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Das verfluchte Bild
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Das verfluchte Bild

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About this ebook

Ein spektakulärer Kunstraub in Gotha kurz vor der Wende. Der staatlich forcierte Ausverkauf von Kunstgegenständen aus der DDR gegen dringend benötigte Devisen ruft verbrecherische Seilschaften auf den Plan, die im Chaos der untergehenden DDR ihr eigenes Schäfchen ins Trockene bringen wollen. Charlott von Feyerabend, die achtjährige Enkelin eines regimekritischen Kunstsachverständigen des Landes, wird dabei Ohrenzeugin eines Mordes aus Geldgier. Es geht um den Besitz eines verschwundenen Gemäldes.
Mehr als zwanzig Jahre später führt die Spur des verschwundenen Bildes nach Bulgarien. In einem Land, ausgeblutet durch die neuen Machthaber nach der Wende, sucht Charlott nach dem Holbein, wobei sie nicht nur von einem ehemaligen Stasi-Offizier, sondern auch von der bulgarischen Mafia verfolgt wird. Auf ihrer Suche erhält sie Unterstützung von Freunden, die sie im Hotel Mystica kennenlernt. Aber kann sie jedem vertrauen? Im wilden Rhodopen-Gebirge kommt es zum tödlichen Finale.
LanguageDeutsch
Publisherepubli
Release dateOct 28, 2021
ISBN9783754914717
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    Book preview

    Das verfluchte Bild - Ingrid Stender

    Das verfluchte Bild

    Das verfluchte Bild

    Titel Seite

    Ingrid Stender

    Der Diebstahl - Wie alles begann

    Teil 1

    Teil 2

    Hotel Mystika und das tödliche Finale

    Ingrid Stender

    Das verfluchte Bild

    Ingrid Stender

    Das verfluchte Bild

    Der Autor schreibt die Geschichte,

    des Lesers Fantasie erweckt sie zum Leben.

    Für meine Tochter Soë Lucille

    Impressum

    Texte: © 2021 Copyright by Ingrid Stender

    Umschlag:© 2021 Copyright by Ingrid Stender

    Verantwortlich für den Inhalt: Ingrid Stender

    ingridbrasil@web.de

    Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

    Über das Buch

    Ein spektakulärer Kunstraub in Gotha kurz vor der Wende. Der staatlich forcierte Ausverkauf von Kunstgegenständen aus der DDR gegen dringend benötigte Devisen ruft verbrecherische Seilschaften auf den Plan, die im Chaos der untergehenden DDR ihr eigenes Schäfchen ins Trockene bringen wollen. Charlott von Feyerabend, die achtjährige Enkelin eines regimekritischen Kunstsachverständigen des Landes, wird dabei Ohrenzeugin eines Mordes aus Geldgier. Es geht um den Besitz eines verschwundenen Gemäldes.

    Mehr als zwanzig Jahre später führt die Spur des verschwundenen Bildes nach Bulgarien. In einem Land, ausgeblutet durch die neuen Machthaber nach der Wende, sucht Charlott nach dem Holbein, wobei sie nicht nur von einem ehemaligen Stasi-Offizier, sondern auch von der bulgarischen Mafia verfolgt wird. Auf ihrer Suche erhält sie Unterstützung von Freunden, die sie im Hotel Mystica kennenlernt. Aber kann sie jedem vertrauen? Im wilden Rhodopen-Gebirge kommt es zum tödlichen Finale.

    Die Autorin

    Ingrid Stender, geboren in Karlsruhe, lebt nach mehreren Auslandsaufenthalten zurzeit in Burgas am Schwarzen Meer.

    Von ihr sind bereits erschienen:

    Drei Wochen dauert ein Leben

    Die Drahtoper

    Die Orangendynastie

    Schlangenlinie

    Auf ewig gebettet

    Die Schattenwerfer

    Teil 1       Der Diebstahl - Wie alles begann

    1. Rudi aus Gotha, 1985

    „Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig, fünfund…"

    Rudi verbrachte sein halbes Leben mit Zählen. Egal, was er auch machte oder sah, es musste gezählt werden. Ob er auf dem Weg nach Irgendwohin war und seine Schritte zählte, ob es die Streben einer Leiter waren, die Blumen in der Vase, die Pinselstriche beim Lackieren des Zaunes, die Leute in der Warteschlange vor dem Einkaufsladen, die Treppenstufen in einem Gebäude – einfach alles. Aber es war wichtig, immer im gleichen Rhythmus zu zählen. Im Vierertakt. Deshalb begann er immer erst bei einundzwanzig, weil ab dann die Zahlen meistens vier Silben haben und er den gleichen 4-Takt-Rhythmus beibehalten konnte. Nur bei den vollen Zahlen wie 30, 40 usw., also bei den Zahlen mit nur zwei Silben, da musste er zwangsläufig jede Silbe in die Länge ziehen. Also beispielsweise bei der 30. Da hieß es bei ihm: dra – ha – hei – ßig. So konnte er den gleichen Rhythmus beibehalten. Und das klang wie Musik in seinen Ohren.

