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Wende auf Russisch
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Wende auf Russisch

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About this ebook

Anfang der neunziger Jahre, nach dem Zusammenbruch der Ostblockstaaten, versuchten viele Menschen im westlichen Ausland ihr Glück zu machen. Mit guten und oft auch mit bösen Absichten. Einige verschlug es nach Berlin, doch mangelnde Sprachkenntnisse und fehlende Qualifikation lassen sie in Kreise der russischen Unterwelt abgleiten. Um zu überleben, werden sie kriminell, mit Korruption, Prostitution, Schwarzgeld, Erpressung und Falschgeld. Mafiöse Strukturen wollen die "Neuen" nicht in ihren Kreisen. Sie werden ausgenutzt, um im Ausland Mädchen anzuheuern, die dann in Deutschland brutal zur Prostitution gezwungen werden sollen. Das läuft nicht immer glatt. Einige bezahlen mit ihrem Leben, andere gehen enttäuscht und mit leeren Taschen wieder zurück in ihre Heimat. So zerschlägt sich der Traum vom schnellen Geld.
LanguageDeutsch
Publisherepubli
Release dateJun 8, 2020
ISBN9783752961270
Wende auf Russisch

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    Wende auf Russisch - Michael Blaschke

    Michael Blaschke

    Wende auf Russisch

    © Dirk-Laker-Verlag, Bielefeld

    Dirk Laker

    Autor: Michael Blaschke

    Alle Rechte vorbehalten

    Werner Gruber wurde in eine gutbürgerliche Familie hineingeboren.

    Er war der Stammhalter, er genoss das besondere Interesse seiner Eltern. Der zweite Sohn, Eugen, wurde in seiner Kindheit und Jugend oft benachteiligt. Er litt unter seinem Namen, der so gar nicht mehr in die Zeit passte. Die Eltern waren sehr konservativ eingestellt. Das wirkte sich auf die gesamte Erziehung aus. Der Vater war Ingenieur und hatte in einen mittelständischen Betrieb eingeheiratet, das Unternehmen vergrößert und profitabler gemacht. Seine Schwiegereltern waren von ihm angetan und für die Tochter war er die große Liebe. Oberflächlich gesehen war es für alle die ideale Verbindung, aber eben nur oberflächlich.

    Die Mutter war eine zarte Person, im Wesen sehr zurückhaltend. Sie sah die Dinge eher kritisch. Ihr Lebensstil war anspruchsvoll. Auf dem humanistischen Gymnasium hatte sie die Welt der Muse entdeckt und wollte Kunstgeschichte studieren. Durch ihre Heirat und die Geburt ihrer Söhne, verschob sie das Studium auf einen späteren Zeitpunkt. Es blieb dabei. Sie beschäftigte eine tüchtige Kinderfrau und zwei Haushaltshilfen, doch meinte sie, die Erziehung ihrer Kinder nicht gänzlich aus der Hand zu geben.

    Die Familie lebte in einem herrschaftlichen Anwesen oberhalb der Stadt. Mit den Jahren hatten auch andere Bürger einen Platz in dieser bevorzugten Wohnlage gefunden. So entwickelte sich ein Viertel gut situierter, finanziell einflussreicher Bürger. Die Grubers, alleinige Inhaber eines metallverarbeitenden Betriebes, galten als die reichsten Bürger dieser verschlafenen, schwäbischen Stadt. Die Villa, ein feudaler weißer Bau, war nicht nur Wohnsitz, sondern diente auch zur Repräsentation. Sie lebten gut und gediegen, sie protzten nicht mit ihrem Reichtum. Bernd Gruber hatte es anfangs nicht leicht, notwendige Veränderungen durchzusetzen. Der gesundheitlich angeschlagene Schwiegervater übergab ihm die Firma und er nutzte die Chance, um den Betrieb zu modernisieren.

