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Der Weg, der in den Tag führt: Buch 1 - Karukora
Der Weg, der in den Tag führt: Buch 1 - Karukora
Der Weg, der in den Tag führt: Buch 1 - Karukora
Ebook359 pages5 hours

Der Weg, der in den Tag führt: Buch 1 - Karukora

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About this ebook

Das Prequel zur Brautschau-Saga:
Der Weg, der in den Tag führt
Teil Eins - Karukora

Sechstausend Jahre sind vergangen, seit sich die hochentwickelte Kultur der Vorgänger in ihrer Hybris selbst vernichtet hat. Obwohl viele Länder der Welt dabei vollkommen zerstört wurden und die heute unbetretbaren Jenseitigen Lande im Westen bilden, sind die Vorgänger für die heutigen Völker nur mehr eine vage Erinnerung und ihr enormes technisches Wissen ist fast vollkommen vergessen. Allein Märchen und Sagen erzählen von ihnen und ihren Geheimnissen.

Doch noch immer kämpfen uralte Roboterarmeen und Kriegsmaschinen östlich der großen Wüstenstadt Karukora in einer gewaltigen Schlacht, die nicht enden will.

Gibt es eine alte Landkarte, die durch diese Ebenen des Ewigen Krieges nach Pardais, der Stadt des Friedens, führt? Der alte Märchenerzähler Alis ist davon überzeugt. Er gerät auf der Suche nach ihr zusammen mit seinem Enkel Selin, dem Kaufmann Juel und dem jungen Mönch Sahar am Hof des grausamen Herrschers von Karukora in ein Kesseltreiben aus Intrigen, Verschwörungen und finsteren Mordplänen.

Und welches dunkle Geheimnis verbirgt sich wirklich hinter dem Weg, der in den Tag führt?

380 Seiten voller Abenteuer und Märchen aus 1001 Nacht.
LanguageDeutsch
Publisherepubli
Release dateFeb 20, 2018
ISBN9783746701479
Der Weg, der in den Tag führt: Buch 1 - Karukora
Author

Nikolaus Klammer

Nikolaus Klammer erblickte am 10. Februar 1963 das Licht dieser besten aller Welten. Er übt den Beruf des Geschichtenerzählers aus, seit er sprechen kann - also schon eine lange, lange Zeit. Er lebt und schreibt im verträumten Diedorf bei Augsburg, ist seit über dreißig Jahren glücklich verheiratet und hat zwei inzwischen erwachsene Söhne, die längst auf eigenen Füßen stehen.

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    Der Weg, der in den Tag führt - Nikolaus Klammer

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    Nikolaus Klammer

    DER WEG, DER IN DEN TAG FÜHRT

    EIN ROMAN AUS DER WELT VON BRAUTSCHAU

    Teil 1

    „Karukora"

    EBOOK-AUSGABE

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    Diese Geschichte spielt im Sommer vor den Ereignissen, von denen der Roman „Meister Siebenhardts Geheimnis" erzählt.

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    Texte und Bilder:

    © Copyright by Nikolaus Klammer

    Umschlaggestaltung:

    © Copyright by Nikolaus Klammer

    klammer@email.de

    Druck:

    epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

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    Prolog

    DER GRÖSSTE PECHVOGEL VON ALLEN

    Der Mönch rutschte auf den glitschigen Fliesen aus und stolperte ungeschickt einen Schritt nach hinten. Er wäre fast rückwärts in das trübe, eiskalte Wasser des Kavernen–Sees gestürzt, aber diese unwillkürliche Bewegung rettete ihm für den Moment das Leben.

    Seine plötzlich wie aus dem Nichts aufgetauchte Widersacherin war von Kopf bis Fuß in einen eng anliegenden, nachtblauen Stoff gehüllt. Sie verbarg auch ihr Gesicht hinter einem Schleier, der nur ihre zu einem schmalen Schlitz zusammengekniffenen Augen preisgab. Ihre scharfe Waffe verfehlte ihn so knapp, dass er die Mordklinge durch die Luft pfeifen hörte. Sie hinterließ auf Brusthöhe einen langen, queren Schnitt in der grauen Mönchskutte und kratzte auch über das raue Büßerhemd aus Hanf, das er darunter trug. Aber sein erschrockenes Zurückweichen hatte ihn zumindest für den Augenblick davor bewahrt, mit durchschnittener Kehle in den Katakomben zu enden.

