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Lebenspfand: Ein Zeitreiseroman
Lebenspfand: Ein Zeitreiseroman
Lebenspfand: Ein Zeitreiseroman
Ebook387 pages5 hours

Lebenspfand: Ein Zeitreiseroman

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About this ebook

Gerry Jester ist ein von Schuld zerfressener 49-jähriger Pfandleiher aus Texas, der als Kind für den Unfalltod seiner Mutter verantwortlich war. Beim Ankauf eines Möbelstücks entdeckt er zufällig ein verstecktes Gerät, das sich als Zeitmaschine entpuppt und welches ihm die Chance bietet, sein verpfuschtes Leben zu korrigieren. Doch in der Zukunft ist man ihm längst auf die Spur gekommen. Mit allen Mitteln versucht sein Gegenspieler, Haruki Sato, den normalen Verlauf der Geschichte zu erhalten. Denn auch er hat eine Zukunft zu verlieren! Schon bald stehen beide vor der wohl bedeutendsten Frage ihres Lebens – müssen sie zum Mörder werden, um ihre Schicksale zu ändern?
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateMar 11, 2019
ISBN9783748587736
Lebenspfand: Ein Zeitreiseroman

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    Book preview

    Lebenspfand - Robin Carminis

    Lebenspfand

    Ein Zeitreiseroman

    Robin Carminis

    Lebenspfand

    Ein Zeitreiseroman

    Impressum

    Texte: © Copyright 2019 by Robin Carminis

    Umschlag: © Copyright 2019 by Robin Carminis

    Verlag: Robin Carminis

    c/o Behnke & Brandhorst Hörspiele GbR

    Wörthstr. 16

    33607 Bielefeld

    zeitreisende@mail.de

    Druck: epubli

    eBook neobooks, Services der

    neopubli GmbH, Berlin

    Printed in Germany

    ISBN Print 978-3-7485-2908-8

    ISBN eBook 978-3-7485-8773-6

    »Das Leben ist des Lebens Pfand.«

    Johann Wolfgang von Goethe

    Prolog

    Wenn er bloß nicht so verdammt eitel gewesen wäre. Wie viele Jahre hatte er nicht mehr an seine Vergangenheit gedacht? Mit der unerfreulichen Begegnung von gestern Nachmittag war alles schlagartig zurückgekommen. Warum nur hatte er dieses verflixte Buch geschrieben? Erst dadurch waren sie überhaupt in der Lage gewesen, ihn aufzuspüren. Wütend und erschöpft raufte er sich die dünner werdenden Haare. Aber geschehen, war geschehen. Von jetzt an hieß es, noch mehr auf der Hut zu sein. Womöglich war das erst der Anfang!

    Trotz seiner inneren Anspannung riss er sich zusammen und setzte seine Arbeit fort. Nach einer Weile legte er das Schleifpapier beiseite und betrachtete sein Werk kritisch. Immer wieder hielt er es ins Licht und prüfte die Kanten. Seine Augen sagten ihm zwar, dass sie gut gelungen waren, aber auf sein Augenlicht allein, konnte er nicht mehr vertrauen.

    Denn es hatte bereits begonnen! Dabei war er erst einundfünfzig. Blieb zu hoffen, dass ihm wenigstens noch ein paar Jahre mit seiner geliebten Frau vergönnt waren. Er rieb sich die juckenden Augenlider.

    Die Ärzte, bei denen er Linderung seiner Schmerzen suchte, grübelten seit Monaten, woher die akute Trübung der Linsen kam. Sie fanden keine Antwort. Zudem waren das nicht die einzigen Beschwerden. Seine Organe lösten sich regelrecht auf. Leber, Nieren und die Lunge waren betroffen. Das Blutbild war völlig aus dem Gleichgewicht, die roten Blutkörperchen verschwanden förmlich. Auch sein Gedächtnis spielte ihm zusehends Streiche. Eindeutig erste Anzeichen eines rasant voranschreitenden Verfalls.

    Die Mediziner standen hilflos vor Unmengen von Befunden - Röntgenaufnahmen, Angiogrammen, CT-Scans, EKGs, Blutwerte - und zuckten betreten die Schultern. Keine je bekannte Krankheit passte zu dieser massiven Anhäufung von Symptomen.

    Ihn selber wunderte sein gesundheitlicher Zustand in keiner Weise. Er wusste längst, woran es lag. Und er hatte Vorkehrungen getroffen. Betty ahnte von alldem nichts. Bisher hatte er es geschafft, ihr sein Befinden erfolgreich zu verschweigen. Sie sollte sich keine Sorgen machen. Es würde ihr gut gehen. Finanziell war sie seit langem abgesichert.