    Seine Frau Brigitte interessierte sich nicht für das Geschäftliche. Das Personal kümmerte sich um den Haushalt und sie um die Erziehung der Kinder. Der ältere Sohn Werner entwickelte sich nicht so, wie die Eltern es erwarteten. Er war klein, mit schmalen Gliedern und einem mädchenhaften Gesicht. Er versuchte es mit übertriebenem, männlichen Gehabe auszugleichen. Zweifellos kam er nach seiner Mutter.

    Für die Familie wurde die Zeit der Pubertät zu einem Problem. Er schleppte sich durch die Schulzeit, nur seine überdurchschnittliche Intelligenz half ihm, bei aller Faulheit, das Abitur zu schaffen.

    Eugen war das krasse Gegenteil. Schwergewichtig, ja grobschlächtig schob er sich durch die Jahre. Obwohl er körperlich einem Holzfäller glich, war er von einer Sensibilität, die ihm schon als Kind eine sehr gefühlsbetonte Sicht der Dinge erlaubte.

    Die beiden Brüder verstanden sich trotz ihrer verschiedenen Charaktere sehr gut. Die Mutter hatte immer darauf geachtet, dass niemand bevorzugt wurde. Der Vater war die absolute Respektsperson, was er sagte, oder besser befahl war Gesetz und wurde befolgt. Dieses Verhalten erlaubte keinen emotionalen Spielraum. Das Korsett der Gefühle war eng geschnallt.

    2.

    Die Jahre vergingen, aus den Kindern waren junge Männer geworden. Ein Ereignis, das ihnen sehr nahe ging, verursachte einen Riss in der Familie. Die Mutter war nach kurzer Leidenszeit an Krebs verstorben. Das sorglose Leben, ohne materielle Entbehrungen im Schutz der Familie, hatte sich verändert. Tage nach der Beerdigung bat der Vater seine Söhne ins Herrenzimmer, um die Zukunft der Familie zu besprechen. Sie hatten es sich bequem gemacht und warteten auf den Vater. Der Raum wurde von einer langen Bücherwand beherrscht, mit mächtigen, ledernen, antiquiert wirkenden Sitzgelegenheiten. Da hatten sie sich selten aufgehalten. Kalter Zigarrenrauch lastete auf den übrigen Gegenständen. Jagdtrophäen schmückten eine ganze Zimmerbreite, in einer Ecke stand ein eingestaubtes Klavier. Die beiden jungen Männer erinnerten sich noch gut daran, wenn der Vater seine Männerriege einmal im Monat einlud, oft Herren aus Kultur und Wirtschaft, was sich natürlich auf die Möglichkeit einer proviziellen Kleinstadt bezog. Für Bernd Gruber war das ein Versuch, einflussreich in den verschiedenen Gremien mitzuwirken. Für die jungen Leute waren das Relikte vergangener Zeiten. Nach dem Tod der Schwiegereltern ließen diese feuchten Geselligkeiten nach und nun, nach dem Tod seiner Frau, war daran nicht mehr zu denken. Sein Ehrgeiz war nicht mehr nötig und auch nicht erwünscht. Zudem machte ihm seine Gesundheit Probleme. Er hatte, im wahrsten Sinne des Wortes, Haare lassen müssen. Hager und leicht gebeugt kam er und setzte sich zu seinen Kindern. Ein Hausmädchen brachte Kaffee und Gebäck und verließ geräuschlos das Zimmer.

    „Ich habe Euch hierher gebeten, um Grundsätzliches für die Familie und unsere Zukunft zu erörtern. Nach der schmerzlichen Zeit, die hinter uns liegt, dem Verlust eurer Mutter, denke ich daran, kürzer zu treten. Der wirtschaftliche Erfolg kann nicht alles sein. Man ist dem Schicksal ausgeliefert, dreht sich hilflos im Kreis und findet keinen Ausweg. Ich werde mich aus dem Betieb zurückziehen.Ich weiß die Fabrik in guten Händen. Beide habt Ihr euren Abschluss in der Tasche und ich frage euch, was wollt Ihr machen?"