    Ansonsten hielt er sich für ziemlich normal und andere ihn soweit auch. Genauso wie er es für normal hielt, für Freunde da zu sein, ein echter Kumpel zu sein. Nach diesem Ehrenkodex lebte er, einen Freund in Not, Gefahr oder Schwierigkeiten nie im Stich zu lassen. Sonst würde er im Moment nicht das tun, was er gerade tat, nämlich mit seinen Freunden ins Gothaer Museum einbrechen und Bilder entwenden. Ein Notfall, redete er sich ein, bin nur eingesprungen für einen, der abgesprungen war, beziehungsweise abspringen musste. Ans Bett gefesselt wegen Grippe und hohem Fieber, der arme Kerl.

    Naiv. So wurde er allerdings des öfteren bezeichnet. Schließlich lebten sie in der DDR. Einem Staat, wo Rudis Ehrenkodex zum großen Teil verschüttet war. Unter einer großen Mauer. Aber dazu später.

    2. Der Kunstraub

    Innerlich grollte Rudi wegen des schlechten Wetters und darüber, dass er sich eine viel zu dünne Jacke angezogen hatte. Eisigkalte Windböen drängten sich an seinem Kragen vorbei den fröstelnden Rücken hinunter und ließen ihn ordentlich zittern. Missmutig zog er den Reißverschluss der Jacke bis ganz nach oben. Die Luft zu dieser Stunde war schwer und nasskalt, als könne der Himmel sich nicht entscheiden, ob er nicht doch noch ein paar nasse Flocken auf die Erde schicken sollte.

    Sie waren zu fünft. Axel, Frank, Peter, Alex und er – Rudi. Anführer bei dem heutigen Raub war Axel, sein Freund Axel. Ein typischer Anführer. Groß, drahtig, lange Beine, die ein schnelles Fortbewegen versprachen, entschlossene Gesichtszüge – kurz ein Mensch, der Anweisungen erteilen konnte, ohne dass sie viel infrage gestellt wurden. Und im Grunde das Gegenteil von ihm, Rudi, der eher schmächtig und unentschlossen wirkte. Ja, auf Axel war Verlass. Eigentlich beruhte Rudis Entscheidung, bei dem Raub mitzumachen, einzig und allein auf ihm, die anderen kannte er ja kaum. Axel hatte ihm schon einige Male aus der Patsche geholfen. Deshalb musste Rudi heute einfach einspringen, eine Absage wäre für ihn nicht in Frage gekommen.

    Axel war wie immer gut vorbereitet. So wusste er, woher auch immer, dass die neu angeschaffte Alarmanlage des Museums noch nicht in Betrieb war. Diese Information war letztendlich dann auch die Grundlage für seine Entscheidung, das Vorhaben eiligst durchzuführen und nicht auf die Genesung des kranken Kumpels zu warten, sondern Rudi einzuspannen.

    Der aufkommende, dichte Nebel entpuppte sich als ein willkommener Helfershelfer. Geduckt, in völliges Schwarz gekleidet, schlichen sie dicht hintereinander am Museumsgebäude entlang, Axel an der Spitze, Rudi zuletzt. Das karge und dumpfe Licht der Straßenlampen kämpfte sich schwerfällig durch die hartnäckigen Nebelschwaden und erreichte kaum das Gemäuer. Trotzdem mussten sie die Stirnlampen noch ausgeschaltet lassen.

