Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Schlag doch zu! Autobiografie: Pubertätserscheinungen
Schlag doch zu! Autobiografie: Pubertätserscheinungen
Schlag doch zu! Autobiografie: Pubertätserscheinungen
Ebook864 pages12 hours

Schlag doch zu! Autobiografie: Pubertätserscheinungen

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Der Alltag eines Hauptschullehrers ist geprägt von unschönen Erlebnissen wie aggressives Verhalten von Jugendlichen aber auch schönen Erlebnissen beim Erfolg in der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Besonders nervig aber kann es sein, wenn Lehrerinnen und Lehrer ein Pädagogik Verständnis haben, was mit den Idealen dieses Berufes nichts zu tun hat. Dieser Kampf wird treffend und anschaulich dargestellt, wobei der Autor immer wieder Bezüge herstellt zu seiner eigenen Jugend, die in Kriegsjahren und Nachkriegszeit natürlich geprägt war von anderen Alltagssorgen aber auch schönen Erlebnissen, auf die der Leser gespannt sein darf.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateDec 9, 2016
ISBN9783738095890
Schlag doch zu! Autobiografie: Pubertätserscheinungen

Related to Schlag doch zu! Autobiografie

Related ebooks

General Fiction For You

View More

Related articles

Reviews for Schlag doch zu! Autobiografie

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Schlag doch zu! Autobiografie - Harald Fiori

    Schlag doch zu!

    Pubertätserscheinungen

    Harald W. Fiori

    Roman

    Prolog

    Als Lehrer, besonders als Idealist unter den Lehrern, habe ich das unbestimmte, sehr stark drängende Gefühl, mich innerlich und äußerlich pausenlos und ständig für meinen Beruf und meine Tätigkeiten entschuldigen zu müssen.

    Kaum treffe ich nachmittags jemanden aus der Nachbarschaft, höre ich schon die besorgte, hämische bis sensationslüsterne Frage: „Wie geht’s denn Herr Fiori? Alles in Ordnung? Ist ja nicht einfach in Ihrem Beruf. Haben Sie schon frei? Ach ja, es ist ja schon Nachmittag. Da sind Sie bestimmt froh, dass Sie sich jetzt entspannen können. Mein Mann kommt heute Abend wieder später nach Hause, muss ständig Überstunden machen."

    Und da ist es dann, das lächerliche Minderwertigkeitsgefühl, das absolut schlechte Gewissen, der Wunsch zu erklären, dass ich keineswegs frei habe nun, dass ich eigentlich nur deshalb so unverschämt bin, schon nachmittags einkaufen zu gehen, weil ich blöderweise ausgerechnet heute Nachmittag neue Tinte brauche.

    Natürlich brauche ich nicht immer neue Tinte. Dann käme die Entschuldigung leichter und flüssiger über die Lippen. Es kann nämlich sein, dass ich wirklich Lebensmittel einkaufe, weil meine Frau, aus welchen Gründen auch immer, gerade dazu nicht gekommen ist. Ja, es ist sogar möglich, dass ich darum gebeten habe, einkaufen zu gehen, weil ich einfach mal etwas anderes tun möchte, als meinem Beruf nachzugehen. Leider kann ich eine Antwort nicht runterschlucken, und schon ist sie da, die Entschuldigung, die Rechtfertigung:

    „Leider habe ich auch noch keinen Feierabend, zweiunddreißig Aufsätze liegen zu Hause und warten auf Korrektur." Si tacuisses, Philosophus mansisses, ‚Wenn du doch geschwiegen hättest, wärest du ein kluger Mann geblieben’. Hätte ich doch nur geschwiegen.

    „Ach ja, meine Tochter wartet oft mehrere Monate lang darauf, dass eine Arbeit benotet und zurückgegeben wird. Der Lehrer hat immer andere Gründe, warum er mit der Korrektur noch nicht fertig geworden ist. Aber nun muss ich weiter, soviel Zeit habe ich nicht, auch wenn ich nur Hausfrau bin."

    War das schon wieder eine Spitze?

    Noch schlimmer ist es aber, als Lehrer vormittags schon beim Einkauf erwischt zu werden, weil der Stundenplan einmal in der Woche ausnahmsweise erst um 11.00 Uhr beginnt. Dann begegne ich mit absoluter Sicherheit nicht nur einer Nachbarin, meistens treffe ich alle, die ich kenne, als hätten sie sich verabredet. Und dann wird’s so richtig nett.

    Die Stimmen der Damen triefen geradezu vor Freundlichkeit: „Sind Sie krank, Herr Fiori? Ist irgendetwas nicht in Ordnung? Wie geht’s Ihrer Frau? Haben Sie schon frei?"

    Das „Kümmern Sie sich doch um Ihren eigenen Scheiß! schluckte ich tapfer hinunter, um zum wievielten Male heraus zu trompeten, dass ich ausnahmsweise an diesem Morgen erst um 11.00 Uhr zur Schule muss. Und wieder der Drang zur Rechtfertigung: „Dafür habe ich aber auch heute Nachmittag noch Unterricht bis 16.00 Uhr. Warum nur ist mir das nun wieder rausgerutscht? Hätte ich doch nur geschwiegen, fühlte ich mich weniger vorgeführt.

    Die Antworten gleichen sich irgendwie alle: „Mein Mann kommt immer erst um 19.00 Uhr, er geht auch jeden Morgen um 7.30 Uhr aus dem Haus." Ich sollte mich wirklich schämen, ich Nichtstuer!

    Schließlich ist doch jedem bekannt, dass Lehrer geboren werden, zur Schule gehen und eine gute Pension oder Rente erhalten, unmittelbar nach dem Schulbesuch, versteht sich.

    Etwas weniger bekannt ist die Rechnung, dass Lehrer so gut wie gar nicht arbeiten, also nur frei haben im Laufe eines Jahres:„ Ein Jahr hat bekanntlich 365 Tage, alle vier Jahre 366. Mit 366 lässt sich besser rechnen. Denn Lehrer arbeiten, das ist wirklich jedem geläufig, nur halbe Tage, also arbeiten sie im Jahr nur 183 Tage. Im Durchschnitt eines jeden Jahres haben Lehrer 53 Tage Ferien, so dass noch 130 Arbeitstage bleiben, aber es gibt natürlich noch 52 Wochenenden, an denen keine Schule ist, so dass noch einmal 104 Tage abgezogen werden müssen, bleiben 26 Arbeitstage, von denen selbstverständlich noch die Feiertage abgezogen werden müssen, das sind pro Jahr durchschnittlich 10, es bleiben ganze 16 Arbeitstage, von denen der Tag für den Kollegiumsausflug abzuziehen wäre, und schließlich feiert jede Lehrperson im Durchschnitt etwa 15 Tage krank im Jahr. Eigentlich hat man es immer schon gewusst: Lehrer arbeiten absolut nicht einen einzigen Tag im Jahr, was zu beweisen war."

    Bei soviel Bestätigung für die offensichtlich angeborene Faulheit von Lehrern sollte man nun annehmen, dass Lehrer wenigstens untereinander sich sehr kollegial verhalten und natürlich wissen, wie fleißig sie in Wirklichkeit sind. Wieder weit gefehlt. Der einzige wirklich fleißige Lehrer bin nur immer ich ganz allein. Und das behauptet schlichtweg jede Lehrerin und jeder Lehrer von sich. Die Kolleginnen und Kollegen, na ja, sprechen wir lieber nicht darüber. Man schaue sich nur den Stundenplan genau an: „Herr Fiori, aus welchem Grunde haben Sie eigentlich nur drei Springstunden in Ihrem Plan? Müssten Sie nicht wegen Ihrer Sonderstunde als Beratungslehrer noch eine Stunde mehr im Schulgebäude sein? Sie haben doch für diese Tätigkeit schon zwei Stunden weniger zu unterrichten!?!" Und wieder, selbst hier im vertrauten Kollegenkreis überkommt mich das gewohnte, nicht mehr aus meinem Leben wegzudenkende Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Oder sollte ich lieber antworten:

    „Ach, liebe Kollegin, Sie können ja gerne die Ausbildung zum Beratungslehrer absolvieren und mich danach ablösen! Was sage ich aber tatsächlich: „Ach, wissen Sie, Frau Kollegin, im Augenblick habe ich soviel mit Beratung zu tun, dass ich schon weit mehr Stunden damit verbringe als ich an Ermäßigung erhalte. Allein die Schülerin ..... . Lerne ich es denn nie? Schweigen ist Gold!

    „Ja, ja, damit haben wir doch alle unser Kratzen, oder meinen Sie, ich würde meine Schülerinnen und Schüler nicht beraten!?!"

    Das hat wieder mal gesessen. Soll ich etwas erklären, mich rechtfertigen? Ich glaube ich resigniere einfach und erzähle, wie ein fauler Lehrer auf die Welt kommt und eben ein wirklich fauler Lehrer wird.

    Beinahe hätte ich die Hauptpersonen vergessen im Leben eines Lehrers, oder die, die Hauptpersonen sein sollten, wenigsten meiner Meinung nach: „Die lieben oder nicht immer lieben Schülerinnen und Schüler."

    Solange ich als Lehrer tätig war, war ich bei den Schülerinnen und Schülern immer sehr beliebt, was bedeutet, dass ich eigentlich mit meiner Berufstätigkeit sehr zufrieden sein könnte, da ich meiner Meinung nach diese Beliebtheit erworben habe durch besonderen Fleiß ( wie bereits oben angemerkt!) und besonderen Einsatz für die Belange der Schülerinnen und Schüler. Außer der Tatsache, dass diese Aussage sehr nach Eigenlob stinkt, klingt sie gleichzeitig auch ein wenig nach Rechtfertigung und nach Entschuldigung, diesem ständigen Begleitphänomen in meinem Leben.