    Es entstand eine längere Pause, die beide nutzten, um sich mit ihrem Kaffee zu beschäftigen. Bernd Gruber sah seine Söhne fragend an und wartete auf Antwort. Der Ältere gab sich einen Ruck und sagte: „Auf ein Studium habe ich keine Lust, ich denke an eine kaufmännische Ausbildung."

    „Warum nicht", meinte sein Vater und wandte sich an Eugen, der mit seinen großen Händen die kleine Kaffeetasse behutsam zum Mund führte, als habe er Angst, sie fallen zu lassen.

    „Ja, Vater, ich möchte Jura studieren, dieses Fach hat immer Zukunft."

    „Sicher, sicher", der Alte war vom Entschluss seines Jüngsten über alle Maßen angetan.

    Endlich einen Akademiker in der Familie zu haben, war schon immer seine Hoffnung und dann noch einen Juristen. Er glaubte Ärzte und Juristen hätten einen besonderen Stellenwert in der Gesellschaft. Dass das elitäre Getue von einigen dieser Berufsgruppe zum Himmel stank, wusste er, doch es störte ihn nicht. Seine verstorbene Frau Brigitte hätte sich über die Söhne gefreut und sicher ihre Berufswünsche unterstützt. Werner sah zum Vater: „Ich möchte gerne meine Ausbildung in unserem Betrieb machen. Was meinst Du, Vater?"

    „Ja, ja, mein Junge. Du hast den Arbeitsplatz vor der Tür und bist hier bestens aufgehoben."

    Eugen hielt sich etwas zurück. Seit dem Tod der Mutter war er ruhiger und besonnener geworden. Seine impulsive, humorige Art, die ihn bei den Mitschülern so beliebt machte, war einer Ruhe und Nachdenklichkeit gewichen. Er hatte ein besonders inniges Verhältnis zur Mutter gehabt. Oft gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen ihm und dem Vater. Der meinte, er sei äußerlich aus der Art geschlagen, während sein Bruder den Vater nicht verleugnen konnte. Eugen hatte immer wieder Meinungsverschiedenheiten mit dem Vater, er konnte sich das nicht erklären. In letzter Zeit hatte das nachgelassen und er ging ihm oft aus dem Weg. In der Familie waren die Reibereien nichts Ungewöhnliches.

    3.

    Die Jahre vergingen, Bernd Gruber hatte wieder geheiratet, doch die Ehe ging schief. Die Söhne hatten die Stiefmutter als neue Frau nicht akzeptiert. Nach der Scheidung sahen es alle als eine Episode, die keine tiefen Spuren hinterließ. Eugen studierte in Heidelberg und Werner hatte seine Ausbildung mit Erfolg abgeschlossen. Der alte Gruber kümmerte sich zwar noch um die Firma, so gut er konnte, aber sein Interesse ließ nach. Er wollte sich nach dem Tod seiner ersten Frau ja ganz aus dem Betrieb zurückziehen. Sein Ältester bestimmte inzwischen entscheidend, in der Firma. Die Zeit der Höhenflüge war vorbei. Innovationen waren gefragt. Die Produktion musste sich mit neuen Ideen vertraut machen. All das kostete Kraft und Geld. Kraft war da, aber kein Geld. Es stellte sich heraus, dass der verantwortliche Betriebsführer und weitere weisungsbefugte Personen untragbare Entscheidungen getroffen hatten. Bernd Gruber war immer wieder gezwungen, Teile des Privatvermögens zu investieren. Die Transaktionen blieben sein Geheimnis. Die Söhne ahnten nichts. Auch das stattliche Anwesen war bereits mit einer Hypothek belastet. Alles, was der alte Gruber mit viel Arbeit und Herzblut aufgebaut hatte, gehörte bereits der Bank. Er war auf dem besten Wege, sein Ansehen zu verlieren, auch seine gesellschaftlichen Verpflichtungen musste er deutlich einschränken. Misserfolge und Niederlagen waren in einer erfolgsgewohnten Gesellschaft unerwünscht. Kurze Zeit später starb Bernd Gruber. Der Tod kam überraschend in der Nacht. Nach der Trauerzeit trafen sich die Söhne, um das Erbe zu regeln. Es gab nur nichts zu regeln. Einen Großteil des familiären Vermögens hatte die Firma gefressen. Das Unternehmen stand vor der Pleite und die Bank, seit Jahrzehnten ein vorbildlicher Partner, hatte den Geldhahn zugedreht. Das war das wirtschaftliche und gesellschaftliche Ende der Familie Gruber.

