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Die Brücke zur Sonne
Die Brücke zur Sonne
Die Brücke zur Sonne
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Die Brücke zur Sonne

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About this ebook

Patricia und Jean van Haren sind zwar Schwestern, jedoch so unterschiedlich, wie sie nur sein könnten. Als ihr Vater, ein renommierter Chirurg, 1965 für ein Jahr eine Stelle in den USA antritt, findet ihr bis dahin luxuriöses, wohlbehütetes Leben in London ein abruptes Ende. Jean findet bald neue Freunde auf der benachbarten Ranch und verliebt sich unsterblich in den jungen Cowboy Chris McKinley. Patricia dagegen beginnt zu rebellieren und ihre Grenzen bis ans letzte Maß auszutesten.
Ein tragisches Unglück kettet das Leben der beiden ungleichen Schwestern scheinbar auf ewig aneinander und macht all ihre Ziele zunichte. In ihrer Verzweiflung heiratet Jean einen Arbeitskollegen ihres Vaters und beschließt, in dessen Fußstapfen zu treten und Medizin zu studieren.
Obwohl sich die Wege von Jean und Chris immer wieder kreuzen, bleibt ihnen jedesmal nichts anderes übrig, als in ihr altes Leben zurückzukehren. Erst durch den Tod ihrer Mutter und deren Erbe kann Jean London für immer den Rücken kehren, in der fatalen Hoffnung, jetzt endlich ihre Träume verwirklichen zu können...
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateSep 27, 2021
ISBN9783754170441
Die Brücke zur Sonne

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    Die Brücke zur Sonne - Regan Holdridge

    Teil 1

    1965 – 1966

    Die ersten Strahlen der morgendlichen Märzsonne hatten den Nebel noch nicht vertrieben, der sich im Frühjahr oft in den Gärten der Villen am schmalen Flüsschen bildete. Schwer hingen die weißen Schleier über den Hecken und Sträuchern am Ufer und ließen kaum einen Blick über die gusseisernen, eingerankten Zäune in die Nachbargärten zu. Auf der kurzgeschnittenen, hellgrünen Rasenfläche, die sich wie ein Teppich bis an den schmalen Pfad nahe dem Ufer erstreckte, glitzerten die winzigen Tropfen des Taus in bunten, schimmernden Farben. Stille lag über der kleinen, vom direkten Stadtrand durch die Anhöhe abgeschnittenen Wohnsiedlung. Architektonisch vollendete, imposante Villen und ihre dazugehörigen, ausladenden Gärten säumten die Teerstraße zu ihrer Linken, die sich vor den Toren eines herrschaftlichen Schlösschens verlief.

    Stille hüllte die Straße ein, die zu dieser frühen Stunde noch wie ausgestorben schien. Es gab keine fröhlichen Grüße, kein Schwätzchen auf der Straße. Niemand wusste mehr über seinen Nachbarn als unbedingt notwendig. Autos fuhren den Weg entlang und verschwanden in einer der Einfahrten, meist anonym, eines von wenigen. Man grüßte sich, wenn man einander zufällig zu Fuß begegnete, immer mit einer gewissen herablassenden Höflichkeit und immer darauf bedacht, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Hier lebten nur die Bürger der Stadt, die mit ihrem Geld nichts Besseres anzufangen wussten, als es in teure Häuser zu investieren – des Privilegs wegen und der Eitelkeit.

    Zu dieser frühen Stunde schien sich noch niemand nach draußen, in die frische, zugige Morgenluft zu wagen. Nur hin und wieder durchdrang das Zwitschern eines einsamen, munteren Vogels den feuchten Dunst, als wollte er den allmählich beginnenden Tag begrüßen und nur leise war der Lärm der Großstadt zu vernehmen, wie durch eine Wand, gedämpft und fern.

    Blasses Licht erfüllte die haushohe Eingangshalle der über hundertjährigen, antiquarisch eingerichteten Villa. Majestätisch zog sich die breite, graue Marmortreppe in einem sanften Bogen geschwungen ins obere Stockwerk hinauf. Durch die schmalen, hohen Fenster in Richtung Osten konnte die Sonne den Eingangsbereich durchfluten, wenn sie im Sommer über den Baumwipfeln aufstieg.

    Unter der Treppe hatte die schwere, handgeschnitzte Standuhr aus Kirschbaumholz ihren Platz neben dem Telefontisch gefunden. Das laute, regelmäßige Schlagen ihres Pendels hallte als einziges Geräusch von den weißen Wänden wider. Alles schien so gewöhnlich wie jeden Tag zu sein und der Montagmorgen ging seinen gewohnten Gang. Gleich würde es Zeit sein um aufzustehen – halb sechs Uhr war vorbei und aus der Küche verbreitete sich der verlockende Duft von warmem Toastbrot und Spiegeleiern in die Eingangshalle, den kurzen Verbindungsflur und die angrenzenden Räume.

    In diese fast malerische Stille hinein begann das schwarze, altmodische Telefon unerwartet und durchdringend zu schrillen. Es musste einige Zeit läuten, ehe eine ältere, rundlich gebaute Frau in korrekter schwarz-weißer Haushälterinnentracht aus der Küche geschossen kam.

    „Auch das noch!"

    Louisa Peters war es nicht gewohnt zu solch unhöflich früher Stunde schon in ihrer eingespielten, zur Routine gewordenen Tätigkeit unterbrochen zu werden. Energisch nahm sie den Hörer ab.

    „Hier bei van Haren! Ihre laute Stimme hallte bis in die letzten Winkel des Erdgeschoßes. „Was? Nein, das geht jetzt nicht. Hast du einmal auf die Uhr gesehen?!

    Im oberen Stockwerk begann es zu rumoren: Eine Türe schlug laut, unbedacht ins Schloss, bevor eilige, leichte Schritte die Marmorstufen herabgerannt kamen. Neugierig beugte sich das junge Mädchen über das Treppengeländer hinab.

    „Wer ist dran? Ist es für mich? Natürlich ist es für mich!"

    Ihre zierliche, dabei durchaus weibliche Gestalt steckte in einem taillierten Kleid, dessen Rock durch den Petticoat weit schwang und den buntgemusterten Stoff damit umso besser zur Geltung brachte. Es war der neueste Chic der Londoner Modewoche und sie war ausgesprochen stolz darauf, denn es handelte sich um ein echtes Modellkleid. Passend dazu hatte sie sich ein weißes Seidenhalstuch um den Hals gebunden. Ihr hellbraunes, sanft gelocktes Haar fiel penibel gekämmt und mit Haarspray fixiert bis knapp über ihre Ohren herab. Die Schultern hielt sie auffallend straff und den Kopf stolz erhoben, während sie in flachen Ballerinas die letzten Stufen hinabhuschte.

    „Gib mir den Hörer! Gib ihn mir!"

    Ihr kindliches, dennoch schmales Gesicht zeigte bereits das, was einmal eine wahre Schönheit werden würde: Die großen, grauen Augen, die weit auseinanderstanden und dazu die zierliche Stupsnase – alles Eigenschaften, die sie ihrer Mutter unwahrscheinlich ähneln ließen. Mit einer abweisenden Handbewegung scheuchte Louisa das Mädchen zurück.

    „Nein!, erklärte sie und der Ton ihrer Stimme ließ keinen weiteren Widerspruch zu. „Miss van Haren hat jetzt keine Zeit und sie wird auch heute Abend ganz sicherlich zu keiner Geburtstagsparty erscheinen! Guten Tag! Der Hörer knallte auf die Gabel zurück.

    Entrüstet schnappte das Mädchen nach Luft, während sie sich mit einem Aufschrei vor der Haushälterin aufbaute. Ihr Fuß stapfte zornig auf den Boden. „Wer war das? Von welcher Party ist die Rede? Ich bin überhaupt nicht unterrichtet! Wie können Sie da einfach auflegen?!"

    Unwirsch stemmte Louisa ihre Arme in die runden Hüften. „Mein Kind, das ist jetzt vollkommen unwichtig! Sind deine Koffer fertig gepackt? Nein? Dann aber marsch, ab! Außerdem hast du in deinem Alter sowieso noch überhaupt nichts auf Partys verloren!" Ihre Augen funkelten streng; sie kannte das vierzehnjährige Mädchen nur zu gut. Verzogene Göre, dachte sie, innerlich den Kopf schüttelnd, und zog mitleidig die Mundwinkel nach unten. „Andere Mädchen in deinem Alter sitzen abends Zuhause und erledigen ihre Schularbeiten! Diese ständigen Partys verderben den Charakter!"

    Aufmüpfig warf das Mädchen den Kopf zurück. „Das behaupten Sie jedesmal und zu Ihrer Beruhigung: Meine Koffer sind gepackt! Wo steckt meine Mutter?"

    Seufzend deutete die Haushälterin den breiten Flur hinab.

    „Im Kaminzimmer, antwortete sie, während sie sich gleichgültig abwandte. „Ich werde jetzt das Frühstück auftragen.

    „Tun Sie das! Jeder sollte sich um das kümmern, wofür er geschaffen wurde, nicht wahr?" Absichtlich benutzte sie die Formulierung ihrer Mutter, die Louisa jedesmal fast zur Weißglut trieb, doch in ihrem Fall blieb die Haushälterin gelassen.

    „Bloß gut, dass ich in wenigen, absehbaren Stunden für ein Jahr nichts mehr von dir sehen und hören muss! Erholung habe ich weiß Gott nötig!" Louisa versetzte der Küchentüre einen achtlosen Tritt und ließ die Tochter ihrer Arbeitgeber allein zurück.

