untergeordnete Lakaien und als wäre es unter seiner Würde, uns auch nur anzusehen.

    Doch Anning sah gar nicht hin. Der ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, dachte Zhuowu und ließ ihn in Ruhe. Auch den Angeber beachtete er nicht mehr. Solche Typen, die sich wegen ihrer Herkunft überheblich verhielten oder etwas darstellen wollten, das sie in Wahrheit nicht waren, waren ihm zuwider. Für sie hatte er nur Spott übrig.

    Als das Tor geöffnet wurde, kam Bewegung in die Wartenden. Zhuowu und vor ihm Anning rückten immer näher an den breiten Eingang heran. Das hölzerne Eingangstor war schlicht und in roter Farbe gestrichen, der Farbe des Glücks. Über dem Eingang hing eine Tafel mit der Inschrift „Tor zu Ruhm und Ehre". Nachdem Zhuowu und Anning das Tor durchschritten hatten, standen sie in einem Vorhof einem großen Gebäude mit mächtigem Walmdach gegenüber, das mehrere Zugänge hatte, in welche die Prüflinge von den Angestellten mit lauten Rufen hineingeschoben wurden. Es ging zügig voran. Als Zhuowu das Gebäude betrat, verlor er Anning aus den Augen. Er sah sich um. In einer langen Reihe standen zahlreiche Schreibtische, an denen Beamte des Prüfungsamtes saßen und die einzelnen Kandidaten kontrollierten. Hinter jedem Beamten standen mit etwas Abstand jeweils zwei Angestellte. Kurz darauf wurde Zhuowu zu einem gerade frei gewordenen Schreibtisch gerufen.

    „Die Unterlagen", herrschte ihn eine krächzende Stimme an.

    Ihm gegenüber hockte ein älterer Beamter, der seine Papiere prüfte und ihn dann eine Zeitlang schweigend musterte. Zhuowu stand aufrecht vor ihm. Seine Augen hielten dem bohrenden Blick des Beamten stand. Er wirkte selbstsicher und herausfordernd. Der Beamte war es gewohnt, dass die Kandidaten mit weichen Knien und ängstlichem Blick vor ihm standen. Dieser war anders. Es ärgerte ihn, dass er ihn nicht einschüchtern konnte.

    „Dir wird der Hochmut in den nächsten Tagen schon vergehen", bemerkte der Beamte.

    Er gab einem der hinter ihm wartenden Angestellten ein Zeichen, worauf dieser unterwürfig nach vorne eilte und Zhuowu einen Zettel mit einer Nummer

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