    Und noch etwas wusste Axel, woher auch immer. Die Gitterstreben am letzten Kellerfenster an der Rückseite des Museums waren nicht mehr fest verankert. Abbröckelnder Zement zeugte von Jahrhunderte alter Witterung, der er an dieser Stelle ganz besonders schutzlos ausgesetzt war. So kam es, dass die Eisenstreben vor dem Fenster nicht mehr mit der nötigen Stabilität eingefasst waren und somit geradezu schon eine Einladung an Einbrecher darstellte. Vorausgesetzt, man besaß diese Information. Und das taten sie. Mit Hilfe der mitgebrachten Seilwinde gelang es ihnen, dass sich die Streben bald ächzend gegen ihre sich wehrende Verankerung auflehnten. Verbissen arbeiteten sie weiter. Zu den Altersrissen im Zement gesellten sich nur zögerlich neue Risse, die dann aber nach und nach weiter auseinanderklafften, bis sie ihre Streben endlich freigaben. Das Klirren der fallenden Eisenstangen zerriss die Stille der Nacht. Sie hielten erschreckt die Luft an und lauschten. Nichts. Axel zog seine Jacke aus, schlang sie sich um den Ellbogen und zerschmetterte mit einem Schlag die Scheibe. Vorsichtig entfernte er die halblosen Scherben und zog seine Jacke wieder an. Mit klopfendem Herzen zwängten sie sich durch die enge Öffnung, einer nach dem anderen. Rudis semmelblondes Haar bekam durch den herunterrieselnden Staub eine kräftige Graufärbung, und seine Atemwege verschafften sich mit Hilfe eines starken Hustenanfalles die nötige Luft. Axels entsetzter Blick ließ augenblicklich sogar die Bronchien in Rudis Brustkorb erstarren, und sein Husten löste sich in gedämpftem, stoßweise hervorgebrachtem Glucksen auf. Rudi traten vor Anstrengung Tränen in die Augen. Muffige, abgestandene Kellerluft schlug ihm entgegen.

    Auf ein Zeichen von Axel schalteten sie nun die Stirnlampen ein.

    „Hoch in die zweite Etage!", rief er ihnen zu und lief zielstrebig durch die angrenzenden Kellerräume zum Treppenhaus. Ihre Schritte hallten gedämpft durch die feuchten Räume, Zementstaub knirschte unter ihren Schuhsohlen. In weniger als drei Minuten standen sie vor der Tür zum Ausstellungsraum und traten ein.

    „Denkt daran, was ich euch gesagt habe. Unser Auftrag lautet: Wir holen nur die Nummern 32 bis 37. Das sind 5 Bilder, sprich, eines für jeden. Und jetzt los!"

    Was Rudi als allererstes machte, er begann sofort die Nummerierung an den Gemälden nachzuzählen:

    32, 33 – 35…

    Schon nach der zweiten Zahl stockte er missbilligend. Wo war die 34?

    „Axel!, fragte er. „Was ist mit der…?

    „Mensch, quassel nicht und mach‘ hin, Alter!"

    Rudi nickte und kam nach kurzem Überlegen zu dem Schluss, dass das für Axel wohl keine Rolle spielte, sondern nur die Anzahl der Gemälde. Es waren 5, also stimmte anscheinend alles. Er hängte eilig die 37 ab und verließ als letzter den Ausstellungsraum. Sie eilten die Treppen wieder hinunter, jeder mit einem Bild bepackt, und rannten zurück durch die Kellerräume.

    Plötzlich blieb Rudi unvermittelt stehen und starrte auf ein Gemälde, das verstaubt in einer Ecke stand. Da war sie. Die fehlende 34. Er atmete tief ein. Vorsichtig legte er die 37 ab, dann hörte er die ungeduldigen Rufe der anderen:

    „Rudi, wo bleibst du?"

    Er reagierte, ohne viel nachzudenken und rief ihnen zu: „Hab‘ oben meine Stirnlampe vergessen! Bin gleich zurück!"

    Axels Fluchen war unüberhörbar, aber Rudi ließ sich davon nicht aufhalten. Ruckzuck holte er sein Taschenmesser heraus, schnitt das Bild am Rahmen entlang heraus, rollte es auf und steckte es in seine Innentasche. Den Bilderrahmen versteckte er hinter allerlei Gerümpel. Dann gab er Fersengeld und rannte zu den Anderen.

    „Jetzt komm‘ schon, du Toudl!"

    „Bin ja schon da!", gab er zurück und zwängte sich aus dem Loch im Kellerfenster. Dabei zählte er: 32, 33, 34, 35, 36, 37. Jetzt war die Welt wieder in Ordnung.

