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Messias Elias
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Messias Elias

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About this ebook

Er ist zurückgekehrt: Nach über 8000 Jahren besucht Gott wieder mal die Erde und ist angesichts der verlotterten Menschheit ziemlich ungehalten. Da er sich neben­her auch noch um die anderen Probleme des Universums kümmern muss, ernennt er den arbeitslosen Elias Young kurzerhand zu seinem Sohn und beauftragt ihn damit, die Menschheit an seine Dreißig Gebote zu erinnern. Viel Zeit bleibt der Welt nicht, um auf den Pfad der Tugend zurückzufinden, denn der Tag des Jüngsten Gerichts steht praktisch unmittelbar bevor. Wird es Elias gelingen, die Menschheit zu bekehren und so vor dem sicheren Untergang zu retten?
Der Abenteuerroman "Messias Elias" versucht auf humor­volle Weise, die alten Geschichten aus den heiligen Schriften mit rationalem wissenschaftlichem Verstand auf Basis aktueller Forschungsergebnisse zu betrachten. Gleichzeitig ist das Buch eine bissige Parabel auf die derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Ein heilloser Spaß für Atheisten, Agnostiker und alle, die es werden wollen.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateDec 13, 2020
ISBN9783752925630
Messias Elias
Author

Matthias Grau

Der 1968 geborene Autor kam neben Kinderbüchern auch frühzeitig mit wissenschaftlichen Schriften in Kontakt. Dennoch entschied er sich gegen eine akademische Laufbahn, erlernte einen kaufmännischen Beruf und wechselte später in die Werbebranche, wo er seine ganze Kreativität ausleben konnte. 2015 veröffentlichte er seinen Debütroman „Erdenend – Das Ende der Welt“, wenig später folgte „Kuschel und die Sommerferien“, ein lustiges Buch für große Kinder und kleine Erwachsene sowie weitere Bücher.

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    Messias Elias - Matthias Grau

    Vorwort

    „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde."

    1. Genesis 1,27

    Wir sind wie er.

    Und er … ist wie wir.

    Abbruch

    „Sie verstehen doch sicher, oder?" Elias Young verstand. Abteilungsleiter Williams hatte ihm alles genau erklärt. Die Umsatzzahlen seien besorgniserregend. Daran sei er – Elias – nicht ganz unschuldig. Nicht abschlusssicher. Ein Verkäufer im Außendienst müsse abschlusssicher sein. Er dürfe den Kunden nicht aus den Klauen lassen. Wenn er schon im Büro eines potentiellen Interessenten sitze, dürfe er nicht eher gehen, bevor dieser seine Unterschrift unter den Vertrag gesetzt habe.

    Als wenn das so einfach wäre. Elias hatte diverse Verkäuferschulungen besucht. Dort brachten zwielichtige Dozenten den Lehrgangsteilnehmern fragwürdige Praktiken bei. Zum Beispiel W-Fragen. Man solle den Kunden nicht fragen – kann ich etwas für Sie tun? Nein, man solle stattdessen fragen – was kann ich für Sie tun? Das sei nämlich viel konkreter, darauf könne der Angesprochene nicht einfach mit ,nein, danke!‘ antworten.

    Die Kunden antworteten trotzdem mit ,nein, danke!‘

    Oder Einwandbehandlungslisten: Ein weißes Blatt, bekritzelt mit einer Skizze, die mehrere Rechtecke enthielt, welche durch Pfeile miteinander verbunden waren. Man rief einen potentiellen Interessenten an und stellte ihm die Frage, die im ersten Rechteck eingetragen war. Von der Antwort hing ab, ob man anschließend dem Pfeil nach unten oder dem nach rechts folgte.

    ,Nein, danke! Kein Interesse!‘ Elias hasste diese Antwort! Denn dann folgte er dem Pfeil nach rechts zum nächsten Rechteck, von dem sich wieder zwei Pfeile gabelten, die wiederum zu weiteren Rechtecken mit Fragen führten und die allesamt dazu dienten, den Angerufenen argumentativ in die Enge zu treiben, bis er keinen anderen Ausweg sah, als einzuwilligen und das beworbene Produkt zu bestellen.

