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Liebenau: Das Leben der Meta Wiethold und das unheilvolle Erbe des 20. Jahrhunderts
Liebenau: Das Leben der Meta Wiethold und das unheilvolle Erbe des 20. Jahrhunderts
Liebenau: Das Leben der Meta Wiethold und das unheilvolle Erbe des 20. Jahrhunderts
Ebook697 pages10 hours

Liebenau: Das Leben der Meta Wiethold und das unheilvolle Erbe des 20. Jahrhunderts

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About this ebook

Kurz nach der Wende ist Liebenau ein Nazikaff, ein trostloser Ort in der Nähe von Berlin. Kaum jemand erinnert sich noch daran, dass zur Zeit der Weimarer Republik Künstler und Lebensreformer hier ihren Traum von einem freien, selbstbestimmten Leben Wirklichkeit werden lassen wollten. Als Ende 2019 ein Bild der wenig bekannten Malerin Meta Wiethold in einer Ausstellung in Berlin auftaucht und kurz darauf gestohlen wird, scheint die Vergangenheit die Gegenwart einzuholen.
Die Kultursoziologin Alev Aktay ist allerdings zunächst wenig begeistert, als die renommierte Professorin Karin Wolter sie damit beauftragt, gemeinsam mit einer Kunsthistorikerin ein Buch über Meta Wiethold zu verfassen. Alev ist gerade auf dem Sprung nach oben in ihrer wissenschaftlichen Karriere und die Geschichte "Kartoffeldeutschlands" lässt sie eher kalt.
Doch wer war Meta Wiethold, die ostpreussische Gutsbesitzertochter, die sich in Berliner Künstlerkreisen der "goldenen Zwanziger" herumtrieb, Ideen der Lebensreform anhing und schließlich in die UdSSR emigrierte, wirklich?
Im Berlin der Gegenwart tobt unterdessen der Wahlkampf. Islamistische Anschläge erschüttern die Stadt. Rechtspopulisten, Reichsbürger und ein grellbuntes, von Diversity und Internetaktivismus geprägtes Kulturprekariat prallen hart aufeinander.
Als Schüsse fallen, begreift Alev, dass sie jahrelang fernab der Realität in einem universitären Elfenbeinturm gelebt hat. Ausserdem scheint jemandem, der höchst lebendig ist, sehr daran gelegen zu sein, die Vergangenheit ruhen zu lassen ...
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateMar 2, 2022
ISBN9783742770608
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    Book preview

    Liebenau - Anna Laelia Seewald

    Die wichtigsten Personen:

    21. Jahrhundert:

    Alev Aktay: Kultursoziologin an der Humboldt-Universität

    Karin Wolter: Professorin an der Humboldt-Universität, Alevs Chefin

    Linda Hagenau: Juniorprofessorin für Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität

    Tonka Schwarz: prekär lebende Kulturwissenschaftlerin, jobbt als Security in der Berliner Galerie der Moderne, Tonkas Mutter stammt aus Liebenau

    Sebastian Preuss, genannt Basti: Tonkas WG-Mitbewohner, Mitglied der Linken Partei und Mitarbeiter von Uli Kerber

    Uli Kerber: Politiker der Linken Partei, wohnt in Liebenau in dem Haus des Architekten Seidel

    Samantha Ritter, genannt Sam: Redakteurin des hippen, queerfeministischen Lifestyle-Magazins „dicke Zicke"

    Ina Päffgen: Chefredakteurin der „dicken Zicke", Lebensgefährtin von Karin Wolter

    Gregor Matzke: Politiker der Deutschen Alternative, wohnt in Liebenau

    Madlen Matzke: Frau von Gregor und Tonkas Cousine

    Leonie: Studienfreundin von Tonka

    20. Jahrhundert:

    Meta Wiethold: aus Leschnitz in Ostpreußen stammende Malerin, lebt 1927 ein paar Monate in Liebenau

    Konrad Hallinger: Kunstkritiker, zeitweise mit Meta liiert

    Charlotte Hallinger, genannt Charlie: Tänzerin, Konrads Ehefrau

    Karl Gessler: Graphiker, Kommunist mit Zweifeln, Freund von Meta

    Anton Malinka: Maler, Freund von Meta und Protegé von Konrad

    Friedhelm Kettelheim: Galerist und Freund von Meta, Konrad, Karl und Anton

    Friederike Schmidt, genannt Fritzi: Jazzpianistin, Freundin von Meta

    Franz Leinweber: Mathematiker an der Friedrich-Wilhelms-Universität, Jazz- und Kunstliebhaber, Freund von Meta, Fritzi und Hannes

    Johannes Reuter, genannt Hannes: Freund von Franz, Weltkriegsveteran, mit Meta liiert

    Erich Seidel: Architekt des Neuen Bauens

    Klara Seidel: Frau von Erich und mit Meta befreundet

    Adalbert von Zitzewitz: Nachfahre der Gutsbesitzerfamilie, die einst in Liebenau das Sagen hatte, lebte bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges jedoch in Amerika, kennt sich mit Hypnose aus

    Sibylla Drenkmann: Schauspielerin, Jugendliebe von Konrad, gehört zum engsten Kreis um Adalbert von Zitzewitz

    Thomas von Sellering: Bankierssohn und Nachhilfeschüler von Meta, gehört zum Kreis um Adalbert von Zitzewitz

    Julian von Sellering: Thomas’ kleiner Bruder

    Helene Adamek: Geschäftsführerin des Modesalon Laurin

    Vorbemerkung:

    Da in dem Roman Rechtsradikale der Vergangenheit und Gegenwart auftreten, fallen auch Bezeichnungen für Minderheiten und Randgruppen, die eine eindeutig negative Färbung haben. Es wäre unglaubwürdig gewesen, einen Nazi oder zumindest jemanden, der Ressentiments hegt, sich politisch korrekt ausdrücken zu lassen. Entsprechend verwenden im Roman auch Anhänger*innen der Diversity Begriffe wie z. B. „Kartoffeln für Personen, die in ihren Augen die deutsche „Mehrheitsgesellschaft repräsentieren. Wo immer abwertende Bezeichnungen nicht notwendig erschienen, um die Haltung der Romanfiguren und ihre Ausdrucksweise zu charakterisieren, wurden sie vermieden.

    Liebenau bei Berlin, Juli 1994

    Er schaute auf seine Armbanduhr. Die Digitalanzeige besagte, dass es sieben Minuten nach Mitternacht war. Er hatte sich Zigaretten geholt, am Automaten, im „Rössler-Eck". Laut war es da gewesen und verraucht. Die Glatzköpfe waren nicht dagewesen. Er hatte nichts darauf gegeben. Dann waren sie wohl woanders. Matzkes Sohn Gregor war auch dabei. Vor ein paar Jahren war der noch ein schüchterner Pionier gewesen, ein magerer Bengel mit flachsblondem Haar und blauem Halstuch, einer, der höflich die Hand gab und nur redete, wenn man ihn etwas fragte. Aber die Zeiten hatten sich geändert.

    Er seufzte. Er hatte fast sein ganzes Erwachsenenleben in der DDR zugebracht: Nach dem Krieg hatte er seine erste Frau geheiratet, dann hatte er zwei Söhne mit ihr bekommen – Erwin und Christian. Erwin war in den Westen gegangen, gleich '89, und verdiente da jetzt gutes Geld, soweit er wusste. Christian war geblieben. Auch er hatte die Wendezeit gut überstanden. Sein jüngerer Sohn war Bauunternehmer, einer der wenigen in der Gegend, die Jobs zu vergeben hatten. Jobs. Das sagte man so im Westen.

    Er selbst hatte im Traktorenwerk gearbeitet. Nach '45 war ihm auch gar nichts anderes übrig geblieben. Aber es war nicht das Schlechteste gewesen. Er hatte sein Leben lang sein Auskommen gehabt. Das konnten die jungen Leute heute nicht unbedingt von sich sagen. Er fragte sich, was die Zukunft wohl bringen würde. Er sorgte sich um seine Enkel: Madlen würde nächstes Jahr mit der Schule fertig sein und es war nicht abzusehen, ob ihre guten Noten ihr etwas nützen würden oder ob sie trotz allem arbeitslos auf der Straße herumhängen würde wie so viele andere.