    4.

    Wenn Wasil Saizew aus dem Fenster seiner Plattenwohnung, am Stadtrand von Kursk, schaute, sah er ein kaum beleuchtetes, graues Etwas, das sich bei näherem Hinsehen als eine stillgelegte, große Fabrikanlage entpuppte. Saizew wusste, dass der Betrieb zu sowjetischen Zeiten Ersatzteile für LKW produzierte. Damals wurde das große, breite Tor in der Nacht mit unzähligen Lampen angestrahlt, es war ein ständiges Kommen und Gehen. Selbst an Sonn- und Feiertagen war dort Leben. Es war nicht denkbar, dass diese weitläufige Produktionsanlage einmal ungenutzt verkommen würde. Dort hatte seine ganze Familie ihr Auskommen gehabt. Auch Saizew machte dort seine Lehre und galt als fleißiger Arbeiter.

    Nach dem Dienst in der Armee, wurde er vom Kollektiv zum Brigadier gewählt. Sein Großvater verstarb und sein Vater wurde durch einen schweren Unfall zum Invaliden. Seine Mutter war durch die jahrelange Arbeit in einer Großwäscherei gesundheitlich angeschlagen und bezog eine bescheidene Rente. Als die ersten Plattenbauten beziehbar waren, bekam auch sein Vater eine kleine Wohnung, mit Fernheizung und Bad mit Spültoilette und Wanne. Die Familie war begeistert, von der ´modernen Ausstattung´. So einen Fortschritt gab es doch nur in der Sowjetunion. Wo auf der Welt sorgte der Staat, die allmächtige Partei, so für den kleinen Mann?

    Es war die billigste Bauweise, mit primitiver Ausstattung. Wasil hatte ja keine Vergleichsmöglichkeit. Dass die Außenanlagen nie fertig wurden, dass kaum Spielplätze für Kinder da waren und dass der Putz abbröckelte und alles langsam aber unaufhaltsam vergammelte, all das sahen die Familien nicht oder wollten es nicht sehen. Hauptsache eine Wohnung mit fließend warmem und kaltem Wasser.

    Es gab einen Fahrstuhl. Der war defekt und wurde einfach nicht repariert. Es kamen stürmische Zeiten auf die Saizews zu.

    5.

    Staatspräsident Gorbatschow wollte ein freieres Russland und versuchte den Staat und die Gesellschaft zu modernisieren. Er scheiterte auf der ganzen Linie. Das Regime brach vollends zusammen, die kleinen Leute waren die ersten, die das zu spüren bekamen.

    Wasil Saizew verlor seine Arbeit, unzählige andere auch. Er saß oft in der Dunkelheit am Fenster und starrte auf die Fabrik, die auch seine war und die nun langsam zerfiel. Nach und nach verteuerten sich die alltäglichsten, unverzichtbarsten Dinge. Zu Sowjetzeiten war die Versorgung schon schlecht gewesen, nun gab es tagelange Engpässe. Alkohol und Gewalt beherrschte den Alltag vieler. Das untergegangene System hatte Millionen Menschenleben gefordert und die, die nach Jahrzehnten übrig blieben, waren um ihre Arbeit und ihren Glauben betrogen worden. Wenige hatten auf Kosten vieler gut gelebt. Als deutlich wurde, dass das Sowjetschiff unterging, hatten sie wie die Ratten den sinkenden Kahn verlassen.