    Obwohl…erneut fiel ihm das gestrige Erlebnis ein. Hoffentlich reichten seine Maßnahmen. Denn die Zukunft war ab jetzt unberechenbar. Stetig im Fluss und ständig darauf lauernd, unerwartet zuzuschlagen. In dieser Hinsicht ging es ihm von nun an genauso, wie jedem anderen Menschen.

    Er schob die düsteren Bedenken beiseite und fuhr konzentriert mit der Handfläche über das Ergebnis seiner Arbeit. Keine einzige Unebenheit war zu spüren. Perfekt!

    »Na, wie habe ich das gemacht?«, sprach er seine Gedanken laut aus, obwohl sonst niemand anwesend war. Zufrieden wandte er sich nun dem antiken Sekretär zu, den er vor Jahren erworben hatte. Kurz nachdem sein Leben eine völlig unerwartete und schicksalhafte Wendung genommen hatte.

    Lächelnd erinnerte er sich an den Tag, an dem er nach Tyler in Texas geschickt worden war. Betty, die junge Bibliothekarin in der Carnegie Public Library, hatte ihn schlichtweg aus der Bahn geworfen. Hübsch, ledig und genauso brennend an Geschichte interessiert wie er selbst. Es dauerte keine vier Wochen und sie waren verheiratet. Das Leben, welches er bis dahin geführt hatte, war mit einem Mal bedeutungslos geworden.

    Behutsam passte er das Werkstück ein und nahm wohlwollend zur Kenntnis, dass es sich nahtlos einfügte.

    Ein zaghaftes Klopfen holte ihn aus seinen Gedanken. Durch die geschlossene Tür seines Arbeitszimmers hörte er die Stimme seiner Frau.

    »Thomas, bitte verzeih, dass ich dich störe. Magst du eine Tasse Darjeeling mit mir trinken? Ich habe gerade eine Kanne aufgebrüht.« Rasch schaute er sich prüfend um. Nichts, was Fragen aufwerfen würde, lag herum. Also ging er zur Tür und öffnete.

    »Ich habe gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist. Eine Tasse Tee wäre wundervoll.«

    »Wie lange kennen wir uns jetzt schon? Ich weiß doch, wenn du dich einmal in deine Arbeit verbissen hast, dann bekommen dich keine zehn Pferde aus deinem Zimmer.« Er nickte reumütig und verschloss hinter sich sorgfältig die Tür.

    Im Wohnzimmer brannte der Kamin und Betty hatte Haferkekse gebacken. Sie goss ihm eine Tasse dampfenden Tee ein und setzte sich dann selber in den Ohrensessel gegenüber.

    »Woran arbeitest du gerade?«, wollte sie wissen und reichte ihm den Teller mit dem Gebäck. Er winkte dankend ab, weil ihn ein ätzendes Sodbrennen plagte. Ihre Augen trafen sich und es tat einen Stich in seinem Herz. Er mochte sie nicht anlügen, aber es musste sein.

    »Ich«, setzte er an, um eine plausible Antwort ringend, »ich wollte mich mal wieder mit einem anderen Thema beschäftigen. Da kam mir in den Sinn, dass ich schon ewig nichts mehr über die Verbindungen zwischen den einzelnen Kunstepochen recherchiert habe.«

    »Ach wie schön! Für ein neues Buch? Mir fallen da direkt Manet, Matisse und eine zerbrochene Lesebrille ein, weißt du noch?« Betty lachte auf und griff nach ihrer Brille, die sie, wie immer, auf den Kopf geschoben hatte. Sie betrachtete das Stück in ihren Fingern und ergänzte: »Was war ich schüchtern damals. Ich hatte gerade erst die Stelle als Bibliothekarin angefangen, da wollte ich keinen Fehler machen.«

    »Und dann stolpere ich in dich hinein und bringe dich so aus dem Konzept, dass du glatt die Expressionisten und Impressionisten vertauscht hast.«

    »Ja, es muss wahrlich Schicksal gewesen sein, dass du diese uninteressante Provinzbibliothek überhaupt besucht hast«, nickte Betty und trank einen Schluck Darjeeling. Schmunzelnd lugte sie über den Tassenrand und beobachtete die Reaktion ihres Gatten. Dieser protestierte, wie erhofft, empört.

    »Ich habe auf meinen Dienstreisen nie eine einzige Bücherei ausgelassen, egal wie unbedeutend sie auch sein mochte.« Bevor er fortfahren konnte, fiel Betty ihm ins Wort und beendete seinen, ihr wohlbekannten, Vortrag.

