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Noplot: Die Macht der Freiheit
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Noplot: Die Macht der Freiheit

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Drei Autoren, Till, Leila und Ines, erzählen was passiert ist.
Die Mutter von Till, einst Lektorin, hat groß geerbt, sie versackt zum Rumhänger, der Vater ist ausgezogen. Vil, Tills drei Jahre jüngere Schwester flüchtet sich als Gegenpol zur Mutter in Ehrgeiz. Till übernimmt mit Herzblut die Mutter- und Vaterrolle. Als es ihm einmal gelingt, die Mutter ein wenig zu motivieren, ihre Rolle wieder einzunehmen, fängt beim feierlichen Auftakt dazu eine Geschichte an, die Tills weiteres Leben bestimmen wird. Jana, die er zwar kaum kennengelernt, aber in die er sich verliebt hat, hat psychische Probleme und nimmt sich das Leben. Till lernt deren Familie kennen, wird der Freund von Jana Schwester Ines und findet ein neues Zuhause.
Leila war eine sehr enge Freundin von Jana. Sie ist früh von zuhause abgehauen und in die mafiöse Drogenszene geraten, wo sie kurzfristig sogar Karriere gemacht und in Notwehr jemanden erschossen hatte. Jana hat sie von besserem überzeugt, wonach sie mit dem Milieu nichts mehr zutun haben will aber sich nun verstecken muss, denn wenn man erst einmal dazugehört, kann man nicht so einfach Tschüss sagen. Jemand spürt sie auf und verrät sie an die Kripo. Es kommt zu einer abenteuerlichen Flucht und einer Rettung auf die man nicht kommen würde, wenn man sie erfinden müsste.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateMar 20, 2021
ISBN9783753183237
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    Book preview

    Noplot - Till Reichenbach

    1

    Meine Mutter war schon immer von einer speziellen Sorte, und irgendwann war es so speziell geworden, dass sie die Verbindung mit der Normalität, in der w i r leben mussten, irgendwie verloren hatte. Sie stand eigentlich nicht mehr zur Verfügung. Das war dann alles ziemlich kompliziert, logisch. Und dann war auch noch mein Vater abgehauen, weil er es mit ihr nicht mehr aushielt. Er hänge sehr an uns, an Vil, Viola, meiner Schwester, und mir, sagte er, auch an Maria, meiner Mutter, natürlich. Wir merkten das aber nicht so direkt, weil er so wenig Zeit hatte, was aber irgendwie auch stimmte, er war also eigentlich weg, genauso wie meine Mutter, und ich war, ehrlich gesagt, im Dauerstress. Aber das hatte eigentlich nichts damit zu tun, dass e r weg war, eher im Gegenteil, er machte hier alles nur noch komplizierter. Meine Schwester ist drei Jahre jünger als ich, sie war gerade vierzehn und sehr anstrengend. Wir, Vil und ich, ich heiße Till, Tillmann, bildeten einen Pool, eine Plattform, auf der wir ohne unsere Mutter auskamen. Nachdem sie dann auch noch deutlich mehr kiffte als normal, ging sie uns richtig auf die Nerven. Das wirke gut gegen ihre eingebildeten Schmerzen, sagte sie. Gut, von mir aus, aber es wirkte eben nicht nur so.