    Erwins Tochter Susanne studierte – Medizin in Marburg. Offensichtlich machte sie sich ganz gut. Erwin hatte allen Grund, stolz zu sein. Er dachte an das Foto, das er auf der Kommode im Wohnzimmer stehen hatte. Es war vor zwei Jahren aufgenommen worden. Damals hatte Didi noch gelebt – Dietlinde, seine zweite Frau, die auf dem Foto die Arme um seine beiden fast erwachsenen Enkelinnen gelegt hatte – links, in kurzen Shorts, die blonde Madlen, die etwas bemüht in die Kamera gelächelt hatte, rechts, modisch gekleidet und sichtlich gut gelaunt, Susanne. Vor ihnen hatte die kleine Tonka posiert. Sie hatte breit gelacht, mit ihren Zahnlücken, die sie jetzt nicht mehr hatte, und einer großen rosa Schleife in den dunklen Haaren. Tonka würde in wenigen Wochen zur Schule kommen. In Berlin. Da hatten sie wenigstens die Probleme nicht, die sie hier hatten.

    In Liebenau hatte die Grundschule im letzten Jahr zugemacht, zwei Monate nachdem Didi gestorben war. Kurz nachdem sie das Foto, das jetzt bei ihm auf der Kommode im Wohnzimmer stand, aufgenommen hatten, war bei ihr Krebs diagnostiziert worden. Für eine Behandlung war es damals schon zu spät gewesen. Sie hatten es trotzdem versucht. Erfolglos natürlich, denn der Krebs hatte breit gestreut – Brust, Leber, Blase …

    Jedenfalls mussten die Liebenauer Grundschüler jetzt mit dem Schulbus nach Schiedenfeld fahren. Das Traktorenwerk hatten sie schon direkt nach der Wende abgewickelt. Ihm konnte es ja egal sein. Er war in Rente. Im Herbst würde er 74 werden. Aber die jungen Leute, was sollte aus denen bloß werden …?

    Es war immer noch verdammt heiß, selbst jetzt, kurz nach Mitternacht. Er merkte, dass sich auf seiner Oberlippe kleine Schweißperlen gebildet hatten. Zu Hause würde er sich noch ein kühles Bier genehmigen. Schlafen konnte er sowieso nicht. Bei den Temperaturen … Da döste er lieber tagsüber vor sich hin. Er hatte ja auch sonst nichts zu tun.

    Er war so in Gedanken versunken, dass er sich im Nachhinein selbst fragte, was ihn dazu bewegt hatte, zur Seite zu schauen, auf den schmalen Streifen Gras, der den Bürgersteig von der Hecke trennte, hinter der sich der Parkplatz des Aldi-Marktes befand.

    Den hatten sie vor drei Jahren neu gebaut und auch er kaufte dort ein. Den Konsum gab es ja nicht mehr und er wollte sparen. Diese Regel der neuen Zeit hatte er schnell gelernt. Billiger als bei Aldi konnte man nirgends kaufen.

    Jetzt, um diese Uhrzeit, war da natürlich alles wie ausgestorben. Auf dem Rasenstreifen lag etwas oder besser gesagt jemand – ein massiger Körper, der in der Dunkelheit nur ein Umriss war. Vorsichtig wagte er sich einen Schritt näher. Der Körper, der muskulös und durchtrainiert wirkte, gab ein schwaches Stöhnen von sich, eigentlich mehr ein Wimmern.

    Er sah, dass es einer von den Negern war, die sie in den Platten im Thälmann-Carrée untergebracht hatten. So einen hätte er fast zum Schwiegersohn bekommen. Na ja, ein bisschen heller war der Vater von Tonka wohl schon. Sascha hatte sich nicht näher darüber ausgelassen, wie das so ihre Art war. Sie hatte ihnen den Säugling damals präsentiert wie eine Trophäe. Triumphierend hatte sie das kleine Bündel Mensch mit dem dunklen Haarflaum aus der Tragetasche gezogen, als sie zu Besuch aus Berlin da gewesen war – damals, zwei Jahre vor der Wende, als sie alle noch nicht hatten ahnen können, wie sehr ihre Welt aus den Fugen geraten würde.

    Tonka – den Namen hatte Sascha sich für ihre Tochter ausgedacht, so wie sie sich auch ihren eigenen Namen selbst gegeben hatte. Da war sie in der 9. Klasse gewesen und hatte für einen sowjetischen Eistänzer geschwärmt. Eigentlich hieß sie Alexandra. Sie war der kleine Nachkömmling gewesen, mit dem niemand mehr gerechnet hatte und er hatte sich mehr als einmal Vorwürfe gemacht, dass Didi und er sie vielleicht zu sehr verwöhnt hatten.

    Er wusste nicht, was Sascha in Berlin trieb. Wahrscheinlich arbeitete sie noch als Krankenschwester. Die wurden ja immer gebraucht. So gesehen war die Berufswahl eine glückliche Fügung gewesen, wenigstens ein bisschen was Vernünftiges in dem ansonsten so unsteten Leben seiner Tochter. Er wusste nicht, ob sie einfach nur Pech mit Männern hatte oder ob sie sich nicht fest binden wollte. Er nahm an, dass es in einer anonymen Großstadt wie Berlin schwierig war, jemanden kennenzulernen. Vermutlich schreckten viele Männer auch vor einer Frau mit Anhang zurück. Na ja, die Suppe, die sie sich eingebrockt hatte, sollte sie mal schön selbst auslöffeln …

    Er seufzte noch einmal. Er musste dem Mann, der auf dem Grünstreifen lag, helfen. Hier im Ort hatten sie nicht viel mit den Afrikanern zu tun. Auch er hatte sich gefragt, warum sie die Leute ausgerechnet in Liebenau hatten einquartieren müssen, wo so viele Leute hier selbst keine Arbeit hatten. Sie brauchten diese Afrikaner nicht. Damals, als der Beschluss gekommen war, die Asylanten in den Platten im Thälmann-Carrée - oder Waldeck-Carrée, wie man jetzt lieber sagen sollte -, unterzubringen, war auch er unter denen gewesen, die dagegen protestiert hatten.

    Aber er gehörte nicht zu den Schreihälsen, die glaubten, die Dinge mit Gewalt lösen zu müssen. Er sah, dass aus einer Wunde am Kopf des Negers Blut sickerte. Auch das T-Shirt war von Blut durchtränkt. Der dunkle, große Körper lag jetzt ganz starr da. Er warf einen prüfenden Blick auf den Brustkorb. Nichts hob und senkte sich. Wenn er nicht an ein Wunder glauben wollte, dann war der Mann tot.

    Trotzdem durfte er nichts unversucht lassen. Er ahnte, dass die Glatzköpfe aus dem „Rössler-Eck" damit zu tun hatten und er sich eine Menge Ärger einhandeln würde, wenn es sich herumsprach, dass er den Mann gefunden hatte und versucht hatte, ihm zu helfen. Er wollte keinen Ärger. Aber einfach so weitergehen? Na ja, tot war der Neger sowieso. Aber er war ein Mensch.

    Vielleicht, wenn doch noch irgendwie Hoffnung bestand … Er gab sich einen Ruck und trabte zurück zum Marktplatz, wo sich, wie er wusste, eine Telefonzelle befand – sehr modern, in grau und rosa, wie sie sie im Westen hatten. Er hoffte, dass er keinem der Glatzköpfe begegnen würde, besser auch niemand anderem. Aber wer sollte zu so später Stunde denn schon noch unterwegs sein?

    Tonka: Berlin-Neukölln, November 2019, Donnerstag, früher Abend

    Müde ließ Tonka sich auf einen der Holzstühle vom Sperrmüll plumpsen, die in ihrer WG-Küche herumstanden. Sie überlegte kurz. Dann zog sie sich noch den heran, an dem das Geflecht der Rückenlehne aufgeplatzt war. Es wäre gut, jetzt ein wenig die Füße hochlegen zu können. Sie hatte das Gefühl, dass sie unten an den Beinen zwei dicke, brennende Klumpen hängen hatte. Das konnte ja heiter werden. Heute war ihr erster Tag als Aufsicht in der Berliner Galerie der Moderne gewesen und sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so anstrengend werden würde. Dabei war sie froh, dass sie den Job hatte.

    Ihr Master in Kulturwissenschaften hatte ihr nichts eingebracht. Während ihres Studiums hatte sie das eine oder andere Mal ein alternatives Kulturprojekt ehrenamtlich auf die Beine gestellt, mit anderen, die damals ebenfalls idealistisch und voller Tatendrang gewesen waren, und sie hatte gedacht, dass ihre Praxiserfahrungen sich eines Tages auszahlen würden. Doch nach dem Abschluss war die Luft plötzlich raus gewesen. Die Leute waren weg gewesen und die Motivation auch. Die Stadtteilmagazine überschlugen sich vor Lob für andere studentische Projekte und Tonka hangelte sich von einem öden Minijob zum nächsten. Zuerst war sie als Sekretärin in einem schäbigen Callcenter gelandet, das nach eineinhalb Jahren Weile pleite gegangen war. Danach hatte sie sich als Briefträgerin versucht, immer mit Dreimonatsverträgen. Als der erste verlängert worden war, hatte sie gedacht, dass sie bestimmt bis zur Entfristung durchhalten würde, doch der zweite Dreimonatsvertrag war dann nicht mehr verlängert worden.