    Wütend, dass ihre Worte nicht die gewünschte Wirkung erzielt hatten, lief das vierzehnjährige Mädchen davon, die beiden Stufen des kurzen Flurs hinauf, zur letzten Tür auf der rechten Seite. Ein kalter Luftzug schlug ihr entgegen und sie drückte die schwere Nussbaumtür eilig ins Schloss zurück. Die Glastür zur großen, gefliesten Terrasse stand weit offen und ließ die klare, frische Morgenluft herein.

    „Für was besitzen wir eine moderne Zentralheizung?! Fröstelnd ließ das Mädchen sich auf das cremefarbene Samtsofa vor dem steinernen Kamin fallen. „Damit du uns erfrieren lässt?

    „Blödsinn!" Ihre Mutter lehnte im Türrahmen und blickte hinaus in den ausladenden, riesigen Garten. Schließlich drehte sie sich um und ihre Tochter starrte sie für eine Sekunde überwältigt an. Rachel Antoinette van Haren trug ein perfekt aufeinander abgestimmtes, mintgrünes Kostüm, das die wohlgeformten Proportionen ihrer zierlichen Figur ideal zur Geltung brachte. Ihr hellblond gebleichtes Haar ließ sie sich seit etlichen Jahren im Stil der Monroe schneiden, was bei ihren von Natur aus glatten Strähnen jedoch regelmäßige Friseurbesuche voraussetzte. Die Absätze ihrer hochhackigen Schuhe erzeugten ein leises Klopfen, als sie über den hellen Parkettboden hinüber zum offenen Kamin schwebte.

    Rachels Gesicht war von außergewöhnlicher, geradezu magischer Schönheit. Es war so ebenmäßig und zart, dass sie überall, wo sie auch erschien, die Blicke der Männer auf sich zog – und ihr gleichzeitig bei den Frauen ungezählte Neiderinnen schaffte. Dessen war Rachel sich vollstens bewusst und sie ließ keine Gelegenheit aus, ihre naturgegebenen Vorzüge zur Schau zu stellen. Obwohl sie mit diesem Jahr ihr vierzigstes vollendete, wirkte sie auf die Vertreter des anderen Geschlechts aller Altersklassen anziehend und oft genug versammelte sie bei entsprechenden Anlässen und Empfängen den Großteil der männlichen Gäste um sich. Erst bei genauerem Hinsehen fiel dem feinfühligen Gegenüber ihre kalte, gefasste und genaustens berechnete Ausstrahlung auf, die angesichts ihrer äußerlichen Schönheit allerdings völlig in den Hintergrund gedrängt wurde.

    „Eben hat jemand für mich angerufen, jammerte ihre jüngste Tochter in diesem Augenblick und starrte düster in den kalten, verrußten Kamin. „Aber Louisa hat mir einfach den Hörer nicht gegeben!

    Gereizt runzelte Rachel die Stirn. „Damit hatte sie auch völlig recht! Die Zeit ist knapp." Einen Moment herrschte Schweigen und das Mädchen beobachtete prüfend seine Mutter, wie diese die Porzellanfiguren auf dem Kaminsims neu ordnete.

    „Ich will nicht mit!, stieß das Mädchen plötzlich hervor. „Ich will einfach nicht!

    Rachel überhörte den Einwurf. „Haben sich deine Koffer mittlerweile in anderer Geschwindigkeit gefüllt als gestern Abend? In gut einer halben Stunde bringt uns das Taxi zum Flughafen."

    Verzweifelt stieß ihre Tochter ein Ächzen aus. „Was ist, wenn nur noch zwei Plätze frei sind? Es könnte doch sein, dass dringend jemand…" Sie brach ab. Der eisige Blick ihrer Mutter verbot ihr den Mund.

    „Hör endlich auf, meine Geduld mit unsinnigen Kommentaren zu strapazieren! Wir werden aus dem bevorstehenden nächsten Jahr das Beste machen. Manchmal denke ich zwar, dass die Entscheidung falsch ist und ich deinem Vater nicht hätte nachgeben dürfen – aber jetzt ist die Angelegenheit entschieden! Du weißt, was diese Stelle für ihn bedeuten kann! Wenn er in dieser Klinik in den Vereinigten Staaten gute Zeugnisse mit nach Hause bringt, wird er hier in London die Stelle des Chefarztes übertragen bekommen und das ist nun einmal enorm wichtig für ihn. Und unserem Namen und Ruf kann es auch nicht schaden. Außerdem ist Amerika das Land auf dieser Welt, in dem nun einmal die meisten und bedeutendsten Kinofilme produziert werden. Vielleicht läuft mir ja sogar ein Hollywoodstar über den Weg, Cary Grant zum Beispiel."

    „Es wäre bestimmt viel einfacher für euch, wenn ihr mich hier lassen würdet und ihr nehmt nur Jean mit! Das Mädchen verdrehte die Augen. Was interessierte sie denn Cary Grant oder sonst irgendein Filmschauspieler, wenn sie dafür alles zurücklassen musste, was ihr wichtig war? „Ich meine, Louisa ist doch da! Und Sallys Eltern würden bestimmt auch nach mir sehen, wenn es euch beruhigt und…

    „Diese Diskussion ist für mich längst beendet, fiel Rachel ihr ungehalten ins Wort, wobei ihre Miene sich verfinsterte. „Hör endlich auf mit diesem Gezeter und benimm dich, wie ich es dich gelehrt habe!

    „Aber Mom!", brauste das Mädchen verzweifelt auf. Ihre Lage schien aussichtslos und in ihren jungen, unerfahrenen Gedanken breitete sich eine Art von Abscheu aus – gegen das Leben, ihr Schicksal und gegen ihre Mutter, die sie zu zwingen vermochte. Keiner verstand sie! Keiner verstand, wie es in ihr aussah!

    „Was haben wir denn in den Vereinigten Staaten schon verloren? Die Väter von anderen Mädchen in meinem Alter bleiben doch auch hier und haben bedeutende Stellungen in ihren Berufen! Wieso müsst ausgerechnet ihr derartig verrückt sein?"

    „Erstens verbitte ich mir diesen Ausdruck und zweitens habe ich dir die Gründe bereits erklärt. Es geht um die Karriere deines Vaters. Ein Jahr ist schnell vorbei und jetzt reiß dich um Himmels Willen zusammen! Ungeduldig drehte Rachel sich auf dem Absatz um. „Ich muss zusehen, dass deine Schwester endlich das Chaos in ihrem Zimmer beseitigt. Dann schau ich nach, ob dein Vater die Koffer schon hinuntergetragen hat und ob ich das Taxi rufen kann. Außerdem solltest du noch gut frühstücken, bevor es losgeht. Sie eilte zur Tür, wobei die hohen Absätze ihrer Schuhe im Takt ihres schwebenden Ganges klapperten.

    „Und was passiert jetzt mit mir? Mit einem letzten, aufbäumenden Versuch, dem Unvermeidbaren doch noch zu entrinnen, sprang das Mädchen auf. „Schön – für Paps ist es ein Aufstieg und für mich? Ich muss für ein Jahr alles aufgeben – meine Freunde, die Schule…

    „Patricia Lorena van Haren!" Rachel hatte bereits die Türe aufgerissen. „Du hast vollkommen falsche Vorstellungen von einer amerikanischen Großstadt! Sie ähnelt London sehr, sei ganz beruhigt! Auch dort gibt es Mädchen, mit denen du dich anfreunden kannst, außerdem: Noch bestimme ich hier, was gut für dich ist und was nicht! Und ich erkläre dir hiermit zum allerletzten Mal: Wir fliegen!"

    Rachel lief davon. Leise glitt die Tür hinter ihr ins Schloss. Regungslos hing Pattys Blick an den Schnitzereien im Nussbaumholz, als erhoffte sie sich von ihnen Hilfe oder eine Antwort. Alles hatte sie versucht, wirklich alles, um diesem einen Jahr in den Staaten zu entrinnen. Bis heute Morgen war sie so fest davon überzeugt gewesen, doch noch ihren Willen durchsetzen zu können, aber jetzt war auch diese Hoffnung geplatzt, wie eine schöne Seifenblase, die schon viel zu lange in der Luft geschwebt hatte.

    Tränen der Wut und Enttäuschung brannten in ihren Augen und sie tat sich selbst entsetzlich leid. Allein die Vorstellung, in ein Land zu ziehen, das ihr vollkommen fremd war, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie konnte das nicht, es war zuviel verlangt! Sie war nie, niemals in ihrem ganzen bisherigen Leben aus ihrer vertrauten Umgebung herausgekommen. Wie sollte sie ein ganzes Jahr in einem Land meistern, das sie schon jetzt verabscheute? Alle Mädchen in ihrer Schulklasse beneideten sie darum, dass sie zwölf Monate in den USA verbringen durfte – ein Land, das sie alle lediglich von der Leinwand des städtischen Kinos kannten. Nur Patty selbst brachte es beim besten Willen nicht fertig, es als neue, bereichernde Erfahrung zu empfinden.

    Wenn ich nur mit jemandem tauschen könnte! Ihr genügte das Bild auf der Leinwand. Wozu dieses herrliche, sorgenfreie Leben hier aufgeben, wo es ihr gut ging und sie alles besaß, wovon andere Mädchen in ihrem Alter nur träumen konnten? Teure Kleider, zwei riesige Zimmer, ein eigenes Bad, eine eigene Lounge im Kino, die nur für ihre Familie reserviert war…

    Die Wanduhr schlug laut und dröhnend die volle Stunde, ihr Gong hallte durch das Zimmer. Patty zuckte zusammen. Jeden Augenblick konnte es soweit sein. Vielleicht gab es noch einen letzten Ausweg, vielleicht bekam ihr Vater ja noch ein Einsehen! Ihr Vater – ihr letzter Strohhalm, an den sie sich klammern konnte, weil er viel nachgiebiger und weicher war als Rachel. Entschlossen warf Patty den Kopf zurück, ihr nach außen geföhntes Haar flog mit der Bewegung mit. Auch, wenn sie vor kurzem erst vierzehn geworden war, so besaß sie doch dieselben Eigenschaften wie ihre Mutter – nämlich Starrsinn und eisernen Willen und bisweilen sogar die gleiche unnahbare, schier unerträgliche Gefühlskälte.