    Seit ich von der Schule geflogen war, war ich hier also der Super-Bruder: Mama und Papa, Haushälterin, Seelsorger und Komplize, und meine Schwester war wie gesagt nicht ganz unbescheiden. Ich mag sie sehr, ich machte das ja alles total gerne, aber irgendwann, ich hatte so ein ungutes Gefühl, musste ich mal wieder zur Schule gehen, und ich wusste nicht, wie ich das unter diesen Umständen machen sollte. Sie hatten mich wegen der Kifferei auf dem Schulgelände gefeuert – ich meine, das heißt, ich wäre schon längst wieder drin gewesen, aber ich war hier unabkömmlich. Vil brauchte mich, sie nahm mich ganz in Beschlag, besonders weil wir nach außen den Schein wahren mussten wegen dem Jugendamt, die waren nämlich schon mal da gewesen – irgendein Arsch musste da was erzählt haben. Vil wollte auf keinen Fall in dieses Internat! Sie wusste, dass ihr Vater sie lieber in dieser geleckten Privatschule sehen würde, weil sie ein schlechter Einfluss sei, unsere Mutter, die allen, a l l e n Familienfragen gegenüber praktisch eine komplette Begriffsstutzigkeit entwickelt hatte. Also brüllten wir sie manchmal sogar an, dass eben n i c h t alles in Ordnung sei und dass sie mitspielen müsse! Zum Beispiel mit einigermaßen klarer Birne nach draußen gehen und sich normal anziehen (sogar darum musste ich mich manchmal kümmern). Vil meinte, jetzt auch selbst immer besonders positiv auffallen zu müssen. Sie machte das perfekt, schon übertrieben, die Supershow. Sie war nicht nur i m m e r pünktlich, eher zu früh in der Schule, sie fehlte auch nicht, als sie 38,4 Fieber oder morgens noch gekotzt hatte, das heißt, keine einzige Stunde, produzierte Einsen wie ein Alien und beteiligte sich an allem Singsang, der freiwillig war. Sie ging sich manchmal während des Unterrichts die Haare kämmen, also nicht etwa zum Pinkeln. Ihre Haare waren klasse, voll und glatt, fast schwarz, sie reichten nicht ganz bis zur Schulter. Aber sie sah wirklich nicht ungepflegt aus, wenn die mal durch den Wind waren. Sie sah überhaupt so gut aus mit ihren großen dunklen Augen, dass ihr alle immer nur ins Gesicht glotzten, fassungslos. Ich übrigens auch. Was mich ungemein anstrengte, war diese überschüssige Energie, diese Unruhe, die entstand, wenn sie die normalsten Dinge mit so viel, ich meine, zu viel, Leidenschaft machte. Das hat sie auch von ihrem Vater (ich gehe mehr nach meiner Mutter), der ist nämlich Verleger. Ich finde die Bücher eher langweilig, nicht alle, aber fast alle.

    Vil wich mir nicht von der Seite, auch wenn sie in der Schule war. Alle zwei Stunden bekam ich eine Message, manchmal stündlich, und oft verwickelte sie mich in irgendwelche nicht unaufschiebbaren Dialoge. Okay, sie hatte Angst, dass ich zum Rek gehen könnte und hiernach wieder in die Schule. Das machte sie blind dafür, dass ich das eigentlich tun musste. Sie wusste, dass ich dann wenig Zeit hatte und wenig zuhause war, und sah sich hier zu viel allein mit ihrer Mutter und darum bald im Internat, als würde meine dauernde Anwesenheit sie davor bewahren. (Wenn das Jugendamt wüsste, dass ich darum nicht zum Rek gehe, wäre sie da eher noch schneller drin.) Ihre Nachrichten beanspruchten mich nicht so, dass ich deswegen nicht zur Schule gehen könnte, auch wenn ich etwas antworten musste (sonst beschwerte sie sich). Die Gedanken über alles, die ich mir in der Schule immer selber machte, lenkten mich sogar mehr ab als Mitteilungen wie: Der Fichte ist ein schlechter Lehrer, den versteht keiner. Das sieht man genau, wenn man es schon zuhause gelernt hat. Antwort: Wenn du das schon kannst, sieht es nur so aus. Bring wieder Döner mit. Sie: Kannst du nochmal die Pfannkuchen machen? Ich: Ja, bring mir zwei Döner mit. Oder: Kann ich am Samstag bei Alina schlafen? Du willst bestimmt sowieso wieder weggehen. Ich: Sie kann auch hier schlafen, Mama ist am Wochenende nicht da. Was ist das Wichtigste von der Wäsche, es passt nicht alles in die Maschine. Anders als mir war Vil ihre Mutter peinlich, nicht erst, als sie abgestürzt ist und das mit dem Amt losging. Ich fand sie zuerst sogar cool, so als ob man einen Punk zur Mutter hat. Ich hab fast ein bisschen mit ihr angegeben, ich stellte sie gerne meinen Freunden vor. Sie machte immer so coole Bemerkungen oder stellte so witzige Fragen, die uns ganz ernst nahmen wie Erwachsene. Wenn ich mit ihr allein war, war das für mich normal, aber mit Freunden zusammen fiel mir auf, dass das was Besonderes war. Erst als sie sich ausgeklinkt hat und immer mehr kiffte, konnte ich das vergessen, und die ganzen Probleme hier fingen an.