    Meister Adelf von Süderbal aus der Gemeinschaft der leidenden Gene keuchte angsterfüllt. Er konnte seinen Herzschlag an einer Ader auf seinem nackten Schädel pochen fühlen. Im Schein der Öllampen, die den Rand des Wasserreservoirs nur schlecht mit trübem Licht ausleuchteten, musterte er seine Gegnerin, die er um mehr als eine Haupteslänge überragte. Adelf war vollkommen arglos in ihren Hinterhalt getappt, denn er hatte nicht geahnt, dass sie ihren Verfolger längst wahrgenommen und nur auf eine Gelegenheit gewartet hatte, ihn hier in diesen Katakomben unter dem Palast, in denen es keine Zeugen gab, zu überrumpeln. Die vermummte Angreiferin zischte etwas, das wie ein Fluch oder eine Beschwörung klang. Dann kauerte sie sich etwas zusammen und bereitete ihren nächsten Angriff vor. Sie wirkte auf den Mönch Adelf wie eine giftige Viper, die kurz vor dem Zubeißen war. Doch der waffenlose Mann aus dem fernen Italmar, dem mit Bedauern seine Pistole einfiel, die nutzlos in einer Schreibtischschublade seines Arbeitszimmers lag, war nicht vollkommen wehrlos. Obwohl der erst kürzlich akkreditierte Botschafter Italmars in der Wüstenstadt Karukora seine gymnastischen Übungen in den letzten Jahren etwas hatte schleifen lassen, war er durchaus nicht das leicht zu besiegende Opfer, das eine Gegnerin erwartet hatte. Adelf war er seinem alten Meister Johsefar zutiefst dankbar, der ihn zu einem täglichen Kampftraining gezwungen hatte.

    In einer fließenden und kaum fürs Auge eines Beobachters wahrnehmbaren Bewegung sprang die Angreiferin mit ausgestrecktem Arm nach vorne, um Adelf ihren Dolch zwischen die Rippen zu treiben. Aber diesmal war der Mönch auf ihre Attacke vorbereitet und das Überraschungsmoment war auf seiner Seite. Er wich mit einer halben Drehung geschickt zur Seite aus, während er mit der Handkante nach dem Handgelenk seiner Gegnerin schlug und dabei einen Fuß herumwirbeln ließ, dessen Spitze sie direkt in der Kniekehle traf. Es gelang ihm zwar nicht, seiner Gegnerin die Waffe aus der Hand zu schlagen, aber unter seinem schmerzhaften Tritt knickte sie ein und fiel mit ihren Knien auf die schmierigen und feuchten Steinplatten. Nun war sie an der Reihe, erstaunt zu keuchen. Sie wedelte mit ihrem Dolch hin und her, um zu verhindern, dass der Mönch sie mit einem weiteren Tritt oder Schlag endgültig aus dem Gleichgewicht brachte und zu Boden zwang und kam mit einer Körperrolle wieder zum Stehen.

    Doch es lag nicht in der Absicht von Adelf, sie weiter zu attackieren. Ihm war klar, dass ihn bisher nur ein Zufall davor bewahrt hatte, ihre vermutlich vergiftete Klinge zu schmecken und aus leidvoller Erfahrung wusste er, dass das Glück niemals lange auf seiner Seite war. Deshalb nutzte er die Gelegenheit zur Flucht, die sich ihm durch die Verwirrung seiner Gegnerin bot. Er drehte sich herum und rannte los, war bereits in die vollkommene Finsternis eines nur etwa vier Fuß hohen, runden Seitenganges getaucht, bevor seine Gegnerin sich wieder fassen und an einen neuerlichen Angriff denken konnte. Doch anstatt ihm sofort in die düstere, gemauerte Röhre zu folgen, aus der ein dünnes Rinnsal Wasser in den unterirdischen See floss, pfiff sie durchdringend durch ihre Finger. Offensichtlich war er durchaus nicht allein mit der Attentäterin hier unten in diesem unüberschaubaren und verwirrenden Labyrinth. Es bestand aus aus Kellern, Katakomben, Kanalisationen und Kavernen, das das gesamte Areal unter dem gewaltigen Elfenbein–Palast der namenlosen Herrscher von Karukora untertunnelte, mit Frischwasser versorgte und die Abwässer zurück in den Fluss Syris leitete. Sie rief mit ihrem Pfiff ihre Kumpane herbei und der Mönch wollte weit fort sein, wenn diese ihr zur Hilfe eilten.