    Ächzend nahm Tonka ihre angequollenen Füße wieder vom Stuhl. Sie humpelte zu dem windschiefen Regal aus dem Baumarkt, wo sie ihren alten Laptop aufbewahrte, nahm ihn aus dem abgewetzten schwarzen Polyestertäschchen und baute ihn auf dem rot gestrichenen Holztisch auf. Den Tisch hatte sie selbst gestrichen, damals, als sie zu ihrem Freund Philipp und dessen Kumpel Basti in die WG in Neukölln gezogen war.

    Die Sache mit Phil war schon vor einer Weile in die Brüche gegangen. Zuerst hatten sie einander noch stillschweigend geduldet. Dann hatte Phil die Promotionsstelle in Göttingen gekriegt und Claire, eine Übersetzerin aus Großbritannien, war in sein Zimmer gezogen. Claire war ganz nett. Vor allem war sie selten da. Sie schien ihr eigenes Leben zu haben, das vor allem aus einer Clique junger Leute aus aller Welt bestand, die tagsüber in Cafés und abends in diversen Clubs in Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln herumhingen. Manchmal blieb Claire auch zu Hause und übersetzte dann nächtelang irgendwelche Texte, um das Geld für die nächste Miete und weitere wilde Clubnächte zusammenzubekommen. Meistens klappte das ganz gut und Tonka fragte sich manchmal, wann und wie Claire die ganzen Aufträge an Land zog, wo sie doch so sehr mit herumhängen und Party machen beschäftigt war. Jetzt war ihre Mitbewohnerin für ein paar Tage nach Worcester gefahren, wo sie herkam, weil ihre ältere Schwester ein Kind bekommen hatte. Keine Ahnung, ob sie bleiben würde, wenn der Brexit erst einmal durch wäre. Vielleicht schaute sie sich zu Hause schon nach Stellenangeboten um.

    Tonka beneidete sie fast ein wenig darum. Sie selbst konnte nicht einfach so die Koffer packen und sagen „Na gut, dann gehe ich eben wieder nach Hause." Ihr Zuhause war ja hier. Sie könnte allenfalls nach Mallorca ziehen, wo ihre Mutter lebte – mit Markus, ihrem neuen Freund, einem Künstler aus Westdeutschland, der eine Finca dort hatte. Markus war nicht gerade arm und Mutti, die gelernte Krankenschwester war, hatte auf Mallorca sofort einen Job als Arzthelferin bei einem deutschen Arzt gefunden. Na ja. In Berlin wimmelte es nur so von Spaniern, die in ihrer Heimat keine Jobs bekommen hatten, obwohl viele mehrere tolle Masterabschlüsse hatten und fast alle fließend Englisch sprachen. Da konnte sie wohl kaum mithalten. Es war zum Heulen.

    Aber immerhin hatte sie jetzt den Job als Aufsicht in der Berliner Galerie der Moderne. Herr Ziegler von der Security hatte sogar gesagt, dass in den nächsten Tagen Stühle für sie aufgestellt werden würden – spätestens Anfang der nächsten Woche, so lange würden sie doch bestimmt noch durchhalten. Tonka war sich da nicht so sicher – so, wie sich ihre Füße im Moment gerade anfühlten. Aber sie musste morgen erst um zwei Uhr nachmittags wieder da sein – genug Zeit also, sich heute Abend zu entspannen und morgen so richtig auszuschlafen. Montag hatte sie dann ihren freien Tag und Dienstag wären die Stühle sicher da. Was zu lesen, um die Zeit totzuschlagen, durfte sie leider nicht mitnehmen.

    „Ihr müsst schon darauf achten, dass die Leute nicht zu nah an die Bilder rangehen. hatte Herr Ziegler, den sie eigentlich Uwe nennen sollten, ihnen eingeschärft. „Das ist schließlich euer Job. Die Berliner Galerie hat auf Lichtschranken verzichtet, was vielleicht am falschen Ende gespart war, denn so piept nichts. Es kommt durchaus mal vor, dass irgendwelche Gören sich einen Spaß machen und mit Kuli ein Autogramm auf die Bilder kritzeln oder eine Frau dreht sich um und schlägt mit der Handtasche irgendwo gegen. Der Schaden kann dann in die Millionen gehen. Immerhin leben die Künstlerinnen nicht mehr. Was von deren Werk kaputt geht, bleibt für immer zerstört und einige der Sachen sind nur Leihgaben. Es kommt also auf euer Augenmaß an. Und immer schön höflich bleiben! hatte der Leiter der Security-Firma weiter ausgeführt. Rucksäcke mussten im Eingang an der Garderobe abgegeben oder in Schließfächer gesperrt werden.

    Tonka fand die Ausstellung, die gestern eröffnet worden war, eigentlich ganz interessant - „Die Freiheit nehm' ich mir! Berliner Künstlerinnen der Weimarer Republik." Von dadaistischen Collagen über Gemälde der neuen Sachlichkeit, die oft unterkühlt und spröde wirkten, und frecheren, bunteren Bildern, die vermutlich dem Expressionismus zuzurechnen waren, bis hin zu experimentellen Schwarzweißfotografien war fast alles vertreten. Klar – Berlin war damals genau wie heute ein Mekka für Künstler und Kreative gewesen, ein Zentrum der Avantgarde in den wilden Zwanzigern und eine europäische Metropole, die für ihre Toleranz und Weltoffenheit bekannt gewesen war. Als die Werke, die sie in der Ausstellung zeigten, entstanden waren, hatte immerhin noch niemand ahnen können, dass nur wenige Jahre später die Nazis an die Macht kommen würden.

    Ein Bild hatte es Tonka ganz besonders angetan: Rechts stand eine große blonde Frau im Profil, deren weißes Kleid sich im Wind zu bauschen schien. An der Hand hielt sie einen kleinen Jungen. Hinter ihnen war, dem Betrachter zugewandt, ein Mädchen zu sehen, das fröhlich lachte und ein Lineal und einen Bleistift in den Händen hielt. Links bildete ein großer Baum das Gegengewicht zu der Frau und den Kindern. In seinen Ästen hingen kleine rote Früchte, wahrscheinlich Kirschen. Hinter der Frau, waren bunte Flachdachhäuser zu sehen, die sich mit Grünflächen abwechselten und über allem strahlte ein blauer Himmel.

    „Die Schwester der Künstlerin stand auf der kleinen weißen Tafel unter dem Bild. Die Malerin hieß Meta Wiethold. Tonka hatte eine Weile gegrübelt, ob sie den Namen irgendwo schon einmal gehört hatte, konnte sich aber nicht erinnern. Dann war Herr Ziegler - Uwe - an sie herangetreten und hatte sie gebeten, in den anderen Raum zu wechseln. „Hier macht Julia. Julia war eine dickliche Russlanddeutsche mittleren Alters. Sie hatte sich ein bisschen damit großgetan, dass sie einen speziellen Security-Lehrgang absolviert hatte - vom Jobcenter gefördert! - und war erstaunt gewesen, dass man Tonka einfach so eingestellt hatte. Julia hatte sogar einen Waffenschein. Das behauptete sie zumindest. „Dich hatte ich für den nächsten Raum vorgesehen, Tonka hatte Herr Ziegler gesagt. „Da sind die Bilder genauso schön.

    Tonka überlegte kurz, ob sie Meta Wiethold googeln sollte, verwarf den Gedanken dann aber. Sie wollte lieber ein bisschen auf Twitter rumdaddeln und dann noch E-Mails checken, obwohl sie nicht wusste, wer ihr hätte schreiben können – Claire vielleicht. Tonka loggte sich bei Twitter ein. Sie hatte einen Artikel über die Panda-Zwillinge, die im Berliner Zoo geboren worden waren, in ihrer Twitter-Timeline, Fridays for Future, Werbung für eine neue Netflix-Serie und die neuesten Erkenntnisse über den antisemitischen Anschlag in Halle. Die Kommentare dazu waren zum Kotzen: ein „Malte_DeutscheAlternativeJetzt war sich sicher, dass der Täter in Wirklichkeit ein Linker war und die „Lügenpresse und das „linke Establishment das zu vertuschen versuchten - „Die gehören doch alle an den Galgen! tat er seine Sicht der Dinge kund.