    Das Frühstück schmeckte Patty nicht und sie kaute lustlos darauf herum, bis sie den Teller schließlich beiseiteschob und wortlos das Speisezimmer verließ. Unter Louisas hartem Blick war ihr nichts anderes übriggeblieben, als die letzten Krümel doch noch zusammenzukratzen, denn die Haushälterin hätte es fertiggebracht und sich bei Rachel beschwert. Noch nie hatte Patty sich vom Leben derart ungerecht behandelt gefühlt. Es kam ihr beinahe vor, als bedeutete dies das Ende jeglicher Zukunftsaussichten. Sie strich sich den Stoff ihres Designerkleides zurecht und schlich hinaus in die Eingangshalle.

    In der Zwischenzeit hatten sich dort die Koffer und Reisetaschen gestapelt, gefüllt mit dem Wenigen, was sie von all ihrem Besitz mitnehmen konnten und Patty stand eine Weile davor, um sie anzustarren. Auf einmal begann Rachels herrische Stimme aus dem oberen Stockwerk nach unten zu dringen. Wahrscheinlich bekam ihre dämliche, zwei Jahre ältere Schwester gerade wieder einmal eine Standpauke zu hören, weil sie zum einen nicht fertig war mit Packen und zum anderen wieder irgendetwas angestellt hatte, ohne es überhaupt zu bemerken.

    Patty seufzte. Eigentlich wäre es überhaupt kein Problem, wenn ihre Eltern sie und Louisa alleine hier zurücklassen würden. Schließlich musste sich ja trotz allem jemand um die Villa kümmern, auch wenn niemand für ein Jahr darin wohnen würde. Die kostbaren Möbel würden mit Tüchern abgedeckt werden, um sie vor Staub und Schmutz zu schützen und die Blumenbeete blieben für einen Frühling ohne die prächtige Farbenpracht, weil Rachel sich das Geld für den Gärtner sparen wollte. Wer wusste, ob Louisa alleine, ohne Beaufsichtigung in der Lage sein würde, sich um alles anständig zu kümmern? Patty betrachtete sich im mannshohen Garderobenspiegel und überprüfte den Sitz ihrer Frisur. Eigentlich wäre sie durchaus eine würdige Vertretung für den Rest ihrer Familie, wie sie fand.

    Eine Autohupe riss sie wüst aus den schönen Überlegungen. Die schwere, geschnitzte Haustür stand weit offen und am Ende der fünf Stufen parkte soeben das bestellte, schwarze Taxi ein. Neben ihren drei eigenen Gepäckstücken blieb Patty stehen und starrte ihrem Vater finster entgegen, der soeben herein eilte.

    Matthew Cleavon van Haren war gut Einmeterneunzig groß und schlank und der lange Mantel in dunklem Blau ließ ihn ausgesprochen weltgewandt aussehen. Als er seine jüngere Tochter bemerkte, verlangsamte er seinen Schritt. Sein gutaussehendes, schmales Gesicht verzog sich zu einem zärtlichen Lächeln.

    „Na, mein Mädchen? Hast du auch nichts vergessen?"

    Wortlos schüttelte Patty den Kopf und schürzte unverhohlen die Lippen. Es war Verletzung und Angst in einem, was in ihr tobte. Regungslos beobachteten ihre rehbraunen, verdächtig glänzenden Augen, wie ihr Vater die nächsten beiden Koffer zum Taxi trug. Der blaugekleidete Fahrer nahm sie ihm ab und verstaute sie im Kofferraum. Matthew kam zurück und wollte wieder zu zwei Taschen greifen, es waren Pattys.

    „Paps?" Hastig packte seine vierzehnjährige Tochter ihn an den Armen, riss ihn zu sich herum. Sie musste es aufhalten, jetzt, sofort, ehe es zu spät für sie wäre, denn sie fühlte instinktiv, dass dieses ganze Vorhaben für sie entsetzlich enden würde und dass sie dieses Jahr womöglich nicht durchstehen konnte. Patty besaß weder die Fähigkeit, noch die Erfahrung, die Ausmaße eines solchen Aufenthalts einzuschätzen, denn sie war von Kleinkindesalter an verwöhnt und behütet. Das jüngste Kind ihrer Eltern und Rachels großer Liebling, von ihrem Vater heiß und innig geliebt und von ihrer Mutter immer daran erinnert, dass sie nicht irgendeiner Familie angehörte, sondern dass sie etwas Besonderes geworden war. Nie hatte sie für etwas, das sie haben wollte, arbeiten oder einen Finger rühren müssen und gerade deshalb brannte die Enttäuschung in ihr, diesmal ihren Willen nicht bekommen zu haben. Dieses Mal schienen ihre Eltern ihr eigenes Ziel durchzusetzen und das passte Patty ganz und gar nicht. Sie konnte nicht ahnen, dass Mädchen wie sie eines war, keine Enttäuschung im Leben erspart blieb und dass die Lektionen, die sie zu lernen haben würde, härter waren, als sie es sich in diesem Moment ausmalen konnte. Sie verstand das Leben nicht – sie verstand nur die Oberflächlichkeiten und das genügte ihr.

    Liebevoll blickten Matthews hellbraune Augen, die genau dieselbe Farbe wie seine kurzgeschnittenen, an den Schläfen schon leicht ergrauten Haare besaßen, auf seine kleine Tochter herab. Seine schlanken, gepflegten Hände, die Rachel immer als „Medizinerhände" bezeichnete, legten sich schwer auf Pattys Schultern. Sein einnehmender, vertrauenserweckender Charme stand im völligen Gegensatz zu der kalten Ausstrahlung seiner Frau und Außenstehende neigten gern dazu, das Ehepaar van Haren mit zwei sich abstoßenden Magneten zu vergleichen. Bei öffentlichen Anlässen – und auf solchen waren sie dank Rachels Modebewusstsein häufig vertreten – verhielt Matthew sich still und zurückhaltend und ließ seiner Frau den Vortritt. Er hatte sein Leben der Medizin und seinem Beruf als Chirurg verschrieben und für gewöhnlich blieb ihm wenig Zeit, sich tieferschürfend mit solchen Nebensächlichkeiten wie der neuesten Kreation eines Pariser Modeschöpfers zu beschäftigen. Außerdem fehlte ihm dafür jegliches Interesse und Verständnis. Für ihn sah seine Frau immer bezaubernd aus – ganz gleich, ob in einem Designerkleid oder in einer Tweedhose von der Stange aus dem Kaufhaus.

    „Paps! Flehend schlang Patty jetzt ihre Arme um seinen Oberkörper. „Wenn du mir meinen größten Wunsch erfüllst, brauchst du nie, nie wieder irgendetwas für mich tun! Dann bin ich bis ans Ende meines Lebens wunschlos glücklich! Bitte, lass mich hier, bitte, bitte! Sie presste sich fest an ihn. Diese Masche half meistens, wenn sie ihren Kopf durchsetzen wollte. „Du kennst mich, Paps! Du weißt, dass ich in Amerika todunglücklich sein werde!"

    Matthew musste sich sehr zusammennehmen, um Ruhe zu bewahren. Zu oft hatte sie ihm damit schon in den Ohren gelegen, seit Wochen, seit Monaten, seitdem sie wusste, dass es dieses Auslandsjahr geben würde.

    „Dazu ist es zu spät, erklärte er bedacht und schob sie sanft von sich fort. „Außerdem bildest du dir das alles nur ein! Es wird dir bestimmt gefallen, glaub mir! Sogar deine Mutter freut sich auf die Staaten und du weißt, wie schwer sie mit etwas zufriedenzustellen ist!

    Patty trat einen Schritt zurück und starrte ihn an. Tränen der Wut und des Trotzes brannten in ihren Augen. „Das ist ungerecht! Ihr seid meine Eltern und damit für mein Wohlbefinden verantwortlich, aber jetzt zwingt ihr mich, die schlimmsten zwölf Monate meines Lebens durchzustehen! Das verzeihe ich euch nie, niemals!"

    Seufzend schloss ihr Vater für eine Sekunde die Augen. „Schon gut. Darüber können wir während des Fluges noch ausgiebig diskutieren. Er warf einen Blick auf die alte, schwere Standuhr. „Es wird Zeit. Wir müssen uns beeilen. Gib deiner Mutter und deiner Schwester Bescheid, dass wir allmählich fahren sollten. Das Flugzeug wartet nicht, nur weil sie ewig trödeln!

    Hastig drehte er sich auf dem Absatz herum und lief wieder hinaus, zum Taxi. Draußen blieb er stehen und atmete mehrere male tief durch. Wie sehr es doch seine Vorfreude trübte, seine jüngste Tochter so unglücklich sehen zu müssen, aber auf keinen Fall konnte er sie hier alleine zurücklassen, nicht einmal in Louisas Obhut. Patty gehörte zu ihnen, jedenfalls so lange, bis sie erwachsen sein und ihre eigenen Wege gehen würde. Er hatte ja auch gar nicht damit gerechnet, dass ihm, ausgerechnet ihm, auf einmal die Möglichkeit zuteil werden würde, ein ganzes Jahr im Ausland zu arbeiten. Die Entscheidung der amerikanischen Klinik war ganz plötzlich gefallen und er hatte nicht eine Sekunde gezögert, das Angebot anzunehmen. Sein Blick glitt über die Koffer hinweg, die sich im hinteren Teil des Taxis stapelten. Ein Jahr, ein ganzes langes Jahr fort von dieser lauten, stinkenden Stadt, fort von den ständigen Empfängen und Partys, endlich nur Arzt und Mensch sein, nichts weiter. Für ihn würde es das Jahr werden, in dem er sich daran erinnern konnte, welche Ziele und Träume ihn einst getrieben hatten – und was heute davon übriggeblieben war.