    Er hatte keine Ahnung, wohin ihn der niedrige Kanal führte, in den er sich in seiner Not vornübergebeugt vor der gefährlichen Frau geflüchtet hatte, denn er hatte bei seiner heimlichen Verfolgung längst die Orientierung verloren. Aber das Wasser zu seinen Füßen floss ihm entgegen und deshalb führte der Gang leicht aufwärts. Das schien ihm ein gutes Zeichen zu sein. Obwohl Adelf nichts sah, rannte er weiter. Seine Sandalen waren von dem plätschernden Wasser zu seinen Füßen vollgesogen und quietschten bei jedem Schritt. Er streckte seine Hände nach außen, um beim Laufen die bröcklige Ziegelmauer seines Fluchtweges zu berühren. Denn er wollte auf keinen Fall einen Seitengang oder gar eine Leiter nach oben zu verpassen. Die Luft erschien ihm weniger schimmlig und feucht als dort unten in der großen Halle, deren Decke von unzähligen Säulen getragen wurde und in deren Mitte das große, schwarze Wasserreservoir so unbewegt wie die Seele Inets lag. An dessen glitschigem Rand hatte ihn die Frau, die er verfolgt hatte, überrascht. Er war ihr wohl doch nicht so vollkommen unbemerkt hinterher geschlichen, wie er gedacht hatte. Doch er hatte keine Zeit, sein übliches Pech zu bejammern. Er musste Abstand zwischen sich und seine Verfolger bringen und flink sein, wenn er lebend aus der Kanalisation unterhalb des Palasts entkommen wollte. Vielleicht endete dieser Kanal ja an einer Leiter, die ihn hinauf an die Oberfläche brachte. Aber seine Hoffnungen wurden jäh zerstört.

    Nach einer Weile, in der er von dem Kanalrohr stetig sanft aufwärts durch die lichtlose Schwärze geführt worden war, machte der Gang unerwartet eine scharfe Biegung nach links. Nach nur wenigen Schritten endete er vor einer massiven Mauer. Adelf, der wegen der niedrigen Decke noch immer den Kopf tief nach vorne beugte, rannte mit voller Wucht gegen sie. Er taumelte zurück und hielt sich jammernd den schmerzenden Schädel. Dabei fiel er fast über mehrere dicke Eisenrohre, die am Boden vor sich hin rosteten. Sie verursachten einen ordentlichen Lärm, als er mit den Zehen an sie stieß.

    An den Augen des Mönchs trieben glitzernde Funken vorbei und er fühlte sich einer Ohnmacht nah. Rasende Kopfschmerzen jagten durch seinen Schädel. Er ließ sich halb zur Seite gegen die Röhre fallen, konzentrierte sich darauf, seinen Atem zu beruhigen und suchte Kraft und Konzentration in den Mantras, die er während seiner Ausbildung gelernt hatte. Nach geraumer Zeit ließ das Dröhnen so weit nach, dass er sich wieder bewegen und seine Umgebung erkunden konnte. Der Mönch schob sich vorsichtig nach vorne und streckte tastend die Hand nach der Wand aus, gegen die er gerade gelaufen war; tastete fassungslos ihren rauen, aufgeplatzten Putz ab. Dann schlug er verzweifelt mit der Faust gegen sie. Adelf kamen vor Wut und Schmerz die Tränen: Sein legendäres Pech hatte ihn eingeholt! Er war in einer Sackgasse gefangen und es gab für ihn keinen Ausweg mehr, denn zurück würde er nicht mehr können. So schnell war er am Ende seiner Flucht angelangt.

    Wie zur Bestätigung seiner Angst trug das Echo nun auch noch ferne Schritte und unverständliche Wortfetzen durch die Kanalröhre zu ihm heran und obwohl er weiterhin nichts von seiner Umgebung erkennen konnte, kam ihm die Finsternis nicht mehr ganz so schwarz und undurchdringlich vor. Er drehte sich herum, tastete sich zurück und spähte um die Ecke. Erst glaubte er, seine Augen würden ihm wieder einen Streich spielen, aber dann sah er es: Richtig – dort, noch ganz weit am hinteren Ende der Kanalröhre, kamen ihm langsam eine Handvoll Personen entgegen. Sie hatten Laternen oder Taschenlampen dabei, deren unruhiges Licht er in weiter Ferne an den Wänden wie seine Schmerzvisionen eben tanzen sah. Es würde noch einige Zeit dauern, bis seine Verfolger bei der Kurve und damit bei ihm angekommen waren, denn sie schienen es nicht gerade eilig zu haben. Wahrscheinlich besaßen sie eine Karte des Untergrunds und wussten, dass ihr Opfer den falschen Fluchtweg gewählt hatte, wie eine Ratte in der Falle saß und ihnen hilflos ausgeliefert war. Er konnte nicht ausmachen, wie viele der Handlanger, die seine Angreiferin herbeigepfiffen hatte, hinter ihm her waren; aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Er würde sich ihrer in dieser engen Röhre auf keinen Fall erwehren können.