    Sie können sich das Produkt nicht leisten? Pfeil nach rechts: Kein Problem, wir bieten auch Finanzierung an! Über wie viele Monate soll ihre Finanzierung gehen?

    Doch auch die Listen funktionierten nicht. Die Angerufenen am anderen Ende der Leitung fingen entweder an zu schimpfen, oder sie legten einfach auf.

    Ein ehemaliger Kollege von Elias war besonders dreist: Er wählte die Nummer erneut und behauptete frech, die Verbindung sei unterbrochen worden, und ob er, der Angerufene, als Auserwählter nicht das besonders günstige Sonderangebot nutzen wolle.

    Keine 24 Stunden später kam ein Anwalt vorbei und deponierte unter den Augen eines mitgebrachten Zeugen eine gerichtliche Vorladung. Der Angerufene hatte eine Unterlassungsklage gegen das Unternehmen erhoben und forderte eine sechsstellige Summe.

    Vermutlich war das mit ein Grund für die ,Umstrukturierungsmaßnahmen‘, wie Abteilungsleiter Williams Elias’ Rauswurf so raffiniert verklausuliert hatte.

    Marketing funktioniert nicht. Das hatte Elias in einem Onlineportal gelesen. Jährlich gaben Unternehmen Milliardensummen für Werbung aus, und im Gegensatz zu den Experten aus den Verkäuferschulungen gab es auch noch Experten, die genau das Gegenteil behaupteten. Wenn jemand ein Produkt partout nicht benötigte, dann könne man die Filmchen noch so bunt machen, könnten die Sprecher noch so hypnotisierende Stimmen haben, die sich lüstern räkelnden Models noch so sexy sein, der Umworbene würde das Produkt trotzdem ums Verrecken nicht kaufen.

    Elias’ Arbeitgeber hatte mit ihm ein Grundgehalt plus Umsatzbeteiligung vereinbart. Zu Beginn motivierte ihn diese Regelung tatsächlich, sich richtig reinzuknien, den Umsatz möglichst in die Höhe zu treiben. Doch beim Blick auf die Gehaltsabrechnungen folgte schnell die Ernüchterung. Spätestens nach einer netten Unterhaltung in einer Londoner Bar, als eine leicht angetrunkene Personalchefin ihm ein paar Geheimnisse aus den Führungsetagen verriet, war es mit der Motivation vorbei. Durch die Gehaltszusammensetzung aus Grundgehalt und Provision wälzten Arbeitgeber das Unternehmerrisiko gern auf ihre Angestellten ab. Ein Festgehalt müssten sie nämlich auch dann zahlen, wenn der Umsatz am Boden lag. Waren die Zahlen aber schlecht, bekam der Arbeitnehmer mit Provisionsanteil auch automatisch weniger Geld, egal ob er Schuld an der Misere hatte oder nicht.

    Elias war sich keiner Schuld bewusst. Abteilungsleiter Williams saß ihm gegenüber und schaute ihn mit seinen teilnahmslosen grauen Augen an. Der verschlissene Bürostuhl sah aus, als würde der leicht übergewichtige Mann mit der Glatze und den von rechts nach links hinübergekämmten und irgendwie angeklebten Haaren das Polster bereits seit Jahrzehnten mit seinem fetten Hintern platt sitzen. Auch der fleckige blaue Kittel mit den im Ellenbogenbereich abgestoßenen Ärmeln unterstrich diesen Eindruck.

    Das Unternehmen gab es seit gut 80 Jahren. Vermutlich hatte er schon häufiger Angestellte gefeuert. Es war sein Job, es gehörte mit dazu.