    Früher lebte die Familie relativ gut. Saizew dachte an die staatlichen Feiertage, die mit Hilfe der Partei zu politischen Demonstrationen organisiert worden waren. War die staatsbürgerliche Pflicht getan, wurde in den eigenen vier Wänden weitergefeiert. Auch Familienfeste wurden üppig begangen und der Wodka floss in Strömen. All das, was den tristen Alltag erträglicher machte, war weg. Wasil lebte von den kleinen Renten seiner Eltern. Die Armut und Hoffnungslosigkeit machte sich breit.

    Junge Leute organisierten sich in Banden, versuchten mit Straftaten ihre Situation zu verbessern. So wurde die Hemmschwelle außer Kraft gesetzt und endete im Sumpf schwerer Verbrechen. Straffällig gewordene Menschen gingen den Weg, den unzählige andere, Junge, Alte, Männer und Frauen, gegangen waren. Die kriminellen, politischen Elemente, sie wurden ausgekehrt. Russlands Hinterhof war schon immer ein Abfallhaufen für unliebsame menschliche Kreaturen.

    6.

    Wasil Saizew war auf der Suche nach lohnenswerter Arbeit. Viele seiner Bekannten waren weggezogen. Das konnte nicht jeder und wer blieb, war zumeist alt und krank. Auch seine Eltern wollten bleiben, wo sollten sie auch hin? Alles veränderte sich täglich.

    Es war Sommer, als Lew Rabitschew seinen alten Freund Wasil besuchte. Er war nicht wiederzuerkennen. Er trug einen steinfarbenen Anzug, ein weißes Hemd ohne Krawatte, italienische Halbstiefel und seine langen Haare hatte er zu einem Zopf gebunden.Sein Aussehen erinnerte Wasil an einen sizilianischen Mafioso, wie er es in amerikanischen Filmen gesehen hatte. Zweifellos war er stolz, auf sein Aussehen. Als sie durch das schmutzige Treppenhaus auf die Straße kamen, ging Lew Rabitschew auf einen alten BMW zu, klapperte lässig mit den Autoschlüsseln, öffnete den Wagen, als hätte er nie etwas anderes getan.

    Sie kannten sich aus der Schulzeit, Wasil konnte sich noch gut daran erinnern. Rabitschew war immer ein netter, freundlicher Mann, sehr zurückhaltend und doch hilfsbereit. Früher hatte er als Traktorfahrer auf einer Kolchose in der Nähe der Plattenbauten gearbeitet. Mit Sachverstand und Umsicht steuerte sein Arbeitsgerät. Wer nun neben ihm im Auto saß, war nicht mehr der Lew, den er kannte.

    „Sag mal Lew, wie kommst du zu diesem Wagen und zu deinem Aufzug?"

    „Wasil, alles hart erarbeitet, mein Lieber und was heißt hier Aufzug? Muss ich denn immer noch als Kolchosearbeiter herum laufen?"

    Wasil sah ihn prüfend an und Lew konnte seinem Blick nicht standhalten. Dem Lew war die Frage unangenehm.

    „Lass uns in die Stadt fahren, du bist mein Gast und auf der Fahrt erzähle ich dir mehr."

    Der alte Wagen, ein Sechszylinder, blubberte vor sich hin. Sie spürten auf ordentlicher Wegstrecke den Glanz vergangener Jahre. Das reichte für den kleinen Kolchosearbeiter, die alte Rostlaube zu lieben. Die Fahrt ins Zentrum der Stadt bot wenig Erfreuliches. Abgenutzte Infrastruktur, überall Reste von demontierten oder stillgelegten Industrieanlagen. Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft und ihrer Errungenschaften war nichts weiter, als ein riesiger Schrotthaufen.

    Je näher der alte BMW dem Zentrum kam, desto besser wurden die Straßen. Sie sahen Lenin, wie er mit gestrecktem Arm ins Arbeiterparadies zeigte. Ein seltsamer Kontrast, zwischen verwahrlosten Zweckbauten und protzigen, stalinistischen Prestigebauten, kennzeichnete das Bild. Lew parkte in einer schmalen Seitenstraße und ging mit Wasil auf ein altes Gebäude zu. Im dunklen Treppenhaus lag ein betrunkener, älterer Mann. Er hielt sich krampfhaft am Treppengeländer fest und erbrach sich. Sein Mageninhalt verteilte sich auf seiner Kleidung, während er versuchte, die einzelnen Stufen zu bewältigen. Ein unerträglicher, säuerlicher Geruch verteilte sich im Flur.