    Adelf fasste sich erneut an die blutende Stelle auf seinem nackten Schädel, an der er unliebsame Bekanntschaft mit der Mauer in seinem Rücken geschlossen hatte. Das hatte er nun davon, dass er unbedingt hinter das Geheimnis der Druşba es Sakr – der Kalten Hand – kommen wollte, der Assassinengilde von Karukora, die die meisten ins Reich der Märchen und Mythen verlegten. Doch Adelf wusste es inzwischen besser, auch wenn er dieses Wissen nun wahrscheinlich mit ins Grab nehmen würde. Es würde ihm nicht mehr gelingen, den Regno Raul IV. von der Lamargue zu warnen, der bald in die Stadt kam, um Verhandlungen mit dem Namenlosen aufzunehmen, dass ein finsteres Mordkomplott gegen ihn geschmiedet worden war. Der Botschafter des Mönchsstaats wusste inzwischen sogar, wer den Auftrag zum Attentat gegeben hatte und warum er diese Schritte unternahm, aber Adelf würde es niemandem mehr mitteilen können. Er war und blieb ein Unglücksrabe.

    Gab es einen Stein, über den man stolpern konnte, er fiel über ihn, verstauchte sich das Bein oder brach sich das Handgelenk. War da ein Schlamassel, in den man geraten konnte, steckte Adelf schon mitten in ihm, bevor er es selbst bemerkte. Stand er an einem Scheideweg, wählte er grundsätzlich die falsche Richtung. Das ging schon sein ganzes Leben so. Stahlen die Kinder in seinem Heimatdorf hoch im Norden der Provinz die reifen Apúls–Früchte aus den Gärten des Abbas, wurde nur er erwischt – selbst wenn er bei der Tat nicht dabei gewesen war. Unter seinen Schritten brach zuverlässig die wacklige Holzbrücke, über die vorher einhundert andere ohne Probleme gegangen waren, hatte er keinen Regenumhang dabei, schüttete es aus heiterem Himmel wie aus Wasserkübeln. Seine Nuss war die taube, seine Milch war sauer, in seiner Pflaume der Wurm; kam er hungrig nach Hause, wurden gerade die Reste des Nachtischs abgeräumt. Beim Kartenspiel verlor er zuverlässig, andere schnappten ihm die Mädchen weg und seine Prüfung zum Adepten hatte er dreimal machen müssen, weil er beim ersten Versuch einen akuten Durchfall bekam und beim zweiten Mal des Unterschleifs bezichtigt wurde, obwohl nicht er, sondern ein Banknachbar abgeschrieben hatte ...

    Mutlos kehrte er zurück zu der Mauer, die seinen Fluchtweg versperrte und lehnte sich verzweifelt gegen sie. Wie hatte er nur in diesen Schlamassel geraten können?

    Adelf hatte vor über einer Woche in einer für ihre köstlichen Meeresfrüchte bekannten Fischerkneipe im alten Hafen zu Abend gegessen. Seine Austern waren natürlich verdorben gewesen und hatten später zu einer leichten Fischvergiftung geführt. Dabei hatte er zufällig ein geflüstertes Gespräch am Nebentisch aufgeschnappt, in dem es um das Gerücht eines geplanten Anschlags auf eine hochgestellte Person ging. Trotz Magengrimmen und Fieber war er neugierig Indizien und verdächtigen Personen gefolgt, hatte sich vorsichtig in den verrufensten Stadtvierteln umgehört. Langsam wurde ihm das Ganze zu einer Obession. Er hatte Spitzel bestochen, sorgfältig über seine Entdeckungen Buch geführt und seine eigenen wenigen Spione in Karukora ausschwärmen lassen. Schließlich hatten ihn alle Hinweise zu einer immer verschleiert auftretenden Frau geführt, die überall auftauchte und offenbar alle Fäden in der Hand hielt. Er wusste weder, wer sie war, noch wo ihr Hauptquartier lag, aber es war ihm an diesem Vormittag gelungen, sie zu verfolgen, als sie verstohlen in einem schmutzigen Hinterhof in Palastnähe ein Bodengitter öffnete, in die Kanalisation stieg und ihn mit einer Laterne in der Hand scheinbar unbemerkt durch die verwirrenden Trojaspiele unter der Stadt bis zu jener großen Kaverne geführt hatte, wo sie ihn plötzlich angegriffen hatte.