    Gregor, der Mann von Tonkas Cousine Madlen, kandidierte in Liebenau, dem Dorf, in dem Tonkas Mutter aufgewachsen war, für die Deutsche Alternative. Es war wirklich zum Gruseln! Mit ihrem spitzen Gesicht, den künstlich aufgehellten Haaren, den blöden Kindern und dem beschränkten Mann, der in den Neunzigern ein Nazi-Schläger gewesen war, verkörperte Madlen alle Negativklischees, die die Leute über Ostdeutschland im Kopf hatten.

    Zum Glück war Tonkas andere Cousine Susanne da ganz anders. Ihr Mann und sie waren beide Ärzte und lebten in Frankfurt am Main. Im Herbst vor vier Jahren hatten sie einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingsjungen aus Afghanistan als Pflegesohn bei sich aufgenommen. Aziz hatte mittlerweile eine Ausbildung zum Krankenpfleger begonnen und eine deutsche Freundin gefunden. Er war überhaupt nicht so wie Madlen und ihr blöder Mann Flüchtlinge darstellten – als „Rapefugees, die Frauen sexuell belästigten, weil sie mit der sexuellen Freizügigkeit hier nicht klarkamen, oder „Merkels Goldstücke, die hier nur in die Sozialsysteme einwanderten – da war sich vor allem Madlens Mann Gregor sicher. Dabei hatten Madlen und Gregor selbst eine Weile von Hartz IV gelebt.

    Tonka klickte wieder zurück in ihre Timeline. Sie wollte sich lieber mit lustigeren Sachen befassen. In der Box mit den Trends, die ihr der Twitter-Algorithmus empfahl, ploppte #Berlin auf. Bis zur Senatswahl im Januar waren es noch ein paar Wochen. Vermutlich hatten ein paar Witzbolde zigmal die Wettervorhersage retweetet, damit Berlin trendete. Tonka scrollte noch ein bisschen durch ihre Timeline. Dann erhob sie sich unwillig von ihrem Stuhl und machte sich einen Tee. Sie durchforstete den Küchenschrank, in dem Basti seine beachtliche Teesammlung aufbewahrte. Tonka fand eine Packung Fencheltee, auf der das Logo einer Billigmarke prangte. Na prima! Sie selbst hatte ja neulich erst Kaffee gekauft, da würde Basti sich sicher nicht so haben.

    Tonka: Berlin-Neukölln, November 2019, Donnerstag, früher Abend

    Als Tonka sich wieder vor ihren Laptop setzte, trendete auf Twitter gerade #Berlin #Tegel #Bombendrohung. Tonka hatte einen Tweet von Sam Ritter in der Timeline: „Oha! People of Color nehmen sich, was ihnen zusteht und Annika und Thomas drehen durch! - „Annika und Thomas war unter Queerfeminist*innen und Critical-Whiteness-Aktivist*innen eine beliebte Anspielung auf Astrid Lindgrens Pippi-Langstrumpf-Bücher: hier die charmanten, unkonventionellen „Anderen", also queere Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund - in der Rolle der Pippi Langstrumpf -, dort die braven, dummen Streber der Mehrheitsgesellschaft - Annika und Thomas.

    Das Profilbild von Sam Ritter zeigte eine hübsche Asiatin mit auffallend hellem Teint und langen, seidig-braunen Haaren. Tonka mochte die Frauen rund um das hippe queerfeministische Magazin „Die dicke Zicke, bei dem Sam Ritter als Redakteurin arbeitete, nicht besonders. Sie hatten Geld und beschäftigten sich schwerpunktmäßig mit Mode und cool sein. Trotzdem beanspruchten sie für sich, politisch überall ein Wörtchen mitzureden, es ging ja um ihre Körper und die seien eben politisch, so begründeten sie das. Davon abgesehen schlugen sie verbal auf jeden ein, der eine sachliche Diskussion beginnen wollte. „Linke Trolle nannten viele Medienleute die in den sozialen Netzwerken sehr aktive Clique um „Die dicke Zicke" wohlwollend und so hatte Sam Ritter für ihren dämlichen Tweet auch bereits mehrere hundert Likes eingeheimst.

    Tonka verstand nicht einmal genau, worum es ging. Sie klappte die Kommentarleiste aus. „Endlich zeigen wir den scheiß Nazi-Kartoffeln mal, wo der Hammer hängt! hatte ein Profil namens „FettundstolzdaraufduArsch geschrieben und dazu ein Foto gepostet, das eine stark übergewichtige Frau in einer pinken Burka zeigte, die angriffslustig die Fäuste geballt hatte. Tonka klickte den Account an: Natürlich war „FettundstolzdaraufduArsch selbst Deutsche, sogar blond und blauäugig, trotz des Gezeters von wegen „Nazi-Kartoffeln.

    Tonka klickte zurück zu dem Tweet von Sam Ritter. „Keine Ahnung, aber eine Bombendrohung? Da soll irgendwie gleich ein Flugzeug in die Luft fliegen, das lässt doch an 9/11 denken. Finde ich nicht so toll, was können denn all die Leute, die im Flugzeug sitzen, dafür? hatte „Zecke14093 kommentiert. „Bullen_schreck hatte „Zecke14093 geantwortet: „Da geht’s um zwei Asylbewerber, die aus Großbritannien abgeschoben werden sollten. Jetzt, mit Johnson und dem Brexit, herrscht da natürlich ein total rassistisches Klima, gegen das die zwei sich wehren. Hier eine Analyse von uns. „Bullen_schreck hatte einen Link beigefügt, „Revolution vom Rand" hieß der Blog. Tonka hatte keine Lust, es zu lesen.

    Basti kannte Leute wie „Bullen_schreck". Ihr Mitbewohner bastelte gerade an seiner Promotion in Geschichte - irgendwas mit Frauen im Nationalsozialismus - und engagierte sich in seiner Freizeit für die Linke Partei in Neukölln. Im Moment war er gerade nicht da. Wahrscheinlich war er noch an der Uni oder er hing mit seinen Parteigenossen in irgendeiner angesagten Neuköllner Kneipe herum und diskutierte Politkram, vielleicht sogar über dieses mit Sprengstoff beladene Flugzeug mit den zwei abgeschobenen Asylbewerbern.

    „KopftuchHülya hatte zu Sam Ritters Tweet angemerkt: „Die Kartoffeln sind Nazis und werden es immer bleiben. Denk an NSU!. „FettundstolzdaraufduArsch hatte das geliked und hinzugefügt: „Absolut!. Endlos viele Kommentare im selben Stil folgten. Weiter unten hatte „Andyderschonlängerhierlebt sich zu Wort gemeldet: „Fidschi-Fotze halts maul! Wenn Merkels Gäste Hier was Abziehen wie bei den amis 2001 bist du dran! - Es bestand kein Zweifel daran, wo „Andyderschonlängerhierlebt" politisch stand. Ekelhaft!

    Tonka klickte zurück in ihre Timeline. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Nichts, wenn sie ehrlich war. Allerdings wäre es vielleicht ganz sinnvoll, mal in Erfahrung zu bringen, was gerade in Tegel abging. Der RBB brachte ein GIF, in dem der Berliner Innensenator Albert Geyer mit wichtiger Miene irgendein Statement zu der Sache ablieferte. Tonka legte keinen Wert darauf, zu erfahren, was genau er sagte – wahrscheinlich sonderte er ein paar inhaltsleere Floskeln ab wie jeder Politiker, nur dass Geyer halt besonders gut darin war. Die „Berliner Abendnachrichten versprachen unter der Headline „Bombendrohung am Flughafen Tegel – Was wir bislang wissen eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse. Tonka klickte auf den Artikel.

    19 Uhr 30: In einem Schreiben bekennt sich die Terrororganisation Islamischer Staat zu den Bombendrohungen für die Berliner Flughäfen Tegel und Schönefeld. In beiden Flughäfen untersuchen unterdessen Sprengstoffexperten Gebäude und Gelände.

    Die Verantwortlichen des Flughafen Tegel sind in Absprache mit Sicherheitskreisen bereit, die aus London kommende British Airways Maschine in Tegel landen zu lassen. Die planmäßige Landung der Maschine ist für 20 Uhr 10 vorgesehen. Wohnhäuser in der Nähe des Flughafens werden zur Zeit evakuiert. Der Berliner Innensenator Albert Geyer erklärt, dass es sich um eine reine Vorsichtsmaßnahme handele. Das Personal an Bord der British Airways Maschine habe weder Sprengstoff oder Ähnliches im Passagierraum finden können noch sei einer der Passagiere in irgendeiner Weise verdächtig aufgefallen. Im Moment bemühe man sich vor allem, die Passagiere, von denen einige die Berichterstattung online verfolgt hätten, zu beruhigen.

