YOHO oder das Geheimnis des Unsichtbaren
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Andrea Schatz
andrea-schatz@t-online.de Geboren 1966 in Rosenfeld. Kaufmännische Ausbildung, Berufserfahrung in Vertrieb, Einkauf und Verwaltung. Zahlreiche Weiterbildungen, Zweitausbildung zur Fremdsprachlichen Wirtschaftskorrespondentin, CLIC-International House-Stipendiatin für Spanisch in Sevilla, berufsbegleitender Studiengang International Business mit Schwerpunkt Interkultureller und Kommunikativer Kompetenz. Das Schreiben in der Freizeit gehört seit langem zum Alltag, vor allem Kurzgeschichten, Beiträge zu Anthologien, Verse. Wohnhaft in Baden-Württemberg.
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Book preview
YOHO oder das Geheimnis des Unsichtbaren - Andrea Schatz
Juli 2016
Morgen Abend gehe ich mit meiner Freundin essen. Gestern und heute habe ich mir frische Salatzutaten klein geschnippelt und das Ganze jeweils mit getoastetem Kräuterbutterbrot verdrückt, einmal in der Variante „mit geräuchertem Fisch und einmal „mit Oliven mediterran
. Davor habe ich mit meiner Mutter Kaffee getrunken. Davor habe ich meinen Rucksack und ein paar Wanderutensilien für die Wochenendtour nach Österreich zusammengesucht. Davor habe ich Bewerbungen geschrieben. Ach ja, gestern habe ich Sport getrieben und werde das morgen auch tun, bevor ich eventuell weitere Bewerbungen schreibe, Wäsche zusammenlege, einkaufen gehe und – nein, kochen brauche ich dann ja nichts. Wie schön.
Langweilige Abfolge? Genau! Ich schreibe Bewerbungen, treibe Sport, lese, koche, trage Wäsche hin und her, gehe einkaufen, kümmere mich um viele kleine Dinge. Ebenfalls habe ich regelmäßige Verabredungen, die natürlich nicht langweilig sind, und ebenso häufige Arzttermine, die aber bald weniger werden. Ab und zu mache ich eine kurze Reise. Ich lese, ich schreibe. Für all diese Dinge habe ich genügend Zeit. Die zahlreichen Auswahlmöglichkeiten, meinen Tag zu gestalten, ohne dabei Arbeitszeitenregelungen oder Feierabendtermine berücksichtigen zu müssen, sind Zeichen eines Zustands, nach dem ich mich lange gesehnt habe und um den ich sicherlich auch beneidet werde: Freiheit! Und nun behaupte ich: langweilig! Nicht dass mir wirklich langweilig wäre, ich bin gut beschäftigt und gehe meist gutgelaunt durch den Tag. Aber irgendwie stehe ich außerhalb des Geschehens und suche nach Inhalt. Klar, ich könnte ein Buch schreiben, meine Jobsuche intensivieren, ein Studium beginnen und nebenher jobben, eine super Hausfrau werden, mich selbständig machen, ein Biogemüsebeet anbauen, mich stärker als bisher in einer NGO engagieren, etwas Kreatives lernen. Aber das alles ist es nicht, oder es ist zu viel, oder, oder, oder. Mir fehlt eine Aufgabe, bei der mein Tun Bestätigung findet.
So sieht also mein Seelenzustand nach eineinhalb Jahren Arbeitspause aus. Ich war fast ein Workaholic und war anschließend total überrascht, wie schnell ich Abstand zu meinem Berufsleben fand. Jetzt arbeite ich daran, wieder zu jener Welt zu gehören. Das hätte ich so nicht erwartet, oder wenigstens nicht so schnell.
Manchmal kommen auch zu viele Termine zusammen, und ich fühle mich nicht gerade gestresst, bin aber froh, dass ich mich danach wieder ausruhen kann. Immerhin spüre ich noch die Nachwehen einer anstrengenden Therapie in Form von Vergesslichkeit und dem Gefühl, dass manche Dinge anstrengender sind als zuvor. Am Alter allein kann das nicht liegen … Doch ich bleibe dabei: Die Fülle der Möglichkeiten wirkt erschlagend, ich spüre keine grundsätzliche Motivation für die Dinge; ich tue sie einfach, lasse mich treiben, um mangels einer wirklichen Aufgabe irgendwie beschäftigt zu sein, und für teure Selbstverwirklichungstrips wie ausgedehnte Reisen oder Mega-Events in den Bereichen Kunst, Kultur und Bildung reicht es finanziell sowieso nicht. Ich lebe in einer Art Korsett, habe gleichzeitig zu wenig und zu viel Spielraum. Was also tun?
