Gewissensfragen der Schulpsychologie: 100 Jahre Schulpsychologie – Anmerkungen zu einem Jubiläum
By Jürgen Mietz
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Die dem Anschein nach mit den Prinzipien der Weimarer Republik und des NS-Regimes kompatible schulpsychologische Konzeption wirft Fragen nach den ethischen Grundlagen der Schulpsychologie und ihrer Konzepte auf. Gibt es überdauernde psychische und gesellschaftliche Strukturen, die den humanistischen Anspruch von Psychologie und Beratung korrumpieren können und sie Herrschaftsinteressen ausliefern?
Schulpsychologie heute sieht sich mit Ansprüchen aus Politik und Verwaltung nach Optimierung und Effizienz konfrontiert. Unabhängigkeit und ergebnisoffene Beratung, wie auch Subjektorientierung und Förderung der Urteilsbildung geraten als Ziele in die Bredouille und machen einer Logik des "Hineinprozessierens" in vorgegebene Strukturen Platz.
Mit der Untersuchung des Wirkens von Hans Lämmermanns weist der Autor auf die Notwendigkeit von Selbstreflexion und Organisationsreflexion hin, die nicht ohne Verortung in die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit auskommen können. Zumindest dann, wenn die Psychologinnen und Psychologen nicht ihre Ansprüche aufgeben wollen, Diener'innen des Humanen sein zu wollen.
Jürgen Mietz
Der Autor arbeitete bis 2014 als Schulpsychologe und Supervisor. Fragen der Ethik, der Einfluss von Strukturen, auch solchen der Macht, haben ihn viele Jahr beschäftigt.
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Book preview
Gewissensfragen der Schulpsychologie - Jürgen Mietz
Vorbemerkungen
Davon, dass Hans Lämmermann als Gründungsvater der Schulpsychologie angesehen werden könnte, hörte ich zum ersten Mal 2015. Damals befasste ich mich damit, auf welche Weise ethische Fragen in der Schulpsychologie eine Rolle spielen. Ich stieß auf Hans Lämmermann. Ich erfuhr, dass er schon einmal Gegenstand des Versuchs einer Traditionsbildung und einer Selbstbesinnung gewesen war. 1997, 75 Jahre nach dem Beginn des Wirkens von Hans Lämmermann, befasste sich die Sektion Schulpsychologie des BDP mit der Person und ihrem Wirken. Was dabei herauskam war, dass Hans Lämmermann kaum zur Identifikationsfigur des jungen Fachgebiets der Schulpsychologie taugte. Wenngleich der Versuch, sich einer zweifelhaften Vergangenheit zu stellen, ehrenvoll war, und sich einige interessante Fragen ergaben, dürften sich die Versuche einer Traditionsbildung oder Aufarbeitung des Jahres 1997 mehr oder weniger spurlos im Sand des schulpsychologischen Alltagsbetriebs verloren haben.
Ich selbst war erst 2015 auf die Bemühungen der Sektion Schulpsychologie im BDP gestoßen. Mir schien die vermeintliche Grundsteinlegung der Schulpsychologie 1921 – und was daraus folgte – so interessant und Gegenwartsfragen berührend, dass ich einen Aufsatz[Fußnote 1] anfertigte. Ich erweiterte das Thema noch ein wenig um Fragen, die sich sowohl mit der Anfälligkeit der Psychologie für herrschaftliche institutionelle Interessen, als auch mit den Möglichkeiten alternativer Ansätze befassten. Der Artikel blieb weitgehend ohne Resonanz. Bis auf eine Ausnahme: Eine Kollegin in Bayern hatte ihn gelesen und mich eingeladen, einen Artikel für die Loseblatt-Sammlung des Handbuchs der Schulberatung[Fußnote 2] zu schreiben. Ich fühlte mich geehrt und begann aufs Neue. Ich nutzte die Gelegenheit, um auf ethische Dilemmata schulpsychologischer Praxis hinzuweisen. Der inzwischen „100jährige Lämmermann" war noch einmal Ausgangspunkt für Überlegungen, die sich nun mehr mit Gegenwartsfragen der Schulpsychologie befassten.
Nun bietet das Motto des Kongresses der Sektion – dafür verdient sie Dank und Anerkennung – ein weiteres Mal Gelegenheit, sich mit Geschichte und Identität der Schulpsychologie, mit ihren Orientierungen und Fehlorientierungen zu befassen. Ohne Zweifel wird man erkennen, dass es Entwicklungslinien aus der Gründungszeit bis in die Gegenwart gibt. Wie immer, bietet Geschichte Gelegenheit zur Reflexion, dazu, sich den Voraussetzungen des eigenen Fachs zu nähern. Vielleicht auch, eine Orientierung für die Gegenwart zu gewinnen.
Meinen ursprünglichen Artikel des Jahres 2015/2016 habe ich leicht überarbeitet und hoffentlich verbessert. Er beginnt auf der nächsten Seite.
Februar 2021
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkungen
1 Gründung und kurze Geschichte der Schulpsychologie – Auslese
Personen und Träger des Mannheimer Schulmodells
Verbessertes Leben durch Bildung
Institutionalisierte Logik der Klassifizierung und Auslese
Das Ende des Mannheimer Modells und der Schulpsychologie
2 Hans Lämmermanns Schulpsychologie: Diagnostik und Selektion
Naturwissenschaftliche vs. geisteswissenschaftliche Psychologie
Abwahl subjektorientierter Ansätze
Lämmermann kennt die Schwächen seines Konzepts – und ignoriert sie
3 Hans Lämmermann und die Nationalsozialisten
4 Hans Lämmermann und die Versuche seiner Kollaboration mit dem NS-Regime
5 Ethische Grundlagen in der Gegenwart
6 Verdinglichung und Entfremdung – Vermutungen über einen Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart
7 Ansätze zu einer Vervollständigung der Schulpsychologie
Schulpsychologie und Beratung der Post-Nazismus Epoche
Hinweise zu erweiternden Konzepten
Nachträgliche Überlegungen zu Wegen und Abwegen der Schulpsychologie
Ausweitung totalitärer Forderungen
Gesellschaftsblindheit
Modernisierungsforderungen
Resilienz und Emotionsregulation
1 Gründung und kurze Geschichte der Schulpsychologie – Auslese
1997 feierte die Sektion Schulpsychologie des Berufsverbandes deutscher Psychologen und Psychologinnen (BDP) das 75 jährige Bestehen der Schulpsychologie in Deutschland. 1922 hatte zum ersten Mal in Deutschland ein Schulpsychologe, Hans Lämmermann, seinen Dienst angetreten, und zwar in Mannheim. Der Start der deutschen Schulpsychologie ist in hohem Maße eine Geschichte des Hans Lämmermann. Offenbar