    „Dimitri, der alte Säufer hat es wieder mal geschafft, sich von der besten Seite zu zeigen", sagte Rabitschew und nahm gleich zwei Stufen, um nicht in den Unrat zu treten.

    „Kannst du dir vorstellen, dass diese alte Saufziege mal Direktor der städtischen Verkehrsbetriebe war?", fragte Rabitschew und half seinem Freund, an dem Mann vorbei zu kommen.

    „Er hat den Niedergang des Staates nicht überwunden. Die Seilschaften haben die Betriebe verschoben und er verlor seinen Direktionsposten, weil er mit den Machenschaften der Nomenklatura nicht einverstanden war. Er musste seine Dienstvilla räumen und wohnt seit zwei Jahren in diesem Mietshaus. Ein armer Teufel, der nicht bereit war, mit den Parasiten der Gesellschaft gemeinsame Sache zu machen. Er müsste den Leninorden bekommen, aber das vergoldete Blech ist auch nichts mehr wert."

    „Willst du den Alten in seinem Dreck liegen lassen?", fragte Saizew.

    „Ich sage seiner Frau Bescheid, sie wohnt neben mir. Es ist nicht das erste Mal, dass sie ihren Mann so vorfindet. Sie ist eine zarte, kultivierte Frau, die einen besseren Lebensabend verdient hätte", erwiderte Rabitschew.

    Er läutete an der Tür der Nachbarin. Sie machte sogleich auf. Sie trug einen geblümten Morgenmantel, den sie mit einer Hand zusammenhielt. Mit großen Augen sah sie Rabitschew fragend an.

    „Ihrem Mann geht es nicht gut, er hat sich erbrochen und schafft die restliche Treppe nicht mehr."

    Die kleine, verhärmte Frau trat aus der Tür und sah ihren Mann, der noch immer auf der Treppe lag und sich am Geländer festhielt. Wasil konnte die Situation nicht mehr ertragen. Wie sollte die Frau ihren volltrunkenen Mann in die Wohnung bringen, dachte er und gab Rabitschew einen Wink. Beide schleppten sie den Mann in seine Unterkunft, legten ihn auf die Couch und verließen die Wohnung. Inzwischen waren andere Mieter neugierig geworden. Als sie sahen, wer da Hilfe brauchte, verschwanden sie schnell wieder in ihren Wohnungen.

    Rabitschew wollte gerade seine Wohnung aufschließen, da wurde sie von innen geöffnet. Eine hübsche, schlanke, schwarzhaarige Frau stand in der Garderobe und begrüßte ihn stürmisch. Etwas verlegen versuchte er sich aus der Umarmung frei zu machen. Zur Freundin gewandt sagte er: „Das ist Wasil, ein alter Freund, ich habe dir schon einiges von ihm erzählt."

    „Du bist also das große Vorbild, für meinen Lew", sagte sie und schob beide ins Wohnzimmer. Nina Gudsowski stammte aus Fatesch, einer Kleinstadt nahe Kursk. Sie hatte im Übersetzungs- und Planungsbüro gearbeitet, das dem früheren sowjetischen Aussenhandelsbüro der Stadt unterstellt war. Fremdsprachen waren ihre Stärke, Deutsch und Englisch sprach sie fließend. Seit sechs Monaten kannten sie sich, wobei jeder glaubte, die große Liebe gefunden zu haben. Nina hatte ihren Arbeitsplatz gekündigt. Rabitschew hatte ihr den Himmel auf Erden versprochen und sie war naiv genug, ihm alles zu glauben.