    Denn auch bei den Kindern, die ich zu betreuen hatte, kam es immer wieder vor, dass ich mich entschuldigen musste: dafür, dass die Arbeit noch nicht benotet war, dafür, dass einige andere Lehrer zu streng waren in den Augen der Kinder, dafür, dass es trotz großer Hitze keine Stunde Hitzefrei gab, dafür, dass ich wegen eines dringenden Gespräches mit einer Mutter oder mit einem Vater drei Minuten zu spät in den Unterricht kam, dafür, dass ich nun wirklich die lange angekündigte Klassenarbeit schreiben ließ, obwohl doch die armen Kinder aus mancherlei Gründen gerade in dieser Unterrichtsstunde eigentlich gar nicht dazu in der Lage waren, dafür, dass ich überhaupt da war und nicht wegen meiner Erkältung oder wegen meiner unerträglichen Rückenschmerzen oder wegen des hohen Fiebers zu Hause geblieben war, wie die Kinder gehofft hatten, dafür, dass ich eine schlechte Arbeit tatsächlich schlecht benoten musste, und so ließe sich diese Liste endlos fortsetzen.

    Entschuldigt bitte, dass ich geboren bin!!!

    Lehrer werden geboren

    Geburtstag, 02. Februar 1941: Ein Kriegskind

    Zur Zeit meiner Geburt wohnten meine Eltern mit meiner Schwester Ursula, die schon sechs Jahre alt war, in Essen, im Ortsteil Margarethenhöhe , Im Stillen Winkel 40.

    Diese Wohnung in der ersten Etage auf der rechten Seite des Hauses hatten meine Eltern bekommen, nachdem meine Mutter herzzerreißend beim Verwaltungsdirektor darum gebettelt hatte, wie sie mir oft erzählte, weil sie so sehr verliebt war darin, kaum dass mit dem Neubau begonnen worden war..

    Hinter dem Haus gab es einen Garten, der in insgesamt vier Abschnitte aufgeteilt war, für jeden Mieter einen. Der Gartenabschnitt, der zur Wohnung meiner Eltern gehörte, grünte und blühte seitlich neben dem Haus, freundlich strahlte ein weißer Lattenzaun anmutig zur Straße hin, der den Garten von der Straße abtrennte. Heute erinnert daran nur noch ein Bild, das meine Schwester und mich beim Spiel vor diesem Zaun zeigt. Denn nach dem Krieg wurde das Haus leicht umgebaut und statt des Gartens eine Garagenanlage hinter dem Haus eingerichtet, um der vielen Autos des Nachkriegswunders Herr zu werden.

    Über zwei Treppenabsätze gelangte man zur Wohnungstür in der ersten Etage. Von dort ging es zunächst in einen Korridor oder Flur, von dem aus sich die Zimmertüren der einzelnen Räume links und rechts erstreckten.

    Mittelpunkt der Wohnung war das Wohnzimmer. Dort thronte als Blickfang an der Wand ein majestätisch aussehendes, sogenanntes Büffet, ein Wohnzimmerschrank aus glänzendem rotbraunem Nussbaumholz. Es schaute freundlich von der langen Zimmerwand herab und erinnerte mich immer an eine Mutter, die lieb und sorgend in das Zimmer blickt.

    Dieses Büffet war der Stolz der Familie. Es bestand aus insgesamt drei Teilen. Der etwa 2,20 m breite und 1.20 m tiefe Unterschrank stand auf runden Füßen und war mit einer etwa zehn Zentimeter breiten massiven Leiste unten an den Seiten und der Vorderfront eingefasst. Beide Türen waren reich verziert mit plastischen Blumen und Rankenornamenten, abgedeckt war dieser Unterschrank mit einer massiven Platte, die über den Schrankkorpus genau so weit herausragte, wie die Unterleiste. Als besonders moderner Clou befand sich zwischen zwei Schubladen und der Abdeckplatte eine herausziehbare drei Zentimeter starke Arbeitsplatte, mit zwei runden Knöpfen links und rechts zum Herausziehen.

    Über diesem Unterschrank, der etwa einen Meter hoch war, erhob sich ein, auf zwei runden, gedrechselten etwa dreißig Zentimeter hohen Zierpfosten stehendes Oberteil, das hinten von einem Abschlussbrett gehalten wurde. Dieses Oberteil war insgesamt genau so hoch wie der Unterschrank und bestand aus einem mittleren schmalen Schrankteil mit zwei ebenso reich verzierten Türen, wie sie auch der Unterschrank aufwies.. Zu beiden Seiten dieses Mittelschrankteils befanden sich zwei kleine Schrankfächer, die etwa vierzig Zentimeter hoch waren und dreißig Zentimeter tief, wie auch der Mittelschrank, und dreißig Zentimeter breit.

    Die beiden Seitenteile schauten wie seitlich stehende Augen mit ihren grünen Gläsern in das Zimmer. Verschlossen wurden sie mit Türen mit einer grünen Bleiverglasung. Auf diesem prunkvollen, gediegenen Möbelstück ruhten auf der Unterschrankplatte echte Kristallschalen und Kristallvasen, ebenfalls reich mit eingeschliffenen Ornamenten verziert.

    Vom ersten Tag meines Lebens an, besser von dem Tage an, als ich lernte, meine Umgebung bewusst wahrzunehmen, war ich in dieses Büffet verliebt. Es war für mich der Inbegriff des gemütlichen Familienlebens, das ich auf jeden Fall einmal erben wollte, wenn es denn so weit wäre.

    Dass sich im oberen Teil des Schrankes das so genannte gute Geschirr verbarg, sei auch erwähnt. Es bestand aus hauchdünnem Porzellan, mit rotbraunen Zeichnungen, die an Beeren oder Kleeblüten erinnerten. Angeblich sollte aus diesem Kaffee-Geschirr der Kaiser selbst getrunken haben. Das war bei einer gutbürgerlichen Familie wohl auch nicht anders zu erwarten.

    Zu zwölf Tassen, Desserttellern und Untertassen gehörten eine Kaffeekanne, eine Teekanne, ein Milchkännchen und eine Zuckerdose mit Deckel.

    Im Unterschrank befand sich das gute Ess-Geschirr, mit Goldrand verziert, bestehend aus zwölf Suppentellern, zwölf flachen Tellern, zwei Schüsseln, einer Sauciere und vier Vorlege-Tellern. Natürlich war der Goldrand echt, wie es sich für eine Familie unseres Standes gehörte.

    Zum Büffet gehörte in gleichem Holz eingefasst ein etwa mannshoher Spiegel, der immer in der Diele bzw. im Flur von der Wand herab dem Eintretenden sein eigenes Bild in voller Größe zeigte.

    Passend zu diesem Büffet gab es ein so genanntes Nähschränkchen, das nicht nur aus dem gleichen Holz bestand, sondern auch ebenso reich verziert war. Es war etwa siebzig Zentimeter breit und lang und besaß einen schweren Deckel, den man nach hinten aufklappen konnte. Drinnen bot es, mit rotem Samt und roten Satin ausgeschlagen, Platz für diverses Nähzeug, das eine tüchtige Hausfrau wohl damals häufig in Mußestunden im Wohnzimmer benutzen sollte.

    Schwer und gediegen stellten sich auch die Polstermöbel im Wohnzimmer dar, ein Sofa mit Platz für vier Personen, zwei kleine Sessel und ein ganz hoher Sessel, dessen Besonderheit darin bestand, zwei nach innen gestellte Ohren am oberen Ende der Lehne zu besitzen, weshalb er von der Familie immer nur ehrfürchtig „der Ohrensessel" genannt wurde. Dieser Sessel war der Lieblingsplatz meiner Mutter, die sich darin räkeln konnte, wie sie mochte. Allerdings sah ich sie nie nähend darin sitzen, weshalb auch das Nähtischchen im Wohnzimmer eigentlich an Bedeutung verlor. Meine Mutter konnte nicht nähen, sagte sie jedenfalls immer. Außerdem sei ihr diese Arbeit verhasst.

    Alle Polstermöbel waren mit rotbraunem Plüsch bezogen, reich gemustert, ähnlich wie die dunklen Holzmöbel. Vor dem Ohrensessel stand immer eine gepolsterte mit dem gleichen Plüsch bezogene Fußbank, so dass man im Sessel sitzend auch noch seine Bein ausstrecken und hoch legen konnte.

    Besonders zu erwähnen ist noch ein Blumen- oder Abstelltisch, etwa 1,30 Meter hoch, kreisrund mit einem Durchmesser von etwa dreißig Zentimetern. Das besondere an diesem Tisch war einmal das Wurzelholz, aus dem der Tisch bestand und zweitens die Intarsien, ein Blumen-, Orchideen-Ornament, in dem Tischrund. Alle Möbel zeugten von gutbürgerlichem Wohlstand oder gar Reichtum.

    Ähnlich gediegen wie das Wohnzimmer war auch das Schlafzimmer, furniert mit echter rustikaler Eiche, ebenfalls einem Inbegriff des Wohlstands in diesen Jahren. Es bestand aus einem dreitürigen hohen Kleiderschrank, dessen mittlere Tür einen Spiegel enthielt, was für die damalige Zeit etwas Besonderes war. Neben den beiden schweren, zwei Meter langen Ehebetten standen rechts und links Nachtschränkchen, die eine Tür und eine Schublade enthielten. Hinter der Tür des einen Schränkchen verbarg sich ein Nachttopf. An einer freien Wand glänzte eine Frisierkommode mit drei Schubladen und einem ovalen Spiegel. Auf der Kommodenfläche sah man eine mit goldenen Pflanzen bemalte Wasserkanne in einer Porzellanschüssel stehen, offensichtlich als Waschplatz bestimmt in Zimmern ohne fließendes Wasser.