    3. Charlott, Emma und Mia, Frankfurter Flughafen, Gegenwart

    Der ohrenbetäubende Krach sorgte dafür, dass alle Köpfe sich nach der Ursache des lauten Schepperns und Klirrens umdrehten und sich den Fluggästen in der Snackbar des Abfluggates ein peinliches wie außergewöhnliches Bild bot. Eine junge Frau, die mit ihrem Tablett - voll beladen mit Pommes, einer XXL Portion Rot/Weiß und einem Glas Bier - zum letzten freien Platz an der Theke balancieren wollte und dabei gestolpert war, schlug entsetzt die gerade ungewollt frei gewordenen Hände vor ihrem Mund zusammen, um den lauten Schrei, zu dem es sicherlich gekommen wäre, weitgehendst zu unterdrücken. Ihr Gegenüber, ein tadellos gekleideter junger Mann, riss seine Augen weit auf und starrte entsetzt auf sein unabwendbares Schicksal. Hätte man nur eine Spur von Humor gehabt, man hätte es als ein perfekt gelungenes Dilemma bezeichnen können. Aber eben dieser Humor fehlte dem erzürnten Yuppie, und Gewitterwolken lagen spürbar in der Luft. Vielleicht könnte man ihm noch zugutehalten, dass das Ergebnis wirklich einer mittleren Katastrophe glich, denn von seiner Krawatte bahnte sich eine Mischung aus Ketchup, Mayonnaise und schäumendem Bier in einer breiten Spur zielsicher nach unten, ohne auf ihrem Weg auch nur das kleinste Detail der modisch abgestimmten Kleidung mitsamt der Accessoires auszulassen. Sie rann unbeirrt von der Krawatte über die edle Krawattennadel auf das teure Hemd, dann auf die gute Hose, wobei sie den Gürtel mitsamt der Schnalle ebenso bedachte wie den Hosenlatz. Sogar seine dunkle Socke verzeichnete ein rotweißes Muster. Das Schlusslicht bildete der teure Lederschuh mit dem zwei-, inzwischen allerdings mehrfarbigen Schnürsenkel. Wie gesagt, man hätte diesem Mann gegenüber ein gewisses Mitleid aufbringen können, wenn er nicht so auf die junge Frau reagiert hätte, wie er es gerade tat, nachdem sie schnell einen Stapel Servietten von der Theke aufgegriffen hatte, um erste Hilfe zu leisten. Doch der Mann war außer sich.

    „Rühren Sie mich nicht an und nehmen Sie sofort ihre unglückseligen Pfoten von mir, schrie er mit sich überschlagender Falsettstimme und wich entsetzt vor ihr zurück. „Nicht zu fassen, Sie allergrößtes Trampel, Sie! setzte er wütend noch nach.

    Allerdings reagierte die Frau auch auf eine Art und Weise, mit der keiner der Anwesenden, auch nicht der Betroffene und schon gar nicht sie selbst gerechnet hätte: Sie besah sich das Ergebnis ihres unglückseligen Missgeschicks und bekam einen schallenden Lachanfall. Sie hielt sich krümmend den Bauch und japste nach Luft, während dicke Lachtränen ihre Wangen hinunterrollten und ihre Himmelfahrtsnase sich noch intensiver nach oben reckte. Mit letzter Kraft versuchte sie dennoch, den Schaden mit Hilfe der Servietten zu minimieren, während der Mann sie unsanft und unter einer Flut von Verwünschungen von sich wegschob. Die Frau gab auf und brachte unter Tränen und ständig wiederkehrenden Lachsalven mühsam eine Entschuldigung hervor:

    „Tut mir sooo leid (glucks), ich werde selbstverständlich (glucks) für den Schaden aufkommen! Hier, meine Adresse (glucks)! Für die Kosten der Reinigung!" Dabei zog sie, weiter von Lachanfällen gepeinigt, eine Visitenkarte aus ihrem Geldbeutel.

    Inzwischen blieb auch bei den Umstehenden kein Auge mehr trocken, jeder musste mitlachen, ob er wollte oder nicht. Der Lachanfall der jungen Frau klang so herzlich und ehrlich, dass sich jeder automatisch auf ihre Seite schlug, zumal der junge Mann aufgrund seines aggressiven Verhaltens nicht gerade ein Sympathieträger war.

    „Von Ihnen nehme ich überhaupt nichts! Und laufen Sie mir nie mehr wieder über den Weg!", schrie er schrill und rannte davon.

    Die junge Frau schaute ob des entstandenen Desasters entschuldigend zu dem Barkeeper. Der grinste von einem Ohr zum anderen und meinte:

    „No problem, für diese Vorstellung bekommen Sie kostenlos das gleiche Menü noch einmal."

    Fünf Minuten später setzte die junge Frau, die sich inzwischen beruhigt hatte, ihren Versuch mit einem erneut gefüllten Tablett fort und gelangte ohne besondere Vorkommnisse zu dem freien Platz an der Theke.

    „Das war ja echt schräg", meinte ihre Sitznachbarin zu ihr und musste immer noch lachen.