Meine Ra(s)tlosigkeit lässt mich mit Aufräumarbeiten am Computer beginnen, und hier stoße ich auf meine Aufzeichnungen aus dem Jahr 2015. Die tagebuchartigen Einträge beginnen mit der vielversprechenden Aussage Die Fülle der alltäglichen Erlebnisse macht aus unserem Leben ein einziges großes Abenteuer. Es lebe die Schöpfung. – Stop, woher habe ich denn das? Ich kann kaum glauben, dass ich mir vor nicht allzu langer Zeit solch einen beglückenden Satz einfallen ließ, während ich momentan vor Unentschlossenheit fast vergehe und mich auf nichts wirklich konzentriere.
Es ist wohl das Beste, der Reihe nach zu erzählen … sei es als reine Meditationsübung, als bereinigender Rückblick oder – ein schöner Gedanke – als Ermutigung für Menschen, denen Ähnliches widerfahren ist, denn im Februar 2015 bekam ich die Diagnose „Brustkrebs" vor den Latz geknallt. Und ich hatte wider Erwarten eine gute Zeit damit.
Als alles begann (02-03/2015)
Nach reiflicher Überlegung hatte ich mich dazu entschlossen, meinen Job aufzugeben. Die Entscheidung fiel mir nicht leicht, doch mein alter Vorsatz, mich zu verändern, wenn ich „einmal auf die 50 zugehe, koinzidierte mit einem bereits einige Zeit andauernden Zustand der Überarbeitung. Gespräche waren geführt, Möglichkeiten ausgelotet, im Privatleben diskutiert worden. Ich würde mir eine Teilzeitbeschäftigung suchen und mich parallel über die Möglichkeiten zur Finanzierung eines alten Traums informieren, der Aufnahme eines Romanistikstudiums an der Universität. Dazu hatte ich ein halbes Jahr Zeit, so lange lief mein Arbeitsvertrag. Ich würde meine Aufgaben ordentlich übergeben, wollte einen „guten Abgang machen
und vereinbarte parallel dazu, wie in jedem Frühjahr, Termine für einige Vorsorgeuntersuchungen. Vorsorge beim Zahnarzt – ok. Vorsorge bei der Frauenärztin – ok. Check-up beim Hausarzt – ok. Danach Zeit für die beiden gebuchten Kurse bei der Volkshochschule, Antike Kulturen und Grundlagen der Philosophie von Descartes. So dachte ich mir das.
Von der gynäkologischen Praxis wurde ich zwecks Abklärung einer Auffälligkeit in der rechten Brust zur Mammographie geschickt. Meiner Ansicht nach handelte es sich wie bereits öfter um eine harmlose Zyste, die mit Flüssigkeit gefüllt war und erfahrungsgemäß mit der Zeit wieder verschwinden würde. Die Mammographie ergab einen „unauffälligen mammographischen Befund bei dichtem Drüsengewebe mit der Bezeichnung BI-RADS 0. Das heißt Breast Imaging Reporting and Data System mit einer Codierung von 1 bis 5, wobei 1 unauffällig und 2 gutartig war. 0 war also gar nichts. Um auf Nummer sicher zu gehen, bekam ich einen Termin zur Stanzbiopsie, um das Gewebe untersuchen zu lassen. Mir sollte es recht sein, ich nahm meine Vorsorgetermine schließlich ernst. Über die entnommenen „Würmchen
, bezeichnet als sechs grau-gelbe Stanzzylinder, musste ich schmunzeln.
Zwei Wochen nach meiner Kündigung erhielt ich einen Anruf aus der Frauenarztpraxis. Die entnommene Gewebeprobe war bösartig. Ich stand mit dem Mobiltelefon am Ohr regungslos im Besprechungszimmer und spürte förmlich, wie das unheimliche Wort in mich einsickerte wie schwere Tinte in Löschpapier. Die Nachricht war weder schlimm noch schockierend, sie war surreal, betraf nicht mich, sondern die neben mir, mein anderes Ich. Ich hatte die Gewebeprobe nicht ernst genommen – die ganze Zeit war ich mir sicher gewesen, dass die bei der Vorsorge nicht als flüssigkeitsgefüllte Zyste, sondern als zackiges Etwas definierte Stelle sich als harmlos erweisen würde. Mit keinem Gedanken hatte ich die Möglichkeit einer schlechten Nachricht in Erwägung gezogen, die mich von meinen Zukunftsplänen abhalten könnte.