    Die relativ kleine Küche beherbergte einen zweiteiligen Küchenschrank aus echtem Kiefernholz, dazu passend bedeckte die gegenüberliegende Wand ein einteiliger Schrank, auch Sideboard genannt, in denen sich alle sonstigen Töpfe, Pfannen und Geschirr, Bestecke und Küchenutensilien befanden, die in kleinem Haushalt fehlen dürfen. In der Mitte der Küche stand ein Tisch, ebenfalls aus Kiefernholz, jedoch in der Tischplatte ausgelegt mit einem robusten grün melierten Kunststoffbelag für diverse Arbeiten mit Messern oder anderen scharfen Gegenständen, natürlich leicht zu reinigen. Zwei dazu passende Küchenstühle luden zum Sitzen ein, obwohl es in unserer gutbürgerlichen Familie streng verpönt war, in der Küche zu essen oder sich auch nur niederzulassen, um zu plaudern. Dafür war ausschließlich das Wohnzimmer vorgesehen in Ermangelung eines gesonderten Speisezimmers, was eigentlich standesgemäß hätte vorhanden sein müssen. Außer Mutti werkelte nur das Pflichtjahrmädel in der Küche, das auch häufig für die Versorgung und Betreuung des kleinen Erdenbürgers und seiner Schwester eingespannt wurde.

    Alle diese besonders feinen Möbel waren beschafft worden aus der Mitgift meiner Mutter, die sehr reichlich ausgefallen sein musste. Vati selbst konnte als Sohn eines gehobenen Beamten keineswegs solche Reichtümer der jungen Ehe beisteuern.

    Dass er von der gutbürgerlichen Dynastie der Familie meiner Mutter überhaupt als Schwiegersohn akzeptiert worden war, hatte er nur der Tatsache zu verdanken, dass sein Vater als ein gehobener Postbeamter, ganz offensichtlich auch als dem gleichen Stande zugehörig anerkannt wurde. Er selber hatte allerdings ebenfalls einen recht guten und vor allen Dingen sehr höflichen und bescheidenen Eindruck gemacht und hatte eben mit seiner Schulbildung den strengen Auswahlkriterien der Familie standgehalten.

    Etwas weniger feudal ausgestattet war unser Kinderzimmer, das außer einem Bett für meine Schwester auch das Paidi-Kinderbettchen für mich beherbergte neben einem kleinen Kleiderschrank und zwei kleinen Kommoden.

    Dass es ein Paidi-Bett war, erwähnte meine Mutter immer wieder, weil diese Marke damals wohl als besonders wertvoll und auch teuer und solide galt.

    Im Kinderzimmer konnten wir außerdem ein Kinderstühlchen benutzen, mit am Boden entlanglaufenden Leisten mit einem Tischteil verbunden. Die Lehnen des Stuhles waren rund gebogen, die Tischplatte etwa sechzig Zentimeter im Quadrat. Das ganze Möbelstück war extrem niedrig, eben nur für kleine Kinder bis etwa sechs Jahren geeignet.

    Zur Wohnung gehörte dann noch eine Mansarde, die als Gästezimmer eingerichtet worden war.

    Sie spielte nur deshalb eine Rolle in den Erzählungen meiner Mutter, weil dort Opa Fiori residierte, wenn er uns besuchte.

    Opa Fiori war etwas ganz Besonderes, schon deshalb, weil er entgegen dem damaligen Trend tatsächlich den Kinderwagen seines Enkelkindes Harald schob, was zu der Zeit wohl sonst kein Mann tat, weil es als unmännlich galt.

    Am Tage vor meiner Geburt, Samstag, dem 01. Februar 1941, hatte mein Vater Wochenend-Urlaub bekommen, der später als richtiger Urlaub verlängert wurde, so dass er meine Schwester beaufsichtigen konnte während des Krankenhausaufenthaltes meiner Mutter.

    Vati, wie er von meiner Schwester und später auch von mir genannt wurde, war als Soldat in Holland stationiert und dort wohl in irgend einer Schreibstube tätig. Laut Aussagen meiner Mutter war er Offizier, laut seinen eigenen Aussagen Fähnrich.

    Auf den wenigen vorhandenen Fotografien aus jener Zeit ist zu erkennen, dass er auf den Schulterstücken den Dienstrang eines Unteroffiziers trug. Nicht zu erkennen ist auf dem Ärmel der Uniform, ob ein Sternchen darauf hindeutet, dass er tatsächlich Offiziersanwärter war wegen seiner Schulbildung, der so genannten Primareife , von der er später häufiger sprach. Aber selbstverständlich hätte es nicht zur guten Bürgerlichkeit gepasst, wenn mein Vater tatsächlich „nur" Unteroffizier gewesen wäre.

    Das weltbewegende Ereignis meiner Geburt hatte so sehr wenig Weltbewegendes, dass es überhaupt nicht erwähnt wird in Geschichtsbüchern oder sonstiger Literatur.

    Man stelle sich vor, ein so wichtiger Mensch wie ein Lehrer wird geboren, und niemand weiß das. Selbst ich hatte keine Ahnung davon. Nicht nur davon, dass ich Lehrer werden würde, nicht einmal von meiner Geburt. Eigentlich ist das ein schier unglaubliches Phänomen, dass ein Mensch vom eigentlich wichtigsten Ereignis in seinem Leben aus eigener Erinnerung nichts weiß. Alles lernt er später kennen aus Erzählungen anderer, was mit der Geburt und den ersten Lebenstagen im Zusammenhang steht. Hätte ich Erinnerungen an meine Geburt, könnte ich wohl Folgendes erzählen:

    Wohlgeborgen schwimme ich hier in warmer Flüssigkeit, von Liebe umgeben. Doch was ist das!?! Was stößt hier so entsetzlich? Warum wird mein Kopf nach unten gedrückt? Hilfe, Hilfe, nun verschwindet auch noch das wohltuende Bad um mich herum! Gott sei Dank ist es noch warm, aber viel trockener. Hört doch auf zu drücken! Das ist ja fürchterlich aufregend! Ah, nun werde ich ruhiger! Aber nein, ihr wollt mich doch nicht dort Kaputtdrücken! Was soll das? Hier ist kein Platz für meinen Kopf! Hilfe, Hilfe, Hilfe! Mein Kopf wird zerquetscht. Aus, nein wie kalt! Ich falle, nein ich stürze! Nichts hält mich auf, warum werde ich nicht gehalten? Ich stürze, ich stürze! Hilfe! Doch nun hält mich was, es tut weh. Was ist das für ein Geräusch oder was merke ich da? Ah, nun werde ich gehalten, etwas Wärme umgibt mich. Endlich! Wo bin ich? Was bin ich?"

    Mutti hat an den Geburtsvorgang leicht andere Erinnerungen.

    Der erste oder zweite Februar 1941 war weder weltgeschichtlich noch heimatgeschichtlich von irgendwelcher besonderen Bedeutung. Sicher, man weiß, dass dieses Jahr ein Kriegsjahr war, noch das zweite Kriegsjahr, um genau zu sein. Man weiß vielleicht auch, dass zu diesem Zeitpunkt die deutsche glorreiche Armee auf dem Vormarsch war, zumindest verkündeten die deutschen Medien, hauptsächlich der Volksempfänger, mit dem alle Familien ausgestattet waren, auch gutbürgerliche, genau immer wieder dieses. „Die deutschen Truppen erringen Siege an allen Fronten."

    Dabei wurden auch lobend die Vormärsche der Verbündeten, der Italiener und der Japaner, erwähnt, die Gebiete eroberten, von denen man in Deutschland nur Kenntnisse hatte, wenn man ein gebildeter Mensch war und gut im Geographieunterricht aufgepasst hatte.

    Aber alles Übrige war schon etwas wenig erwähnenswert. Man merkte auch in Deutschland nicht so sehr viel davon, dass Krieg war, obwohl man sich schon wundern musste, dass es nicht immer alles zu kaufen gab, was man früher in Friedenszeiten bekommen konnte.

    Es ist ein eigentümliches Phänomen des Krieges, dass die Sieger im eigenen Land niemals hören, welches Leid angerichtet wird, sondern nur, welche Erfolge errungen werden. Wenn es Tote zu beklagen gibt, sind die Gefallenen des Siegerlandes allemal Helden, während Gefallene des Verlierervolkes arme irregeleitete Schweine sind, denen man eigentlich den Tod nicht gegönnt hat. Manchmal sind feindliche Soldaten auch Bestien in Menschengestalt.

    Was also gab es noch am ersten Februar 1941?

    Das Radio verkündete laut und eindringlich:

    „Bei den Ski-Weltmeisterschaften im italienischen Cortina d’Ampezzo ist deutsche Mannschaft die erfolgreichste der Welt.

    Immer noch erfolgreich ist der Vormarsch der glorreichen deutschen Armee, ob in Italien, in der Sahara oder im Süden Argentiniens unserem Flugstützpunkt auf Feuerland! Sieg Heil den deutschen Truppenverbänden!"

    Dass sportliche Weltmeisterschaften ausgefochten wurden in diesen Kriegstagen, die nun schon fast zwei Jahre dauerten, wunderte mich immer wieder. Offenbar lebte man in Deutschland wirklich unbehelligt vom Krieg, nur die jungen Väter waren eben nicht zu Hause.

    Der Krieg fand woanders statt!

    Die Not und das Elend, das deutsche und italienische Truppen in das übrige Europa brachten, sogar nach Nordafrika und in den Vorderen Orient, betraf nicht die Menschen in der deutschen Heimat, die davon auch nichts hörten, sondern nur von den phantastischen Erfolgen der Verbündeten in einem Krieg, der nach Darstellung der Machthaber dem deutschen Volk aufgezwungen worden war.

    Natürlich wurde auch meine Geburt in der Zeitung erwähnt, nämlich wie vor allem bei gutbürgerlichen Familien üblich in der Zeitung unter Geburtsanzeigen. Dort stand zu lesen:

    Harald = Walter

    Ursel hat ein strammes Brüderchen bekommen.

    Dieses zeigen hocherfreut an

    Walter Fiori und Frau

    Margarete geb. Leggewie

    Essen, den 2. Februar 1941

    Im Stillen Winkel 40 z. Zt. Huyssensstift

    Mein Vater war nicht in der Partei, wie er immer wieder betonte, später. Er war in Holland stationiert während der ganzen Zeit bis zum Ende 1945. Dort war er in irgend einer Schreibstube, was nicht verwunderte bei seinem Beruf.