    »Denn die größten Kostbarkeiten finden sich oftmals an den abgelegensten Orten. Dort, wo man sie nie vermuten würde. So viele historische Juwelen habe ich auf diese Art in den Büchereien der Welt entdeckt.« Sie grinste breit, als sie sah, wie ihr Mann schmollend den Mund verzog. Erwartungsvoll rutschte sie an den Rand ihres Sessels, denn nun kam normalerweise ihr Lieblingssatz. Und auch dieses Mal griff er zärtlich ihre Hand und sagte: »Aber auf solch einen Schatz zu treffen, darauf hatte mich niemand vorbereitet.« Sie strahlte ihn an, wie jedes Mal, wenn er das sagte.

    Dieser Blick hatte damals sein Schicksal besiegelt. Wie sehr er sie auch heute noch liebte! Wegen ihr hatte er alles hinter sich gelassen und trotzdem diese folgenschwere Entscheidung niemals bereut.

    Nach dem Tee ging er zurück in die Werkstatt. Ein paar Sonnenstrahlen fielen durch eines der Fenster und streiften sein gealtertes Gesicht. Er spürte ihre wohltuende Wärme, während er weiter an die Vergangenheit dachte. Was für eine schöne Zeit! Tausend unschätzbare und liebevolle Erinnerungen. Was hätte er alles verpasst, wenn er seine Betty vor einundzwanzig Jahren nicht getroffen hätte.

    Eine Wolke schob sich vorbei und stahl ein wenig Licht. Mit gebotener Eile brachte er seine Arbeit zu Ende und setzte das sorgfältig angefertigte Teil abschließend ein. Sein Geheimnis war jetzt gut geschützt, aber trotzdem zum Greifen nahe. Er war vorbereitet und hatte noch ein letztes Ass im Ärmel.

    Kapitel 1 - 2015

    Gerry Jester fluchte. Das Geräusch trieb ihn noch in den Wahnsinn. Den ganzen Tag quälte ihn schon dieser nervtötende Piepston. Er stand doch verdammt nochmal nicht neben einem EKG, oder wie hieß dieses Ding, mit dem man die Herztöne aufzeichnete? Mit der flachen Hand schlug er sich immer wieder auf das linke Ohr, aber das ungnädige Geräusch verstummte nicht.

    Und jetzt auch noch das. So ein Ärger! Mittlerweile fuhr er schon zum siebten Mal um die riesige Einkaufsmall und hatte noch immer keinen freien Stellplatz gefunden. Er war doch nicht die fünfundzwanzig Meilen nach Dallas gefahren, um so kurz vor dem Ziel zu scheitern, nur, weil er keinen Parkplatz finden konnte.

    In seiner Heimatstadt Arlington, besonders in seinem Viertel, war er solche Verhältnisse nicht gewohnt. Egal, nun war er hier und würde nicht unverrichteter Dinge umkehren.

    Da! Etwa fünfzig Meter entfernt sah er die Rücklichter eines Wagens in der linken Reihe aufleuchten. Gerry gab Gas. Die Chance durfte er sich nicht entgehen lassen. Schließlich war er nicht der einzige Fahrer, der auf der Lauer lag. Kaum hatte der Ausparker seine Parklücke verlassen, stieß Gerry auch schon mit Schwung in den freigewordenen Raum. Er trat kräftig auf die Bremse, um nicht auf das gegenüberstehende Fahrzeug zu prallen.

    Es polterte. Gerry zuckte erschrocken zusammen. Mist! Hatte er doch zu spät reagiert? Aber das Geräusch war nicht von außen gekommen. Das Päckchen, das auf dem Beifahrersitz gelegen hatte, war bei seinem abrupten Bremsmanöver in den Fußraum gefallen. Er stellte den Motor aus und wischte sich mit der Hand einen Schweißtropfen von der Stirn. Trotz der eisigen Temperaturen draußen, fühlte Gerry sich wie in einer finnischen Sauna. Das alles stresste ihn. Hoffentlich war das Glasfläschchen nicht zerbrochen. Er griff nach dem Paket, hob es auf seinen Schoß und schaute vorsichtig hinein. Alles gut, nichts war beschädigt.

    Immerhin befand sich darin der wichtigste Bestandteil des Cocktails, den er zu mixen beabsichtigte. Er drehte den Behälter in seinen Händen und las die Aufschrift: Amitriptylin. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen legte er das hochdosierte Antidepressivum zurück in den Karton. Das hatte er gut hinbekommen! Das verschreibungspflichtige Medikament war nämlich nicht so einfach im Supermarkt um die Ecke zu kriegen.