    Lange stand Patricia entmutigt und hilflos in der Eingangshalle der riesigen Villa, die ihr Großvater einst hatte erbauen lassen. Fahren, jetzt, sofort, ohne, dass sie sich von Mabel und all ihren anderen Freunden verabschiedet hatte; ohne, dass sie auch nur die Möglichkeit gehabt hätte, einfach fortzulaufen und erst, wenn der Rest ihrer Familie abgereist war, wieder aufzutauchen!

    Als hätte sie die Worte ihres Mannes gehört, trippelte in diesem Augenblick Rachel auf ihren hohen Absätzen die Treppe herab, gefolgt von ihrer älteren Tochter, die noch im Laufen in ihrer Handtasche wühlte.

    „Nun beeil dich doch endlich! Es ist immer dasselbe mit dir!"

    „Ich komme ja schon! Jean Frances van Haren eilte hinter ihrer Mutter her. Sie trug noch einen Ballerina in der Hand und einen Haargummi zwischen die Zähne geklemmt. Auf halber Höhe der Treppe hielt sie inne und schlüpfte schnell in den zweiten Schuh. Dann packte sie ihr schulterlanges, braunes Haar und band es zu einem Pferdeschwanz zusammen. „Ich muss nochmal schnell wohin!

    Patty verdrehte die Augen und warf ihrer sechzehnjährigen Schwester einen ungeduldigen Blick zu, beherrschte sich jedoch soweit, jeglichen Kommentar zu unterlassen. Was konnte sie von so einer Schwester auch schon erwarten? Sicherlich nicht, dass die Reise weniger anstrengend und nervenaufreibend verlaufen würde. Eilig schlüpfte Rachel nun in ihren Mantel und wirbelte gleichzeitig herum.

    „Konnte dir das nicht früher einfallen?, schimpfte sie ungehalten. „Nun mach’ doch endlich!

    „Ja, ja!" Jean raste die Treppe wieder hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend.

    „Und wieso trägst du dieses unmögliche, alte Kleid?, schrie ihre Mutter ihr hinterher. „Kannst du dir nicht einmal ein Beispiel an deiner Schwester nehmen und ein bisschen auf dein Äußeres achten?

    Eine Tür schlug im oberen Stock mit einem lauten Knall ins Schloss. Rachel seufzte ungehalten.

    „Kann sie nicht, feixte Patty und ließ sich von Louisa in ihren neuerworbenen Trenchcoat helfen. „Sie hat eben nicht mein Modebewusstsein!

    Und sie ist hässlich, im Gegensatz zu mir, fügte sie in Gedanken hinzu, wobei sie unbewusst schnippisch grinste.

    „Red keinen Unsinn, steig’ wenigstens du schon ein!" Ihre Mutter packte sie am Arm und zerrte sie hinaus ins Freie. Ohne eigenen Willen fühlte Patty, wie sie, einer Puppe ähnlich, auf die Rücksitzbank des miefigen, engen Taxis geschoben wurde.

    Endlich kam ihre Schwester angerannt, ihre Jacke – natürlich – auf dem Arm. Sie umarmte noch die Haushälterin überschwänglich.

    „Auf Wiedersehen, Louisa! Passen Sie gut auf alles auf!"

    „Jean!" Der Schrei ihrer Mutter gellte über die Hofeinfahrt.

    „Ja, ja! Bin schon da!"

    Das sechzehnjährige Mädchen ließ sich neben ihre Schwester auf die Rücksitzbank fallen und ächzte. Das brachte ihr einen herabwerfenden Seitenblick Pattys ein, den Jean geflissentlich ignorierte. Sie zupfte das marinefarbene Baumwollkleid bestmöglich zurecht, das ihr so gut gefiel, weil es schlicht geschnitten war und keine Blicke auf sich zog. Im Gegensatz zu ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester besaß Jean den Körper eines Kindes. Während bei Patty sämtliche weibliche Attribute bereits mehr als deutlich ausgeprägt waren, hatten sich bei ihr noch nicht mal ansatzweise Brüste entwickelt. Oft beneidete Jean ihre Schwester darum, denn sie sah einfach in allen Kreationen, die ihre Mutter nach Haus brachte, umwerfend aus. Andererseits legte Jean nicht denselben Stellenwert auf Kleidung wie ihre Schwester, sodass es ihr häufig gelang, über Pattys Eitelkeit hinwegzusehen.

    Im völligen Gegensatz zum Rest ihrer Familie schien Jean auf einen flüchtigen Blick hin nicht das, was als Schönheit hätte bezeichnet werden können. Zwar waren die Gesichtszüge ebenmäßig und fein, doch die grünen Augen wirkten zu klein und die Nase zu groß und lang geraten. Das Kinn stand zu weit vor und wirkte zu breit, während die Wangenknochen fast zu kantig ausgefallen waren.

    „Winkt doch Louisa nochmal!", befahl Rachel vorwurfsvoll ihren Töchtern, während sie durch das heruntergekurbelte Fenster zu der Haushälterin zurückblickte, die heftig ein weißes Taschentuch schwenkend im Eingang stand. Ihr Satz blieb bei Patty ohne Reaktion. Während Jean fröhlich ihren Arm zum Fenster hinausstreckte, wagte Patty es nicht, ihren Blick noch einmal umzuwenden. Sie war davon überzeugt, dass sie – sollte sie dieses Jahr überhaupt überleben – nie wieder glücklich werden konnte. Bis dahin würde sie längst an Heimweh und Langeweile oder allem beiden gestorben sein.

    Der Motor heulte auf, als der Taxifahrer aufs Gaspedal trat und mit ihnen die Straße in Richtung Flughafen hinunterbrauste.

    Der fast zwanzigstündige Flug, der von zwei Zwischenstopps unterbrochen wurde, machte beiden Mädchen mehr zu schaffen, als Rachel und Matthew erwartet hatten. Sie litten unter andauernder Übelkeit und erbrachen sich solange, bis ihre Mägen völlig entleert waren und sie nur noch die übelriechende Gallenflüssigkeit hervorwürgen konnten.

    Patty glaubte, schon tot in Amerika anzukommen, doch zu ihrem Bedauern ging auch der schreckliche Flug irgendwann vorüber und sie lebte immer noch. Wahrscheinlich würde sie das Jahr in diesem Land ebenso hinter sich bringen, selbst wenn sie es verfluchte und hoffte, ihre Eltern bestrafen zu können, indem sie einfach starb, nachts, in ihrem Bett, wenn niemand es mitbekam. An irgendeiner Krankheit, die nicht einmal ihr Vater herausfinden konnte, damit sie einsahen, ihr Herz gebrochen zu haben. Sonst bekam sie auch alles, was sie sich wünschte, ob das nun ein neues Kleid, teurer Schmuck oder edles Parfüm waren – diese Anschaffungen stellten keinerlei Problem dar. Warum blieben sie nur in dieser einen, alles entscheidenden Hinsicht so stur? Weswegen taten sie ihr das an? Sie würde es niemals begreifen können, nie!

    Scheinbar endlos zog sich...

    Scheinbar endlos zog sich der Highway über die hügelige, abwechselnd mit grünen und braunen Grasbüscheln bewachsene Prärie dahin, trist und eintönig, sich immer wiederholend. Nur hier und dort säumten Sträucher oder kleinere Wälder die breite Asphaltstraße. In der Ferne erhoben sich hellgraue Felsketten wie Wegweiser aus dem Boden, während hinter den wenigen weißen Wolken am hellblauen Himmel die Mittagssonne hervorblinzelte und ihr wärmendes, grelles Licht spendete. Welch ein armseliger Unterschied zur grünen, fruchtbaren Landschaft Südenglands.

    Leise eine Melodie pfeifend, lenkte Matthew den schwarzen, viertürigen Jeep die Straße entlang. Er hatte ihn sich gekauft, nachdem sie vor zwei Tagen in Salt Lake City im Bundesstaat Utah angekommen waren, dem Ziel ihres langen Fluges. Zunächst hatten sie sich in der großen Stadt von den Strapazen der Reise – dem ersten Flug für seine Familie überhaupt – erholt, ehe sie gestern weiter bis Shoshone, einer kleinen Stadt im Süden Idahos, gefahren waren. Dort hatten sie eine weitere Nacht verbracht und heute wollten sie die letzte Etappe bis Summersdale schaffen, ihrem neuen Zuhause, jedenfalls für das bevorstehende, nächste Jahr.

    Durch das zur Hälfte heruntergekurbelte Fenster dröhnte das monotone, nervtötende Brummen des Motors noch lauter herein, als es ohnehin schon war. Der Jeep hatte bereits einen Besitzerwechsel hinter sich und war nur deshalb so günstig gewesen, weil eine breite, hässliche Beule quer über der Fahrerseite verlief. Matthew konnten derartige Schönheitsfehler nicht aus der Ruhe bringen, er genoss die Fahrt und die endlosen Weiten der vorbeiziehenden Landschaft.

    Patty hatte die Beine über die Hälfte der hinteren Sitzbank gelegt und lehnte mit dem Rücken an der Außenverkleidung des Wagens. Er besaß nur vorne Türen, sodass sie nach hinten über die Lehnen der Vordersitze klettern mussten. Allein das wäre schon ein Grund gewesen, gar nicht erst einzusteigen. Sie hielt ihre Augen geschlossen und versuchte, ein wenig zu schlafen, was ihr aber nicht gelang. Immer wieder schreckte sie hoch und stellte zum zigsten Male frustriert fest, dass es kein böser Alptraum war, sondern dass sie wirklich heil und unversehrt, wenn auch geschwächt und elend, in den USA angekommen waren.