    Am Samstag, dem 1. Februar 1941 war er jedenfalls zu Hause, obwohl Mutti immer gehofft hatte, ich wäre erst am 19. Februar, an ihrem eigenen vierzigsten Geburtstag zur Welt gekommen.

    In der Nacht zum Sonntag, dem 2. Februar 1941, war es dann soweit. Meine Geburt kündigte sich mit aller Macht an. Noch am Nachmittag durfte Ursel, meine Schwester, auf Muttis Bauch fühlen, wie ich mich bewegte. Aber nachts waren nur noch Mutti und Vati allein im Schlafzimmer.

    Um drei Uhr in der Frühe wurde Mutti sehr unruhig. Sie konnte nicht mehr schlafen. Plötzlich spürte sie einen kleinen Ruck im Unterleib, das Fruchtwasser ging ab. Vati stand auf und bestellte ein Taxi.

    Auch das kam mir immer sehr eigentümlich vor, dass man mitten im Krieg ohne Probleme ein Taxi bestellen konnte.

    Alle Taschen waren gepackt, Mutti konnte allein die Treppen hinuntergehen, nachdem der Taxifahrer geschellt hatte. Vati trug die Taschen. Ursel schlief, Opa Fiori war zu Besuch da, er wurde geweckt, damit er auf Ursel aufpassen konnte.

    Das Krankenhaus, das uns aufnahm, hieß Huyssensstift, ein damals ziemlich neues und recht modernes Haus. Mit der Geburt ging es sehr schnell. Vati wurde sofort nach Hause geschickt, nachdem er seine Frau abgeliefert hatte, und fuhr mit dem gleichen Taxi wieder zurück.

    Damals war es noch nicht üblich, dass Väter im Kreißsaal zusehen und tröstend das Händchen der Angetrauten halten durften bei der Geburt. Meine Mutter lag schneller im Kreißsaal, als sie selbst es beschreiben konnte. Dort bekam sie dann ein Pfeifchen, wie sie erzählte.

    Bis zur Geburt meiner eigenen Kinder konnte ich mir darunter nichts vorstellen, hatte aber das unbestimmte Gefühl, dass es der Mutter irgendwie half, über die Schmerzen der Geburt hinwegzukommen oder das Pressen zu erleichtern.

    Danach war alles gekommen wie im Sturzflug. Mutti hatte kaum gespürt, dass die einsetzenden Presswehen sehr rasant dafür sorgten, dass zuerst das Köpfchen aus dem Geburtskanal herausschaute und schon mit einer weiteren Presswehe der Körper des Säuglings herausschoss.

    Eine stark entwickelte Akro-Phobie meinerseits könnte vielleicht mit diesem Geburtsvorgang erklärt werden.

    Im Familienstammbuch auf der Seite 7 liest sich der Vorgang so:

    Zweites Kind:

    Geburtsregister Nr. 202 des Jahres 1941 G

    Geburtsschein.

    Vornamen und Familienname: ---------------------------------------------------------------

    ------------------------Harald Walter Fiori----------------------------

    geboren am 2 ten Februar-------------------------1941

    in Essen-------------------------------------------------------

    ---------------------Essen am 5. Februar-----------1 941

    Der Standesbeamte

    In Vertretung

    Das runde Siegel mit den runenähnlichen Worteinträgen Standesamt in Essen ziert mittig ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen, an dessen unterem Ende, also am Schwanz ein Kreis zu sehen ist mit einem Hakenkreuz in der Mitte des kleinen Kreises.

    Unleserliche Unterschrift

    Es ergibt sich die Frage, ob das Hakenkreuz, wie ich es interpretiert habe, tatsächlich unten in die Schwanzspitze gehört. Aus heutiger Sicht der deutschen Geschichte hätte es dort am besten seinen Platz gehabt und wäre von der deutschen Bevölkerung nie beachtet worden.

    Wann immer ein religiöses Zeichen oder religiöse Rituale und Gepflogenheiten zum Missbrauch herangezogen werden, sollten die Menschen aufschreien und den Missbrauch ablehnen, damit Diktaturen, ganz gleich welcher Art, sich nicht über angeborene Menschenrechte hinwegsetzen können, mit den Symbolen , die von Menschen verehrt werden oder wurden.

    Darunter ist eingetragen, dass ich am 9. Februar 1941 in der St. Hubertus-Pfarre (Huyssensstift) zu Essen getauft wurde.

    Darunter ein Siegel der Pfarrkirche.

    Wie viele Eindrücke stürmen auf ein Kind ein, wenn es gerade zur Welt gekommen ist. Nichts ist mehr so warm und mummelig wie vor der Geburt. Warum bin ich nur so allein? Was schreit da dauernd? Bin ich das etwa selbst? Es ist so grell! Nein da kommt etwas. Am besten mache ich mal meinen Mund ganz klein und meine Augen ganz groß! Ah, da werde ich mollig und warm angelegt! Wie herrlich! Ich spüre heimeliges Herzklopfen! Etwas spricht beruhigend mit mir. Diese Stimme klingt schön, beruhigend, lieb und anheimelnd. Warme Haut!"

    „Warum trinkt der Junge denn nicht, Schwester? Er muss doch trinken!" fragte bang meine Mutter, während sie vergeblich versuchte, mich anzulegen.

    „Der hat die ganze Zeit geschrieen, jetzt ist er zu müde zum Trinken", lautete die Antwort.

    „Aber ich habe doch so viel Milch, Schwester, was soll ich denn damit machen. Wohin nur mit der ganzen Milch?" klagte Mutti.

    Das Abpumpen war nicht gerade sehr angenehm gewesen, aber Bübchen, wie ich fortan genannt wurde, wollte einfach nicht trinken.

    Traute, meine Tante Traute, Muttis beste Freundin, wurde um Rat gefragt, immerhin hatte sie bereits am 5. Dezember ein süßes kleines Mädchen zur Welt gebracht, viel süßer und hübscher als der hässliche Glatzkopf, der in Muttis Armen lag, mit seinem Stiernacken, wie Oma Fiori gesagt hatte,

    „Wie entsetzlich, ein Stiernacken! Hoffentlich behält Oma nicht recht, hoffentlich wächst sich das wieder aus. Männer mit Stiernacken sind etwas Unangenehmes, etwas Hässliches!"

    Tante Trautes Ratschläge trösteten wenig: „Das gibt sich, wenn ihr erst einmal zu Hause seid. Vielleicht ist der Junge ja auch nicht ganz normal, du solltest zum Kinderarzt gehen, sobald du wieder zu Hause bist!"

    Doch das war nicht die einzige Schwierigkeit, die durch den Säugling entstand. Der Bengel musste getauft werden. Eigentlich kein besonderes Problem, sollte man annehmen. Aber Mutti war katholisch und das Krankenhaus, in dem ich geboren wurde, war evangelisch, nämlich das Krankenhaus der evangelischen Huyssensstiftung

    Warum nur war die Taufe so eilig? Warum musste sie unbedingt noch in der Klinik erfolgen? War es wegen des Krieges? War es damals üblich? Mutti gab nie eine plausible Erklärung dafür ab. Es war einfach nur eine sehr schnelle und aufregende Taufe.

    Die Taufe soll vor allen Dingen Kinder davor bewahren, vielleicht nicht ins Himmelreich zu kommen, wenn sie denn schnell sterben würden.

    Wenn man als Christ erzogen und immer wieder belehrt wurde, mutet das sehr eigentümlich an, weil doch gerade Kinder in ihrer Unschuld überhaupt nicht von Gott verstoßen werden, sondern in allen Ländern der Welt, so lehrt es das Christentum, von Gott liebevoll als Kinder Gottes, des Allmächtigen, ohne Wenn und Aber, angenommen werden. So lehrt es die Bibel. Aber möglich ist es natürlich, dass das Kind noch von der Erbsünde belastet ist, was immer man darunter zu verstehen hat. Ich selbst fühlte mich weder sündig noch belastet, noch bekam ich überhaupt wissentlich etwas von der ganzen Taufe mit. Wäre es anders müsste ich folgendes erzählen:

    Mutti hatte mir anvertraut, dass am Sonntag Taufe sein sollte. Da kämen alle Taufpaten und Verwandten, die noch Zeit hätten und es wäre überhaupt alles sehr feierlich und wichtig. Opa wäre ganz stolz auf seinen ersten männlichen Enkel und wollte deshalb unbedingt Pate werden. Eigentlich wäre es uns ja lieber gewesen, Onkel Jupp wäre Patenonkel geworden, weil Onkel Jupp der Lieblingsbruder von Mutti sei, aber leider bekäme Onkel Jupp keinen Urlaub. Onkel Jupp wäre gerade im Feldlazarett, wo er als Arzt eingesetzt war. Aber ich müsste auch unbedingt eine Patentante haben.

    Dafür hatte sich Tante Dorchen bereitgefunden. Tante Dorchen war die Frau von Onkel Willi, dem jüngeren Bruder meiner Mutti. Vatis Verwandtschaft kam nicht in Frage, weil die alle evangelisch waren. Opa eigentlich auch, aber bei Opa war das eine Ausnahme. Mutti hatte auch gemeint, ich sollte mich mal richtig freuen auf den Ehrentag.