    Doch zum Glück gab es Dr. Bold, den Gemeindearzt der Arlington Park Baptist Church. Weniger bekannt durch seine exzellenten medizinischen Kenntnisse, als durch seinen Rezeptblock. Da Dr. Bold, wie jeder wusste, dem Alkohol zugeneigt war, suchte man ihn mit entsprechenden Bitten eher am späten Nachmittag auf, so musste man selten mit lästigen Fragen rechnen. Wenn man zudem sein kostspieliges Hobby, Pferdewetten, unterstützte, gab es überhaupt keine Probleme mehr. Die überreichten Geldscheine für den nächsten Wettschein hatten voll und ganz ausgereicht, um das gewünschte Rezept zu erhalten. Manchmal war das Glück eben ein Rennpferd.

    Hinzu kam, dass Gerrys Familientragödie in der Gemeinde ein offenes Geheimnis war. Kein Wunder, dass er nach hochdosierten Antidepressiva fragte.

    Aber das Amitriptylin allein, würde nicht ausreichen. Die Menge der verschiedenen Medikamente und deren optimale Wechselwirkung war das Geheimnis des Erfolges. Diesmal ging er auf Nummer sicher. Die meisten Arzneimittel lagerten schon zuhause. Sorgfältig vor den Augen seiner Vermieterin, Mrs. Baker, und Taio verborgen.

    Jetzt standen nur noch Aleve Kapseln und Loratadin Saft auf seiner Einkaufsliste. Und die würde er hier in Dallas besorgen. Nicht, dass daheim zufällig jemand die richtigen Schlüsse zog. Man kannte sich halt in der Gemeinde und in Bezug auf Klatsch und Tratsch war selbst eine Großstadt wie Arlington ein Dorf.

    Gerry schlug die Autotür zu. Mitten in der Bewegung schoss ihm plötzlich ein Schmerz durch den rechten Arm. Was war denn jetzt los? Er rieb sich die Armbeuge und ballte eine Faust. Irgendwie brannte es höllisch in seinen Venen und der Arm ließ sich kaum bewegen. Reichte es nicht, dass er Zeit seines Lebens mit einem steifen Bein gestraft war? Fielen nun auch noch weitere Körperteile aus? Ein Grund mehr, all dem endlich ein Ende zu setzen!

    Entschlossen humpelte er auf das Einkaufszentrum zu. Direkt im Eingangsbereich entdeckte er einige Wegweiser, auf denen mehrere Drugstores und Apotheken auf sich aufmerksam machten. Perfekt! Hier würde es ein Leichtes sein, die gewünschte Menge Medikamente zu bekommen, ohne dass er dabei unnötige Aufmerksamkeit auf sich zöge.

    Gerry Jester betrat die Mall und steuerte die erste Apotheke an. Es standen etliche Kunden vor ihm, daher dauerte es einen Augenblick, bis er bedient wurde.

    »Guten Tag, Sir!«, begrüßte ihn der Apotheker endlich. »Was kann ich für Sie tun?«

    »Guten Tag! Ich hätte gern Loratadin Saft«, gab Gerry an.

    »Wie viel Milliliter?«

    »Dreimal zweihundert bitte.« Er bemerkte, wie der Apotheker kurz eine Augenbraue anhob. Rasch senkte er den Blick und gab vor, etwas in seiner Jackentasche zu suchen.

    »Gerne. Ich muss Sie allerdings darauf hinweisen, dass dies die maximale Abgabemenge an Antihistaminika für eine Person ist.«, fügte der Verkäufer mit einem leicht belehrenden Tonfall in der Stimme hinzu. Gerry nickte wortlos.

    «Haben Sie sonst noch einen Wunsch?« Etwas zögerlich bestellte er das zweite Präparat.

    »Ja, Aleve Kapseln. Zwei Schachteln bitte.« Er wusste, dass dies ebenfalls die maximale Abgabemenge war und rechnete fest mit einer Nachfrage seines Gegenübers. Jetzt bloß nicht auffallen! Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Das Piepsen in seinen Ohren schwoll an, die Abstände zwischen den Tönen wurden immer geringer. Er musste sich konzentrieren, um den Apotheker zu verstehen.

    »Ich verstehe«, hörte er den Mann zu seiner Überraschung lapidar antworten. Dann bemerkte er, wie der Verkäufer auf sein steifes Bein starrte und meinte, Mitleid in dessen Zügen zu erkennen. Aber der Arzneihändler drehte sich einfach um und begab sich zu den Regalen, um die gewünschten Artikel zu besorgen.

    Gerry atmete durch. Ein beißender Geruch stieg ihm in die Nase. Es roch penetrant nach Desinfektionsmittel. War hier

    etwas ausgelaufen? Zumindest lief sein Plan besser als erwartet. Eine weitere Apotheke oder ein Drugstore und er hätte alles, was er brauchte. Sicher, der Verkäufer hatte etwas seltsam geschaut, doch wirklich misstrauisch war er nicht geworden.