    Seit sie das Flugzeug in London betreten hatten, schwieg Patty beharrlich, gab nur kurze, mürrische Antworten, wenn sie gefragt wurde und weigerte sich, mehr als irgendnötig zu essen. Jetzt war sie beinahe eingenickt. Schwer sank ihr Kopf gegen die Rückenlehne. Das ungewohnte Klima, die anstrengende Reise – oh, wenn sie doch endlich tief und fest schlafen könnte, eine ganze Nacht lang!

    Ihre Schwester hingegen war wieder einmal ganz angetan von allem Neuen in ihrem Leben und das nervte Patty am meisten. Wie konnte sie dauernd zum Fenster hinausglotzen, um von Zeit zu Zeit mit einem Ruf der Entzückung auf irgendwelche hässlichen Felsen oder Bäume zu zeigen? Immerhin war Jean jetzt eingeschlafen und schnarchte leise vor sich hin. Patty spürte, wie sie erneut anfing wütend zu werden – nicht nur auf ihre Schwester, auch auf die ganze Situation in der sie feststeckte und aus der es keinen Ausweg zu geben schien. Sie verspürte großes Verlangen, einfach mit ihrem Fuß auszuholen und Jean damit kräftig zu treten.

    Rachel hockte auf dem Beifahrersitz, die Straßenkarte auf dem Schoß und starrte schläfrig zur Frontscheibe hinaus. Es war bereits nach ein Uhr mittags. Seit über vier Stunden rollten sie nun über die penetrant gleich aussehende Ebene hinweg, wo jeder Fels und Hügel, jeder Wald und Strauch sich in gewissen Abständen zu wiederholen schien. Hin und wieder kamen sie an einsamen Tankstellen oder Ortschaften vorüber, die aus einer Handvoll Häuser bestanden. Mehr schien es hier nicht zu geben. Es erschreckte Rachel beinahe etwas, als ihr bewusst wurde, wie einsam und verlassen hier alles war, im Vergleich zu ihrer gewohnten Umgebung. Matthew stimmte ein neues Lied an, was ihm einen gereizten Blick seiner Frau einbrachte.

    „Kannst du nicht endlich diesen Singsang einstellen?! Rachel richtete sich ächzend auf und streckte ihre Glieder, so gut es in dem engen Wagen möglich war. „Mir tut alles weh von dem elendigen Sitz dieser Schrottkarre! Ungehalten krachte ihre Faust gegen die Verkleidung der Beifahrertür. „Wozu musste dieser Fehlkauf überhaupt sein?! Wozu brauchst du ein solches Auto?! Erstens ist es gebraucht und zweitens gefällt es mir nicht. Diese Geländekübel erinnern mich immer an meine schreckliche Tante Minnie aus Irland – sie ist Bäuerin!"

    „Du kannst ja aussteigen und zu Fuß gehen oder mit dem Bus nachkommen, schlug Matthew ungerührt vor. „Außerdem, seine Gesichtszüge nahmen einen verträumten Ausdruck an, „habe ich mir schon lange vorgestellt, mit meinem eigenen Jeep über einen amerikanischen Highway zu düsen!"

    „Und? Erfüllt dieses stinkende Metallgehäuse auf vier Rädern deine Erwartungen? Spöttisch runzelte Rachel die Stirn. „Tu’ mir bloß einen Gefallen: Halte dich an die Geschwindigkeitsbegrenzung! Im Übrigen lässt sich deine plötzliche Leidenschaft für amerikanische Autos wohl auf deine häufigen Kinobesuche in den letzten beiden Jahren zurückführen? Soweit mich die Eintrittskarten, die du regelmäßig im Mülleimer vergraben hast, informiert haben, bist du Westernfilmen ja regelrecht verfallen!

    Eine Sekunde verschlug es Matthew die Sprache. Dass sie so gut über seine, wie er bisher geglaubt hatte, heimlichen Gepflogenheiten Bescheid wusste, hatte er nicht geahnt. Wütend über seine eigene Dummheit, die Eintrittskarten nicht gleich im Kamin verbrannt zu haben, stieß er hervor: „Oh, entschuldige bitte! Ich habe ja völlig vergessen, dass ich am Ende noch dein Geld verschwende! Hättest du eine bessere Idee gehabt, wie wir von Salt Lake City nach Summersdale kommen? Vielleicht im eigenen Privatjet?"

    „Ich sage ja nicht, dass wir kein Auto brauchen, lenkte Rachel ein, „aber wenn, dann doch wohl eines, das wir nach unseren Wünschen beim Händler bestellen! Das fängt schon bei der Farbe an! Schwarz! In dieser staubigen Gegend und bei den von dir erwähnten Durchschnittstemperaturen ist das eine Zumutung! Und gegen ein bisschen mehr Komfort hätte ich auch nichts einzuwenden…für meinen Standard jedenfalls. Sie seufzte. „Aber wir können das Ding ja immer noch verkaufen und uns dafür ein geeigneteres zulegen. Ich hätte gerne einen Cadillac. Was hältst du davon? Der sieht sehr schick aus!"

    Matthew schaffte es gerade noch, ein Grinsen zu unterdrücken und erwiderte stattdessen überschnell: „Aber selbstverständlich!"

    In diesem Augenblick erklang von hinten eine zornige Stimme: „Ach, das sind doch jetzt sowieso nur sinnlose Diskussionen, die zu nichts führen! Bis wir da sind, entscheidet ihr euch doch noch zehnmal um! Hauptsache, wir kommen endlich an!"

    Stöhnend und mit missmutig verzogener Miene räkelte Patty sich auf dem Rücksitz, wobei sie ihrer Schwester einen unsanften Tritt gegen den Schenkel versetzte. Bisweilen musste man eben gewisse Verlangen auch ausleben, nachdem sie dieses nun lange genug unterdrückt hatte.

    Jean schreckte aus ihrem Schlaf hoch. „Sind wir schon da?"

    „Nein, schlaf weiter, blaffte Patty sie an. „Bei der Karre geht’s nicht so schnell!

    „Erzähl uns doch mal, wie die Stadt aussieht, bat Jean ihren Vater munter, ohne ihre Schwester zu beachten. Sie kannte diese Launen schon und machte sich nichts daraus. „Wie groß ist sie? Gibt es dort Museen, wo ich hingehen kann? Und haben sie eine Bibliothek? Das ist das allerwichtigste! Sie beugte sich nach vorn.

    „Was ist los? Ich dachte, du wolltest schlafen?, bemerkte Rachel unwirsch. „Für deinen kulturellen Wissensdurst hast du noch früh genug Zeit!

    „Ich will viel lieber wissen, ob es dort gute Modegeschäfte gibt!, mischte Patty sich nun in das Gespräch ein. „Alles andere ist doch sowieso vollkommen gleichgültig!

    „Sie hat nicht ganz unrecht, wandte Rachel sich an ihren Mann. „Erzähl uns doch ein wenig etwas! Besonders ausführlich hast du uns bislang ja nicht teilhaben lassen, außer, dass die Stadt Summersdale heißt und du dort in der Klinik arbeiten wirst.

    „Ja…also… Sichtlich in Verlegenheit gebracht, rang Matthew um die passenden Worte. „Die Klinik, begann er nach kurzer Überlegung hastig, „ist natürlich nicht mit unserer in London zu vergleichen! Sie hat eine wesentlich überschaubarere Größe, ist aber trotzdem sehr modern ausgestattet und…"

    „Matt!, unterbrach Rachel ihn. „Die Klinik kann von mir aus lila mit froschgrünen Fenstern sein! Wie ist die Stadt? Ist sie klein oder groß? Ein Provinznest oder wird einem auch etwas geboten? Und ich schließe mich voll unserer Tochter an: Gibt es vernünftige Geschäfte? Ich kann nicht ein ganzes Jahr lang in denselben Kleidern herumlaufen!

    Plötzlich zornig schlug Matthew mit der flachen Hand auf das Lenkrad. „Himmel nochmal! Falls es dir entgangen ist, hatte ich während meines Besuchs nur drei Tage Zeit! Ich bin überhaupt nicht dazu gekommen, mich derartig unwichtigen Dingen zu widmen! Am ersten Tag habe ich mir die Klinik angesehen und die anderen beide Tage war ich damit beschäftigt, eine Bleibe für uns zu finden! Spöttelnd fügte er hinzu: „Schließlich bin ich als dein Mann gewöhnt, dass du in keinem Motel absteigst!

    Kopfschüttelnd überging Rachel den letzten Satz. „Schön, dann erzähl uns eben von dem Haus, das du uns organisiert hast. Schließlich wollen wir wissen, wo wir ein Jahr lang wohnen werden."

    „Das hat die letzten sechs Monate auch niemanden interessiert, rutschte es ihrem Mann heraus. „Außerdem wird eure Geduld noch lange genug ausreichen.

    Patty seufzte genervt. „Gut. Was ist mit der Schule, in die ich gehen soll? Gibt es wenigstens dazu eine genauere Erläuterung? Ich hoffe bloß, sie hat einen ähnlichen Standard zu bieten, wie das Mädcheninternat in London!"

    Ihr Vater stieß ein missfälliges Grunzen aus. „Das hier ist keine Gegend, in der die High Society absteigt! Die Schule hat einen sehr ordentlichen Eindruck auf mich gemacht mit netten Lehrern. Mit zweien und dem Direktor habe ich bereits gesprochen."

    „Das freut mich für dich." Düster starrte Patty zum Seitenfenster hinaus. Es wurde nicht besser, im Gegenteil. Ihr Leben war zerstört, sie musste in einem Provinznest eine Schule besuchen, vermutlich noch zwischen einfältigen Landkindern und Dummköpfen. Bei der erstbesten Gelegenheit würde sie ausreißen und nach London zurückfliegen, das schwor sie sich!