    Am Sonntag, dem 9. Februar 1941 war es dann so weit, genau sieben Tage nach meiner Geburt. Was machten die nur mit mir?! Nicht nur Windelpuck und alles Unbequeme wurde mir angezogen, nein nun musste es auch noch ein Taufkleidchen sein. War es vielleicht das, was meine Schwester schon vor sechs Jahren angehabt hatte? Alle waren da und es wurde viel erzählt, viel zu laut, störend. Mutti hatte sich auch fein gemacht, wurde aber in einem Stuhl geschoben, weil sie zu schwach war die ganze Strecke bis zur Taufkapelle zu laufen. Vati schob sie. Opa trug mich auf seinem Arm, und ich schlief mal vorsichtshalber ein. Der Weg durch die unterirdischen Gänge des Krankenhauses war recht unheimlich. Dann ging es ein Stück über die Straße, danach wieder in den Kellerzugang zum Elisabeth-Krankenhaus. Das Haus war katholisch und verfügte über eine eigene kleine Kapelle. Da ich schlief, bekam ich nicht mit, ob eine Orgel spielte oder ob nur gesungen wurde. Plötzlich wurde ich unsanft geweckt. „Na, was soll denn das? Was soll ich denn mit dem Wasser im Gesicht? Und das komische Gemurmel über meinem Kopf? Ba, nun schmiert der Kerl mir auch noch irgendeine Salbe ins Gesicht. Wie ekelhaft und unappetitlich!" Opa und Tante Dorchen mussten auch etwas sagen. Ja, und dann war der Spuk auch schon vorbei. Man beglückwünschte Mutti und Vati herzlich, danach ging es durch alle Gänge wieder zurück in das Krankenhaus, in dem ich geboren worden war.

    Na endlich, die freundliche Schwester nahm mich in Empfang, zog mir die überflüssigen Sachen aus und legte mich in mein Bettchen. Irgend ein Kind schrie immer, sollte ich nun auch mal ein wenig schreien oder lieber schlafen. Na, ja erst mal etwas schreien, schließlich war ich doch unsanft aus meiner Gewohnheit gerissen worden.

    Dass ich als Zweitnamen den Vornamen Walter erhielt, war nicht wegen möglicher Bräuche, den Vornamen des eigenen Vaters an den Sohn zu vererben, sondern hatte den ganz einfachen Grund, dass es zur Zeit meiner Taufe keinen heiligen Harald gab. Als katholisch getauftes Kind musste ich aber als Taufnamen den Vornamen wenigstens eines Heiligen bekommen, um später dann diesen Namenstag feiern zu können.

    Ich hatte nie verstanden, warum ausgerechnet mein Vater mit dem Vornamen Walter ein Heiliger gewesen sein sollte.

    Vati war mit den ganzen Verwandten nach Hause gefahren, wo nett die Taufe gefeiert wurde. Mutti war in ihrem Zimmer im Krankenhaus geblieben und erschöpft sofort eingeschlafen.

    Sie hatte von der Taufe die geringste Freude gehabt. Nie wurde später auch davon Näheres erzählt. Mich hätte brennend interessiert, warum die Taufe unbedingt in so kleinem beengten Kreis in der kleinen beengten Kapelle im benachbarten Krankenhaus stattfinden musste. Aber darauf bekam ich nie eine Antwort. Sollte der Krieg und seine Auswirkungen eine Rolle gespielt haben, oder war es möglicherweise doch Geldmangel? Denn bei aller von Reichtum zeugenden Pracht der hochherrschaftlichen Möbel, war eigentlich immer eine besondere Art von Armut in unserer Familie sehr deutlich zu spüren, von der natürlich niemals offen geredet wurde. Schließlich hatte man ja einen Ruf zu verlieren. Und Armut war immer auch ein Zeichen von geringer Bildung und von geringer Herkunft, zumindest in den Augen unserer Familie.

    Geschichtliches und Wichtiges

    Das Hören von amtlichen Nachrichten gehörte zu den täglichen Pflichten guter deutscher Staatsbürger. Ganz bestimmt aber musste Vati, als eingezogener Soldat, immer auf dem neuesten Stand sein. Ob natürlich alles, was in der Welt passierte, so genau in den deutschen Nachrichten zu hören war, war nicht nur damals fraglich. Denn das ist eine altbekannte Weisheit: „Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst."

    Aber nicht nur der Krieg machte es erforderlich, nicht immer die Wahrheit bekannt werden zu lassen, auch die Diktatur als solche verträgt sich nicht mit der absoluten politischen Wahrheit.

    Am Sonntag, dem 2. Februar 1941 konnte man zum Beispiel lesen oder hören, dass die schwedische Handelsflotte nach amtlichen Mitteilungen aus Stockholm seit Beginn des Krieges 111 Schiffe verloren hatte, 587 Seeleute waren getötet worden.

    In Zürich standen die beiden Gründer einer Kreditgenossenschaft vor Gericht, weil sie Gelder in Millionenhöhe veruntreut haben sollen. In der Zeitung der Militärs in Deutschland konnte man folgenden Artikel lesen:

    „Erfolge im Atlantikkrieg

    Aufgrund der großen britischen Überlegenheit zur See führt die deutsche Marine einen Krieg, der sich vornehmlich gegen die überseeischen Handelsverbindungen Londons richtet. Marine-Oberbefehlshaber Erich Raeder will möglichst viele gegnerische Handelsschiffe, die Nachschub für die britische Rüstungsindustrie an Bord haben, versenken. Sein Ziel ist es dabei, ‚eine Knappheit vor allem an Kriegsmaterial’ zu erreichen. Direkte Auseinandersetzungen mit gegnerischen Kriegsschiffen seien jedoch zu vermeiden."

    Von den Briten unbemerkt, durchbrachen am 4. Februar die deutschen Schlachtschiffe „Scharnhorst und „Gneisenau die stark überwachte Dänemarkstraße und stießen in den Atlantik vor. Sie sollten Transport- und Versorgungsschiffe mit Frachtgut für Großbritannien angreifen.

    Nicht für alle bestimmt war folgende Nachricht: vom 5. Februar 1941:

    „Britische Flugzeuge starten erneut gegen deutsche Städte. Bei einem Angriff auf Düsseldorf sterben 35 Menschen im Bombenhagel."

    Dagegen war wichtig für alle am 6. Februar, dass das Reichspropagandaministerium die Antiquaschrift als Normalschrift eingeführt hatte. Alle Druckerzeugnisse waren von diesem Tag an auf die lateinische Druckschrift umzustellen.

    Am 7. Februar wurde der bisherige Gau Koblenz-Trier in Gau Moselland umbenannt. In diesen Gau wurde Luxemburg eingegliedert, das seit Mai 1940 deutsch besetzt war.

    Am 8. Februar nahmen Griechenland und Großbritannien Verhandlungen auf über die Entsendung britischer Truppen in den gegen Italien kämpfenden Ägäisstaat.

    Am 9. Februar begann eine Großaktion deutscher See- und Luftstreitkräfte gegen britische Schiffe. Bis zum 12. Februar wurden 16 Schiffe versenkt.

    Und an diesem Tag fand meine Taufe statt !

    Am Freitag, dem 14. Februar kam ich nach Hause. Alles war nett geschmückt, Ursel hatte ein Bild gemalt und „Herzlich Willkommen" darauf geschrieben. Mutti war total erschöpft, legte aber glücklich den kleinen dicken Kerl in das Kinderbettchen, das zunächst im Schlafzimmer aufgebaut worden war.

    Schnell war auch Tante Traute eingeladen, um nach dem neuen Erdenbürger zu sehen und gute Ratschläge zu erteilen, denn immerhin hatte sie jetzt zwei Monate Erfahrungsvorsprung, während Mutti doch sechs Jahre nach der Geburt ihres ersten Kindes nicht mehr so ganz genau wusste, was alles zu tun sei mit dem Säugling. Der Bengel machte aber auch irgendwie Sorgen. Er war einfach nachts zu oft wach, dafür schlief er dann morgens in der Frühe, wenn er trinken sollte.

    „Was ist denn richtig, lautete die bange Frage, „soll ich denn nachts aufstehen und den Jungen füttern? Soll ich ihn schreien lassen? Ich kann das aber nicht länger ertragen. Dann muss er in das Kinderzimmer!

    Selbstverständlich wusste Tante Traute auf alles eine Antwort: „Natürlich darfst du auf gar keinen Fall nachts dem Schreien nachgeben, man darf ein Kind nicht verwöhnen, der soll sich von Anfang an an die Zeiten gewöhnen, die ihm vorgegeben werden. Schieb ihn ruhig ins Kinderzimmer! Dann hörst du ihn nicht und kannst ruhig durchschlafen. Morgens wird er dich schon wecken und dann auch richtig trinken. Er ist sowieso etwas zu dick und zu träge."

    Also durfte ich nachts laut schreien, störte niemanden. Meine Mutter erzählte immer, dass ich morgens ganz ruhig in meinem Bettchen lag, ohne einen Pieps von mir zu geben und still mit meinen Händchen spielte. Was natürlich von Tante Traute als eigentümlich bezeichnet wurde und vielleicht auch behandlungsbedürftig. Auf jeden Fall müsste man den Kinderarzt fragen, auch wegen des viel zu dicken Kopfes des Knaben. Schließlich habe man immer schon geargwöhnt, dass mit dem Kind nicht alles ganz richtig sei.

    „Nachts allein im Kinderbett ist es sehr, ja ausgesprochen einsam. Wer nur kümmert sich um mich? Warum kommt niemand, wenn ich schreie? Hört mich denn niemand? Das Schreien ist völlig wirkungslos! Ich glaube, ich lasse es lieber. Wenn ich so allein bin, kann ich ja friedlich vor mich hinbrummeln, das macht müde. Irgendwann schlafe ich ein. Brauche ich denn wirklich den Trost anderer? Frühmorgens kann ich meine Finger sehen. Sie bewegen sich, ich bin zwar allein, aber ich bin gar nicht einsam, ich habe ja mich zur Unterhaltung! Rufen und Schreien ist absolut sinnlos, beruhigt auch nicht die Nerven, im Gegenteil, das schwächt nur und macht traurig oder gar aggressiv. Also, konzentriere ich mich lieber auf mich selbst!"