    Eine Türglocke erklang. Hinter ihm betraten einige neue Kunden den Laden. Mehrere Stimmen redeten wirr durcheinander. Nervös trat Gerry von einem Fuß auf den anderen. Oder machte er sich was vor? Telefonierte der Mann womöglich hinten im Laden bereits mit der Polizei und meldete einen Verdacht?

    »Das macht insgesamt neunundsiebzig Dollar. Zahlen Sie mit Kreditkarte?«, hörte er den Apotheker plötzlich fragen. Dieser war unbemerkt mit einem Korb unter dem Arm zurückgekehrt und hatte, während Gerry in seiner eigenen Gedankenwelt gefangen war, begonnen, die einzelnen Schachteln in einer Papiertüte zu verstauen.

    »Nein, ich zahle bar«, entgegnete Gerry etwas zu hastig und erntete dafür erneut einen überraschten Blick seines Gegenübers.

    »Natürlich, wie Sie wünschen.« Irgendetwas in der Stimme des Mannes ließ ihn innehalten. Es zwang ihn, den Kopf zu heben.

    Gerry erschauderte. Es war, als würde der Mann geradewegs in seine Seele blicken. Nein, da war noch mehr. Glühten die Augen des Verkäufers etwa? Sein Unwohlsein wuchs mit jedem Atemzug. Die Muskeln in seinem rechten Arm zuckten wie wild. Auch das Geräusch in seinen Ohren piepste schlagartig unregelmäßiger und schneller. Was stimmte hier nicht? Das Weiß in den Augen des Apothekers wurde immer mehr zu einem Gleißen, das alles überstrahlte. Gerry musste blinzeln, um nicht geblendet zu werden. Doch es half nichts. Er konnte seinen Blick nicht abwenden und von Sekunde zu Sekunde wurde das Leuchten greller. Nur mit großer Anstrengung, die ihn an den Rand der vollständigen Erschöpfung brachte, schaffte er es, die Augenlider endlich zu schließen. Eine willkommene Dunkelheit und absolute Stille umhüllten ihn.

    Dann blitzte es plötzlich. Ein langer und greller Blitz ohne Donner. Gewitter? Aber es schien weit entfernt zu sein. Er weigerte sich, die Augen wieder zu öffnen. Sollte der Kerl doch jemand anderen anstarren. Seine Gedanken drifteten orientierungslos umher. Ihm war kotzübel. Alles schien sich zu drehen. Hilflos wurde er von wirren Erinnerungen übermannt. Es blitzte erneut. War überhaupt Gewitter angekündigt? Träge fügten sich die Bilder wie bei einem Puzzle zusammen. Ginger, die Wetterfee von Good morning America, hatte kein Unwetter vorhergesagt. Höchstens leichten Schneefall für Dallas.

    Er tastete matt mit der rechten Hand nach seinem Hals. Das Schlucken fiel ihm schwer, in seiner Kehle schmeckte es auf einmal wie rohes Fleisch. Der Arm ließ sich nur unter brennenden Schmerzen bewegen. Allein der pure Versuch ermüdete ihn dermaßen, dass er sofort wieder wegdämmerte.

    Dann nahm er auf einmal unbekannte Geräusche und einzelne Worte wahr. Es klang wie eine dieser Arztserien aus dem Fernsehen. Wie bin ich nach Hause gekommen? Oh Gott, habe ich vergessen, die Flimmerkiste abzuschalten? Ein Gedanke, der erneut seinen Puls beschleunigte. Mahnend schlichen sich weitere Gedanken heran. Stromkosten, Staub, der sich im alten Röhrengerät entzündet, immer noch keinen Rauchmelder gekauft zu haben, Mrs. Bakers Schlaf zu stören.

    »Doktor, wir haben keine Kenntnis über das eingenommene Präparat. Die Verwendung eines Antidots könnte kontraindiziert sein.«

    »Wie ist die Sauerstoffsättigung?«

    »Ich mach ihn schnell aus«, dachte Gerry benommen, doch bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, wurde aus dem Grau seiner Wahrnehmung erneut Schwarz. Ein weiterer Blitz durchzuckte die Dunkelheit. Dieses Mal verweilte er schmerzhaft auf seinem Sehnerv. Gerry kniff die Augen fester zusammen und versuchte der unangenehmen Helligkeit zu entgehen. Jetzt wurde der Blitz sogar von einem Donner begleitet. Das Grollen des Unwetters schwoll an. Aus einer undefinierbaren Richtung mischten sich andere, ungewöhnliche Geräusche hinzu. Der Piepston war wieder da und dazu ein seltsames Schnarren.