    Dann passierte etwas. Ich wagte einmal einen richtigen Vorstoß. Das begann so: Es war an einem Mittwoch gegen Mittag, Vil hatte gerade geschrieben, dass sie eben Janin belügen musste (sie brachte keine Freundin mehr mit nach Hause, wenn die „Vogelscheuche da war) und ihr jetzt übel sei, als es an der Tür klingelte. Ich öffnete. Da stand Toni, der Dealer von meiner Mutter, mit seiner Wollmütze und seinem Grinsen. Ich bat ihn in die Küche, ich wollte nicht, dass er wieder zwei Stunden bei ihr sitzt und sie den Stoff „probieren.

    „Wie viel?", fragte ich.

    „Sie muss es probieren, sagte er grinsend, „es ist viel. Er zeigte mir das kleine Päckchen.

    „Nein, dein Zeug ist gut, sagte ich. „Ich hol das Geld. Wie viel?

    „Einen Riesen", sagte er, als wenn ich einen Fehler machte.

    „Warte hier, setz dich ruhig." Er tat es, und ich ging ins Wohnzimmer zu dem kleinen Tresor im Schrank, dessen Schlüssel neuerdings immer steckte. Davor hatte man ihn aus der kleinen Standuhr daneben rausfummeln müssen. Ich nahm einen Packen Geld von einem Packen Geld.

    „Du klaust dir Geld", sagte meine Mutter, die auf dem Sofa lag und zusah.

    „Ich dachte, du merkst es nicht", sagte ich auf dem Rückweg.

    „Ja, Pech", sagte sie. Vor zehn Minuten war sie noch ohnmächtig.

    Ich setzte mich zu Toni an den Tisch, auf dem das kleine Päckchen schon lag wie eine Schokoladenprobe, und zählte die Scheine. Ich schob ihm tausend hin und den Rest zur Seite.

    „Was ist denn los?", fragte er.

    „Wir haben etwas Streit. Sie ruft dich an, okay?"

    Ich stand auf und brachte ihn zur Tür, er tänzelte lächelnd zum Aufzug, es sah komisch aus, ich lächelte auch. „Grüß mal", sagte er noch, bevor ich die Tür schloss. Dann nahm ich das Täfelchen und brachte es ihr, warf es fast auf den Tisch.

    „Ahh! Wo ist er!?", fragte sie. Ich setzte mich in einen Sessel und sah sie an.

    „Du rauchst noch mehr, wenn er da ist", sagte ich.

    „Ich muss es doch probieren."

    „Quatsch, ist immer dasselbe, gut."

    „Nicht immer", sagte sie fast nachdenklich, nahm das Päckchen und öffnete es, roch daran und baute hiernach liegend und umständlich einen kleinen Joint.

    „Hast du ihn einfach weggeschickt?"

    „Ja. Wir haben Streit, hab ich gesagt."

    „Das stimmt doch nicht."

    „Doch, das stimmt." Sie runzelte die Stirn.

    „Ich hab es nicht mitgekriegt, ich habe geschlafen. Worum ging es?", fragte sie.

    „Um uns hier … Ich gab mir einen Ruck: „Du stürzt irgendwie ab, Mamma.