    Eigentlich ging den Botschafter Adelf das alles gar nichts an und es wäre sogar im Sinne seines obersten Kirchenführers, des Erzrats Hierion Éderwerfh, gewesen, wenn der Regno plötzlich von der politischen Bühne verschwinden würde. Adelf hätte es dem Vorsitzenden des Neuner–Rats von Italmar sogar zugetraut, dass er höchstpersönlich solch einen Mord in Auftrag gab, wenn er seinen Zielen diente. Aber der Botschafter war durchaus nicht mit den Ränkespielen seines Erzrats einverstanden; selbst wenn er sich mehr als einmal aus guten Gründen mit seiner eigenen Meinung zurückgehalten hatte. Wenn er also auf diese Weise Éderwerfh einen Knüppel zwischen die Beine werfen und dessen machthungrige Pläne durchkreuzen konnte, war ihm das nur recht. Bald hatte er allerdings feststellen müssen, dass die Bedrohung nicht aus Italmar, sondern von einer ganz anderen, noch dazu vollkommen unerwarteten Seite kam. Adelf wusste nun, dass er einer ganz großen Sache auf der Spur war, durch deren Aufdeckung er einigen Einfluss am Hofe des Herrschers – seiner Herrlichkeit, die sich allen Ernstes „Der Unterwerfer" nannte – gewinnen konnte, nachdem es für die Mönche aus Italmar über Jahrhunderte hinweg verboten gewesen war, Karukora, das Juwel der Wüste, zu betreten und dort ihren Glauben zu verkünden. Das war eine einzigartige Gelegenheit, die er sich nicht entgehen lassen konnte.

    Adelf besaß einen sechsten Sinn für Verschwörungen und düstere Machenschaften, der ihn noch nie betrogen und ihn, nachdem der Namenlose endlich die Tore der Stadt auch für die Gemeinschaft der leidenden Gene geöffnet hatte, zu Italmars Meisterspion in Karukora machte – wo hinter jeder Straßenecke eine Intrige oder ein Meuchelmörder lauerte. Manchmal behauptete der glücklose Mönch, dies sei jene besondere Gabe, die ihm die Willkür des grünen Strahls verliehen hatte. Doch es war eine ganz andere, die ihm, wie ihm plötzlich siedend heiß einfiel, vielleicht noch einmal das Leben retten konnte:

    Adelf von Süderbal konnte durch Wände sehen.

    Genauer hieß das: Wenn er seine Handflächen gegen eine Mauer oder eine andere feste Fläche presste oder sich auch nur angestrengt auf sie konzentrierte, sah er vor seinem inneren Auge manchmal eine Ahnung von ihrer Beschaffenheit und Struktur, erkannte, was hinter ihr lag. Er gewann ein Bild in seinem Geist, das er keinem Dritten erklären konnte, aber im Laufe seines Lebens zu interpretieren gelernt hatte. Auf diese Weise gelang es ihm ab und zu, verborgene Hohlräume, Wasserleitungen, Holzbalken, Risse unter dem Putz, zugemauerte Fenster oder sogar versteckte Durchgänge zu erfühlen. Sein größter Erfolg war die Auffindung der handschriftlichen Haushaltsbücher von Ur–Meister Straif gewesen, jenes von Oberone dreimal gesegneten Mannes, der ein paar Jahrhunderte nach der Dreikönigsschlacht von Hossberg, die den Beginn der dunkelsten Zeit in der Geschichte der Überlebenden Länder markierte, als Leuchtfackel für Zivilisation und Hoffnung den Mönchsstaat von Italmar gegründet und der Legende nach Inet selbst die Schriften des Baruch entrissen und das Licht ihrer Weisheit den Menschen gebracht hatte. Die Livres de comptes des Heiligen hatten für fast ein Jahrtausend unbemerkt in einem versiegelten Bleirohr in einem blinden Kaminschacht der Mönchsburg Süderbal gelegen.

    »AsQ'atak Baruch!«, fluchte Adelf götterlästerlich und erschrak über sich selbst. Das hätte ihm auch sofort einfallen können. Es war zwar nur eine verzweifelte, eine allerletzte Hoffnung, aber er wollte sie nicht unversucht lassen.

