Ich, stumm: Ein Kunstmärchen
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Sie geht einen Vertrag ein mit einem mephistoähnlichen Kommilitonen, der ihr das Erreichen ihrer Wünsche zusichert. Nun vermischt sich Reales mit Fiktivem, das aber als real erzählt wird. Die Geschichte ist eben ein Kunstmärchen, bei dem genau dieses passiert. Die Grenze zwischen beiden zu finden, muss der Leser unternehmen.
Auch der Stil ist vermischt: Einerseits ist die Sprache lapidar, einer jungen Studentin angemessen, und es herrscht manchmal ein Erzählstil vor, wie er im Groschenroman nicht schlechter sein könnte.
Andererseits ist die Sprache zuweilen poetisch, gedichtartig und Hölderlinzitate sind in den fließenden Text eingearbeitet, die das Empfinden des Ich ausdrücken.
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Book preview
Ich, stumm - Jasmin Holder
1.
Heute ist der erste Tag des neuen Semesters.
Ich habe die Seminare Kunstmärchen, Mythenrezeption in der Literatur des 17. Jahrhunderts und locus ameonus in der mittelhochdeutschen Literatur gewählt. Mal sehen, ob jemand kommt, den ich kenne. Denn in der Germanistik sind so ungeheuer viele Studenten, dass es echt selten vorkommt, dass mal welche in einem Seminar auftauchen, die ich schon kenne.
Nina ist dieses Mal in keinem Seminar, das auch ich belegt habe.
Nina ist meine beste Freundin. Und auch meine einzige. Wir haben uns im ersten Semester kennengelernt. Damals hatten wir eine recht resolute Dozentin, die immer rasche Gedankengänge hervorzauberte. Über die Nina und ich uns während dem Seminar zugrinsten, weil wir sie so lustig fanden.
So lernten wir uns kennen.
Wir verstehen uns prima. Zusammen belegten wir bisher im Studium ein paar Seminare.
Dieses Semester machen wir aber kein Seminar zusammen; Nina hat sich für andere Seminare entschieden. Sie studiert auch noch Linguistik, ich nicht, ich dafür Mediävistik, so kommen wir nur in Literaturwissenschaft zusammen. Aber dieses Semester hat es eben nicht geklappt.
Ich muss mich jetzt schon fast beeilen, wie immer trödle ich herum. Mir fällt halt noch dieses ein und jenes, ich denke noch über dieses und jenes nach, und ich überlege mir, welche Kunstmärchen ich für das Seminar schon gelesen habe.
Sie sind schön, ich liebe sie, ich liebe Kunstmärchen, es gefällt mir, wie immer so die Realität mit dem Fantastischen verschmilzt, wenn man nicht genau weiß, was ist jetzt wahr und was nicht, ich liebe es, und ich bewundere es und ich bin begeistert davon!
Jetzt schnell noch die Haare machen.
Vorher habe ich sie gewaschen. Jeden Tag wasche ich die Haare. Das ist viel Arbeit, denn sie sind ganz schön lang. Sobald die Haare immer geföhnt sind, schlinge ich sie in zwei Knoten nach oben. Ich habe viele Haare und sie sind wellig, das ist ganz schön viel Masse, da brauche ich zwei Spangen.
Ich klipse die Haare fest in einem wildromantischen Knoten. Sieht süß aus, finde ich. Noch schnell einen Spritzer Parfum auf die Haare und fertig.
Dann schnappe ich mir meinen Rucksack, schaue in den Spiegel im Flur, ja, gefällt mir, und gehe.
Mama jammert immer rum, dass ich mich nicht schminke. Na ja, manchmal schminke ich mich schon. Manchmal. Heute nicht.
Zur Uni fahre ich heute mit dem Fahrrad. Das verbilligte Semesterticket für den Bus habe ich nämlich noch nicht geholt.
An der Uni ist viel los.
Bei mir steht heute erst Mythenrezeption in der Literatur des 17. Jahrhunderts an.
Es findet in Raum 025 statt.
Ich gehe hin. Viele Leute stehen schon da.
Ich schaue sie an.
Ich kenne niemanden. .
Und natürlich kennen die anderen sich schon wieder alle. Wie die das nur machen, denn sie reden eifrig miteinander und bilden Ringburgen, in die ich von außen nicht hineinkomme.
Da kommt Professor Schindler.
Er nickt mir freundlich zu. Ihn kenne ich und er kennt mich.
Er schließt die Tür auf und wir gehen hinein. Ich setze mich ganz vorne hin. Ich will ja alles gut sehen und mitbekommen. Ich weiß, nur Streber setzen sich vorne hin, zumindest in der Schule war das so. Ja, in der Schule. Aber jetzt sind wir ja erwachsen. Vorne will ich sitzen. Sollen doch die anderen hinten sitzen.
Das tun sie längst auch.
Als ob man sich hier zurückziehen müsste. Man studiert doch sein Traumgenre, sein Traumfach, seine Lieblingsbeschäftigung. Mir unbegreiflich, wie man dann hinten sitzen will.
Jetzt geht es los.
Herr Schindler stellt sich vor. Dann bittet er uns, uns auch vorzustellen. Weil ich vorne sitze, bin ich die Erste.
„Ich bin Lena, studiere jetzt im achten Semester und bin hier in diesem Seminar, weil mich Intertextualität interessiert."
Naja, nicht ganz genau unser Thema. Aber doch so ein bisschen.
Jetzt kommt die neben mir dran. Britta heißt sie. Und dann die nächsten.
Dann kommt der einzige männliche Teilnehmer an die Reihe.
„Mein Name ist Albert Stumm. Ich habe mein Studium schon beendet, aber studiere Germanistik weiter aus Leidenschaft."