    Gerry spürte benebelt die Anwesenheit einer Person. In unmittelbarer Nähe seines Kopfes hörte er Stimmen. Plötzlich wurde sein rechtes Auge berührt und das Lid nach oben gezogen.

    »Reguläre Miosis«, sagte jemand. Seine Pupillen implodierten bis auf Nadelstichgröße. Der Blitz haftete auf ihnen, wie ein unbarmherziger Laserstrahl.

    »Mr. Jester?«, hörte er, wie durch einen Gehörschutz gedämpft, seinen Namen.

    »Mr. Jester, können Sie mich verstehen?« Von Panik ergriffen, versuchte Gerry, sich aufzurichten. Drehschwindel und ein Übelkeit verursachender, saurer Geschmack im Mund waren die Folge. Das Licht erlosch abrupt. Kräftige Hände packten ihn und drückten ihn zurück in das Kissen.

    »Ganz ruhig, Mr. Jester. Wissen Sie, wo Sie sind?«, fragte eine männliche Stimme. Selbst das leichte Kopfschütteln verursachte unangenehmen Schwindel.

    »Mr. Jester! Sie sind im Arlington Memorial. Mein Name ist Dr. Spellman.« Gerry versuchte, etwas zu erwidern, aber sein Mund formte nur tonlose Worte.

    »Ich kann Sie nicht verstehen. Bleiben Sie ganz ruhig! Ihr Kehlkopf ist angeschwollen, das ist ganz normal. Wir mussten eine Magenspülung durchführen. Das EKG…«

    Die Lautstärke der Worte schwankte und sie ergaben zunehmend weniger Sinn. Schleichend verschwand alles in einem warmen Nebel.

    Als Gerry das nächste Mal aufwachte, war er allein. Die Beleuchtung des Zimmers war angenehm gedämpft. Im Gegensatz dazu waren seine Gedanken wieder hell und klar. Er erinnerte sich schlagartig an alles.

    Er lebte! Und das hieß, er hatte versagt - erneut!

    Kapitel 2 - 2085

    Der Anruf hinterließ ein mulmiges Gefühl in Haruki Satos Magengegend. Bisher war sein Job immer reine Routine gewesen. Und jetzt das! Security-Awareness-Meeting um fünfzehn Uhr in Raum Berlin. Das hatte die Sekretärin mit einem undefinierbaren Unterton in der Stimme befohlen. In den Besprechungsräumen mit Namen bekannter Hauptstädte fanden ausschließlich Sitzungen des Board-of-Directors statt. Genaugenommen hatte dort jemand in seiner Stellung nichts verloren. Das konnte nur eins bedeuten - Eskalationsbericht vor dem Gesamtvorstand.

    »In allen Dingen hängt der Erfolg von den Vorbereitungen ab«, zitierte Sato im Kopf eine alte Zen Weisheit, aus dem Land seiner Vorfahren, während er den Fortschritt der laufenden Auswertungen ein weiteres Mal kontrollierte. Analysejobs durchforsteten die Logdateien und spuckten im Minutentakt Berichte aus. Zwar konnte er in der Kürze der Zeit nicht besonders viele Details über die Episode WW2/35 in Erfahrung bringen, aber je mehr Daten er sammeln würde, desto besser.

    Bloß keinen inkompetenten Eindruck hinterlassen, keine nicht belegbaren Schlussfolgerungen präsentieren und, so gut wie möglich, für alle etwaigen Fragen gerüstet sein. Wenn man dem Flurfunk Glauben schenken durfte, konnten selbst Nichtigkeiten zur Entlassung führen. Ein Gedanke, der nicht unbedingt Mut machte.

    Sato begab sich auf den Weg. Die Aufzugstür zischte leise, als sie den Blick in die Vorstandsetage freigab. Der Unternehmensführung eilte der Ruf voraus, stets exzellent über die Entwicklungen im Konzern auf dem Laufenden zu sein. Hastig wischte er sich mit dem Handrücken eine feuchte Stelle von der Oberlippe.

    Durch eine gewaltige Schallschutztür betrat er den, ganz in Glas und mattem Aluminium gehaltenen, Raum. Eingeschüchtert von den enormen Ausmaßen des Saales, zog er unwillkürlich den Kopf ein und seine Schultern verspannten sich.

    Überlebensgroße Konterfeis berühmter Wissenschaftler und Persönlichkeiten beherrschten die wenigen Wände. Im Vorübergehen identifizierte er Albert Einstein, Marie Curie und Martin Luther King auf den gestochen scharfen Schwarz-Weiß-Fotographien. Einige der anderen dargestellten Personen waren ihm dagegen unbekannt.