    19 Uhr 25: Der Berliner Innensenator Albert Geyer verkündet, dass der Flugverkehr für die Berliner Flughäfen Tegel und Schönefeld eingestellt worden sei. Abflüge seien verschoben worden, Landungen seien auf Flughäfen in der Umgebung umgeleitet worden. Auch dort seien entsprechende Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden.

    19 Uhr 15: Nach der Bombendrohung für den Berliner Stadtflughafen Berlin-Tegel wird gemeldet, dass auch der Flughafen Berlin-Schönefeld eine Bombendrohung erhalten hat. Der Flughafen Tegel wird geräumt. Sprengstoffexperten sind auf dem Weg dorthin.

    Gerüchte aus bislang noch unbekannter Quelle deuten darauf hin, dass das Flugzeug mit der Bombenfracht an Bord eine British Airways Maschine sein könnte, die in den frühen Abendstunden vom Londoner Flughafen Heathrow gestartet ist. Offizielle Stellen in Heathrow weisen jedoch daraufhin, dass die Sicherheitsüberprüfung sowohl der Flugzeuge als auch der Passagiere höchste Standards erfülle.

    19 Uhr 10: Auf dem Flughafen Berlin-Tegel ist eine anonyme Bombendrohung eingegangen. Es sei Sprengstoff auf dem Flughafengelände versteckt. Zudem befinde sich Sprengstoff an Bord eines Flugzeuges mit dem Ziel Tegel, das innerhalb der nächsten Stunde landen und kurz davor über dem Flughafengelände explodieren soll.

    Tonka schaute auf die Zeitanzeige ihres Laptops: 0 Uhr 5. Na gut, das musste sie mal wieder neu einstellen. Sie ging zu der Steckdose neben der Tür, wo sie ihr Handy gerade auflud. 19 Uhr 40. Als sie sich wieder vor ihren Laptop setzen wollte, hörte sie, wie sich ein Schlüssel in der Haustür drehte. Sie überlegte gerade, ob sie, was den Artikel der „Berliner Abendnachrichten betraf, auf Update klicken sollte, als die Haustür krachend aufsprang. „Hi Tonka! Basti musste gesehen haben, dass in der Küche Licht brannte. „Heute gibt’s was zu feiern! Ich hab den Job!" Ihr Mitbewohner stand im Türrahmen.

    Tonka sah, dass er feuchte Haare hatte und seine Jacke an den Schultern durchnässt war. Offenbar hatte es zu regnen angefangen. Basti fuhr meistens mit dem Fahrrad und nahm die U-Bahn nur, wenn es gar nicht anders ging. „Ich war gerade noch bei Netto." Er zog eine Flasche Rotkäppchen-Sekt aus seinem Bundeswehrrucksack.

    „Also, der Reihe nach. Uli Kerber hat mich eingestellt! Kerber war der Spitzenkandidat der Linken Partei für die kommenden Senatswahlen. „Wenn Uli Bürgermeister wird, braucht er vielleicht noch jemanden zusätzlich. Aber für's erste bin ich da Mädchen für alles. Alle rechneten damit, dass die Grünenpolitikerin Maryam Husseini Berlins nächste Regierende Bürgermeisterin werden würde. Die Grünen lagen derzeit den Wahlprognosen zufolge bei über 24% und die Chancen standen sehr gut, dass wieder ein rot-rot-grüner Senat zustande kommen würde. Uli Kerber könnte dann Kultursenator werden und zu einem der zwei stellvertretenden Bürgermeister von Berlin aufsteigen. Es war allgemein bekannt, dass er dem liberalen, kosmopolitischen Flügel der Linken Partei angehörte, und sich auch privat gut mit Maryam Husseini verstand. „Und wenn er Kultursenator wird – wow, Tonka – Uli wird sich richtig ins Zeug legen. Vielleicht fällt dann auch für dich ein cooler Job ab!" Basti grinste breit.

    Tonka rang sich mühsam ein Lächeln ab. Sie hatte im Internet gerade etwas gesehen, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Das Worst Case Szenario war eingetreten. „Komm mal, Basti. Guck mal hier! Sie klickte das GIF an, das die Deutsche Alternative Brandenburg unter der Headline „Harte Worte, ehrliche Worte – Matzke spricht aus, was andere denken! gepostet hatte. Ein dicklicher Mann mittleren Alters mit raspelkurzen gräulich-blonden Haaren pestete eine junge Journalistin an: „Die Groko ist damit ja wohl erledigt! Angela Merkel täte wirklich besser daran, zurückzutreten, bevor die Leute ungemütlich werden! Ich bin Familienvater! Ich habe vier Kinder und eine Enkelin! Wie lange soll das noch so weitergehen, dass diese Araber, die Merkel ins Land geholt hat, hier Frauen vergewaltigen und mit dem Lastwagen in Weihnachtsmärkte rasen und jetzt auch noch diese Bomben in Tegel und Schönefeld! Wieder so etwas wie 2001 beim World Trade Center! Sie müssen doch zugeben, dass das kulturell nicht zusammenpasst! Für die Moslems ist es auch besser, wenn sie wieder dahin zurückgehen, wo sie herkommen! Wir von der DA haben nichts gegen Ausländer, wirklich, wir haben sogar welche bei uns in der Partei, aber das sind fleißige, anständige Leute, die dankbar für die Chancen sind, die man ihnen hier in Deutschland gegeben hat. Bei Mord und Totschlag ist für uns Schluss! Das ist falsch verstandene Toleranz! Merkel muss endlich weg! Im Hintergrund brandete Beifall auf. Die Journalistin, eine junge Frau mit dunkelblondem Kurzhaarschnitt wandte sich mit dem Gesicht zur Kamera: „Harte Worte von DA-Politiker Gregor Matzke im brandenburgischen Liebenau. Hier ist die Stimmung angespannt. Mehrere Leute haben sich auf dem Kirchplatz versammelt, um gegen Angela Merkel zu protestieren, unter ihnen auch einige Russlanddeutsche. Alla Krötzer ... An dieser Stelle brach das GIF ab. „Das ist der Mann meiner Cousine" flüsterte Tonka. Basti stand stumm hinter ihr.

    Alev: Humboldt-Universität, Berlin-Mitte, November 2019, Donnerstag, früher Abend

    Das altehrwürdige Gebäude der Humboldt-Universität Unter den Linden war jetzt, am Abend, leer. Alevs Schritte hallten auf dem Linoleumboden. Sie hatte einen Stapel Bücher unter dem Arm und schwitzte entsetzlich. Der crèmefarbenen Mohairpulli, den sie trug, war viel zu warm. Na ja, wahrscheinlich war es auch der Stress. Oder sogar Angst? Irgendetwas, das zwischen Angst und Anspannung lag, lauerte tief in ihr drin. Das wusste sie. Es war ihr ständiger Begleiter und es meldete sich immer dann, wenn sie mal ein paar Minuten allein war und Zeit zum Nachdenken hatte. Leider.

    Vor zwei Stunden hatte Alev ihren Aufsatz über die Tanzgewohnheiten türkischer Gastarbeiter in der Bundesrepublik der siebziger Jahre an „Social Science Today geschickt. Obwohl sie längst einen Doktortitel hatte - immerhin „Magna cum Laude -, fürchtete sie insgeheim immer noch, nicht gut genug zu sein. 'Da amüsieren sie sich jetzt drüber. Weil sie das Thema albern finden – ein Türkenthema, das sie nicht wirklich interessiert, nur dass sie zeigen wollen, wie aufgeschlossen sie sind. Weil es schlecht formuliert ist – aber ganz gut für eine Türkin, nicht wahr? Man will doch auch einmal solchen Leuten eine Chance geben. Unter normalen Voraussetzungen allerdings – ohne den Migrantenbonus ...' lästerte ihre innere Stimme.