Dann ist er wieder stumm. Wie sein Name. Mehr sagt er nicht.
Komischer Typ. Komische Ansage. Leidenschaftlich sieht der auch nicht gerade aus. Eher verwahrlost.
Egal. Jetzt kommt eine, die kenne ich vom Sehen. Sie stellt sich als „Margitta" vor. Blond ist sie und nette blaue Augen hat sie. Eine angenehme Person. Die muss ich mal ansprechen, wenn es um den Teampartner fürs Referat geht.
Bald haben sich alle vorgestellt und Herr Schindler beginnt mit der Einführung.
Es stellt sich heraus, dass jeder selber ein Referat halten muss, keine Teams. Muss ich halt alleine ran.
Alleine.
Einsam unter dem Himmel, wie immer, bin ich, fällt mir da ein.
Das ist meine Intertextualität. Ich spreche in geliebten Worten, die meine sein könnten, ja, die meine SIND.
*
Ich habe schon seit einiger Zeit eine Tutoriumsstelle.
Das bedeutet, ich bringe den Erstsemestern bei, wie man z.B. eine Hausarbeit schreibt oder seine Seminare am besten organisiert.
Nina hat auch eine Tutoriumsstelle.
Der Professor im Seminar „Dramen der Klassik", das ich zusammen mit Nina besuchte, verkündete in der letzten Seminarsitzung, es wären ein paar Tutoriumsstellen im Deutschen Seminar zu vergeben.
Ich bewarb mich sofort um eine Stelle, ebenso Nina, und wir bekamen sie auch. Denn wir waren die Ersten, die sich beworben hatten. Es kam nicht auf die Note im Seminar an, denn Nina hatte eine 3,5 und ich eine 1,5 .
Als ich von der freudigen Überraschung erfuhr, rief ich sofort Nina an, und sie hatte dieselbe freudige Nachricht bekommen .
Wir trafen uns im Heimatgarten und stießen auf unsere Errungenschaft an.
Nina ist überaus nett. Im Gegensatz zu mir ist sie wenig schüchtern. Trotzdem kommen wir super miteinander aus. Vielleicht gerade deshalb. Gegensätze ziehen sich an. Beziehungsweise ergänzen sich. Stets aber sagen wir im Seminar doch immer dieselben Sachen zu einem Problem. Also denken wir trotz Unterschied in der Art doch ähnlich. Und das verbindet uns.
Wenn wir zusammen irgendwo hingehen, klammert sie sich immer an mir fest. Aufs Klo muss ich auch immer mitkommen. Aber was tut man für seine beste Freundin nicht alles.
Ich selbst bin wahrscheinlich nicht ihre beste Freundin. Sie hat noch ein paar andere Freundinnen. Aber ich bin auch ihre Freundin; und das reicht mir.
Die Tutoren haben ein eigenes Zimmer, wo sie ihre Tutorien abhalten können.
Da war neulich ein Zettel an der Tür angebracht: „Für das Sprachseminar-Fest suchen wir noch Helfer für den Auf- und Abbau und den Getränkeverkauf. Helfen Sie uns als Tutor und machen Sie Freiwillige ausfindig!"
Normal ignoriert man solche Zettel ja. Aber ich habe mich dafür bereit erklärt.
Nicht, weil es mir besonders Spaß macht, fremde Leute, wenn es auch nur Studenten sind, anzuquatschen. Im Gegenteil. Das gefällt mir überhaupt nicht. Aber gerade deshalb will ich es tun. Damit ich mutiger werde.
Als ich Nina davon erzähle, und auch davon, dass ich das eigentlich gar nicht gerne mache, sagt sie:
„Kein Problem, Lena, mach nur welche ausfindig, ich rufe sie dann an und erkläre ihnen das Prozedere und wann sie wohin kommen sollen.
„Danke Nina, du bist eine wahre Freundin."
Beim nächsten Tutoriumstreffen frage ich meine Studentinnen – denn es sind nur Mädchen –, ob sie beim Sprachseminar-Fest etwas helfen würden. Zwei sagen sofort zu. Germanistinnen sind eben nett.
Ich teile sie für den Getränkeverkauf ein.
Dann bliebe noch der Auf- und Abbau der Tische und Bierbänke. Im Fach Germanistik gibt es fast keine Jungen. Mal verirrt sich ein einzelner her, ansonsten studieren Mädchen Literaturwissenschaft. Ich muss also anderswo Jungs ausfindig machen. Aber ich weiß schon wo.
Ich gehe zum Foyer. Das ist der Ort vor den Hörsälen und Seminarräumen. Dort stehen immer viele Studenten und unterhalten sich.
Ich muss nun Studenten ausfindig machen, die beim Sprachseminar-Fest aufbauen helfen.
Da sind zwei Anglisten, die kenne ich vom Sehen.
Auf die gehe ich zu.
„Hi Jungs! Geht ihr auch auf das Sprachseminarfest am 10. Juni?"
„Vielleicht. Mal sehen."
„Wir brauchen da noch starke Kerls, die Bierbänke aufbauen können. Wär das was für euch? Ihr bekommt dann auch Freikarten für Getränke."
„Auch für Bier? Oder nur für Cola?"
„Nein, auch für Bier!", sage ich und lächle ihm zu.
„Ist auch schnell erledigt, einmal aufbauen, und wenn ihr am Ende auch wieder abbaut, könnt ihr so lange umsonst trinken, bis das Fest vorbei ist."
„Mache ich", sagt der eine.
„Na gut, sagt der andere, „dann mache ich auch mit.
„Prima! Dann notiere ich eure Namen und Telefonnummern."
So gehe ich noch weiter umher,