    „Ich bin schon gespannt auf die neue Schule!, rief Jean übermütig und rutschte ungeduldig auf ihrem Sitz hin und her. „Bestimmt haben ein paar Mädchen hier Pferde und ich kann endlich reiten lernen!

    „Das war ja klar! Patty kochte innerlich. „Du kannst ja auch gleich hierbleiben und unter die Kuhhirten gehen, das passt doch zu dir! Du immer mit deinem dämlichen Fimmel für Pferde!

    Ein wenig gekränkt blinzelte Jean ihre kleine Schwester an. „Es muss sich ja nicht jeder so unbeliebt machen wie du, mit deinem eingebildeten Getue!"

    „Jetzt hört doch auf, euch zu streiten! Matt drückte demonstrativ einige Male auf die Hupe. „Es wird schon für jede von euch hier etwas geben, was euch gefällt!

    „Glaub’ das bloß nicht! Mir genügt schon allein der Gedanke an diese sogenannte Schule, in die ich gehen muss!, rief Patty trotzig und warf sich gegen die Rückenlehne. „Wahrscheinlich laufen da nur so Trampel und Einfaltspinsel herum wie deine andere Tochter! Das ist ja wohl weit unterhalb meines Niveaus!

    Eine lange Minute herrschte Schweigen im Wagen und nur das unaufhörliche Dröhnen des Motors machte es erträglich. Rachel seufzte und fischte in ihrer Handtasche nach einem Spiegel, um den Sitz ihrer Frisur zu überprüfen.

    „Siehst du, sagte sie verständnislos, während sie an ihrem Pony zupfte, „jetzt sind wir genauso klug wie vorher. Das ist typisch dein Vater – er rückt mit der Wahrheit immer erst heraus, wenn er nicht mehr anders kann!

    Sie ahnte noch nicht, welche Wirkung dieser Satz zum jetzigen Zeitpunkt auf ihren Mann hatte, der beharrlich schweigend, geradezu stoisch seinen neuerworbenen Jeep weiter über den Highway lenkte.

    Am frühen Nachmittag entdeckte Rachel zu ihrer Erleichterung das Schild an der Straßenkreuzung, nachdem sie schon geglaubt hatten, daran vorbeigefahren zu sein.

    „Da, da steht Summersdale! Seht ihr? Ungeduldig deutete sie mit dem Finger darauf. „Gleich sind wir da! Lächelnd wandte sie sich zu ihren beiden Töchtern um. „Habt ihr gehört?"

    Patty hatte sich wieder auf dem Rücksitz ausgestreckt und gab nur ein kurzes, mürrisches „Lass mich in Ruhe!" zurück, während Jean den Hals reckte, um möglichst bald schon etwas zu entdecken.

    Rachels Laune besserte sich mit jeder Minute. „Wieviele Meilen sind es denn nun noch?"

    Matthew bog nach rechts, in die schmälere Asphaltstraße ab, die von da an nicht mehr als Highway gekennzeichnet war, sondern lediglich als Interstate.

    „Nun, ich schätze, etwa zehn bis Summersdale", antwortete er zögernd und starrte mit unbewegter Miene zur Frontscheibe hinaus. Prüfend ruhten Rachels schiefergraue Augen auf ihm. Er spürte es.

    „Und weiter?, hakte sie prompt nach, ein wenig triumphierend, ihn durchschaut zu haben. „Liebling! Vor seiner Frau darf man doch keine Geheimnisse haben!

    „Na…ja… Matt versuchte ein verzerrtes Lächeln. „Es ist nichts Dramatisches. Irgendwann musste er ja mit der Beichte der Tatsachen anfangen. Vielleicht war jetzt der richtige Zeitpunkt dafür gekommen. „Es ist bloß…das Haus liegt nicht direkt in Summersdale."

    Verblüfft wiederholte Rachel: „Nicht direkt in Summersdale?"

    Mit einem Schlag war Patty wieder hellwach. Sie beugte sich nach vorn. „Heißt das, es gibt dort auch ein Villenviertel? Gespannt tippte sie ihrem Vater auf die Schulter. „Sag schon, Paps!

    Matthew sah ein, dass er nun beim besten Willen nicht länger ausweichen konnte – ob ihm vor den Folgen graute, spielte dabei keine Rolle. Er allein hatte sich dafür verantwortlich zu machen. Ein kurzer Seitenblick auf seine Frau genügte, um ihm klar zu machen, dass er ihre Geduld schon überstrapaziert hatte. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass ihm einer ihrer Wutausbrüche erspart blieb.

    „Ach, weißt du, Summersdale ist keine allzu schöne Stadt und auch recht laut, aber ein Stück südöstlich davon gibt es eine kleine Ortscha…" Er schaffte es gerade noch, sich zu korrigieren: „…ein kleines Städtchen namens Silvertown. Dazu gehört unser Haus. Es ist wirklich ganz reizend und hat genau die richtige Größe für uns vier. Als ich es zum ersten Mal gesehen habe wusste ich sofort – das ist es, eine Art Lebenstraum, der in Erfüllung geht! Ohne Pause fügte er erklärend hinzu: „Die Entfernung bis Summersdale ist kaum nennenswert und es fährt dreimal am Tag ein Bus für die Schüler.

    „Ein Bus?!", wiederholte Patty entsetzt. Ihr Leben lang war sie mit keinem Bus gefahren, schon gar nicht zur Schule! Damit ruinierte sie sich ja ihre sämtlichen Kleider!

    Matthew tat, als habe er sie nicht gehört. „Ich kann jeden Tag mit dem Auto zur Arbeit und du, mein Liebling, findest bestimmt auch bald Anschluss und eine nette Beschäftigung."

    „Das heißt, fasste Rachel schroff zusammen, wobei sie jedes Wort betonte, „du hast für uns ein kleines Kuhdorf irgendwo in dieser staubigen, eintönigen Pampas ausgesucht?! Ihre Gesichtszüge unter dem weißen Puder wurden blass.

    „So würde ich es nicht direkt nennen! Noch stand sie unter Schock, begriff noch nicht das ganze Ausmaß – das war Matthews Chance. „Du kannst dich immer noch aufregen, wenn du es gesehen hast! Aber zuerst will ich euch die Stadt zeigen, einverstanden?

    * * *

    Auf der Brüstung, welche die Veranda zum Innenhof abgrenzte, saß ein junges Mädchen mit braunen Haaren, die sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte und ließ ihre Beine baumeln. Sie biss ein Stück von einem großen, gelben Apfel ab und blinzelte gegen die hochstehende, grelle Nachmittagssonne. Auf den Koppeln grasten einige Pferde und die Stille, die über der Waldschneise lag, erfüllte das Mädchen immer wieder aufs Neue mit Bewunderung für ihr Zuhause. Leise schwang die Haustür hinter ihr auf und gemächliche Schritte traten zu ihr.

    „Na?"

    Das Mädchen drehte sich lächelnd zu ihrem Vater um. „Was meinst du?, wollte sie wissen, weiter auf ihrem Apfel kauend. „Wann werden sie da sein?

    Ein Schmunzeln trat auf das Gesicht ihres Vaters. „Irgendwann heute, nehme ich an, aber du musst dich schon noch ein bisschen gedulden!"

    „Glaubst du, dass seine Töchter und seine Frau genauso nett sind, wie Doktor van Haren?"

    „Oh, ganz bestimmt! Ihr Vater tätschelte ihr kurz die Wange. „Was ist? Hast du deine Schularbeiten schon erledigt?

    Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Nein, um die kümmere ich mich später. Ich gehe jetzt Kitty holen und reite ein wenig aus. Vielleicht sind sie ja schon da!"

    Mit einem Kopfschütteln strich ihr Vater sich über das eckige, markante Gesicht. „Selbst wenn, dann werden sie erstmal ihre Ruhe wollen und sich ein wenig von der langen Reise erholen! Du wirst sie wohl kaum vor dem Fest kennenlernen und ich im Übrigen auch nicht – falls es dich beruhigt."

    Seine Tochter seufzte und sprang mit einem Satz von der Brüstung. „Vielleicht doch! Sie wollen bestimmt gleich die Pferde sehen!"

    Bedenkliche Falten bildeten sich auf der Stirn des Ranchbesitzers. „Nicht jedes Mädchen ist so verrückt nach Pferden wie du, Amy. Und vergiss nicht, dass die beiden aus einer Großstadt kommen, sie haben womöglich noch nie etwas mit Pferden zu tun gehabt."

    „Ach, Blödsinn!, winkte seine Tochter überzeugt ab. „Jedes Mädchen will reiten! Das weiß ich ganz bestimmt! Und wenn sie erst einmal da sind, dann habe ich endlich Freundinnen, die nicht so weit weg wohnen, wie die anderen Mädchen!

    Ihr Vater schüttelte lächelnd den Kopf und beobachtete seine Tochter, wie sie über den Innenhof zu einer der Koppeln davonrannte.

    „Hoffentlich, murmelte er leise, zu sich selbst. „Ich wünsche es dir wirklich!

    Er wusste, dass die Abgeschiedenheit und die Entfernung bis zur Stadt nicht einfach für sein einziges Kind waren. Sie lebten hier schon so lange und zu Anfang schien es sie nicht gestört zu haben. Jedoch jetzt, da sie anfing zu wachsen, eine junge Frau zu werden, begann auch die Sehnsucht in ihr zu erwachen, mehr Menschen um sich haben zu haben, Freundinnen, die mit ihr in Zeitschriften blätterten und von Filmstars schwärmten, mit denen sie die Platten der angesagten Bands und Musiker hören konnte. So eine Person gab es hier weit und breit nicht. Die Kinder der umliegenden Ranches waren entweder viel älter oder aber jünger als seine Tochter und wohl auch deshalb war sie so besonders aufgeregt, dass dieser englische Arzt mit dem außergewöhnlichen Namen hier in die Nähe zog – weil er zwei Töchter mitbrachte, von denen die größere genauso alt war wie Amy.