    Oberflächlich gesehen waren alle nett zu ihr. Im Grunde wollte jeder sie ermutigen, sogar die Doktoranden, die allesamt viel jünger als sie waren. Seit Alev denken konnte, war sie die Gastarbeitertochter gewesen, zu der man nett sein wollte. Nicht, dass sie nicht auch Erfahrung mit Rassismus gehabt hätte. Es war eher – einerseits förderten sie sie so sehr, von den Konkurrenzkämpfen, die viele ihrer Kollegen auszufechten hatten, war sie irgendwie ausgenommen, man behandelte sie nicht unfair, ganz im Gegenteil: man überließ ihr oft sogar den Vortritt, andererseits ärgerte es die Kartoffeln dann aber wieder und sie ließen sie spüren, dass sie nur die Türkin war, dass sie das alles eigentlich gar nicht verdient hatte – nur wegen Rostock-Lichtenhagen, wegen Hoyerswerda, Mölln und Solingen war sie Kultursoziologin, nur wegen der NSU-Mordserie, die man zynischerweise zunächst als „Dönermorde" abgetan hatte, durfte sie an einer renommierten Uni wie der Humboldt-Uni Lehrveranstaltungen abhalten.

    Es war paradox – je mehr man demonstrierte, dass man Menschen wie ihr nun endlich die lange vorenthaltene Anerkennung geben wollte, desto mehr hungerte Alev nach echter Anerkennung. Sie sehnte sich nach einem Lob, das ehrlich gemeint war und nicht in erster Linie der türkeistämmigen Migrantin galt. Sie machte sich davon abhängig, als sei sie eine unsichere 16jährige. Sie wollte wissen, was sie den Leuten wert wäre, wenn sie Anne oder Andrea heißen würde.

    Nachdem Alev ihren Artikel abgeschickt hatte, war sie in die Geschwister-Scholl-Bibliothek rübergegangen und hatte Bücher abgeholt, die sie bestellt hatte – eine gerade erschienene, provokante Streitschrift zum Thema „Diversity" aus den USA und ein paar andere Sachen, die sie für die Einführungsveranstaltung in Postcolonial Studies, die sie im nächsten Semester geben sollte, brauchte. Überhaupt – das war die Erklärung für ihr Schwitzen: Die Geschwister-Scholl-Bibliothek war heillos überheizt gewesen. Der ganze Bau war eine Fehlkonstruktion: die Luft war schlecht und die Plätze waren so knapp bemessen, dass Externe sie nur in den späten Abendstunden benutzen durften. Vielleicht sollte sie sich gleich in der Toilette noch ein bisschen frisch machen. Ein kleines Döschen Deospray musste sie noch irgendwo in der Handtasche haben. Sie hoffte, dass sich auf der Bluse, die sie unter dem Pulli trug, keine Schweißflecken gebildet hatten.

    Irgendwann morgen musste sie außerdem noch die Zeit finden, sich auf das taz-Podium am Abend vorzubereiten. Gestern hatte sie sich mit Leyla Can getroffen, die ebenfalls an dem Podium teilnehmen würde. Leyla hieß eigentlich Nele und war Biodeutsche, aber sie hatte einen Türken geheiratet und war für ihn zum Islam übergetreten. Außerdem hatte sie sich einen neuen Namen gegeben. Warum wusste Alev nicht. Muslim konnte jeder sein, der den muslimischen Glauben für sich annahm. Man musste nicht aus der Türkei oder einem arabischen Land stammen. Aber vielleicht hatte Leyla-Nele ihren Kindern dumme Fragen ersparen wollen. Dass eine deutsche Frau mit einem Türken glücklich sein konnte, war immer noch zu viel für viele Kartoffeln. Es gab Gerüchte, dass Leylas Mann Murat, der als Rechtsanwalt arbeitete und sich bei der CDU engagierte, Kontakte zur Gülen-Bewegung haben sollte, und die eine oder andere Kartoffel, die sich nach außen hin progressiv und tolerant gab, dann aber darauf hinauswollte, dass Leyla Can in Wahrheit eine üble Islamistin war, die mit ihrem Gerede den Untergang des Abendlandes herbeiführen wollte, fand sich immer, ganz gleich, um was es gerade ging.

    Dass Leyla freiwillig Kopftuch trug und dass sie es gewesen war, die darauf bestanden hatte, dass ihre Kinder nicht in die Kita gingen, sondern sie sich zu Hause um sie kümmerte, wobei Murat zwar ganz ihrer Meinung gewesen war, ihr aber keinerlei Vorschriften gemacht hatte – das wollte immer noch nicht in die Köpfe der Leute.

    Genau darum sollte es morgen auf dem taz-Podium gehen – um selbstbewusste Muslimas und andere Women of Color, die mit ihrer abweichenden Lebenseinstellung immer noch allzu oft auf das Unverständnis der Mehrheitsgesellschaft stießen. Pluralismus meinte Vielstimmigkeit und das bedeutete, dass die Kartoffeln - gerade auch die, die sich als Ausländerfreunde gaben - lernen mussten, dass People of Color für sich selbst sprachen, anstatt sich sozialpädagogisch von der Mehrheitsgesellschaft betreuen und oftmals auch verbiegen zu lassen.

    Alev hatte den Nachmittag gestern bei Leyla genossen. Sie hatte sie in ihrer großzügigen, geschmackvoll eingerichteten Wohnung in Schöneberg besucht, damit Leyla nebenher ein Auge auf ihre Kinder haben konnte und bei Tee und Keksen hatten sie so lange geplaudert, dass es Abend gewesen war, als sie endlich auf das taz-Podium zu sprechen gekommen waren. Leylas Türkisch war mittlerweile wirklich gut, doch die taz-Sache hatten sie dann schnell auf Deutsch abhandeln müssen. „Weißt du, Murat kommt bald nach Hause und da wollte ich gern das Essen fertig haben. Er hatte einen anstrengenden Tag in der Kanzlei ..." hatte Leyla entschuldigend gesagt.

    Alev musste die Texte, die sie für das Podium vorbereitet hatten, also morgen noch mal durchgehen und sie dann per Chat mit Leyla besprechen. Außerdem hatte sie um elf einen Zahnarzttermin, wie ihr jetzt siedend heiß einfiel.

    Alev war so in Gedanken versunken, dass sie ihre Kollegin Frauke Petersen, die halb aus ihrem Büro getreten war, gar nicht bemerkt hatte. „Du gehörst auch zu denen, die kein Zuhause haben, Alev? fragte Frauke. Alev zuckte zusammen. „Ja. Sie lächelte fahrig. Und verwünschte sich sofort dafür. Karin, ihre Chefin, hatte ihr einmal im Vertrauen gesagt, dass das ein typisch weiblicher Reflex sei, den man ihnen im Zuge ihrer Sozialisation antrainiert hatte – dass Frauen immer nett und entgegenkommend wirken wollten. Genau deshalb nahmen Männer sie nicht ernst.

    „Das heißt fuhr Alev dann mit etwas festerer Stimme fort „Ich treffe mich gleich noch mit Karin im Schmittkes. Sie wollte irgendwas mit mir besprechen, das nicht warten kann und hat in ihrem vollen Terminkalender sonst keine Zeit gefunden. Du kennst sie ja. Frauke nickte. Alev hatte ein gutes Verhältnis zu Karin Wolter. Die Professorin, die in den letzten Jahren mit bahnbrechenden Studien zu Gender, Queer und Critical Whiteness von sich Reden gemacht hatte und auch in den Medien oft zu Wort kam, lebte offen lesbisch und kannte daher viele der Probleme, sich als Minderheit behaupten zu müssen, mit denen auch Alev zu kämpfen hatte.

    „Ich weiß nicht, ob du's schon mitgekriegt hast. Es gab 'ne Bombendrohung für die Flughäfen in Tegel und Schönefeld. Eine der ankommenden Maschinen soll über dem Flughafenkomplex explodieren, wie damals bei September Eleven ... Warum dann nicht gleich über dem Reichstag, dachte Alev. Frauke kiekste, was sonst gar nicht ihre Art war. „Der Islamische Staat soll schon die Verantwortung dafür übernommen haben. Dein Mann, ich hoffe doch ...

    Alevs Mann arbeitete bei einer Londoner Investmentbank. Soweit sie wusste, hatte er nicht vorgehabt, in diesen Tagen nach Berlin zu fliegen. Und mit dem IS hatte er schon gar nichts zu tun. Alev schluckte die Bitterkeit, die in ihr hochstieg wie eine ätzende, dunkle Flüssigkeit, hastig herunter. Sogar eine tolerante, gebildete Frau wie Frauke verfiel sehr viel schneller, als Alev gedacht hätte, auf die simple Rechnung Muslim = Terrorist, sobald ihnen der islamistische Terror ein bisschen näher kam als in den Abendnachrichten auf dem Fernsehbildschirm.