    „Haben Sie verstanden? wiederholte Williams seine Frage. „Jaja … Elias nickte. Er war nicht der Typ, der ein Fass aufmachte, wenn ihm irgendwas nicht passte. Kein typisches Alphamännchen. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb seine Umsätze stets im unteren Bereich lagen. Zum Verkäufer muss man berufen sein, so was kann man nicht erlernen. Es hatte zwölf Jahre gedauert, bis Elias das verstanden hatte.

    Eigentlich musste man für jeden Beruf berufen sein, daher die Bezeichnung. Ob Feuerwehrmann oder Polizist, ob Türsteher oder Opernsänger – jeder Mensch hatte seine Bestimmung. Doch was war seine?

    Elias Young, dreißig Jahre alt, eher still und zurückhaltend, ein freundlicher Mensch mit wenig Überzeugungskraft. Wenn er sprach, hörte niemand zu. Wenn er erklärte, fielen ihm die Gesprächspartner gern mal ins Wort. In solchen Situationen verstummte er.

    Ein Kunde, dem er eigentlich eine Menge zu erzählen gehabt hätte, redete ganze zweieinhalb Stunden auf ihn ein. Mit einem unbeschreiblichen Wortschwall erzählte er seine ganze Lebensgeschichte. Hinterher wusste Elias alles über die Vorlieben, die Familie und wie der gesprächige Mann sich den Rest seines Lebens vorstellte. Als Elias endlich zum Abschluss kommen wollte, hatte der Mann es plötzlich sehr eilig und komplimentierte ihn aus dem Büro hinaus.

    Nach diesem Vorfall, den er zu seinem Verdruss auch noch mit Abteilungsleiter Williams ausdiskutieren musste, schwor er sich, nie wieder so devot zu sein.

    Abends hatte er das Thema noch einmal durchkauen müssen, als Sara ihn fragte, wie denn sein Tag gewesen sei. Elias versuchte erst, sich drum herum zu mogeln, aber auch Sara war in ihrem Auftritt recht selbstsicher und bohrte unbeirrt nach.

    „Du wirst es nie zu was bringen", warf sie ihm vor, „wenn du nicht endlich mal dominanter auftrittst! Du musst die Führung des Gespräches übernehmen, nicht dein Gegenüber!"

    Sara. Oje! Wie sollte er ihr das nur beibringen?

    „Sie sind zwar erst sieben Jahre in der Firma, aber ich biete Ihnen trotzdem ein Abfindungspaket an. Es gilt genau 24 Stunden, danach verringert es sich immer weiter, bis nichts mehr davon übrig ist. Haben Sie verstanden?"

    Williams pochte mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte. Zwischen Finger und Tischplatte lag eine schriftliche Vereinbarung. Elias zog sie zu sich heran. Siebentausend Pfund Abfindung. Ein Witz! Aber es war besser als nichts. Er nickte. „Dann unterschreiben Sie hier!" Erneut klopfte der Finger auf die Platte.

    Ein Wink nach draußen, durch die Scheibe der Bürotür. Der kräftige Security-Mitarbeiter trat ein und richtete seinen schweren Blick auf Elias.

    „Mr. Smith, geleiten Sie Elias Young aus dem Gebäude. Er ist ab sofort nicht mehr für uns tätig." Kurzes Kopfnicken, die fleischige Hand von Mr. Smith wies auf Elias und in Richtung Ausgang. Elias verspürte ein unangenehmes Kribbeln in der Magengegend. Mr. Smith würde ihm nichts tun, das war absolut klar, aber dennoch hatte seine Erscheinung etwas Einschüchterndes. Berufung eben. Ihm gehorchte vermutlich jeder.

    Wenig später stand Elias mit einem halbvollen Pappkarton in den Händen auf der Straße. Kein Blick zurück! Nur keine Sentimentalität! Es wird schon werden!