    Sie machte das Ding an, zog einmal und hielt es mir dann hin. Ich zog, wartete, zog noch mal und gab es ihr zurück. Ich hörte Vil nach Hause kommen. Es gefiel ihr natürlich gar nicht, wenn ich mit ihr zusammen saß und kiffte.

    „Ich mach mal das Fenster auf", sagte ich, tat es und setzte mich wieder. Ich nahm den Joint noch einmal und sie machte ihn dann aus.

    „Du stürzt irgendwie ab", wiederholte ich.

    „Hab ich gehört", sagte sie.

    „Ich muss das mal so sagen. Es muss was passieren. Wenn das Jugendamt wiederkommt, steckt Papa sie ins Internat."

    „Sie steht doch auf Schule. Das ist die beste weit und breit!", sagte sie.

    „Sie will aber nicht, verdammt! Das weißt du genau! Sie ist ganz panisch!"

    „Sie hat keine Wahl, ihr Vater ist ausgezogen, ihre Mutter ist abgestürzt, ihr Bruder ist zu jung."

    „Ihre Mutter verweigert sich!", sagte ich.

    „Sie hat mir gekündigt!"

    „Ja, darum."

    „Nein, nicht darum, sie hat mir schon vorher gekündigt. Aber ich gehe deswegen nicht vor Gericht."

    „Es gibt elterliche Pflichten", sagte ich, weil ich nicht verstand, was das mit dem Gericht jetzt sollte.

    „Sag das deinem Vater. E r darf das, er muss nicht für sie da sein. Er hat genug für sie getan, wenn er sie in diese Elite-Anstalt steckt."

    „Kommst du mal!", rief Vil im Flur, hatte ich schon drauf gewartet.

    „Ja, gleich!", antwortete ich. Meine Mutter setzte sich auf.

    „Till, was soll das jetzt, sie lehnt mich ab und wie, das weißt du doch! Sie ist ein adrettes Püppchen geworden und ich bin ihre Schande. Ja, ich verweigere mich! Das ist doch normal, wenn man sein eigenes Kind auf einmal ankotzt! Ist das verletzend oder nicht!?"

    „Mann, red doch mal mit ihr darüber! Du fehlst ihr, auf der anderen Seite fehlst du ihr!"

    „Die Seite will ich erstmal sehen, sagte sie. „Du steckst übrigens die letzte Zeit mit ihr unter einer Decke.

    „Sie braucht meine Hilfe."

    „So ein Quatsch! Lass dich nicht so von ihr einwickeln! Geh endlich wieder zur Schule! In dem Internat wäre sie mich los. Ihre Freundinnen verliert sie nicht, soweit ist das nicht … Oder i c h gehe und dein Vater kommt zurück, ja, vielleicht ist das das Beste."

    „Nein, das ist nicht das Beste. Wohin würdest du denn gehen?"

    „Zu Freunden."

    „Diesen Rockern?"

    „Welche Rocker?"

    „Diesen Musikern."

    „Das sind keine R o c k e r . Was verstehst du denn unter Rockern?"

    „Also Schwuchteln sind es nicht", sagte ich. Sie hatte meinen Freund Anton vor einigen Tagen eine Schwuchtel genannt, so am Ende des Satzes: …, die Schwuchtel. Sie sagte nichts, aber so, wie sie jetzt guckte, das sah ich gerne.

    „Liebst du Vil noch?", fragte ich.

    „Ich bin ihre Mutter – ."

    „Das finde ich übrigens gut."

    „Ja, du vielleicht."

    „Sie auch, frag sie."

    „Dann denkt sie, ich suche Streit."

    „Seit wann suchst d u Streit. Sie würde sich riesig freuen, auch wenn sie es nicht zeigt, sagte ich. „Sie ist noch ein Kind, rede mit ihr, bitte.

    „Das geht schief!"

    „… Du müsstest für sie, ich meine, wirklich nur für sie und vorübergehend, mal wieder ein bisschen Normalo werden, sonst ist die Hürde zu groß."