    „Ismail ist in London, in der Bank. Alev bemühte sich, ruhig und freundlich zu klingen. „Er hat noch lange nicht Feierabend, aber danke, Frauke, es ist lieb von dir, dass du dir Sorgen um ihn gemacht hast.

    Alev lächelte wieder. Diesmal war es ein künstliches Lächeln. „Na dann sagte Frauke „Du kannst dir ja denken, was gerade auf Twitter abgeht. Das meiste sind vermutlich Fakenews. Aber ich wohne ja in Frohnau und ich würde gern wissen, ob die Straßen, ich meine, wenn in Tegel alles explodiert … Also, ich bin jedenfalls noch ein Weilchen hier, wenn du was brauchst ... Alev bedankte sich noch einmal bei der Kollegin. „Ich glaube, ich sollte Ismail eine SMS schicken. Und dann mal gucken, was überhaupt los ist. der RBB ist ja sicher schon vor Ort. Ich denke mal, die haben verlässliche Informationen. Aber ich will Karin auch nicht unnötig warten lassen."

    Alev: Bistro „Schmittkes", am Bahnhof Friedrichstraße, Berlin, November 2019, Donnerstag, ca. 20 Uhr

    „In Tegel haben sie Sprengstoff gefunden. Außerdem haben sie alle Landungen gestoppt und auf Flughäfen in der Umgebung umgeleitet. Na ja, das wird jetzt mal wieder Stress für die Leute, die gerade im Flieger sitzen. Und wenn die Bombe doch nicht an Bord der British Airways Maschine ist, sondern irgendwo anders, dann explodiert sie halt in Leipzig oder Hannover statt hier ... Karin Wolter sah nachdenklich aus. Die Professorin, die Mitte 50 war und kurze graue Haare hatte, betrachtete den Bildschirm ihres Smartphones. Dann blickte sie auf. „Ich bin froh, dass es deinem Mann gut geht, Alev sagte sie. Alev lächelte. Schon wieder lächelte sie. Allerdings war Karin ja kein Mann, der sie klein machen wollte, nur weil sie zu nett wirkte. „Danke, Karin. sagte Alev. „Ismail sorgt sich ein bisschen darum, dass es islamophobe Stimmungen anheizen könnte.

    Auf dem Weg zum Schmittkes hatte sie sich kurz in eine Seitengasse verzogen, um zu gucken, ob Ismail schon auf die SMS, die sie ihm von ihrem Büro aus geschrieben hatte, geantwortet hatte. Er hatte, natürlich: „Ich bin noch in der Bank, Alev. Pass auf dem Heimweg auf dich auf, nicht jeder wird verstehen, dass du als Muslima nichts mit den Bombendrohungen zu tun hast." Es war so lächerlich! Ismail achtete darauf, seine täglichen fünf Gebete zu verrichten, weil es ihm, wie er sagte, spirituelle Kraft gab. Er fastete auch an Ramadan. Für ihn war es eine persönliche Prüfung, der er sich jedes Jahr wieder stellen wollte, wie der Kampf, den er Tag für Tag gegen sich selbst führte – gegen Egoismus, Faulheit und Gier und allerlei andere bösartige Eigenschaften und Regungen, die er in sich zu spüren glaubte. Alev und die Jungen beließen es dabei, während des Ramadans auf ein paar liebgewonnene Angewohnheiten wie Fernsehen und Süßigkeiten zu verzichten. Das Zuckerfest feierten sie dann alle zusammen in ihrem Cottage in Großbritannien. Wie konnte man auf die Idee kommen, ihre Familie und sie mit den bärtigen Fanatikern des Islamischen Staates in einen Topf zu werfen?

    Alev presste die Arme an ihren Brustkorb. Wie sie befürchtet hatte, hatten sich auf ihrer weißen, Bluse mit den beigen Streifen Schweißflecken gebildet. Auch im Schmittkes, einem der Bistros unter der S-Bahntrasse am Bahnhof Friedrichstraße, das häufig von Mitarbeitern der Humboldt-Universität frequentiert wurden, war es ziemlich warm, sodass sie ihren Mohairpulli ausgezogen hatte.

    Alev hatte Hähnchenbrust und Salat bestellt, obwohl sie gar keinen Hunger hatte, Karin, die Veganerin war, Ratatouille mit Quinoa. Für Studenten war das Schmittkes schon seit Jahren viel zu teuer, aber die hatten tagsüber diverse Fach- und AStA-Cafés an der Uni, wo es Kaffee für 50 Cents gab.

    Ein junger Kellner, der bestimmt auch an der Humboldt-Uni studierte, brachte das Essen. Karin beugte sich zu Alev vor. „Was ich eigentlich mit dir besprechen wollte, Alev ... Die Professorin hatte einen vertraulichen Tonfall angeschlagen. „... Ich weiß nicht, ob du schon von der Ausstellung 'Die Freiheit nehm' ich mir! Berliner Künstlerinnen der Weimarer Republik' in der Berliner Galerie der Moderne gehört hast ... Hatte sie. Allerdings nur als Randnotiz in den „Berliner Abendnachrichten". Alev spielte Klavier seit sie zehn war. Für bildende Kunst hatte sie sich nie sonderlich interessiert.

    „... eine bislang wenig beachtete Künstlerin. Nur in der DDR hat man ihr eine Monographie gewidmet. Karin schaute sie erwartungsvoll an. „Entschuldige Karin, ich war in Gedanken noch ganz bei dieser Bombendrohung. Es tut mir wirklich leid, aber ich habe nicht richtig zugehört. Alev stocherte verlegen in ihrer Hühnerbrust herum. Karin lächelte gütig. „Na ja, das verstehe ich doch, dass du dir Sorgen machst. Vielleicht hilft es dir, auf andere Gedanken zu kommen. Also, in der Ausstellung hängt ein Bild von einer Künstlerin, die bislang noch wenig erforscht ist – Meta Wiethold. Linda meinte, vom kunsthistorischen Standpunkt her wäre es nicht so interessant – neue Sachlichkeit mit expressionistischen und kubistischen Anleihen, für die Zeit damals allerdings ein bisschen sehr gefällig."

    Linda Hagenau war Juniorprofessorin für Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität, eine Spezialistin für die klassische Moderne, die sich außerdem mit Genderforschung und Postcolonial Studies befasste. „Mich interessiert die Künstlerin fuhr Karin fort. „Sie ist 1931 in die UdSSR gegangen, zunächst mit dem Architekten Erich Seidel und seiner Frau Klara in den Kaukasus, dann allein nach Moskau, wo sie später im Zuge der stalinistischen Säuberungen umgekommen ist. Davor hat sie eine Weile in einer Lebensreformkolonie in Liebenau, hier ganz in der Nähe, gelebt, wo sie vermutlich auch die Seidels kennen gelernt hat. Das Bild, das in der Ausstellung hängt, ist aber wohl in Metas Heimat, in Masuren, entstanden. Es ist von 1927 und zeigt ihre Schwester Elisabeth. 1928 hing es in einer Ausstellung in der Galerie Kettelheim. Wo es dann hin verschwunden ist, wissen wir nicht. Es gab offenbar einen Überfall von SA-Schlägern auf die Galerie. Friedhelm Kettelheim ist 1933 in die USA emigriert und dort 1956 gestorben.

    Karin zog ein kleines Büchlein aus einem Jutebeutel, das aussah, als hätte es lange in irgendeinem Bibliotheksmagazin vor sich hingemodert. „Das hier ist die DDR-Monographie über Meta Wiethold. Sie ist von Annegret Böhm. Natürlich hat Böhm, die zeitweise die Kunsthalle Magdeburg geleitet hat, wo auch ein Bild von Meta Wiethold hängt, als DDR-Kunsthistorikerin vor allem Metas kommunistische Einstellung hervorgehoben, Du weißt ja wie das damals bei denen im Osten war. Manchmal nervt das beim Lesen etwas. Also, ich hatte das Gefühl, das darüber andere Aspekte aus Meta Wietholds Leben zu kurz kommen. Aber die Böhm war in der SED, so eine ganz 150% Linientreue, und so klingt das, was sie schreibt, leider auch ..."

    Karin nahm einen Löffel von ihrem Quinoa-Ratatouille und blies drüber, um sich nicht den Mund zu verbrennen. „Das Buch ist von 1986. Annegret Böhm war bei der Wende Professorin für Kunstgeschichte in Leipzig, wurde zum Sommersemester 1991 allerdings vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Vor vier Jahren ist sie gestorben. Linda hat einen kurzen Text über Meta Wiethold für den Ausstellungskatalog zu der Ausstellung in der Berliner Galerie der Moderne geschrieben. Den Ausstellungskatalog habe ich dir natürlich auch mitgebracht."