    Der Kinderarzt stellte keine Fehler oder bedenkenswerten Unterschiede fest, die mich von anderen Säuglingen gleichen Alters gravierend abgehoben hätten. Sicherlich, ich war ein ausgesprochen ruhiges und auch bequemes Baby, ließ alles mit mir geschehen, ohne zu protestieren, bewegte mich auch ausgesprochen schwerfällig, aber ein Grund zu irgendwelcher Besorgnis bestand eigentlich nicht. Gut, die Blutuntersuchung hatte ergeben, dass mir gewisse Aufbaustoffe und Vitamine fehlten, aber da war in dieser schwierigen Kriegszeit auch nicht so ganz einfach dranzukommen. Man sollte etwas tun, um einer Rachitis vorzubeugen.

    „Ach Gott, ach Gott, der Junge könnte eine Rachitis bekommen! Wie schrecklich, wie entsetzlich, man musste alles tun. Was sagen die Behörden dazu. Wo gab es entsprechende Medikamente, wo gab es zum Beispiel Lebertran zum Aufbau der Knochen?"

    Tante Traute hatte ja immer gesagt, dass etwas nicht in Ordnung wäre mit dem Jungen. Schließlich hatte sich ihre Tochter, Klein-Traute, ganz anders entwickelt.

    Zunächst griff Mutter nach altbewährten Hausrezepten und eigenen wichtigen Erfahrungen. Man musste ja nicht alles mit der Freundin Traute besprechen. Gott sei Dank gab es noch Haferflocken, die hatten bei Ursel auch Wunder gewirkt. Schmelzflocken konnte man leicht in ein Fläschchen füllen und zufüttern. Das half bestimmt. An Lebertran war nicht so ganz einfach heranzukommen. Aber die Behörden rieten zu Luftveränderungen und Reisen.

    Das kam Mutti natürlich sehr entgegen, da sie leidenschaftlich gern verreiste, was schließlich auch ihrem bürgerlichen Stand angemessen war.

    Der Junge wurde immer dicker. War das nun eine Folge der zugefütterten Haferflocken oder waren es erste Anzeichen einer beginnenden Rachitis?

    Die erste Reise im Leben des jungen Erdenbürgers führte in das Hessenland. Dort war man privat untergebracht. Hümme hieß das Ziel, Abstecher gab es nach Fürstenwald, von dort ins Wilhelmstal. Immer waren viele Menschen dabei, manchmal auch Vati, immer auch Ursel, die ständig mit ihrem Brüderchen spielte, dem kleinen dicken Harald. Von Ende Juli bis September dauerte der Ausflug in das erholsame Hessenland, also so lange, wie die großen Sommerferien, die wegen der Schulpflicht meiner Schwester für diese Erholung genutzt werden mussten.

    Möglich waren solche Ferien dank der staatlichen gelenkten Fürsorgemaßnahmen vor allem für Mütter und ihre Kinder, die für einen längeren Urlaub für Mutter und Kind vom „Führer" organisiert wurden.

    Solche langen Erholungsaufenthalte waren finanziell erschwinglich und vom Staat entsprechend durch Verordnungen und Erlasse organisiert. Der Kontakt zu Gastfamilien war einprogrammiert und leicht herzustellen.

    Besonders in den Abendstunden, wenn die Gastgeber, die vorwiegend in der Landwirtschaft tätig waren, endlich Feierabend hatten, saß man oft gemütlich zusammen, um ein wenig zu plauschen und den Feierabend zu genießen. Natürlich unterhielten sie sich in jener Zeit sehr häufig über den Krieg, aber er war keineswegs das einzige Thema.

    „Na, Frau Fiori, Wie gefällt es Ihnen denn hier bei uns auf dem Lande? Ist doch bestimmt etwas geruhsamer als in der hektischen Großstadt. Woher kommen Sie noch mal?"

    „Aus Essen, Frau Austermahl, aber wir wohnen dort eigentlich wirklich idyllisch in einem Vorort namens Margarethenhöhe. Der ganze Ort ist von einem Wald umgeben, der als Tal um den Ort herum zu Spaziergängen einlädt. Dort gibt es kleine Bäche, zwei kleine Teiche und Waldwege, die malerisch gestaltet sind. Das sollte man gar nicht glauben, dass es so etwas gibt in der Großstadt Essen. Aber es ist wirklich nicht so, dass dort nur Industrie zu finden ist oder nur Zechen."

    „Ach, dann hätten Sie eigentlich gar nicht hierher kommen müssen, zur Erholung?"

    „Doch, doch, das ist schon richtig. Die Luft ist natürlich lange nicht so gut und rein wie hier. Immer hat man schwarzen Staub oder Ruß an den Fenstern. Außerdem ist es ja vor allen Dingen für den Jungen besser, wenn er hier in der Landluft aufwachsen kann. Wir haben uns schon Sorgen gemacht wegen seiner Entwicklung."

    „Ja, auch die Verpflegung ist hier noch viel besser. Ich habe gehört, dass es in den Städten immer weniger zu essen gibt, dass nicht mehr genügend Obst oder auch Fleisch zu bekommen ist, Frau Matz,. Was sagen Sie dazu?"

    „Da haben Sie völlig recht, Frau Austermahl, das ist auch jetzt in Essen so, wir wohnen ja gar nicht weit auseinander, die Frau Fiori und ich, Sie haben natürlich recht, wenn Sie von der Höhe sprechen, Frau Fiori. Es lebt sich wirklich wunderbar dort, Frau Austermahl, trotz der Krupp-Werke und trotz der Zechen. Aber die sind nun mal wirklich nötig, auch wenn sie viel Dreck machen. Ja, Sie haben recht, zuletzt war es gar nicht einfach, etwas Vernünftiges auf den Tisch zu bringen. Gott sei Dank gab es wenigstens noch Milch für die Kleinen. Mein Wolfgang ist ja fast genau so alt wie der Harald."

    „Ein kleines Geheimrezept habe ich noch von meiner Tochter her angewendet, schmunzelte meine Mutter, „ich füttere immer Haferflocken zu , und die gibt’s Gott sei Dank auch noch reichlich zu kaufen.

    „Bekommen Bergleute nicht Zusatzrationen auf den Zechen? Ihr Mann ist doch bestimmt auch im Bergbau beschäftigt, Frau Fiori?" fragte Frau Austermahl.

    „Nein, um Gottes Willen, " lachte meine Mutter, „es sind doch nicht alle Menschen in Essen bei Krupp oder im Bergbau tätig. Es gibt noch viele andere Berufe und Tätigkeiten. Aber indirekt haben Sie natürlich nicht ganz Unrecht. Auch mein Mann ist irgendwie mit dem Bergbau verbunden. Er ist Beamter beim Kohlensyndikat, das ist die oberste Bergbauaufsichtsbehörde für Deutschland. Jetzt zurzeit ist er allerdings Soldat, in Holland stationiert. Vorher hat er in der Heimat gedient bei der Polizei, wo er nach seiner Grundausbildung eingesetzt worden war. Aber lange wird der Krieg ja nicht mehr dauern, wie man immer wieder im Radio hört und in den Zeitungen liest. Wenn wir doch nur unseren Friedenskaiser wieder hätten. Kaiser Wilhelm II. hätte den Krieg bestimmt verhindern können. Aber der Führer hat ja versprochen, dass er den Kaiser wieder zurückholt, wenn die Feinde endlich besiegt sind. Dass aber auch so viele Länder Deutschland den Krieg erklären mussten!?!

    Was haben wir denen nur getan?"

    „Da habe ich aber schon ganz andere Dinge gehört, warf Frau Matz ein, irgendjemand hat mir erzählt, wir hätten angegriffen.

    „Das kann ich mir gar nicht vorstellen," kam es unisono zurück von Frau Austermahl und meiner Mutter.

    „Hauptsache, wir haben nicht die roten Sozis an der Regierung! bemerkte meine Mutter, „ dann hätten wir allerdings nichts zu lachen. Wie die gehaust haben und ständig grölend durch die Straßen gezogen sind! Aber ich glaube, wir sollten jetzt nicht über Politik reden, es ist so schön hier, heute Abend. Sollen wir nicht ein schönes Liedchen singen!

    „Wie wär’s mit Lili Marleen? schlug Frau Matz vor, „das hört man doch jetzt ständig im Radio und in den Tanzlokalen.

    Mutti sang gerne und viel, sie hatte auch eine recht angenehme weiche Altstimme, aber beim Singen hatte sie einen ganz gravierenden Mangel: sie konnte niemals den richtigen Ton treffen. Ihr Gesang hörte sich einfach kläglich an. Trotzdem sang sie mit Begleitung immer gerne und zierte sich niemals. Hin und wieder fiel ein Wort der Entschuldigung, dass sie einfach den Ton nicht treffen, schon gar nicht halten könne.

    Im Übrigen hatte Mutti von Politik und ihrem Wirken keine Ahnung, war dazu noch äußerst gutgläubig und urteilte grundsätzlich mehr nach dem Schein, nach dem Namen der politischen Organisation oder auch nur dem Hörensagen nach.

    Das war in jener Zeit aber nicht allein ein Phänomen, das meine Mutter betraf. Frauen wurden in den Mädchenschulen damals grundsätzlich nicht sehr ausführlich über Geschichte oder Politik unterrichtet. Es sei denn sehr eindeutig in Richtung Nationalsozialismus und in Sachen Antisemitismus.

    Es wurde noch sehr viel gesungen, nicht nur an jenem Abend. Die fröhlichen Feriengäste und ihre Gastgeber in dieser „Sommerfrische, wie Ferienorte allgemein genannt wurden, sangen alte Volkslieder und Schlager oder auch gängige Marschlieder wie „ein Heller und ein Batzen, „Sing Nachtigall sing, „Hoch droben auf dem Berge, „So schön wie heut’, so müsst es bleiben". Lale Andersen war eine überall beliebte Gesangsinterpretin.

    An anderen Abenden wurde natürlich immer wieder über die Lage Deutschlands gesprochen, wenn alle am Gespräch Beteiligten auch allgemein nicht sehr viel wussten und ebenso gleich wenig Ahnung hatten, von dem, was wirklich in der Welt geschah.