    Obwohl er nichts sah, kniff er fest die Augen zusammen, versuchte das Echo der näher kommenden Schritte in seinem Rücken auszublenden und sich allein auf die Wand vor sich zu fokussieren, die er tastend mit beiden Händen berührte. Und er spürte etwas! Hinter der gar nicht mal dicken, nur einen halben Fuß breiten Front, die viel massiver erschien, als sie es tatsächlich war, befand sich ein größerer Hohlraum, vielleicht sogar eine weitere Halle oder zumindest ein Raum, dessen Ausgang zu der Kaverne hin schon vor Ewigkeiten versiegelt worden war. Doch wenn dies eine geschlossene Mauer war – woher kam dann eigentlich das Wasser, das als schmaler Bach zwischen seinen Füßen floss? Er tastete mit seinen Händen hinab und spürte in Kniehöhe eine quadratische Öffnung. Er fasste hinein und schwenkte den Arm dabei hin und her. Konnte ausgerechnet er so viel Glück haben? Der Mauerdurchbruch, durch den das Rinnsal in den Gang lief, schien ursprünglich vergittert gewesen zu sein – wahrscheinlich durch die Rohre, die am Boden lagen – aber inzwischen war er offen und wohl gerade so breit genug, um durch ihn hindurch zu schlüpfen, wenn der magere Mönch seine ohnehin zerrissene Kutte auszog und sich klein machte.

    Allerdings musste er sofort handeln, ein Zögern durfte es nicht geben. Seine Verfolger waren inzwischen fast heran gekommen und das Licht ihrer Lampen fiel bereits um die Ecke in seine Nische. Dadurch konnte Adelf endlich etwas von seiner Umgebung sehen und er erkannte in dem verschwommenen, undeutlichen Dämmern, dass es ihm tatsächlich gelingen konnte, durch das Loch in der dünnen Ziegelmauer in den Raum dahinter zu kriechen, auch wenn die Öffnung sehr, sehr eng war. Hoffentlich waren seine Widersacher alle breitschultrige und fette Kerle in dicken Rüstungen! Gut, dass er selbst durch seine strengen Fastentage und die Fischvergiftung in der letzten Woche nur aus Haut und Knochen bestand.

    Was ihn auch immer dort drinnen erwarten würde – ein Fluchtweg oder eine weitere Sackgasse – er musste diese einzigartige Gelegenheit nutzen, die ihm sein Herr Oberone in seiner Güte schenkte! Adelf zog sich eilig sein Mönchskleid und das Büßerhemd über den Kopf und warf beides durch die Öffnung in den Raum dahinter. Bis auf einen Lendenschurz und seine durchweichten Strohsandalen war er nun nackt. Er kniete nieder, fasste ins Wasser und schmierte sich etwas von dem Schlamm und dem Moos, die sich unter dem Bächlein gebildet hatten, auf die Schultern und die nackten Arme. Dann ging er auf alle Viere und begann, seinen Oberkörper durch den qualvoll engen Durchfluss zu schieben.

    Da die Mauer jetzt immer heller erleuchtet wurde – Adelf blieben nur noch Augenblicke, bis der erste seiner Verfolger um die Ecke biegen würde und er vermeinte schon seinen Atem zu hören –, konnte er dabei flüchtig ein mit weißer Farbe gezeichnetes Symbol an der Wand entdecken. Es waren zwei Dreiecke, die ineinander übergingen und dadurch eine Art von stilisierter Sanduhr bildeten. Der Mönch kannte dieses und ähnliche Zeichen. Es waren Mitteilungen der Diebesgilde von Karukora, mit denen jene an unauffälligen Stellen Türen, Orte und Treffpunkte markierte und über tote Briefkästen Botschaften austauschte. Leider waren die Kontakte zu den Diebesmeistern, die er in den wenigen Wochen, in denen er nun als Diplomat des Mönchsstaats in der Wüstenstadt diente, hatte knüpfen können, nur oberflächlich und er verstand die Kreuze, Dreiecke und Kreise, die überall in der Stadt zu finden waren, nicht zu lesen. Aber dieses Symbol in diesem Kanalrohr erschien ihm als ein hoffnungsvolles Zeichen. Offenbar wurde dieser Durchgang von den Dieben benutzt. Das bedeutete sicher, dass der Raum dahinter zu einem weiteren Ausgang, vielleicht sogar zu einem Weg an die Oberfläche führte. Er würde auf der anderen Seite aufmerksam nach weiteren Markierungen der Gilde suchen müssen.