    „Normalo", wiederholte sie.

    „Wegen der Hürde, vorübergehend. Mach mal. Mach einfach." Sie lehnte sich zurück und stellte die Beine hoch, beide nackten Füße auf das Sofa. Ich dachte, o Mann, sie sieht aus wie ein Pirat, die verwaschene Schlabberjeans, das weiße weite Leinenhemd, die wilden hellen Haare, ihre ihr gleichgültige, unregelmäßige leichte Bräune, die Pose. Vil stand doch auf Piraten, da müsste doch was zu machen sein.

    „Ja, also gut, von mir aus, sagte sie, „sie soll gleich mal kommen und ihren Schulkram mitbringen.

    „Den Schulkram … ?!"

    „Ich würde gerne mal verstehen, wie man Klassenbeste sein kann … Grins doch nicht so, verstehst d u das!?"

    „Ja, aber sie kann das besser erklären. Ich sag’s ihr! Ich verbarg meinen Eifer noch nicht mal und stand schon, als ich sagte: „Kämm dir aber mal die Haare.

    „Natürlich", sagte sie. Ich grinste glaube ich immer noch, wenigstens innerlich.

    „Ich mach mal die Balkontür auf", sagte ich, als ich eigentlich schon dabei war.

    „Das geht schief!", sagte sie.

    „Nein", sagte ich und nahm das Dope vom Tisch und legte es ins Regal, bevor ich ihr übermütig, wie ich gerade war, auf die Schulter klopfte und dann schnell um die Ecke verschwand.

    Im Flur ging dann in mir alles durcheinander. Ich war skeptisch und ich war optimistisch, ich freute mich auf einmal auf die Schule und ging dann erstmal in mein Zimmer. Ich hatte richtig Angst vor Vil. Es war nämlich klar, dass ich sie bekniet hatte. Das war typisch für mich, ich machte immer so spontane Sachen, so aus dem Bauch, obwohl dabei ziemlich oft Mist rauskam. Schließlich ging ich rüber und richtete es lächelnd aus, besser lächeln, dachte ich, tiefer hängen.

    „Was ist denn j e t z t los, spinnt die! Das interessiert sie doch in Wirklichkeit gar nicht! Was hast du ihr gesagt, wie kommt sie auf einmal darauf!?"

    „Vil!", sagte unsere Mutter im Flur und stand einen Augenblick später in der Zimmertür, ohne blöd zu lächeln, das war gut. Ihre Haare waren nicht gekämmt. Vil rührte sich nicht, sie saß an ihrem Schreibtisch und starrte sie an.

    „Ich habe eine Idee", sagte der Pirat, als warteten wir schon darauf. Sie trat an den Schreibtisch, dort nahm sie die Hände auf den Rücken. Wir schwiegen.

    „Also, ich möchte, dass wir mal was zusammen machen, fuhr sie mit Blick auf ihre versteinerte Tochter fort, „und ich hätte da eine Idee.

    „Das kannst du ja mit Till besprechen, sagte Vil so erklärend. „Also, hier, Englisch, eine Eins, heute zurückgekriegt. Sie hielt ihr das Heft hin. Der Pirat nahm es, aber es verschwand mit den Händen auf dem Rücken.

    „Wir fahren mal ein paar Tage weg. Du, Till und ich."

    „Wir, warum!? Ich hab keine Ferien!"

    „Nur drei, vier Tage."

    „Wann denn?!"

    „Morgen bis Sonntag."

    „Morgen habe ich Schule! Und übermorgen auch!"

    „Ich entschuldige dich."

    „Wohin fahren wir denn?", fragte ich.

    „Überraschung", sagte sie.

    „Also Mama, das ist jetzt wirklich blöd!, sagte Vil. „Das geht einfach nicht!

    „Okay, sagte sie und gab ihr das Heft zurück. „Ich dachte … Es war ja nur eine Idee. Sie senkte den Kopf (enttäuscht, das sah ich), drehte sich herum und ging.