    Karin zog ein weiteres Buch aus dem Jutebeutel, das größer und dicker aussah und brandneu war. Eine Collage aus Schwarzweißfotografien zierte das Cover. „Linda meinte, das Thema Meta Wiethold müsste eigentlich noch einmal von Grund auf neu erforscht werden. Sie arbeitet derzeit an einem Aufsatz, wobei sie sich allerdings auf die Bildsprache der Künstlerin konzentrieren will. Meta war als junge Frau in Paris, vor dem Ersten Weltkrieg, gehörte aber ansonsten keiner Künstlervereinigung an, sieht man mal von dem Kreis um Friedhelm Kettelheim ab." Karin schob sich noch einen Löffel Quinoa-Ratatouille in den Mund.

    Dann fuhr sie fort: „Ich dachte mir, dass da wir ins Spiel kommen, genauer gesagt, du. Du könntest dich ein bisschen schlau machen über diese Kolonie in Liebenau und über den Künstler- und Literatenzirkel um Friedhelm Kettelheim. Wenn Linda und du die Monographie zusammen machen könntet, wäre das ideal. Ich schreibe dann das Vorwort. Linda hat angeboten, am Sonntag mit dir zusammen die Ausstellung zu besuchen. Du bist doch noch nicht anderweitig verplant? Eine bessere Führerin als Linda könntest du gar nicht haben!"

    Alev sah an Karins Gesichtsausdruck, dass sie erwartete, dass Alev zusagte. Ihre Chefin war zwar ein freundlicher Mensch, manchmal geradezu mütterlich, obwohl Karin keine Kinder hatte - natürlich, sie war ja lesbisch -, aber die Professorin hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie die Leitwölfin war und von ihren Mitarbeiterinnen Unterordnung erwartete, was eben bedeutete, dass sie es war, die die Entscheidungen traf und zwar alle Entscheidungen. Ab und zu war Karin richtig autoritär. Einwände ließ sie nicht gelten und bei langatmigen Erklärungen, warum jemand dieses oder jenes nicht tun konnte oder jedenfalls nicht in der vorgegebenen Zeit, hörte sie gar nicht erst hin.

    „Ich weiß, du kommst eigentlich von der Musikwissenschaft her, aber das Thema ist spannend. Über die zwanziger Jahre gibt es haufenweise Literatur und Linda ist wirklich sehr kompetent, was die klassische Moderne betrifft" versuchte Karin Alev zu überzeugen. Alev nickte.

    Sie war erst letztes Wochenende in Großbritannien gewesen, um Ismail und ihre Söhne Dilhan und Timur zu sehen, die ein englisches Internat besuchten – ein Glück, dass diese Bombenleger erst ein paar Tage später zugeschlagen hatten! Na ja, und dann noch der Turm Bücher, den sie für das Proseminar in Postcolonial Studies, das sie im nächsten Semester geben würde, abarbeiten musste. Morgen das taz-Podium, für das sie sich am Nachmittag nach ihrem Zahnarzttermin mit Leyla Can per Chat kurzschließen musste – wenn sie sie erreichte. Hoffentlich!

    … Also hätte sie am Samstag Zeit, sich den Ausstellungskatalog anzuschauen, um auf den Besuch in der Berliner Galerie der Moderne vorbereitet zu sein. „Natürlich, Karin, ich würde das sehr gerne übernehmen. Die Professorin lächelte. „Na siehst du! Das wusste ich! sagte sie mehr zu sich selbst.

    Uli Kerber: Liebenau, November 2019, Donnerstag, ca. 21 Uhr

    Dumpf nahm Uli Männergebrüll und das Getrappel von Füßen wahr. Es mussten hunderte sein, schwere Körper. So kam es ihm jedenfalls vor. Durch das kleine Fenster des Raumes, den sie als Abstellkammer nutzten, sah er auf der Straße dunkle Schatten und das Glimmen von Fackeln. Sie kamen näher. Jetzt hörte er, was sie skandierten: „Merkel muss weg! Merkel muss weg! und „An den Galgen mit dem Schwein! Uli wurde übel. Vorsichtshalber hatte er das Licht im Flur ausgeschaltet. Ein siebter Sinn hatte ihm gesagt, dass es besser wäre, nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Schließlich wusste jeder im Ort, dass hier, in dem Haus, das einst der Architekt Erich Seidel für seine Familie gebaut hatte, „der Rote wohnte, der den „großen Austausch vorantreiben und die „weiße Rasse durch „Vermischung vernichten wollte.

    Zwar hatte Uli darauf geachtet, sein „Refugees welcome"-T-Shirt nicht anzuziehen, wenn er bei Aldi einkaufen ging, aber vermutlich hatten sie gesehen, dass er ein paarmal mit Rosi Mahler von der Flüchtlingsinitiative Liebenau-Schiedenfeld bei den Flüchtlingen im Waldeck-Carrée gewesen war. Außerdem kannten sie ihn natürlich aus den Nachrichten und er wurde den Eindruck nicht los, dass einige ihm auch unter Tarnnamen in den sozialen Netzwerken folgten. Sein Parteigenosse René Martens hätte es hier, wo die Deutsche Alternative bei den letzten Wahlen über 20% der Stimmen erhalten hatte, sicher leichter. René gab sich volkstümlich. Wladimir Putin war für ihn einer, der dem Westen kühn die Stirn bot und vor ein paar Jahren war er bei den Friedensmahnwachen ganz vorn mit dabei gewesen.

    Uli seufzte. In den heruntergekommenen Plattenbauten im Waldeck-Carrée wohnten viele Russlanddeutsche. Die störten sich allerdings an den Flüchtlingen, die man dort untergebracht hatte und liefen daher dem lauten Gregor Matzke von der Deutschen Alternative hinterher, der, wie Uli wusste, in seiner Jugend ein Neonazi gewesen war.

    Hastig zog Uli die Gardine zu. Dann bückte er sich und nahm zwei Flaschen Bier für sich und seine Frau Hanna, die im Wohnzimmer saß, aus dem Kasten, der im Halbdunkel vor ihm auf dem Boden stand. Er überlegte kurz, ob er sich noch einen Joghurt aus der Küche holen sollte, denn er hatte noch nicht zu Abend gegessen, ließ es dann aber. Im Moment würde er eh nichts herunterbekommen.

    Er hatte schon länger überlegt, ob sie nicht lieber wieder nach Berlin ziehen sollten. Hanna und er hatten nicht gewollt, dass die Kinder im Großstadtchaos zwischen Autoabgasen und Drogendealern aufwuchsen. Zwar war er selbst im Prenzlauer Berg groß geworden, aber das waren damals noch andere Zeiten gewesen – weniger Kriminalität, und wenn er erst Kultursenator und, wie er hoffte, stellvertretender Bürgermeister von Berlin sein würde, dann wäre es wirklich zu gefährlich, die Kinder allein mit der U-Bahn fahren zu lassen. Er hatte Feinde und es gab genug Irre, die in einem Wahneinfall auf die bizarrsten Ideen kommen konnten, um sich und ihren Anliegen politisch Gehör zu verschaffen. Aber war es hier draußen in Liebenau mit Matzke und seinen DA-Kumpanen wirklich besser?

    Als sie das Haus im Sommer vor vier Jahren gekauft hatten, war die Deutsche Alternative noch nicht ganz so stark gewesen. Es war etwas verfallen gewesen, aber sie hatten sich sofort in das schlichte, weiß verputzte Gemäuer verliebt, das 1926 gebaut worden war. Über der Haustür hatte es ein Oberlicht und nach hinten raus riesige Fenster, eine Terrasse und einen wilden, verwunschenen Garten, den in seiner Urform wohl noch Klara Seidel, die Frau des Architekten Erich Seidel, angelegt hatte. Auf dem großzügigen Balkon im ersten Stock, der von ihrem Schlafzimmer abging, saßen Hanna und er im Sommer abends manchmal bei einem Glas Wein, wenn die Kinder im Bett waren.

    Zu DDR-Zeiten hatte ein SED-Funktionär in dem Haus gewohnt und es, wie Uli gehört hatte, gut in Schuss gehalten. In den nuller Jahren hatte es dann nach dem Tod der Funktionärswitwe, die ihren Mann um ein paar Jahre überlebt hatte, eine Weile leer gestanden. Dann hatte eine Künstlerin in dem Haus gewohnt, die aber bald wieder weggezogen war. Vermutlich fiel einem in Liebenau schnell die Decke auf den Kopf,

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