    Adelf hörte einen überraschten Ausruf hinter sich. Seine Verfolger hatten ihn endlich doch noch erreicht! Und das genau in dem Moment, als er Kopf, Schultern und Arme durch die Öffnung gezwängt hatte, sich wie eine Schlange weiter zu winden versuchte und ihn dabei das verzweifelte Gefühl überfiel, er stecke nun endgültig fest.

    »Pack ihn – schnell!«, rief eine weibliche Stimme. Er erkannte in ihr die Frau, die er kreuz und quer durch Karukora bis in die Unterwelt des Elfenbein–Palasts verfolgt und der er in die Falle gegangen war. Zwei große, grobe Hände versuchten Adelfs Füße zu packen, bekamen ihn aber nicht richtig zu fassen, da diese vom Schlick glitschig waren und der Mönch in seiner beklemmenden Lage verzweifelt mit den Beinen ruderte. Gleichzeitig stemmte er auf der anderen Seite der Wand seine Hände gegen den Putz und drückte sie so fest er konnte nach hinten. Er riss sich zwar die Haut an der Hüfte auf, doch er kam kaum vorwärts.

    »Dann steche ihn eben ab; stell' dich nicht so an!«, sagte die Frau ungeduldig und kalt. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

    »Neptunion, hilf«, schickte Adelf ein Stoßgebet zu einem seiner Götter, der als zuverlässiger Helfer bei allen Arten von Zwangslagen galt und er stemmte sich mit aller Kraft, die ihm geblieben war, weiter. Und tatsächlich: Wie ein Korken aus einer Schaumweinflasche flutschte er endlich durch die Öffnung in den nächsten Raum hinein, ließ dabei allerdings seine Sandalen zurück. Sofort wälzte er sich herum und kam danach auf dem Rücken zu liegen. In der fast vollkommenen Dunkelheit, die nur von dem Licht erhellt wurde, das durch den Durchfluss fiel, tastete er fieberhaft nach einem Gegenstand, den er als Waffe benutzen konnte, falls jemand plante, ihm auf diesem Weg zu folgen. Er traute seiner hartnäckigen Gegnerin, die er jenseits der Mauer schimpfen und wüten hörte, weil er ihr ein weiteres Mal knapp entwischt war, durchaus zu, dass sie – schlank und geschmeidig, wie sie war – sein Kunststück nachmachen konnte. Und schon schob sich eine Hand mit einer Pistole durch die Öffnung, ein schlanker Frauenarm und ein wohlbekannter, in einen nachtblauen Stoff gehüllter Kopf folgte ihm.

    Bei Inets brennendem Schwanz! Er verdoppelte seine Anstrengungen. Hier musste doch irgendein Stein oder noch ein weiteres Eisenrohr am Boden zu finden sein oder etwas anderes, mit dem er sich wehren konnte. Das Haupt seiner Widersacherin drehte sich und nun erblickte sie ihn, ihre Augen blitzten und sie schwenkte die Schusswaffe zu ihm herum.

    Endlich fanden Adelfs suchende Hände etwas, das er im ersten Moment für einen dicken Ast oder ein Stuhlbein hielt. Er ergriff es mit beiden Händen. Sich aufrichtend holte er aus und schlug zuerst mit aller Kraft gegen den Kopf seiner Gegnerin – hoffentlich bekam sie die gleichen Kopfschmerzen wie er, seit er vorhin gegen die Wand gerannt war! – und dann auf die Hand. Seine provisorische Keule zersplitterte dabei wie morsches Holz, aber sie hatte die gewünschte Wirkung: Die Frau schrie und zog sich eilig zurück. Dabei ließ sie die Pistole fallen. Es löste sich zwar noch ein Schuss, aber er verfehlte den Mönch. Adelf schleuderte den Rest seiner Waffe zur Seite und ergriff die Pistole, die nicht in den kleinen Kanal, der den Raum durchfloss, sondern neben ihm in den Staub gefallen war.

    »Dem Nächsten, der seinen Kopf zu mir hereinsteckt, jage ich eine Kugel in den Schädel!« Adelf beugte sich herab und feuerte einmal durch die Öffnung, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Er erwartete nicht, jemanden zu treffen, aber eine Stimme heulte sofort auf, nachdem der laute Schuss verklungen war.