    „Es tut mir schrecklich leid, meinte sie zu ihrer Entschuldigung, „aber ich habe es ja schließlich nicht absichtlich gemacht.

    „Natürlich nicht, warf die andere junge Frau grinsend ein. „Der arrogante Kerl war allerdings mit seiner Situation sichtlich überfordert.

    „Cheers, ihr zwei", meinte sie zerknirscht, strich eine blonde Strähne aus dem Gesicht und hob ihr Glas.

    „Cheers!", riefen beide wie aus einem Mund.

    „Ich bin Charlott!"

    „Emma!"

    „Mia! Freut mich!"

    Charlott betrachtete freundlich interessiert die beiden rothaarigen Frauen.

    „Seid ihr Schwestern?", fragte sie

    „Wie kommst du darauf?", wollte Emma wissen.

    „Na, wegen der roten Haare".

    Emma und Mia grinsten.

    „Nee, Emmas rot ist echt, meines gefärbt, klärte Mia auf. „Und Emmas Locken sind auch echt, fügte sie grinsend hinzu, zog eine von Emmas Locken in die Länge, die sofort wieder in ihre vorherige Position zurückschnellte.

    „Ah ja!", grinste Charlott und schob sich eine Gabel mit Pommes in den Mund. Nach einer Weile sah sie von ihrem Teller hoch, schaute fragend von einer zur anderen.

    „Urlaub? Auch Bulgarien?"

    „Jein, meinte Emma. „Bulgarien ja, Urlaub jein. Ich besuche hauptsachlich meinen Onkel. Der wohnt in der Nähe von Burgas, an der Schwarzmeerküste. Mia begleitet mich. Und du?

    Charlott zögerte mit ihrer Antwort. Dann:

    „Ja, irgendwie auch Urlaub. Aber eher Recherchen."

    „Bist du Schriftstellerin?", fragte Emma interessiert.

    „Gott bewahre!, meinte Charlott und schien nach einer Antwort zu suchen. Die kam langsam und überlegt: „Nein, ich habe Geschichte studiert. Ähm, ich interessiere mich für die Vergangenheit auf dem Balkan. Thraker, Osmanen und so.

    „Ach ja", antwortete Mia und hatte irgendwie das Gefühl, ihr zu nahe getreten zu sein.

    Charlott spürte Mias Rückzug, strich ihre blonde Mähne hinter die Ohren und versuchte sich schnell in einem Witz:

    „Nun, deshalb bin ich aber kein Fossil, meinte sie lächelnd. „Mein Ziel ist übrigens auch Burgas. Hotel Promenade. Fast direkt am Strand. Wäre doch schön, wenn wir uns mal auf einen Kaffee treffen könnten, oder?

    „Kann’s auch ein Gläschen Wein sein?", fragte Mia verschmitzt.

    „Noch besser!", freute sich Charlott.

    Emma kramte in ihrer Handtasche. Als sie fündig geworden war, legte sie ein Kärtchen auf den Tresen und schob es Charlott hin.

    „Das ist das kleine Hotel meines Onkels. Direkt am Strand, allerdings ein bisschen außerhalb von Burgas. Da werden wir die nächsten Tage sein."

    Charlott griff nach der Visitenkarte und steckte sie ein. Dann wanderte ihr Blick nach links, und blieb an irgendetwas oder irgendjemand hängen. Emma schien es, als verharrte sie erschrocken oder zumindest erstaunt.

    „Sorry, ich muss mal", meinte Charlott, nahm ihren Rucksack und ging zur Toilette.

    Emma und Mia schauten ihr nach. „Nett, die kleine Ossitante, findest du auch?", fragte Mia, als Charlott aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden war.

    „Ossitante? Wie kommst du denn darauf?"

    „Tja, mein geschultes Ohr. Ich höre halt die Feinheiten, während du eher für das Grobe zuständig bist", feixte sie.

    Emma zwickte sie etwas grob in die Seite. Mia schrie erschreckt auf.

    „Du hast es doch selbst gesagt, meine Liebe!", kicherte Emma.

    Sie alberten noch weiter herum, bis Mia meinte:

    „Sag‘ mal, wo bleibt denn Charlott so lange?"

    Emma drehte sich suchend um.

    „Hm, weiß nicht!"

    „Na ja, sie wird schon wieder auftauchen!"

    Aber genau das tat sie nicht. Emma ging einige Minuten später auf die Toilette und suchte alle Kabinen durch. Nichts.

    Kurze Zeit später begann das Boarding. Emma und Mia schauten sich weiter suchend um. Von Charlott keine Spur.