    Ich starrte Vil an. Sie starrte mich an.

    „Bitte!", sagte ich wirklich bittend.

    „Was – ", sagte sie, sie schien damit etwas festzustellen. Nach einem Moment stand sie auf.

    „Mann, das ist doch verrückt!", sagte sie auf dem halben Weg zur Tür, blieb nochmal stehen und sah mich an, meinen Gesichtsausdruck, der mich anstrengte. Dann ging sie, ein bisschen genervt, aber egal. Sie klopfte an ihrem Zimmer, sie wusste, dass sie jetzt darin war.

    „Vielleicht machen wir es doch einfach", hörte ich sie sagen.

    2

    Ich war high! Mein Gefühl sagte mir, dass sich jetzt was ändert, und ich konnte noch gar nicht begreifen, dass i c h das bewirkt hatte. Leider war Vil jetzt erstmal im Stress wegen der Schule: Hätte sie einen Unfall gehabt oder einer wäre gestorben, aber so mir nichts dir nichts. Wenn das nur nicht immer so am Thema vorbeiginge, wir gingen eigentlich Tag für Tag nur noch am Thema vorbei. Alles drehte sich darum, dieses Internat zu vermeiden, indem sie ihre Supershow abzog, damit es so aussah, als gäbe es zuhause keine großen Probleme – und darum, zuhause t r o t z der großen Probleme klarzukommen. Dabei half ich ihr, weil ich ihr gerne half, nicht weil ich es für das Beste hielt, w e n n ich mal darüber nachdachte, so wie jetzt, als ich es auf einmal so sah, dass sie sich mit ihrer Schufterei ja immer mehr für dieses Internat qualifizierte, zu dem es für ihren Vater keine Alternative gab (da waren ihm ihre Einsen ein bisschen über den Kopf gestiegen), ich meine, wäre sie nur mittelmäßig, wäre der Schulwechsel ja sowieso kein Thema. Vielleicht wäre das Thema dann von Anfang an das eigentliche große Problem hier gewesen, um das es jetzt endlich einmal ging und das sich in Luft auflösen würde, wenn unsere Mutter nicht mehr so bescheuert viel kiffte und Vil nicht so piefige Vorstellungen davon hätte, wie ihre Mama zu sein hat. Mit dem ganzen Zeug quatschte ich Vil ein paar Minuten lang voll, aber das war heute dann doch zu viel, sie schaltete zwar alles, aber schaltete irgendwie hin und her, und es blieb darum erstmal bei ihrer aus drei Meter Entfernung spürbaren Sorge, die einem die Lust auf die Reise ziemlich vermiesen konnte. Ich wäre ihr für den Rest des Tages aus dem Weg gegangen, wenn sie nicht gleichzeitig auch die ganze Zeit so feierlich gewesen wäre und jede Tätigkeit wie die Vorbereitung auf ein bedeutendes Ereignis erschien. Sie lernte natürlich im Voraus, sie könne sich sonst nicht fallen lassen – fallen lassen. Sie lernte aber normalerweise immer im Voraus, was ihr übrigens nicht schwer fiel, sie konnte bis zu vier Dinge auf einmal tun, bei schwierigen Sachen nur zwei oder drei, also für zwei bis drei Fächer gleichzeitig lernen und zeichnen am Rechner (tat sie gerne) oder was umräumen (tat sie oft) und dabei für bis zu drei Fächer lernen. Mir zuhören oder telefonieren, dabei konnte sie aber nur noch eine andere Sache machen. Und weil sie jetzt zwei Fächer im Voraus lernte und gleichzeitig stundenlang ihr Gepäck erwog, oder gehetzt dringende Antworten in ihr iPhone tippte, hatte ich sie mit meinem Gequassel von der Lösung des eigentlichen Problems nicht auch noch begeistern können.