    Der eine oder die andere hatte schon mal das Datum behalten, wann eine Meldung als sehr wichtig gebracht worden war. Einig war man sich grundsätzlich aber in der Beurteilung, dass der Führer wohl wirklich wüsste, was jetzt am nötigsten zu tun sei und dass der böse Krieg, der uns armen Deutschen von den bösen Feinden aufgezwungen worden war, doch sicher bald ein Ende hätte, wie man ständig hörte bei den vielen Erfolgsmeldungen, die trotz immer häufigerer Luftangriffe auf deutsche Städte hoffen ließen, dass die deutsche Wehrmacht an allen Fronten insgesamt wohl als Sieger hervorging trotz hoher Verluste, die ab und zu zugegeben wurden. So wusste jemand zu berichten, dass die Regierung am 22.2.1941 die Bevölkerung aufgefordert haben sollte, mehr Kinder in die Welt zu setzen, Himmler der Reichsführer SS sollte das gesagt haben.

    Wusste auch jemand, dass am Samstag, dem 15. März 1941 die deutsche Luftwaffe mit 203 Flugzeugen die schottische Stadt Glasgow und mit 117 Maschinen die britische Stahlstadt Sheffield angegriffen hatte.

    Interessierte es jemanden, wie viele Tote es in England dadurch gegeben hatte?

    Wer fragte nach, wie die englische Bevölkerung nun in Angst und Schrecken lebte?

    Berichtete irgendjemand in Deutschland wahrheitsgemäß darüber, wie viele Zivilisten in England betroffen waren?

    Wie viele Frauen und Kinder waren getötet worden?

    Angegriffen und stark zerstört wurden die englischen Städte Bristol und Liverpool. Natürlich wurden wie in jedem Krieg absolut nur militärische Ziele beschossen. Denn das wusste doch damals jedes Kind, dass dort Waffen und Waffentechnik produziert wurde.

    Aber selbstverständlich wussten alle in Deutschland, dass die Schwimmerin Anni Kapell auf der 200 Meter Bruststrecke einen Weltrekord geschwommen hatte im Düsseldorfer Stadtbad.

    Schließlich konnte die deutsche Propaganda mit solchen Erfolgen die deutsche Bevölkerung von der Richtigkeit ihrer politischen Ziele und von ihrer wunderbaren Regierungstätigkeit überzeugen.

    60.000 Deutsche aus den baltischen Staaten waren zurück ins Deutsche Reich übersiedelt worden.

    Ein besonderer Höhepunkt, eigentlich zwei Höhepunkte für die deutsche Jugend waren die Schulentlassfeiern am Samstag, dem 29. März, noch mehr die Feiern am folgenden Sonntag anlässlich der Verpflichtung zur Hitlerjugend.

    „Ihr werdet nicht mehr frei sein bis an euer Ende", schallte des Führers Stimme selbst aus den Lautsprechern.

    Hatte das eigentlich damals kein Mensch richtig verstanden?

    Man sprach über den Film „Ohm Krüger".

    Hatte jemand erkannt, dass es sich um einen reinen Propagandafilm handelte?

    Sicher sagte das schon mal jemand. Aber wollte man denn überhaupt so intensiv über Politik sprechen?

    „Haben Sie schon mal etwas von Bert Brechts neustem Theaterstück gehört, von „Mutter Courage und ihre Kinder Frau Fiori?

    „Ja, natürlich habe ich davon gehört, man spricht ja in unseren Kreisen viel über Theater, aber ich interessiere mich hauptsächlich für Opern, noch mehr für Operetten, herrlich die „Christel von der Post im Vogelhändler, finden Sie nicht auch. Oder Land des Lächelns „Immer nur lächeln, immer vergnügt, immer zufrieden, niemals betrübt. Doch wie’s hier drinnen aussieht, geht niemand was an, summte meine Mutter mehr, als sie auf die Frage antwortete.

    Das war ihre unnachahmliche Art, Fragen auszuweichen, auf die sie keine Antworten wusste, oder die möglicherweise eine Bildungslücke hätte entlarven können.

    „Eigentlich meinte ich mehr, dass dieses Stück hierzulande verboten wurde. Gibt es das „Land des Lächelns eigentlich noch? Die Chinesen sind schließlich auch Ausländer. Führen wir nicht auch Krieg gegen sie?

    „Sind Sie nicht katholisch, Frau Fiori? Wie finden Sie eigentlich die Maßnahme, dass in Bayern alle Kruzifixe aus den Schulgebäuden und Klassenzimmern entfernt werden sollten?"

    „Ach, wissen Sie, ob das etwas mit Politik zu tun hat, weiß ich gar nicht. Ich denke aber, dass jeder das mit seinem Glauben mit sich selbst abmachen muss, man sollte so etwas nicht so demonstrativ nach außen tragen. Eine Schule ist doch eigentlich mehr eine staatliche Einrichtung als eine kirchliche, da sollte doch der Staat bestimmen dürfen, was da drin geschieht und was nicht, auch wenn natürlich die Kirche ein gewisses moralisches Mitspracherecht bei der Erziehung unserer Kinder haben sollte."

    Auch das war so ganz typisch für Muttis „Diplomatie", die besagte, dass sie sich nicht unbedingt festlegen lassen wollte, wenn es um Fragen der Religion oder der Politik ging.

    „Ja, vielleicht haben Sie Recht, Frau Fiori."

    „Aber wo wir gerade beim Stichwort Schule sind. Man hat ja Ende April die Hauptschule eingeführt, das soll eine Schule sein, die begabte Schüler besser ihren Neigungen entsprechend fördern soll. Geben Sie Ihre Kinder auch in eine solche Schule, Frau Fiori?"

    „Das kann ich jetzt noch nicht sagen, aber ich denke bei uns ist es üblich, dass die Kinder ein Gymnasium besuchen. Für Ursel würde aber auch eine Frauenfachschule genügen. Denn sie wird doch hoffentlich standesgemäß heiraten, dann braucht sie keine höhere Schulbildung. Und bei dem Kleinen kann ich noch gar nichts sagen, er ist ja nicht mal ein Jahr alt. Wenn er es schafft, soll er ruhig studieren, aber es wäre mir auch recht, wenn er ein ehrbares Handwerk erlernt."

    „Ob Sie hinsichtlich der Frauen Recht haben, weiß ich ja nicht. Erst Ende April gab es doch eine dringende Aufforderung an Frauen, mehr zu arbeiten und mehr und mehr die Arbeiten der Männer zu übernehmen."

    „Natürlich bleibt das nicht aus in Kriegszeiten, aber so lange wird der Krieg ja nicht mehr dauern, und wenn dann endlich unser Kaiser wieder die Geschicke des Reiches lenkt, wird alles wieder so sein wie früher!" davon war Mutti überzeugt.

    Sie glaubte fest daran, dass ihr geliebtes Kaiserreich nach Beendigung des Krieges wieder erstehen würde, wie es angeblich der Führer versprochen hatte. Ansonsten hielt sie es mehr mit der Bismarck-Regel, dass sich das Volk aus der Politik raushalten sollte, da es sowieso nichts davon verstünde. Andererseits war auch ihr nicht unbekannt, dass die Demokratie eine Staatsform war, die den einzelnen Bürgern mehr Rechte und Mitsprache einräumte. Doch selbst nutzen wollte sie solche Rechte nicht, solange sie dazu nicht ausdrücklich aufgefordert wurde.

    Wenn man bedenkt, dass nach dem Krieg die meisten Menschen behaupteten, mit Politik und der herrschenden NSDAP nichts zu tun gehabt zu haben, kommt jedem eine Haltung, wie meine Mutter sie zeigte, allgemein unglaubwürdig vor. Aber auch später nach 1948 bewies meine Mutter in ihrem Wahlverhalten, dass sie tatsächlich nichts mit Politik und schon gar nicht mit der Partei, aber auch mit demokratischen Gepflogenheiten anfangen konnte.

    Sicher waren nicht alle Menschen politisch so unbeteiligt wie Mutti, aber vielfach war es üblich, dass Frauen nicht sehr stark in der Politiklandschaft vertreten waren. Viele zogen daraufhin den Schluss, dass es möglicherweise niemals zu einer Machtergreifung durch den Führer gekommen wäre, wenn nur genügend Frauen politisch aufgeklärt und engagiert gewesen wären. Doch so richtig hatte das in der Männerwelt so niemand geglaubt. Denn ähnlich, wie Bismarck davon überzeugt war, dass Politik nichts für das gemeine Volk war, so war ich davon überzeugt, dass Frauen zu Besserem berufen waren als ausgerechnet zur Gestaltung der Politik!

    Im Jahre 1941 allerdings war ich wohl kaum in der Lage, über etwas Bestimmtes nachzudenken, obwohl ich nicht abstreiten möchte, dass ich sehr wahrscheinlich auch sehr intensiv gedacht habe, getreu der Erkenntnis „Cogito, ergo sum. „Ich denke, also bin ich.

    Tatsächlich wurde mir aber von einer bestimmten Seite abgesprochen, dass ich möglicherweise denken konnte. Denn zum Denken hatte ich einen viel zu dicken Kopf, meinte jedenfalls Tante Traute. Sie hatte überhaupt immer mehr und mehr starke Bedenken, ob ich überhaupt normal sei und mich normal entwickelte. Schließlich war ihre Tochter nicht nur zarter, sondern auch in aller Hinsicht weiter und gesünder entwickelt.

    „Ein Kind, das schon ein halbes Jahr alt ist, muss bereits alleine sitzen können! Dein Sohn, liebe Gretel, aber sitzt überhaupt noch nicht, liegt immer dick und unbeweglich da wie eine Plunder, meinte sie immer häufiger. „Du solltest mal untersuchen lassen, ob er nicht einen Wasserkopf hat.