    Dann kam der letzte Aufruf: „Passagier Frau Charlott Lehmann, gebucht auf Flug Nummer 437, bitte zum Boarding. Das Gate schließt in 3 Minuten."

    Die beiden Frauen sahen sich ratlos an. Was sollten sie machen? Hatte Charlott sich es anders überlegt? Hatte sie jemanden getroffen und ihre Pläne geändert?

    Sie stiegen nachdenklich ins Flugzeug ein. Keine Spur von Charlott.

    4. Emma

    Für Emma hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt Onkel Norberts Einladung kommen können als dem vor vierzehn Tagen. Seit Wochen befand sie sich nämlich in einem Tief ohne erkennbaren Ausweg. Es breitete sich einfach wie ein gefräßiger Wurm in ihrem Leben aus: beruflich, persönlich und überhaupt. Die Arbeit im Museum beispielsweise, die erschien ihr von Tag zu Tag frustrierender. Hatte sie dafür echt jahrelang Kunst studiert? Um Programme zu schreiben, Exponate zu erklären und einfältige Fragen der Museumsbesucher zu beantworten? Sorry, sie gab zu, mit letzterem Einwand ganz schön ungerecht zu sein. Als sie sich damals nach dem Abitur - ihrer Meinung nach viel zu früh und viel zu plötzlich - für einen Beruf oder für ein Studium hatte entscheiden sollen, konnte nichts, aber auch gar nichts sie ansprechen. Allerdings fehlten ihr damals auch klare Vorstellungen oder Vorlieben für ihre berufliche Zukunft und so zeichneten sich keinerlei Tendenzen ab. Nur vage Anhaltspunkte wie: irgendetwas Interessantes, nichts Alltägliches, nichts Langweiliges. Im Grunde, wenn sie ehrlich sein sollte, wusste sie damals eigentlich viel besser, was sie nicht wollte. Bloß nicht so etwas Trockenes wie Betriebswirtschaftslehre oder ähnliches; Architektur ging auch nicht – viel zu viel Mathematik; Jura – zu viele Gesetze auswendig zu lernen; Medizin – dafür reichte ihr n.c. nicht, und Lehramt kam überhaupt nicht in Frage – das versprach nur Ärger mit faulen oder schlecht erzogenen Kindern. Am Ende sogar beides. Was nun, sprach Zeus. Dann stieß sie bei ihrem motivationslosen Suchen auf eine Empfehlung in den Werbeseiten zu einem Kunststudium: Du bist ideenreich, kreativ und hast Persönlichkeit? Außerdem kannst Du Dich gut selbst vermarkten und gehst auch mal ein Risiko ein? Dann ist ein Studium Kunst genau das Richtige für Dich!

    Das hatte sie angesprochen. Ideenreich war sie, zumindest normalerweise, wenn sie nicht gerade in einer Krise steckte. Kreativität hatte sie mit ihrem Hobby schon bewiesen: den 1. Preis bei Jugend fotografiert, den hatte sie damals in der 12 eingesteckt. Persönlichkeit? Nun, klar, jeder hat eine Persönlichkeit, warum sie nicht auch? Und anbieten konnte sie sich auch wie sauer Bier, wenn es sein musste. Ein Risiko eingehen? Genau das würde sie jetzt tun, wenn sie sich für dieses Kunststudium entscheiden sollte. Was sie im Übrigen dann auch getan hatte. Vorsichtshalber mit Kulturgeschichte als Nebenfach. Na also – passt doch, hatte sie sich damals gesagt.

    Und es war auch nicht die schlechteste Entscheidung. Das Studium selbst machte ihr Spaß, aber auch die vielen unterschiedlichen Menschen, die sie dabei kennenlernte, sowie die zahlreichen Studentenfeten, auf denen sie sich nur allzu gerne mit Freundinnen tummelte. Danach ging’s dann allerdings zur Sache – Geld musste her. Sie entschied sich bei den nicht gerade üppigen Stellenangeboten für den Job im Berliner Keramikmuseum. 2 Jahre war das jetzt her. Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken, wie schnell die Zeit verging. Und sie hatte noch nicht wirklich etwas erlebt. Zugegeben, anfangs hatte der Job auch wirklich Spaß gemacht, zumal sie einen Faible für seltenes Porzellan hatte. Inzwischen war sie aber unzufrieden. Vielleicht trug aber auch ihr Privatleben zu ihrer Krise bei. Nach drei Jahren Beziehungszeit hatte sie sich vor einem halben Jahr von Markus getrennt und zunächst ihr Singledasein genossen mit Partys, Partys und nochmal Partys. Dieses Leben forderte jedoch auch seinen Tribut. Während der Arbeitswoche war sie müde und motivationslos. Alles in allem: sie konnte sich selbst nicht mehr ausstehen.