    Es gab dann sogar mehr als eine „Überraschung, aber erstmal nur die, dass es an dem Tag keine mehr gab, es schien sogar manchmal, als wäre hier alles normal, Vil ackerte, unsere Mutter guckte einen Film oder telefonierte, ich las oder telefonierte, kümmerte mich später um einen Berg Wäsche, machte Vils „kalte Platte und hiernach die Küche picobello. Nur, was vielleicht niemandem aufgefallen wäre, die beiden gingen sich so schön unauffällig aus dem Weg. Vil hatte eine große Reisetasche vollgekriegt, perfekt, für drei, vier Tage. Und zwar nicht wegen einer Menge Schulzeug, das sie aber außerdem schwer machte, sie schien auf jede Eventualität vorbereitet zu sein. Sie wisse ja nicht, was wir machen würden, sie wolle es auch gar nicht wissen, sie habe absolut keine Lust, wieder alles auszupacken. Wenn ich es inzwischen wüsste, solle ich es ihr nur sagen, wenn ich glaube, dass sie es besser wissen sollte.

    Ich trug diese Tasche, als wir am nächsten Morgen aufbrachen. Doch nicht weit, nicht bis zu Mutters klapperigem Porsche-Jeep, der seit einer Woche zweihundert Meter entfernt in eine Einfahrt ragte. Als wir aus dem Haus traten, parkte direkt vor uns in zweiter Reihe ein goldener Ford Mondeo, Baujahr vor meiner Zeit. „Hallo!, sang der Typ fast, dessen Name mir jetzt nicht gleich einfiel. Sein Arm lehnte aus dem Fenster, er winkte mit der Rechten. Dieser Mensch war nun aber für Vil tabu, seit er das erste Mal aufgetaucht war. Er sehe aus wie ein Gammler mit seiner ungepflegten Mähne, und außerdem sei er ein Säufer, weil er so eine Stimme habe, und bestimmt kein Musiker, wie ihre Mutter behaupte, nur ein Kiffer und Säufer und Angeber, der seine Frau schlage, wenn er breit sei. Ja, würde man von Vil nicht denken, aber konnte sie schon mal. Es stieg jemand auf der Beifahrerseite aus, ein junger Typ mit einer schwarzen Sonnenbrille und schicken, dunklen Haaren, die ein paar Zentimeter über die Ohren reichten. „Hi, sagte er nicht gerade gut gelaunt und setzte sich irgendwie nach einer einzigen Drehbewegung, einschließlich Türen auf und zu machen, nach hinten. „Das ist Sascha, mein Sohn. Er hat keinen Bock, sagte Roni, dessen Name mir jetzt wieder einfiel. Vil stand wie angewurzelt. „Worauf hat er keinen Bock?, fragte ich. „Er hat eigentlich keine Zeit, er hat nie Zeit, sagte er. Unsere Mutter ging zur Heckklappe, öffnete sie und warf ihre kleine Tasche hinein. Sie sah uns an und wartete. „Warum fahren wir nicht in d e i n e m Auto, dann haben wir mehr Platz?, fragte Vil (eigentlich war das natürlich keine Frage, sondern eine Bitte). „Du kannst vorne sitzen, antwortete sie. Ein paar Sekunden später flog mein Rucksack hinterher, es sah aus wie: Tolle Idee! Sie wusste nicht, was in meinem Rucksack war, ihre Tasche ließ ich trotzdem nicht fliegen, da war ihr Rechner drin. Sie stieg hinten ein, ich folgte sofort, denn meine Mutter könnte mir zuvorkommen und das riskieren. Die Piraten saßen dann also vorne, ihre Beute im Rückspiegel, wann sie wollten, das war genau das Bild, das ich da hatte. Ich saß hinter Roni, Vil in der Mitte, dieser Sascha sah erstmal nur aus dem Fenster. Er schien jünger als ich, aber deutlich älter als Vil. Die Entführer verstellten sich garantiert, denn sie sagten so langweiliges Zeug wie: „Gut, dass das geklappt hat! „Ja, jetzt hat es sogar was Gutes, dass der Termin geplatzt ist." Ich

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