    „Es wird schon irgendwie werden!" Elias hörte seine eigenen Worte, doch er glaubte sie selbst nicht recht. Saras schräge Kopfhaltung bestätigte seinen Verdacht. Dann legte sie los und Elias verstummte. Versager, Nichtsnutz, warum hatte sie sich überhaupt mit ihm eingelassen! Er habe sie nur wertvolle Zeit gekostet, ein Glück, dass das jetzt passiert sei, in zehn Jahren wäre es zu spät gewesen, immerhin sei sie auch bald dreißig. Sie hätte noch so viel vor, Kinder vor allem, und wie solle sie das alles alleine bezahlen, in einer so teuren Stadt wie London?

    Nachdem sie gegangen war, befanden sich auch einige Sachen weniger in der Wohnung. Das Bad schien erstaunlich groß ohne all die bunten Töpfchen und Tiegelchen. Und im ein Meter zwanzig breiten Bett konnte man sich doch erstaunlich gut rekeln und ausstrecken, sobald man nur noch alleine darin lag. Doch diese Gedanken mochten Elias nicht wesentlich erheitern. Denn die Angst kam zurück, das unangenehme Kribbeln in der Magengegend.

    Arbeitslosigkeit, Verlust der Wohnung. London war inzwischen exorbitant teuer! Dabei wohnte er schon in einem der Außenbezirke! Vielleicht ließ der Vermieter mit sich reden?

    Aber nein, warum sollte er? Er würde kein Problem haben, die Wohnung mit einer höheren Miete neu zu vergeben. Bei Besichtigungen standen die Bewerber in Viererreihen, trotz der hohen Mieten.

    Elias’ Kopf füllte sich mit Schwere. Reiß dich zusammen! Doch die Tränen ließen sich nicht zurückhalten. Der seit Jahren angestaute Frust brach nun hervor. Zum ersten Mal im Leben fühlte er eine Aussichtslosigkeit, wie er sie noch nie empfunden hatte. Was nun?

    Die Mitarbeiterin des Jobcenters zuckte ratlos mit den Schultern. „So was haben wir hier nicht. Verkäufer für Vakuumbeschichtungsanlagen? Wofür braucht man die? Wir haben hier nur Stellen für Verkäufer in Bekleidungsgeschäften anzubieten. Oder für Kellner. Da werden immer Leute gesucht. Ach so, die Füße tun Ihnen weh? Tja …"

    Die Zeit verrann wie im Fluge, die Rücklagen gingen allmählich zur Neige. Siebentausend Pfund Abfindung sind nicht viel wert in einer Stadt wie London. Auch im Jobcenter wurde man ungeduldig. „Wenn Sie nicht bald etwas Neues finden, muss ich einen Schlussstrich ziehen! Die Wohnung ist zu teuer! Sie können nicht von der Allgemeinheit erwarten …"

    „Jaja." Elias verließ ihr Büro mit gesenktem Kopf.

    Vielleicht doch erst mal als Kellner? Aber wenn man erst mal etwas angefangen hat, wird man schnell träge und bemüht sich nicht mehr. Für alle Zeiten als Kellner zu arbeiten, schien ihm auch nicht die Erfüllung zu sein.

    Er versuchte es trotzdem. Nach zwei Monaten hatte der Manager der Fast-Food-Kette ihm die Entscheidung abgenommen. Als Kellner muss man sich auch ein paar Dinge merken können! Doch Elias konnte sich kaum die Bestellungen der ihm zugewiesenen Tische merken, ganz zu schweigen von denen der anderen Kellner. Die Gäste bestellten halt bei jedem, der vorbeikam, sie wussten ja nichts von der Aufteilung der Tische. Die Beschwerden häuften sich.

    Irgendwann war Elias’ Spalte an der Tafel mit der Schichteinteilung für die nächste Woche leer. Stumm ließ er die kurze Litanei des Managers über sich ergehen, räumte den Umkleidespind und verließ das Restaurant.

    Gesichter konnte sich Elias gut merken, aber abstrakte Dinge? Namen, Daten … oder eben die bestellten Getränke verschwanden so schnell aus seinem Gedächtnis, wie sie durchs Gehör gerauscht waren.

    „Ist mir egal! Ich hab genug eigene Probleme!" Den Vermieter interessierten Elias’ zerbrochene Beziehung und die Arbeitslosigkeit nicht.