    Oder hatte Mia am Ende recht, wenn sie meinte, sie sei ein verwöhnter Fratz? Ein Einzelkind, hätte immer alles oder fast alles bekommen, was sie wollte. Hätte nie teilen müssen, während sie, Mia, bei ihren beiden Brüdern auf vieles verzichten musste, ob sie wollte oder nicht. Da die beiden Jungs älter waren als sie, nahmen sie sich von ihr, was sie meinten, es würde ihnen zustehen. Skrupellos! Das muss man sich mal vorstellen! Null Gewissensbisse ihrer kleinen Schwester gegenüber! Wenn Emma bei Mia zu Besuch war und das Gehabe der beiden Rabauken mitbekam, war sie immer heilfroh gewesen, dass sie selbst keine Brüder hatte. Aber musste sie deshalb gleich ein verwöhnter Fratz sein? Nun, Mia neigte schon immer zu maßlosen Übertreibungen.

    Jedenfalls kam Emma Onkel Norberts Einladung, ihn in Burgas an der schönen Schwarzmeerküste zu besuchen, wie gerufen. Warum auch nicht? Mal etwas ganz anderes als Mallorca oder Rhodos. Und überhaupt – in einem Balkanland war sie noch nie zuvor gewesen. Den Urlaubsantrag hatte ihre Chefin bereits genehmigt. Ganz plötzlich kam ihr eine Idee, und sie kramte den vergilbten Schuhkarton mit alten Fotos aus der hinterletzten Schrankecke hervor. Sie suchte nach Bildern von Onkel Norbert. Aus dem losen Haufen griff sie wahllos mal nach dem einen, mal nach dem anderen Foto und schmunzelte, als sie Papa mit Onkel Norbert Arm in Arm an einem See sitzend fand, Franz und Norbert Warnke. Mei, waren die beiden da noch jung! Sie schaute auf die Rückseite der Fotografie, es war aber kein Datum vermerkt. Wie alt mögen die damals gewesen sein, überlegte sie. Papa war älter als sein Bruder, er dürfte auf dem Foto 16 gewesen sein. Norbert reichte ihm gerade bis zur Schulter und schaute bewundernd und lachend zu seinem großen Bruder auf. Ihr Papa Franz und dessen kleiner Bruder Norbert. Sie schätzte sein Alter auf sieben, höchstens acht. Emma schaute sich das Foto genauer an. Ob Papa damals schon gewusst hat, dass er fliehen würde, fragte sie sich. Sie meinte, in seinen lachenden Augen gleichzeitig auch eine Spur von Traurigkeit zu erkennen, was vielleicht tatsächlich auf seine damaligen Pläne schließen ließ. Sie erinnerte sich an Papas Erzählungen, wie sich zu jener Zeit die wirtschaftliche Lage der DDR rapide verschlechtert hatte, wie beängstigende Versorgungsprobleme den Alltag beherrscht und Millionen von Flüchtlingen sich in den Westen abgesetzt hatten. Das Land war am Ausbluten. Gerade noch rechtzeitig hatte Papa sich entschieden, diesem Leben den Rücken zu kehren. Nur wenige Tage nach seiner Flucht in den Westen wurde die Sektorengrenze in Berlin abgeriegelt und somit das letzte Schlupfloch versperrt, durch das der SED-Diktatur noch zu entkommen war. Im Grunde hatte Papa nie gerne über diese Zeit gesprochen, es war die Zeit, als er seine Familie allein zurückgelassen hatte. Sein kleiner Bruder war zunächst untröstlich gewesen, aber im Laufe des Erwachsenwerdens lernte er, ein gewisses Verständnis für die Entscheidung seines großen Bruders aufzubringen und ihm zu verzeihen. Trotzdem war es für Papa ein wunder Punkt in seiner Geschichte, und er hatte immer versucht, mit vielen Care-Paketen und westdeutschen Devisen an die Familie sein schlechtes Gewissen erträglicher zu machen. Mit Norbert hatte er bis zu seinem Tod einen regen Briefaustausch gehabt, auch noch nach der Wende, als Norbert nach Bulgarien gezogen war und mit seinem bulgarischen Freund ein kleines Hotel eröffnet hat.