    * * *

    Silvertown entpuppte sich als kleiner, verschlafener Ort mit knapp dreitausend Einwohnern, für den die Bezeichnung „Städtchen" schon fast übertrieben schien. Es lag irgendwo inmitten der weiten, blühenden Ebene zwischen Shoshone und Arco im Süden Idahos und erweckte den Anschein, als sei es aus völlig unerfindlichem Grund genau an dieser Stelle aus dem Boden gestampft worden. Sanfte Hügel, die jetzt im Frühjahr mit saftigem Gras bedeckt waren, umgaben es nach allen Seiten und betteten es schützend zwischen ihre Anhöhen. Seine Blütezeit hatte der Ort in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebt, als riesige Rinderherden daran vorbei, in Richtung der großen Schlachthöfe im Nordwesten getrieben worden waren. Jetzt lebte es hauptsächlich vom Tourismus und den Arbeitsplätzen im knapp zwölf Meilen entfernten Summersdale. Ein glücklicher Zufall, der dem Städtchen sein Überleben gesichert hatte, während andere seiner Art längst in sich zusammenfielen – verlassen und von den meisten Menschen vergessen, bis auch das letzte Haus, das einst mit Mühe und Schweiß errichtet worden war, einstürzte und der Witterung zum Opfer fiel.

    Der Straßenzug, der von West nach Ost im südlichsten Teil durch die Stadt führte, war der ganze Stolz Silvertowns und seiner Bürger, denn es handelte sich um die ehemalige, zur Gründerzeit errichtete Hauptstraße. Sie befand sich bis auf ein paar einzelne Gebäude noch in ihrem original historischen Zustand. Sanft schlängelte sich die mit Sand und Rollsplitt aufgefüllte Straße an den im Norden angrenzenden Wohnblocks und Neubaugebieten vorbei, während entgegengesetzt, hinter den letzten beiden Häuserreihen, die Prärie begann.

    Gemächlich rollte der schwarze Jeep auf Silvertown zu. Zwischen den ersten Wohnhäusern entlang war die Straße geteert, ehe sie plötzlich scharf nach links abbog. Geradeaus, hinter einigen niedrigen, sichtversperrenden Bäumen begann die historische Altstadt, während der Verkehr gezwungen wurde, diese zu umfahren.

    Matthew entdeckte vor dem großen Supermarkt eine freie Parklücke. Er trat aufs Gaspedal, um einem grünen Chevrolet zuvorzukommen, der ebenfalls den Parkplatz anvisierte. Mit offenem Mund verfolgte Rachel die Sandstraße, soweit sie diese hinter dem grünen Geäst der Bäume erkennen konnte.

    „Was ist denn das? Soll ich etwa im nächsten Hollywoodwestern die Hauptrolle übernehmen?"

    Irritiert blickte Jean um sich. „Wieso? Was war denn?"

    Patty verdrehte die Augen. „Sperr einfach deine Augen auf, dann musst du nicht dauernd nachfragen!"

    „Jetzt seid doch endlich friedlich!, kommandierte Matthew, allmählich von dem ständigen Gezanke seiner Töchter redlich entnervt und lenkte seinen Wagen geschickt zwischen die beiden anderen Autos. „Kommt mit! So etwas habt ihr mit Sicherheit noch nie gesehen! Ich zeige euch jetzt etwas ganz Besonderes! Ihr werdet begeistert sein!

    Mit unübersehbarer Eile sprang er aus dem Wagen. Rachel warf ihrer jüngeren Tochter einen langen, Böses ahnenden Blick zu, dann folgte sie der Aufforderung ihres Mannes mit Widerwillen.

    „Wenn es dein unverzichtbarer Wunsch ist…ich würde mich lieber in unserem neuen Haus zuerst ein wenig frisch machen. Die Fahrt in diesem Blechkasten war schließlich kein reines Vergnügen!"

    „Nachher, mein Schatz, nachher, versprach Matthew schnell und hakte ihren Arm bei sich unter. „Jetzt kommt erst einmal mit!

    Er führte sie über die wenig befahrene Straße, eine schmale Gasse hindurch, in der schreiend und kreischend eine Horde Kinder spielte und dann um das Eck eines hohen, braunen Holzgebäudes. Im nächsten Moment tat sich vor ihnen die leicht kurvige, ruhige Sandstraße auf. Sie erinnerte tatsächlich an einen Film, wie sie ihn alle aus dem Kino kannten.

    Die Gebäude waren fast ausschließlich aus Holz errichtet. Dazwischen stachen einzelne, rote Klinkerbauten heraus. Zur linken Seite hinab befanden sich hauptsächlich die Geschäfte mit den typischen, falschen Fronten, auf denen ihre Bestimmung in bunten Farben aufgemalt war. Nach rechts lag dagegen eine Art Wohnviertel mit kleinen, gut hundert Jahre alten Häusern, die erhalten geblieben und liebevoll im alten, traditionellen Stil hergerichtet waren.

    Häufig sprossen zwischen dem Sand und Splitt Unkraut und kleine Wildsträucher, die aber niemanden weiter zu stören schienen, sondern sorglos vor sich hin wucherten. Gerade das Grün verlieh der Stadt eine persönliche Note, ja, etwas Wahrhaftiges, das in den reinen Filmstädten mit ihren Außenfassaden fehlte. Nur wenige Bürger kamen um diese Tageszeit auf den breiten Holzbohlen vor den Gebäuden entlang. Diese dienten als eine frühe Form der Gehsteige, um zumindest stellenweise den Morast von den Schuhen fernzuhalten, in den sich der Sand bei Regen verwandelte.

    „Jetzt sieht es zwar aus, als sei es bloß eine Straße, sagte Matthew in die Stille hinein und er konnte seine heimliche Begeisterung nicht länger verbergen, „aber wenn am ersten Mai die Touristensaison beginnt, könnt ihr euch nicht vorstellen, was hier los ist! Dann kommen sogar Stars von Film und Fernsehen hierher! Natürlich nur solche, die in Western mitspielen!

    Rachel schwieg und betrachtete den Straßenzug eingehend von rechts nach links und wieder nach rechts hinab.

    „Grausam, sagte sie auf einmal. „Einfach furchtbar! Verächtlich legte sie den Kopf schief. Ein höhnischer Blick traf ihren Mann. „Hoffentlich passen die Leute hier nicht zu der Straße. Ich kann mir nämlich sehr gut vorstellen was passiert, wenn erst einmal diese Art von Touristen Einzug hält, die sich hier wohl fühlen! Dann wimmelt es wahrscheinlich von Möchtegern-Revolverhelden! Seit dieser ganzen Westernmanie kann man ja sogar in London Cowboyhüte kaufen. Matt! Es wird höchste Zeit für dich aufzuwachen – wir leben im Jahr 1965! Wieso befassen sich die Leute heutzutage noch mit Dingen, die längst vorbei sind und auch niemals wiederkommen werden? Rachel machte eine gespannte, lauernde Pause, doch ihr Mann schürzte lediglich die Lippen und wandte den Blick von ihr ab. Sie hob die Brauen. „Kommt, lasst uns gehen. Nicht, dass wir noch in Gefahr laufen, versehentlich über den Haufen geschossen zu werden.

    Während Patty der Aufforrderung dankbar nachkam, hatte Jean weder Rachel, noch Matthew bei ihrem verhaltenen Zank zugehört. Ihr Herz schlug schneller. Fasziniert betrachtete sie die alten Gebäude und sie spürte, wie die Anziehungskraft, die von ihnen ausging, auch vor ihr nicht Halt machte. Welche Geschichten diese Häuser erzählen könnten! Gleich links, das erste Gebäude neben dem sie standen, war ein Saloon. Als Türen besaß er lediglich zwei halbhohe, typische Schwingklappen, wie sie es aus den Hollywoodfilmen kannte und unter dem Balkon baumelte ein riesiges Holzschild an zwei dicken Eisenketten, das dem Besucher seine Funktion verriet: „Big Bear Saloon".

    Neben dem Eingang, im Schatten, den der überstehende Balkon spendete, lehnten zwei Männer an der braunen Holzwand. Sie waren jung, kaum über zwanzig, und sprachen leise miteinander. Beide trugen Bluejeans und Cowboystiefel und einen dazu passenden Hut mit breiter Krempe und verziertem Band. Der vordere, der ihnen den Rücken zuwandte, zog genüsslich an einer Zigarette, während sein Gesprächspartner die Daumen lässig in den vorderen Gürtelschlaufen seiner Hose eingehängt hatte.

    Ohne es zu merken, betrachtete Jean ihn unverhohlen. Er war groß und auffallend schlank und besaß strohblondes, leicht gelocktes Haar. Er sah recht gut aus, wobei seine schmalen, weichen Gesichtszüge an die eines Lausejungen erinnerten. Als er laut auflachte, zeigte er eine Reihe gerader, schneeweißer Zähne und plötzlich bemerkte er Jeans unverhohlen neugierige Blicke. Sein Lachen verwandelte sich zu einem breiten Grinsen und er tippte sich mit zwei Fingern zum Gruß an die Krempe seines Hutes.