    Wäre kein hochfloriger, steingrauer Teppich auf das teure Parkett gelegt worden, hätte man eine herabfallende Stecknadel hören können. Es war mucksmäuschenstill, als er eintrat.

    Ein leichtes Schaudern durchfuhr seinen Körper. Die Ausdrucke der Präsentationsfolien, die er für den Notfall angefertigt hatte, raschelten unter seinem Arm. Synthetikpapier war zwar nicht mehr State-of-the-Art, denn selbstverständlich lagen alle notwendigen Daten auf den Servern. Aber Mara, dem allgegenwärtigen Zen-Dämon, war es zuzutrauen, dass er sich sogar als Netzwerkfehler einschlich.

    Als die Anwesenden sein Eintreten bemerkten, richteten sich gespannt alle Blicke auf ihn. Eine junge Assistentin, mit blondiertem Kurzhaarschnitt, wies ihm einen Platz zu. Unbeholfen setzte er sich auf den dunkelgrauen Ledersessel.

    »Wollen wir beginnen, Scoutsupporter Sato?«, forderte ihn der CEO auf.

    »Selbstverständlich Sir, sofort.«

    Hektisch legte Haruki Sato seine Handfläche auf die dafür vorgesehene Stelle im Tisch. Unmittelbar darauf wurde die Glaswand am Kopfende milchig. Die Fensterflächen dunkelten automatisch ab und eine Präsentationsoberfläche erhellte einen Teil des Raumes.

    Eine ältere, gepflegt aussehende Endfünfzigerin im dunkelgrauen Blazer, die ihm schräg gegenübersaß, übernahm die Rolle der Moderatorin.

    »Computer, Aufzeichnung Revision Episode WW2/35 mit aktuellem Zeitstempel starten.« Das direkt vor ihr im Tisch eingefasste Display blinkte bereitwillig zur Eingabe von Notizen auf.

    »Mr. Sato, wir möchten Sie bitten, uns von Mr. Batedors Abreise zu berichten.«

    Der Scoutsupporter stand auf und eilte in Richtung Tischende. Hier vollführte er eine Handbewegung in der Luft, und sofort füllte seine Präsentation die gesamte Wand.

    »Danke sehr. Heute Morgen, um zehn Uhr, habe ich Mr. Batedor im Transitraum empfangen. Exakt, wie vorgesehen.«

    Er wischte die erste Folie beiseite. Ein Zeitplan erschien auf der Wand. Der Name Tomás Batedor und die Uhrzeit waren rot eingekreist.

    »Alle Systeme arbeiteten korrekt, wie Sie aus der Analyse des Task-Monitors ersehen können. Gravitation 100%, Krümmungsgrad CTC abgeschlossen.«

    Er wischte erneut, legte Daumen und Zeigefinger der rechten Hand aufeinander. Als er sie wieder öffnete, vergrößerte sich eine der Grafiken.

    »Entschuldigen Sie Mr. Sato. Ich hätte eine kurze Zwischenfrage«, kam es vom anderen Ende des Tisches. Vor dem Auge des Scoutsupporters erschien ein leuchtend grüner Schriftzug mit dem Namen der Dame, welche die Frage gestellt hatte.

    ›Dr. Sommers, Melissa - CHRO‹ - die Personalchefin.

    »Hat Mr. Batedor vor seiner Abreise Bedenken geäußert?«

    »Nein, Ma’am, Mrs. Sommers. Den Eindruck hatte ich nicht. Im Gegenteil, er wirkte vielmehr neugierig und voller Tatendrang«, erinnerte sich Sato.

    »Wie üblich habe ich ihn über die gesundheitlichen Risiken aufgeklärt und ihn die notwendigen Formulare unterschreiben lassen. Zum Schluss überreichte ich die Utensilien und wünschte ihm eine gute Reise.«

    »Hat er noch irgendetwas gesagt?« Sato überlegte einen kleinen Moment.

    »Den üblichen Scherz aller Historyscouts. Er sagte ›Bis gleich‹. Außerdem hat er sogar noch gewunken. Daran erinnere ich mich genau. Das hatte bis dahin noch keiner gemacht.« Einige der Anwesenden schmunzelten.

    »Aber, ob er sonst noch irgendwas gesagt hat, Ma’am? Da bin ich nicht sicher. Ton- oder Videoaufzeichnungen fertigen wir im Transitraum leider nicht an.« Mrs. Sommers nickte.

    »Danke, Scoutsupporter Sato.« Die Moderatorin blickte beflissen in die Runde der zehn Männer und Frauen, um die nächste Wortmeldung einzuleiten.