    Die jungen Leute machten es sich gemütlich. Ein größeres Zimmer diente als Wohn- und Schlafraum, eine kleine Küche war der ganze Wohnbereich von Rabitschew. Es gab kein Bad und die Gemeinschaftstoilette befand sich auf dem Flur. Das ehemals herrschaftliche Mietshaus stammte noch aus der Zeit vor der Revolution. Die großzügigen Wohnungen waren in kleinere Wohneinheiten umgebaut worden. Das war in den zwanziger Jahren, seitdem wurde nichts mehr verändert.

    Nina hatte etwas Leckeres auf den Tisch gezaubert. Wasil beobachtete sie. Es machte Spaß zu sehen, wie ihr die Arbeit von der Hand ging.

    „Ich war auf einen Gast nicht eingerichtet", sagte sie und schaute verunsichert auf den gedeckten Tisch.

    „Ich habe keine besonderen Wünsche, meinte Wasil und sah seine Gastgeberin freundlich an. Rabitschew holte eine Flasche Wodka und alle langten kräftig zu. Nina zündete eine Kerze an. Die Möblierung war mehr als bescheiden, sogar für russische Verhältnisse. Die abgenutzte, durchgelegene Couch wurde mit einer bunten Wolldecke kaschiert. Ein uralter Ledersessel, der mal hochherrschaftlichen Hinterteilen mit Bequemlichkeit gedient hatte, fristete ein  trauriges Dasein. Eine weiße Decke verbarg die Altersschwäche des Tisches. Ein übergroßes Poster mit einem teuren, deutschen Sportwagen klebte über der Couch. Gegenüber ein Teppich, der ein kitschiges, russisches Landschaftsmotiv zeigte. Beim Essen schaute sich Rabitschew auffällig um und sagte: „Bald können Nina und ich im Zentrum eine tolle Wohnung beziehen. Ich habe mit Gregori Moskwin gesprochen. Er sagte, ich könnte die Schlüssel demnächst abholen. Ach ja, der Name Moskwin sagt dir natürlich nichts.

    Er sah mit kauendem Mund zu Saizew.

    „Dieser Moskwin ist ein toller Hecht, Du solltest mal sehen, was der alles hat. Ich sage dir, einen nagelneuen Mercedes S Klasse, eine Wohnung in der Cherzinskistraße, einfach erste Sahne. Ich habe mit ihm gesprochen, er hat mir versichert, dass er mir einen Job verschaffen kann, bei dem ich, wenn ich clever bin, viel Geld verdienen kann."

    Rabitschew war so verzückt von der Vorstellung, ein Leben in Saus und Braus zu führen, dass er kein Ende fand. Saizew unterbrach ihn mit der Frage: „Wer ist dieser Gregori Moskwin und mit welchen Geschäften verdient er sein Geld?"

    Rabitschew winkte lässig ab, so als wollte er sagen, dass der Typ nicht nur eine Geldquelle aufgetan hätte.

    „Du weißt also nicht genau, wie dieser Moskwin sein Geld verdient?"

    Der Wodka hatte Rabitschew geschwätzig gemacht, er schielte verärgert zu Saizew und konnte nicht verstehen, dass der Freund immer so blöde Fragen stellte.

    „Naja, lenkte er ein, „Moskwin hat nichts genaues erzählt, aber beim nächsten Treffen will er mir mehr sagen. Außerdem hat er mir den BMW für einige Tage geliehen, ist doch auch was, oder?

    Saizew wollte den Abend nicht mit weiteren Fragen stören. Dieser alte, verrostete BMW, damit konnte Lew bei ihm nicht punkten. Er kannte seinen Freund gut genug und wusste, dass er sich schnell begeistern ließ. Saizew hatte gehört, dass in gewissen Kreisen, mit unlauteren Mitteln, im Westen gute Geschäfte gemacht wurden. Es bildeten sich mafiaähnliche Strukturen, die bereits Teile der Gesellschaft unterwandert hatten. Das schnelle Geld ließ manchen seine gute Kinderstube vergessen. Der Staat, seine Institutionen, hatten in einigen Bereichen die Macht verloren. Es war leicht, dieses Vakuum mit fragwürdigen Elementen zu füllen.

    Nina merkte, dass es keinen Sinn machte, weiter zu

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