    Unwillkürlich musste Jean ebenfalls lächeln. Etwas an ihm gefiel ihr. Er erinnerte sie daran, wie sie heimlich mit ihren beiden besten Freundinnen und den Jungs aus der Stadt im Park umhergetobt hatte – bis zu dem Tag, an dem Rachel sie dabei erwischte. Das war nun bestimmt schon drei Jahre her. Seitdem verbrachte sie ihre Freizeit nur noch mit Mädchen gleichen Alters und nur noch mit solchen, die Rachel als angemessen empfand. Mit irgendwelchen Kindern von der Straße hatte sie sich nicht zu umgeben – das war ihr seither strengstens untersagt und die Jungs waren ohnehin merkwürdig geworden. Sie wollten sich wie Rebellen und Helden benehmen und taten die Mädchen als „Kinder" ab. Jean konnte das nicht verstehen. Was war in sie gefahren? Sie waren ebenso erst sechzehn Jahre alt, doch dieser junge Amerikaner dort, keine zehn Schritte von ihr entfernt, schien anders zu sein, ganz anders. Nur äußerlich hatte er sich zu einem jungen Erwachsenen entwickelt, in seinen blauen Augen dagegen blitzte unverkennbar der Schalk – sie konnte sich seinem übermütigen, gutgelaunten Grinsen und der unschuldigen Ausstrahlung nicht entziehen.

    In diesem Augenblick drehte Rachel sich um, da ihr auffiel, dass das vierte Mitglied ihrer Familie den Anschluss verloren hatte. Erschrocken zuckte Jean zusammen. „Wie bitte? Hast du mit mir gesprochen? Ich meine…ich wollte fragen: Was tun wir jetzt?"

    Mit einem Wimpernschlag hatte ihre Mutter die Situation erfasst. Missbilligend zogen sich ihre Brauen zusammen. Ein eisiger Blick traf den jungen Mann.

    „Dieser Umgang dürfte kaum der richtige für dich sein, raunte sie scharf. „Und jetzt komm endlich!

    Jean fühlte, wie sie errötete und senkte beschämt den Kopf. Sie wusste, dass ihre Mutter es nicht ausstehen konnte, ja, geradezu hasste, wenn sie sich mit Personen abgab, die ihr nicht gut genug erschienen. Deshalb und nur deshalb hatte sie ihr das Spiel mit den Jungs im Park verboten – keiner von ihnen stammte aus der oberen Gesellschaftsschicht Londons. Verschüchtert, ohne sich noch einmal umzusehen, ließ Jean sich von ihrer Mutter zum Jeep zurück dirigieren, während Matt einige Schritte dahinter folgte.

    Seine Begeisterung hatte einen gehörigen Dämpfer und sein Mut einen gewaltigen Rückschlag erlitten. In weitem Abstand folgte er seiner Familie zurück zum Wagen. Seine zuvor zumindest im Ansatz noch vorhandene Hoffnung, Rachel könnte sich vielleicht mit den Gegebenheiten abfinden, schwand mit jedem seiner Schritte und er ärgerte sich darüber. Die Minute der Wahrheit rückte unaufhaltsam näher und schon jetzt graute ihm vor dem, was ihm in Kürze bevorstand. Wortlos stiegen sie wieder in den schwarzen Jeep.

    „Jetzt fahr endlich zu unserem neuen Haus, kommandierte seine Frau unwirsch. „Du bist vielleicht noch als einziger bei Laune, beim Anblick deiner zur Wirklichkeit gewordenen Kinoträume!

    Mit einem tiefen Seufzer startete Matthew den Motor. Absichtlich langsam fuhr er die Teerstraße weiter hinab zum östlichen Ende Silvertowns. Sie ließen den Ort hinter sich und folgten der einspurigen Landstraße, immer weiter in die endlose Ebene hinaus. Etwa fünf Minuten später bremste Matt unvermittelt ab und bog nach rechts in einen für Unwissende kaum erkennbaren Feldweg ein.

    Irritiert starrte Rachel ihn an. „Würdest du vielleicht die Güte besitzen und uns verraten, wohin du uns entführst?"

    „Vielleicht bringt er uns in eine Höhle, irgendwo da draußen in der Wildnis!", unkte Patty von hinten und wurde im selben Moment unsanft zur Seite geschleudert, als der Jeep ein Schlagloch erwischte.

    „Nun…der Weg führt zu unserem Haus." Wie von einer großen Last befreit, atmete Matt tief durch – es war endlich ausgesprochen.

    Der Wagen rumpelte über den regendurchweichten, unebenen Boden, der an einigen Stellen mit rauen Steinen übersät war, wodurch die Radfederung strapaziert und die Insassen gehörig durchgerüttelt wurden.

    „Zu unserem Haus?", wiederholte Rachel mit eigenartigem, ungläubigem Gesichtsausdruck. Sie verstand noch immer nicht recht.

    „Es hat früher einem Siedlerehepaar gehört, erklärte Matthew schnell, um sie nicht weiter zu Wort kommen zu lassen. „Als sie verstarben, kaufte die Stadt das Haus. Nun stand es geschlagene fünfzehn Jahre leer und entsprechend sieht es von außen natürlich aus. Das soll dich aber nicht irritieren! Wir müssen noch ein wenig an Reparaturkosten investieren, aber bis auf das Dach werden sie sich in Grenzen halten. Natürlich habe ich auch die alten Möbel rausgeworfen und neue gekauft. Sie sind auch schon geliefert worden und auf die richtigen Zimmer verteilt. Es wird euch gefallen – bestimmt! Ein schlechter Lügner bist du, Doktor van Haren.

    „Siedlerehepaar!", echote Patty empört von der Rücksitzbank. „Das mag ja vielleicht das richtige für Jean sein, aber wie kannst du mir so etwas zumuten?! Ein Haus, in dem womöglich schon die Spinnweben von den Decken fallen oder der Boden durchbricht, wenn ich mich traue, das obere Stockwerk zu betreten! Hoffentlich hat es wenigstens einen Swimmingpool. Bei der Hitze, die hier wohl im Sommer herrscht, ist das ja das Mindeste!"

    Matthew musste sich auf die Lippen beißen, um nicht laut aufzulachen. Wenn seine kleine Tochter doch nur eine blasse Ahnung von dem Leben hier draußen, weit weg von jeder größeren Metropole hätte! Aber sie besaß leider ausschließlich Ahnung von den aktuellen Modetrends und den neuesten Meldungen aus den gehobenen Londoner Kreisen – ganz ähnlich seiner Frau. Sie waren sich einfach sehr ähnlich, für seinen Geschmack zu ähnlich.

    Der Weg führte über einen Hügel, von dessen Kuppe aus die Sicht weit über das dahinterliegende Land reichte. Außer vereinzelten, kleinen Wäldchen und Sträuchern schien bis zum weit entfernten Horizont nichts mehr zu kommen, nur noch Präriegras.

    „Wo soll denn hier ein Haus sein? Verwirrt blickte Jean sich nach allen Seiten um. „Ich sehe keins!

    „Aber ich…" Rachels Gesicht hatte sich verfinstert. Ihr zorniger Blick wanderte zuerst zu der runden Ansammlung Sträucher, niedriger Tannen und Gestrüpp, in dessen Mitte die Spitze eines kleinen Windrads herausragte und dann zu ihrem Mann. Vorsichtig legte dieser den zweiten Gang ein und ließ den Jeep den sanften Hügel auf der anderen Seite hinabrollen.

    „Ich hätte es wissen müssen! Unbeherrscht bearbeitete Rachel die Ablage hinter der Frontscheibe mit den Fäusten. „So eine Entscheidung darf man dich nicht alleine treffen lassen! Es kommt nur Blödsinn dabei heraus! Ich hätte dich gar nicht erst alleine hierher kommen lassen dürfen!

    Der unkenntlich gewordene, von Präriegras überwucherte Pfad bog scharf links ab, wo sich eine schmale Lücke zwischen den Sträuchern auftat.

    „Ist das nicht eine unglaubliche Lage?, rief Matt, sichtlich begeistert und strahlte über das ganze Gesicht. Er stellte den Motor ab. „Das ist es! Was sagt ihr?

    Zunächst geschah überhaupt nichts. Rachel und Patty beäugten wortlos und schockiert zugleich die einfache, kleine Holzhütte zu ihrer Linken und den halbverfallenen, alten Schuppen daneben. Direkt rechts von ihnen stand ein rostiges Eisengestänge, an dessen oberster Spitze ein schmutzig-weiß gestrichenes Windrad befestigt war, dessen Flügel sich quietschend und scheppernd im flauen Spätnachmittagswind drehten. Die Jahre und die Witterung hatten das Holz des Hauses dunkel und spröde werden lassen und es schien, als könnte es seine weit zurückreichenden Erinnerungen mit tiefer, sanfter Stimme erzählen. Das vergilbte Bild einer längst vergangenen Zeit schwebte über seinem steinernen Schornstein und die Spuren seiner früheren Bewohner und Erbauer schienen, wie von Geisterhand, eben erst verwischt worden zu sein.

    Der runde, sandbedeckte Platz, der geschützt zwischen den wuchernden Sträuchern und Tannen lag, maß etwa fünfhundert Meter im Durchmesser. Zwischen Haus und Schuppen befand sich ein kleiner, mit Unkraut zersetzter Garten, dessen halbvermoderter und an allen vier Seiten eingefallener Holzzaun darauf wartete, erneuert zu werden. Das über zwei Meter hohe Gestrüpp, das die Grundstücksgrenze markierte, wuchs so dicht und zahlreich, dass von außen niemand hindurchsehen, geschweige denn, an anderer Stelle als der Einfahrt hineingelangen konnte.

    Als Matt mit einem Mal die klappernde Autotüre aufdrückte und ausstieg, schrak Rachel aus ihrer Erstarrung hoch. Von einer Sekunde auf die nächste verwandelte sich ihre Sprachlosigkeit in überschäumenden Zorn. Eilig kletterte sie aus dem Jeep und lief ihrem Mann hinterher, der in Richtung Hütte zu verschwinden drohte.

    „Von wem hast du dir dieses Ding da andrehen lassen? Siedlerhütte! Dass ich nicht lache! Eine Bruchbude

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