    „Also Traute, das hat er bestimmt nicht. Der Arzt hat zwar gesagt, dass der Kopf wirklich sehr groß ist für sein Alter, aber das wächst sich mit der Zeit aus. Auch sonst ist alles in Ordnung, meinte der Kinderarzt. Der Junge ist einfach zu faul. Er wird schon noch beweglicher, wenn er älter wird. Nicht jedes Kind entwickelt sich gleich!" wusste Mutti zu antworten. Doch Tante Traute blieb skeptisch. So ganz geheuer und ganz normal erschien ihr der kleine unbewegliche Fettsack nicht.

    Gut, dass wir häufiger verreisten, sonst hätte Mutti bestimmt noch daran gezweifelt, ob ihr Sohnemännchen, ihr Bübchen, tatsächlich normal war oder nicht.

    Sollte man in diesem zarten Alter etwa schon Rückschlüsse ziehen auf eine spätere berufliche Entwicklung des Knaben?

    Die nächste Reise führte bereits im Februar 1942 nach Legau im Allgäu. Aber diesmal fuhr Tante Traute mit, mit ihrem Töchterchen Traute.

    Doch zuvor gab es noch unangenehme Erlebnisse zu Hause und überhaupt in Deutschland. Denn entgegen allen Beteuerungen des Propagandaministers kam es immer wieder zu Luftangriffen auf deutsche Städte. Auch drangen Meldungen von den Fronten durch, so dass die Besorgnis um sich griff, dass vielleicht doch der Krieg nicht unbedingt so siegreich für Deutschland verlief, wie man das immer offiziell hörte und in den Zeitungen lesen konnte. Dabei spielte eine geringere Rolle, dass antibritische Regierungstruppen im Irak den Ölkrieg begonnen hatten am 30. April 1941.

    Man hörte wohl auch, dass Haile Selassie, der Kaiser von Abessinien, bzw. Äthiopien, wieder in Addis Abeba einzog, nachdem sein Land zurückerobert worden war durch die Briten. Uninteressant war für die meisten Deutschen auch, dass Stalin den Vorsitz der Regierung im fernen Moskau übernahm, schließlich wurde zwar gegen die Russen gehetzt, man führte jedoch keinen Krieg gegen Russland. Also störte auch später niemanden in Deutschland, dass sich auch Stalin zu einem Diktator entwickelte. Nicht überraschend für Eingeweihte war auch die Tatsache, dass Deutschland urplötzlich im Juni 1942 den ehemaligen Verbündeten Russland überfiel.

    Aber alles das interessierte weder mich in damaliger Zeit besonders, noch Mutti, die selten genug Zeitung las oder Nachrichten hörte, obwohl die ganze Zeit schon sehr beunruhigend war.

    Es war zu beklagen, dass viele Lebensmittel nicht mehr in dem Umfang zu haben waren wie man das sonst gewohnt war. Vor allem fehlte der geliebte Bohnenkaffee, den man sich sowieso nur noch recht selten gegönnt hatte. Auch hörte man immer häufiger Sirenen heulen. Angst kam auf. Trotzdem mochte Mutti mit den beiden Kindern nicht jedes Mal bei Fliegeralarm in den nahe gelegenen Bunker laufen. Oft blieb sie im Keller, manchmal sogar im Hausflur oder in der Wohnung, ängstlich darauf hoffend, dass keine Bombe in der Nähe herunterkam.

    Tante Traute war da schon ganz anders, sie drängte immer wieder darauf, doch schnellstens in den Bunker zu verschwinden. Aber sie hatte es auch etwas leichter mit nur einem Kind.

    Wie war das noch mit dem Sieger? War Deutschland etwa nicht mehr auf der Siegerstraße? Schließlich konnte es doch dem siegreichen Land voller Herrenmenschen nicht geschehen, dass auf die eigene Bevölkerung Bomben geworfen wurden.

    Inzwischen waren wir alle wieder wohlbehalten in Essen und freuten uns trotz aller Bedrohungen und trotz der immer größer werdenden Lebensmittelknappheit auf das erste Weihnachtsfest, das Bübchen, also ich, erleben durfte. Opa war genau aus diesem Grunde von Godesberg aus gekommen, um dieses Weihnachtsfest mit seinem ersten männlichen Enkel, dem Thronfolger, dem Weiterbringer seines Namens zu feiern. Endlich kein Pisspinchen hatte er immer gesagt, nachdem ich geboren worden war, denn bisher hatten seine Söhne es „nur zu Töchtern gebracht, zu Hiltrud in Köln, der Erstgeborenen von Tante Else und Onkel Erich, ja und mein Vater mit Margarete, genannt Gretel, eben „nur zu meiner Schwester Ursula.

    Vor lauter Stolz und Vorfreude kam Opa auch alleine nach Essen. Oma wollte lieber in Bad Godesberg mit ihrer Tochter Erna Weihnachten feiern. Auch hatte sie Angst zu reisen in diesen unruhigen Zeiten. Schließlich waren doch schon einige Bomben über Deutschland gefallen. Gab es nicht auch einen Aufruf des Führers, das Fest ruhig im Familienkreise zu begehen? Ja, und Mütter sollten belohnt werden, die noch schwanger wurden, denn schließlich brauchte Deutschland den Nachwuchs dringend.. Wer weiß schon genau, warum Oma nicht mit gekommen war. Gründe hatte sie genügend genannt.

    Der Heilige Abend war dann aber gar nicht so schön, wie unsere Familie sich diesen Festtag gedacht und gewünscht hatte. Ich war im Schlafzimmer in meinem Kinderbettchen eingeschlafen. Mutti und Vati schmückten den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer: Ursel spielte oben in der Mansarde mit Opa, denn sie durfte doch das Christkind nicht sehen, das gerade in diesem Augenblick die Geschenke brachte.

    Wenn ein Kind das Christkind sah, wurde dieses sofort wieder unsichtbar, und noch viel schlimmer, es nahm auch alle Geschenke wieder mit, die es eigentlich den Kindern und der Familie bringen wollte.

    Deshalb also spielte Ursel mit Opa oben in der Mansarde und jauchzte vor Vergnügen, denn Opa war sehr lustig.

    Sie jauchzte auch noch, als Opa dann auf dem Sessel saß und plötzlich laut atmete und dann ganz eigentümlich begann zu stöhnen. Was mochte das wieder für ein lustiges Spiel sein, was Opa sich da ausgedacht hatte. Ja, und dann war Opa ganz still. Ursel lachte laut, das fand sie lustig. Wie lange Opa nur dieses Spiel durchhielt. Bald musste er aber wieder aufwachen von seinem Schlafspiel. Denn bald würden Mama und Papa raufkommen und sie beide ins Weihnachtszimmer holen. Das dauerte aber lange.

    Gott sei Dank kam Mutti herauf. „Schau mal, Mutti, was Opa mit mir spielt!"

    Opa lag auf dem Sessel. Mutti rief: „Vater, Vater!" Opa rührte sich nicht. Opa war gerade gestorben.

    Die Familie feierte ein trauriges Weihnachtsfest. Dabei war alles so schön vorgeplant gewesen. Vor allen Dingen die Freude Opas, mit seinem ersten männlichen Enkel dessen erstes Weihnachtsfest zu feiern.

    Statt dessen Aufregung, Arztbesuch, Telegramm nach Godesberg, Anreise von Oma und Tante Erna.

    Die Beerdigung fand auf dem großen Südwestfriedhof in Essen statt. An eine Überführung nach Bad Godesberg war nicht zu denken, wurde auch nicht dran gedacht. Schließlich war die Stadt Essen auch nicht allzu weit entfernt vom Geburtsort von Oma Fiori.

    Kalt war es auf dem Friedhof. Nur wenige Leute waren mitgegangen, Opa war nicht so sehr bekannt in Essen, und die Familie Fiori auch nicht allzu sehr. Einige Freunde der Familie waren da. Die Verwandten von Mutti konnten alle nicht erscheinen. Aber Onkel Erich und Tante Else mit Hiltrud aus Köln waren selbstverständlich angereist. Opas Tod war auch für sie besonders schmerzlich, denn auch Onkel Erich hatte sehr an seinem Vater gehangen.

    Dass ich ebenfalls fürchterlich weinte und brüllte, war eigentlich selbstverständlich, obwohl ich weniger aus Trauer um den Verlust dieses lieben Menschen in Tränen ausbrach. Um das genau zu begreifen, war ich noch viel zu klein, immerhin noch kein Jahr alt. Aber die allgemeine Aufregung, die Trauer der Erwachsenen und der anderen Kinder blieb auch nicht ohne Wirkung auf mich.

    Sowohl Ursel als auch unsere Cousine Hiltrud weinten sehr. Wenn auch Opa über die „Pisspinchen" nur gelächelt hatte, so war er doch auch ihnen ein sehr lieber Großvater gewesen, und anders als ich, verstanden diese beiden großen Mädchen, sie waren immerhin schon acht und sieben Jahre alt, sehr genau, dass nun ihr lieber Opa für immer von ihnen gegangen war.

    Aufregung herrschte aber auch wegen der unklaren Verhältnisse wegen des Krieges. Immerhin waren Bomben auf deutsche Städte gefallen, und es traten tatsächlich erste Zweifel am Endsieg auf. Aber man wagte nicht, darüber zu reden. Onkel Erich war einfach zu sehr überzeugt, er wie auch Tante Else waren auch Mitglieder in der Partei. Vati glaubte natürlich auch noch als Soldat an die gute Sache, die er zu vertreten hatte.

    Eigentlich war Onkel Erich mehr ein Parteianhänger des Zentrums, aber auch diese Partei hatte sozusagen klar Stellung bezogen für den Krieg, in den Deutschland hineingezogen worden war, so völlig ohne eigenes Verschulden.

    Oder wusste doch jemand mehr, als er zugeben wollte. Natürlich sprachen viele in der Nachbarschaft und im Familienkreis auch darüber, aber niemand mochte so recht sagen, dass Deutschland eigentlich den Krieg angefangen hatte. Man hatte aber auch völlig andere Sorgen, schließlich wurde allmählich die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und vor allen

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1