    Elias war pleite. Es war vorbei. Ende der Woche würde er die Wohnung geräumt haben müssen. Glücklicherweise war nicht mehr viel übrig, denn er hatte bereits versucht, die wenigen Habseligkeiten, die ihm geblieben waren, auf dem Flohmarkt zu veräußern. Den Rest hatte Sara mitgenommen. Nur sein Bett und der sperrige Kleiderschrank standen noch da.

    Typisch Frauen! Wenn alle Welt dich verlassen hat, wenn du alles verloren hast, ausgerechnet in dem Moment, wenn du Trost und Unterstützung am nötigsten hättest, genau dann wenden auch sie sich gegen dich und ziehen dir den Boden unter den Füßen weg!

    Nur ein Wunder konnte Elias jetzt noch retten.

    Ein Wunder …

    Elias blickte durch das Fenster zum düsteren Himmel hinauf. Vielleicht sollte ich mal bei Gott nachfragen, was er sich dabei gedacht hat? Einfach mal Frust ablassen? Mich beschweren? Ihn so richtig anbrüllen?

    Seine Eltern waren Protestanten gewesen, aber mehr auf dem Papier, als aus Überzeugung. Sie hatten vielleicht fünf, sechs Mal mit ihrem Sohn eine Kirche besucht, da war er noch ein Kind. Es war stets im Urlaub, an fremden Orten, wo sie die Kirchen mehr wie eine Sehenswürdigkeit betrachteten und nicht als Ort zur spirituellen Einkehr und der Begegnung mit Gott.

    Elias betrachtete noch immer den Himmel. Er war grau und wolkenverhangen, wie schon den ganzen Winter über. Bis zum Frühling waren es noch einige Wochen, doch Gott sei Dank war es nicht mehr so kalt.

    Gott sei Dank. Wie leicht sich das sagt! Dabei wusste nicht einmal jemand, ob Gott überhaupt der richtige Adressat war für Dankbarkeit und Verehrung.

    Kann er mich überhaupt hören, mit so dichten Wolken davor? Elias faltete die Hände vor dem Gesicht.

    Nein, so ein Quatsch, dachte er und nahm sie wieder herunter. Es gibt keinen Gott! Der hätte sich längst mal blicken lassen müssen, bei all dem Übel und Elend in der Welt!

    Er versteckte die Hände hinter dem Rücken, um sie zögerlich doch wieder hervorzuholen. Die Finger verschränkt und das Kinn auf sie gestützt, suchte er nach Worten. Wenig überzeugt von dem, was er tat, flüsterte er: „Gott? Bist du da?" Elias horchte.

    Der Lärm der Stadt war auch hier in den Außenbezirken noch deutlich zu vernehmen. Irgendwo in der Nachbarschaft kläffte hysterisch ein Hund los, nur kurz, denn plötzlich verstummte er, als hätte er sich in Luft aufgelöst.

    „Wie … wie soll ich dich nennen? Gott? Allah? Oder … Jehova? Ich meine … ich habe noch nie gebetet! Ich weiß nicht, wie das geht! Soll … oder … muss ich Amen sagen am Schluss? Damit es auch ankommt?"

    Er sah das Gesicht seines Vaters vor sich. Ein freundlicher, gütiger Mann mit verhaltener Stimme. In seiner Funktion als Arzt und Wissenschaftler hatte er an der Entwicklung von Medikamenten zur Heilung von Krebs geforscht, bis der Krebs selbst ihn schließlich holte.

    Seine weichen, warmen, dunklen Augen und der Vollbart waren Elias im Gedächtnis geblieben. Als Nordländer-Augen hatte Mama sie immer bezeichnet. Männer in Skandinavien hätten häufig solche Augen. Das Augenlid nach außen hin abfallend, den Blick leicht ausgestellt. Augen, in denen sich Fernweh spiegelte wie bei einem einsamen Bootsmann, der aufs weite Meer hinausschaut. Romantische Augen. Wehmütige Augen. In diesem Moment sah Elias alles klar vor sich: Das Meer, das freundliche Lächeln, den Bart, wie er vom Wind zerzaust wurde. Die Augen.