    Der CEO beugte sich zum Mann neben ihm herüber und flüsterte ihm etwas zu. Aufgeregt knackte Sato die Fingerknöchel. Stellten sie seine Aussage in Frage? Sekunden vergingen. Jemand goss sich eine Tasse Tee ein. Das Plätschern durchbrach die Stille. Mit zwei Fingern griff sich Sato in den zugeknöpften Hemdkragen und versuchte, seine Krawatte zu lockern.

    »Melissa, eine Frage bitte«, wandte sich der Vorstandsvorsitzende, ohne die Moderatorin zu beachten, an die Personalchefin.

    »Können Sie uns Auskunft über das psychologische Gutachten von Mr. Batedor geben?«

    »Aber natürlich, Paul.« Die Angesprochene räusperte sich, bevor sie fortfuhr.

    »Das Ergebnis war in Ordnung. Mr. Batedor lag sowohl in den medizinischen, als auch in den psychologischen Tests in der Norm«, sagte sie ein wenig zu laut. Der CEO runzelte die Stirn und bohrte nach.

    »In der Norm, Melissa? Also guter Durchschnitt?«

    »Nein, geringfügig darunter«, gab die Personalchefin missmutig zu. »Wären die Anforderungen letztes Jahr nicht massiv erhöht worden, hätte er über dem Mittelfeld gelegen. Ich war von Anfang an gegen die Verschärfung des Auswahlverfahrens, aber ich wurde ja überstimmt. Es ist schwer genug, neue Historyscouts zu rekrutieren.«

    »Nun, wie mir scheint, wurden die Vorgaben noch nicht weit genug erhört, Mrs. Sommers. Nicht wahr?«

    Der Personalchefin schoss das Blut in den Kopf. Ihr war nicht entgangen, dass der CEO sie plötzlich wieder mit dem Nachnamen angesprochen hatte. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme dennoch ungebrochen selbstbewusst.

    »Für sein Alter wurde Mr. Batedor als sehr reif und gefestigt eingestuft. Immerhin ist er mit fünfundzwanzig Jahren unser jüngster Historyscout. Es gab keinerlei Anzeichen für potentielle Insubordination, falls Sie darauf hinauswollen.«

    Bei ihren letzten Worten schwang ein vorwurfsvoller Unterton mit.

    »Tja, das können wir aus aktuellem Anlass wohl leider nicht mehr ausschließen«, entgegnete der CEO kühl.

    »Wie Sie meinen«, gab sie leicht eingeschnappt zurück. »Allerdings würde ich gerne zuerst alle technischen Fragen klären, bevor ich unsere Mitarbeiter unter Generalverdacht stelle.«

    »Es wird wohl das Beste sein, wenn wir das im Anschluss an die Sitzung in meinem Büro klären!«, beendete der Vorstandsvorsitzende das Thema barsch.

    Betretenes Schweigen. Die Moderatorin nutzte routiniert deeskalierend die Atempause der beiden Entscheider und wandte sich nochmals an den Scoutsupporter.

    »Mr. Sato. Bitte teilen Sie uns die Spezifikationen des eingesetzten Systems mit. Ist es korrekt, dass es sich um die ITER 4.0 Release V15.3 handelt?«

    »Das ist korrekt, dies ist die neuste Version und aktuell im Einsatz.« Das Klirren eines Löffels in einer Tasse ließ ihn kurz aufschrecken. Jetzt bloß nicht ablenken lassen.

    »Die ITER 4.0 ist mit fünfzehn Standards konfiguriert«, ergänzte er. Sato verschränkte die Arme hinter dem Rücken, streckte sich und sog tief Luft durch die Nase ein. Bis jetzt lief es doch ganz gut. Einigen Gesichtern nach zu urteilen, erwartete man noch mehr Informationen. Daher fügte er rasch hinzu: »Ich möchte noch erwähnen, dass die Norm von fünfzehn Standards, also Zeitsprüngen, von der medizinischen Division akzeptiert worden ist. Natürlich müssen, neben dieser maximal erlaubten Anzahl Reisen, auch die Vorgaben in Bezug auf Entfernung des Ziels, den zeitlichen Abstand der Expeditionen, sowie die vorgeschriebenen medizinischen Behandlungen, strikt eingehalten werden. Eine Überschreitung dieser Grenzen führt unwiderruflich zu irreparablen Zellschäden. Im schlimmsten Fall zum Tod.«

    Irgendjemand im Raum schnaufte hörbar. Leicht irritiert schaute Sato sich um, fuhr dann aber fort.

    »Zur Sicherheit verfügt die ITER 4.0 deshalb über einen Notfall-Mechanismus, der eine Rückkehr vor Verbrauch der Sprungpunkte ermöglicht. Es ist zu diesem Zeitpunkt leider noch nicht bekannt, ob der

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