    »Verdammt, er hat mein Bein getroffen«, stöhnte ein Mann. Hektische Geräusche und Fußgescharre waren zu hören, dann wurde es plötzlich drüben still. Adelfs Verfolger schienen sich etwas zurückgezogen zu haben und ihr weiteres Vorgehen zu beraten. Der Mönch zielte weiterhin auf das Loch zu seinen Füßen, aus dem der Lichtschein ihrer Lampen zu ihm hereindrang. Er hatte sich eine kurze Atempause verschafft, die er ausnutzen musste.

    Er sah sich um und versuchte, sich schnell einen Überblick von seiner neuen Umgebung zu schaffen. Seine Augen stellten sich langsam auf die unsichere und unzureichende Beleuchtung ein und er konnte nun einiges von den Dingen um sich herum erkennen. Endlich sah er, was für ein Gegenstand es war, den er gerade als Knüppel missbraucht hatte. Die Entdeckung ließ sein Herz für einen Schlag aussetzen: Es war einer der Oberschenkelknochen eines menschlichen Skeletts gewesen. Der Rest davon saß an eine Wand gelehnt auf dem Boden. Ein makelloser, bleicher Schädel grinste den Mönch aus leeren, schwarzen Augenhöhlen an.

    Diese menschlichen Überreste mussten schon sehr lange hier in diesem muffigen Kellerraum kauern, denn es hatten sich weder Gewebeteile, noch Fetzen der Kleidung erhalten. Doch wie lange sie dort lagen, das vermochten wohl nur Inets Goleme zu sagen, die – wie es im Buch des Baruch hieß – niemals die Sünde eines Menschen vergaßen oder jemals vergaben.

    Wer konnte schon erraten, wie tief die Katakomben unter dem Palast wirklich reichten und welche Dinge dort im Verlauf der Jahrhunderte oder gar Jahrtausende, seit sie existierten, geschehen waren? Vielleicht stand Adelf hier auch in einem Teil der alten Vorgängerstadt Athíni, auf deren Fundamenten Karukora angeblich errichtet worden war. Doch die Einwohner Athínis mussten längst zu Staub zerfallen sein, zerfressen von ihrer Bosheit und jener gewaltigen Hitze, die aktiv gewesen war. Das Skelett war sicherlich jüngeren Ursprungs. Aber das war auch schon alles, was der Mönch davon wusste – er konnte nicht einmal erkennen, ob es einmal ein Mann oder eine Frau gewesen war, auf welche Weise er oder sie ums Leben gekommen war und warum es ausgerechnet hier lag.

    Aber diese Überreste eines einstmals atmenden, fühlenden, wahrscheinlich von seiner Familie und seinen Freunden geliebten Menschen, hatten Adelf eben gerade noch einmal gerettet und ihn in den Besitz einer Schusswaffe gebracht, in der noch vier Kugeln im Lauf steckten. Dankbar schickte der gläubige Mönch ein kurzes Stoßgebet zu seinem höchsten Gott Oberone, der die Seelen der Toten bewahrt, bis sie am nicht mehr allzu fernen Tag von Mánis Rückkehr wie aus einem tiefen Schlaf wieder zum Leben erwachen. Adelf konnte erneut die Hoffnung schöpfen, heil aus diesem Labyrinth zu entkommen. Der notorische Pechvogel konnte sein Glück kaum fassen. Er, dem nie etwas gelang, dessen Pläne immer scheiterten und den das Schicksal so oft und so hart geprüft hatte, überlebte heute schon zum zweiten Mal durch einen günstigen Zufall. Ein rutschiger Boden und ein von Ratten abgenagter Knochen hatten ihn vor dem sicheren Tod bewahrt. Bedeutete dies endlich die lang ersehnte Wende in einem Leben? Er mochte diesen Gedanken kaum festhalten, so frevlerisch erschien er ihm.

    Im Kanal auf der anderen Seite der Mauer tat sich wieder etwas und Adelf fasste den Griff seiner eroberten Pistole fester. Sollten sie nur kommen! Er fragte sich zusammenhanglos, wie er wohl im Augenblick auf einen Unbeteiligten wirken musste – stinkend, halbnackt und dreckig, die Hüfte und beide Oberschenkel aufgekratzt und aus einer Wunde am Schädel blutend – wie er mit irrem Blick mit seiner Waffe auf ein nicht vorhandenes Ziel deutete. Er nahm sich vor, falls er es lebendig hier wieder heraus schaffte, dann würde er einen ganzen Tag in der Badewanne verbringen. Und dann vielleicht noch einen.

    »Mönch! Komm endlich wieder raus aus deinem Loch, in das du dich wie ein verletzter Fuchs verkrochen hast. Wir wissen, dass du von dort nicht weiter kommst«,

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