Während sich eine meiner jungen Kolleginnen einen Spaß erlaubte und mich mit einem „Ätsch, beim privaten Handygebrauch ertappt!" foppte, versuchte ich tapfer zu lächeln, mich zu beherrschen und gleichzeitig mein Bedauern darüber, die Volkshochschulkurse sicherlich wieder stornieren zu müssen, zu überspielen. Mechanisch machte ich mich auf den Weg ins Büro, um erst einmal weiterzuarbeiten, um später zu überlegen, machte aber nach drei Schritten kehrt, ging zurück ins Besprechungszimmer, schloss die Tür und versuchte meinen Lebensgefährten anzurufen. Der war leider nicht erreichbar, ich schrieb eine kurze SMS, klopfte bei meinem Chef und faselte etwas von früher gehen und Arzttermin, er nickte und schon klingelte mein Mobiltelefon, keine fünf Minuten später stand das Auto meines Lebensgefährten vor dem Eingang und wir fuhren – nicht nach Hause, aber an den Fluss, der viele Geheimnisse kennt: an die Balinger Eyach.
Tagebucheintrag: Wer zieht hier die Fäden?
Mein Mikrokosmos ist unzweifelbar
biologisch erklärbar
histologisch überschaubar
ursächlich unklar.
Unser Makrokosmos ist anzweifelbar
philosophisch diskutierbar
wissenschaftlich nicht beweisbar
im Großen und Ganzen ungreifbar.
Im Rückblick finde ich es erstaunlich, wie ruhig ich geblieben bin. Mit 48 Jahren spürte ich zum ersten Mal etwas von der Tragweite der Endlichkeit des Daseins, doch gleichzeitig hatte ich den Eindruck, es handle sich um kurzfristige Terminänderungen und nicht um eine potentiell lebensbedrohliche Diagnose namens Brustkrebs. Ein Riesenkompliment an meine Gynäkologin, meinen Lebensgefährten und meinen Hausarzt, die allesamt Bodenhaftung bewahrten, nicht um den heißen Brei herumredeten und dennoch die unfrohe Botschaft mitfühlend mit mir trugen und mir Vertrauen in die bevorstehende Therapie mit auf den Weg gaben.
Nach dem ausführlichen Gespräch mit meiner Ärztin war ich sofort einige Tage krank geschrieben, um meine Gedanken sortieren zu können. Ich schnappte mir das Fax mit dem pathologisch-anatomischen Gutachten und setzte mich ans Internet, um die mir nicht bekannten medizinischen Begriffe zu deuten. Nur gut, dass ich beruflich bereits mit der medizinischen Terminologie in Berührung gekommen war; doch der Bericht war gespickt mit irreführenden Begriffen. Es war etwas gruselig, sich durch so viele Definitionen zu klicken, in denen überall Schlagwörter wie Überlebensrate, Rezidiv, tödlicher Verlauf, Sterblichkeit, Heilungschancen laut Statistik usw. enthalten waren. Sobald ich die wichtigsten Begriffe gefunden hatte, fuhr ich den Computer aus der abergläubischen Sorge, beim Weiterlesen dem sicheren Tode geweiht zu sein, herunter. Ich hatte jetzt ein unscharfes Bild von einem invasiv-duktalen Karzinom NST (no special type), das mäßig differenziert war (G2), dass der Tumor noch recht klein war (< 2 cm), bei Draufsicht auf 9 Uhr stand und damit gut operabel sein sollte, die Proliferationsrate mit 10 % nicht zu beängstigend war, dass der positive Hormonrezeptorstatus für eine Therapie vorteilhaft war und dagegen der HER-2/Neu-Rezeptor (ein Protein) mit starker Ausprägung Score 3+ weniger vorteilhaft war.
Das K-Wort wirkte nun weniger bedrohlich, ich konnte es aussprechen und denken, auch wenn ich es anderen gegenüber eher vermied (ersetzt durch den Begriff „Tumor"). Ein Krebs war an und für sich ja etwas Schönes, ich hatte im Urlaub schon kleine Krebse fotografiert, die sich zwischen Felsritzen versteckten und doch neugierig daraus hervor lugten. Außerdem war mein Lebensgefährte im Sternzeichen Krebs geboren, das konnte also nur Gutes bedeuten. Man legt sich die Dinge eben so lange zurecht, bis sie passen. Dass ich buchstäblich Glück im Unglück hatte, wurde mir erst später in der Klinik, als ich Menschen mit viel schwerwiegenderen Diagnosen oder weit fortgeschrittenen Krankheitsstadien traf, richtig bewusst.
Es folgten angenehme Tage. Ich erinnere mich an mildes Frühlingswetter, an die Stunden, die ich im gemütlichen Sessel unseres Wintergartens verbrachte, wo sich die vielen neuen Informationen und wirren Gedanken setzen konnten: Ich war dankbar für eine recht gute Prognose (Brustkrebs ist heilbar), genoss die wärmenden Sonnenstrahlen, hatte keinen Zusammenbruch meines Weltbildes erlitten, endlich Zeit zu lesen, hatte auf weitere Deutungsversuche