    Und dorthin war sie jetzt von ihrem Onkel eingeladen. Aber nicht nur, um sich das Hotel und das Stück Land anzuschauen, sondern weil das alles einmal ihr gehören sollte. Da er selbst weder geheiratet noch jemals Kinder gezeugt hatte – zumindest soweit er das wusste, wie er immer schmunzelnd hinzufügte – sei sie, Emma, die Erbin. Das Testament war schon geschrieben.

    5. Mia

    Für Mia war es im Grunde auch genau der richtige Zeitpunkt, um sich ein paar Tage freizunehmen. Und um sich Gedanken über ihre weitere Zukunft zu machen. Man sah es ihr noch nicht an, aber Mia war schwanger. Trotzdem hatte sie mit ihrem Freund Jens Schluss gemacht.

    Ihr Gesichtsausdruck, als sie Emma davon erzählte, verleitete diese zu der zögerlichen Frage:

    „Willst du es denn behalten?"

    Mia schaute sie verzweifelt an.

    „Ich weiß es nicht, Emma, ich weiß es wirklich nicht."

    Emma versuchte, sich in ihre Freundin hineinzuversetzen: Mia - Architektin in einem großen Architekturbüro mit Zusage zur Abteilungsleiterin im Ressort Luxussanierungen. Also Geldsorgen konnte man getrost ausschließen, da war eine Zugehfrau gewiss jederzeit drin, überlegte sie. Sie war sich nur nicht sicher, ob Mia sich die alleinige Verantwortung für ein Kind zutrauen würde. Selbstverständlich wäre sie nicht allein, sie, Emma, war ja auch noch da. Aber komisch, über Kinder hatten sie sich nie unterhalten, fiel ihr auf, das war nie ein Thema zwischen ihnen gewesen. Vielleicht kam ihr deshalb diese Frage so surreal vor.

    Zwei Wochen später trafen sie sich zum Essen bei ihrem Lieblings-Italiener, ‚Bei Fidele‘. Mia war völlig aufgelöst. So hatte Emma sie noch nie erlebt.

    „Was ist passiert?", fragte sie besorgt.

    Mia schluckte, ihre braunen Augen waren mindestens eine, wenn nicht gar zwei Nuancen dunkler, ihr Ausdruck zeigte pure Fassungslosigkeit.

    „Ich glaube es nicht, ich glaube es einfach nicht, was meine Chefin, die Giesriegel, mir heute gesagt hat. Sie …"

    „Weiß sie schon von deiner Schwangerschaft?", unterbrach Emma.

    „Ja, ich habe es ihr schon letzte Woche gesagt."

    „Und?"

    „Sie hat ganz normal reagiert. Dachte ich zumindest. Bis sich unser Missverständnis aufgeklärt hat."

    „Welches Missverständnis?"

    „Die Giesriegel war davon ausgegangen, dass ich selbstverständlich abtreibe. Und als ich dann meinte, dass davon diesbezüglich keine Rede gewesen sei und ich mich noch nicht entschieden hätte, sagte sie, sie wäre deshalb davon ausgegangen, weil sie dachte, die Beförderung als Abteilungsleiterin sei mir wichtig. Natürlich ist sie mir das, hab‘ ich ihr geantwortet. Sie meinte wiederum, dass eine Schwangere mit dieser Aufgabe wohl absolut überfordert wäre, dieser Job auch viel zu stressig sei." Mia kochte innerlich und wischte sich unwirsch ihre Tränen aus Ärger und Wut von den Wangen.

    „Das ist ja echt ein Hammer, pustete Emma hörbar aus. „Und nun?

    „Das ist noch nicht alles. Sie meinte noch, dass eine Schwangerschaft zudem die Führungsanforderungen beeinträchtigen würde, von wegen Wechselhaftigkeit durch die Hormone. Und dann noch die Ausfälle durch Übelkeit, Erbrechen und ärztliche Kontrollbesuche. Sie hätte mich als eine integre und intelligente Mitarbeiterin zu schätzen gelernt, von daher war sie davon ausgegangen, dass ich durchaus die gleichen Gedankengänge hätte und ihrer Meinung sei."

    Mia entnahm fahrig ihrer Handtasche ein Taschentuch und putzte sich die Nase.

    „Also, um es zusammen zu fassen: entweder Beförderung oder Schwangerschaft. Beides geht nicht", meinte sie deprimiert und schlang verzweifelt ihre Arme um den Hals ihrer Freundin.

    Emma drückte sie tröstend an sich und hatte plötzlich eine, wie ihr schien, zündende Idee:

    „Sag mal, hättest du vielleicht Lust, mit mir nach Bulgarien zu

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