    Kein einziges Mal hatte der Sohn seinen Vater wütend oder ungeduldig erlebt. Er tadelte nie, sondern korrigierte Fehler des Sohnes nachsichtig.

    Elias hatte schon mit zehn Jahren beachtlich an Höhe gewonnen. Jeder Stuhl, jeder Tisch war zu niedrig für ihn. Ab etwa zwölf Jahren begann er daher, mit krummem Rücken bei Tisch zu sitzen. Sein Vater erinnerte ihn stets daran, indem er ihm mit der Hand sanft von oben nach unten über den Rücken strich. Diese stille Methode war ebenso effektiv wie unauffällig und vielleicht deshalb so erfolgreich. Auch nach dem hundertsten Mal verlor sein Vater nicht die Geduld. Irgendwann bemerkte Elias seinen krummen Rücken von selbst und korrigierte die Haltung.

    Es gibt keinen Gott! Wie kann Gott es zulassen, dass so ein guter Mensch vor seiner Zeit einfach hinweggerafft wird?

    „Gott holt jene, die er liebt, als erste zu sich", hatte Elias Mutter ihn zu trösten versucht, und sich selbst vermutlich auch. Kurz darauf nahm sie sich aus Kummer das Leben. Über zwanzig Jahre war das nun schon her!

    Gütig, so sollte ein Gott sein! Sanft, mit weichen, warmen, wehmütigen Nordländer-Augen und einem Vollbart.

    „Vater. Ich werde dich Vater nennen!" Dann wurde Elias flau ums Herz. Sein Schmerz ergoss sich in Strömen von Tränen über das Gesicht. Zunächst glichen seine Worte mehr einem Gestammel. Als er sich wieder beruhigt hatte, trug Elias seine Bitte zunehmend gefasster und geordneter vor. Das Gebet endete, nur so zur Sicherheit, mit einem Amen. Amen!

    Elias lauschte seinen Worten hinterher. Die Geräusche der Stadt klangen mit einem Mal leiser, im Osten lockerte die Wolkendecke auf und ließ den aufgehenden Mond hindurchscheinen. Es sah aus wie ein göttliches Zeichen, fast schon prophetisch, schien es Elias. Doch die scheinbare Vision verging rasch, gefolgt von Regen. Er trommelte auf die blecherne Fensterbank und überdeckte den städtischen Lärm. Dennoch empfand Elias so etwas wie Trost, begab sich zu Bett und schlief schnell ein.

    Mein Bett steht schief! Irgendetwas lastet auf der Matratze. Ich werde gleich herunterrollen, wenn ich mich nicht anders hinlege!

    Noch nicht, ich will noch nicht wach werden! Schlafen. Einfach weiterschlafen … Die Gegenwart ist zu deprimierend, um ihr so früh am Morgen schon Beachtung zu schenken.

    Jetzt bewegt sich das da auf der Matratze auch noch. Ist Sara zurückgekehrt? Nein! Die Art, wie sie aus der Wohnung gestürmt war, hatte keinen Raum für Illusionen gelassen. Aber wenn sie es nicht war, wer oder was war das dann, dort am Fußende auf der Matratze?

    Ich bin so furchtbar müde! Aber vielleicht sollte ich doch besser mal nachsehen!

    Elias öffnete die Augen. Am Fußende des Bettes saß ein alter Mann. Die Beine auf dem Boden, den Oberkörper halb zu Elias hingedreht, sah er ihn an.

    Wobei das Adjektiv ,alt‘ irgendwie nicht so richtig passte. Zwar hatte er grau meliertes Haar und seine sonnengegerbte Haut zeigte eine stattliche Anzahl an Falten. Aber die Augen blitzten frisch und jugendlich. Sie demonstrierten zudem

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