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Die erst rückblickend vorhersehbare Geschichte meines Bruders, seiner Mutter und der widerspenstigen Freiheit nach meinem Scheitern
Die erst rückblickend vorhersehbare Geschichte meines Bruders, seiner Mutter und der widerspenstigen Freiheit nach meinem Scheitern
Die erst rückblickend vorhersehbare Geschichte meines Bruders, seiner Mutter und der widerspenstigen Freiheit nach meinem Scheitern
Ebook441 pages6 hours

Die erst rückblickend vorhersehbare Geschichte meines Bruders, seiner Mutter und der widerspenstigen Freiheit nach meinem Scheitern

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About this ebook

Eine junge Frau nimmt sich vor ein perfektes Familienleben zu führen. Dazu sollen auch zwei Kinder gehören, die zwar nicht gleich, aber gleichwertig zu sein haben. Bei beiden bekommt sie in der Schwangerschaft Fieber, gegen das sie kein Medikament einnimmt. Beim Älteren erweist sich das als Glück, denn es wäre Contergan gewesen, beim Jüngeren jedoch führt das zu Taubheit auf einem Ohr.
Um ihren Fehler ungeschehen zu machen, versucht die Mutter das Gleichgewicht wieder herzustellen, was aber nicht gelingen kann, da der ältere Bruder zugleich wesentlich begabter ist. Sie spricht ihm deshalb Fähigkeiten ab und setzt ihm an anderer Stelle Ziele, an denen er nicht wächst, sondern die ihn gefangen halten. Er lernt ihrem Anspruch zu entkommen, indem er ihre Erwartungen zu seinen eigenen macht und sie sogar übererfüllt. Dadurch treibt er sich in eine Karriere, die jedoch letztlich an fehlender Selbstachtung und an der nie entwickelten Fähigkeit loslassen zu können scheitert.
In den Jüngeren hingegen projiziert sie als Ausgleich Eigenschaften und Fähigkeiten, die er nicht hat, und verlangt ihm so mehr ab, als er überhaupt geben kann. Unter diesem Druck bleibt ihm nur der Versuch sich durch immer abstrusere Krankheitsbilder und schließlich Selbstverstümmelung ihrer Erwartungshaltung zu entziehen ohne dabei den Schutz ihrer für ihn unverzichtbaren Obhut zu verlieren.
Erst nach seiner Beinamputation erkennt er diese Sackgasse, aus der er nicht mehr entkommen kann oder will, und rächt sich, indem er ihr die Verantwortung für sein Dasein als Krüppel aufbürdet und so den Rest ihres Lebens zerstört.

So einfach wäre die Geschichte in der historischen Reihenfolge und wenn sich alle Beteiligten über ihre Motive im Klaren gewesen wären.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateJul 16, 2014
ISBN9783847698135
Die erst rückblickend vorhersehbare Geschichte meines Bruders, seiner Mutter und der widerspenstigen Freiheit nach meinem Scheitern

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    Die erst rückblickend vorhersehbare Geschichte meines Bruders, seiner Mutter und der widerspenstigen Freiheit nach meinem Scheitern - Anatol Anders

    1

    Jetzt endlich brach aus ihm das heraus, was er wirklich dachte.

    „Ich spüre doch eine Wärme im Bein" wollte er es noch nicht als tot gelten lassen, während sich der Chirurg schon die grünen Handschuhe hochzog und jemand hinter seinem Kopf und damit außer Sichtweite mit Metall klapperte. Wie sieht so eine Knochensäge eigentlich aus?

    „Sie spüren nur mehr das Absterben der Nerven, darum muss es jetzt auch so schnell gehen, das habe ich Ihnen ja erklärt" klappte der lediglich nochmals den Mundschutz herunter und seine konzentrierten Augen reduzierten Andreas schon zum Operationsobjekt.

    „Richtig" musste er es akzeptieren,  so gefasst wie schon die ganzen Wochen davor, doch diesmal rannen zwei Tränen die Wangen hinunter. Er sah noch die Neonröhren über ihm, den Philips-Schriftzug, den er in den letzten Wochen so oft gesehen hatte, immer den gleichen?, spürte die Injektion, dahinter klapperte es wieder, sah auf die schneeweißen Zehen mit den mittlerweile langen Zehennägel – noch für ein paar Minuten seine Zehennägel! -, die waren die ganze Zeit weitergewachsen, jetzt muss er sie nicht mehr schneiden, wenn man nur auf die Nägel schaut, könnte man übersehen, was für ein Trümmerhaufen unter der Haut war, angeblich gibt es schon schwarze Stellen, er hatte aber nicht hingesehen, und spürte er wirklich?

    Beim Aufwachen dann nicht mehr der unförmige Knüppel – sein linker Unterschenkel im dicken Verband -, nicht mehr die surrende Pumpe, die wochenlang eine eitrige Flüssigkeit mit Blut aus dem Bein gesaugt hat, nur die Schmerzen, die waren noch immer da.

    Krüppel, nicht mehr Verletzter.

    So jedenfalls stelle ich mir es vor.

    Gesagt hat er es mir nicht und er wird es nicht sagen. Ich sollte es wieder einmal selbst verstehen lernen müssen.

    *

    Dabei hatte er seit dem Aufwachen nach der Notoperation am Tag des Unfalls ständig von der Amputation gesprochen, sie herbeigesehnt, sie von den Ärzten sogar immer wieder gefordert, während die Eltern und ich auf das Wunder hofften, sein Bein könnte gerettet werden. Schon ein Hinweis darauf ließ ihn aggressiv werden: Sah denn niemand außer ihm, wie viel ästhetischer der Gang mit einem Bein und zwei Krücken ist als das Gehumple auf einem kaputten Bein? Um wie viel schneller man vorankommt? Warum sollte er sich als Versuchskaninchen für den Ehrgeiz der Chirurgen zur Verfügung stellen, die sich und der Welt nur beweisen wollten, was alles machbar und möglich ist, denen aber egal ist, was für den Patienten das Beste wäre? Warum musste er sich einem bürokratischen Ablauf unterordnen, der kein Aufgeben kannte, auch wenn das gegen jede Vernunft war?

    „Das ist seine Art zu sagen, wie sehr er mich braucht" hatte Mutter alle Hebel in Bewegung gesetzt um ihn vom kleinen Spital in die Universitätsklinik verlegen zu lassen, damit er nur von den bestmöglichen Chirurgen operiert würde und keine Möglichkeit ausgelassen wurde. Hatte er schließlich nicht immer etwas anderes gesagt, als er tatsächlich gemeint hatte?

    „Er wünscht es sich so sehr, dass er unendliche Angst vor einer Enttäuschung hat, wenn er zu sehr darauf hofft" hielt sie sich selbst dann noch aufrecht, wenn auch stundenlanges Zureden Andreas nicht von seiner Meinung abbrachte. Ihn stattdessen dazu provozierte, sie als ahnungslos, naiv, weltfremd und einfach strohdumm zu bezeichnen. Was er natürlich nicht so meinte, was ihm bestimmt unendlich leidtun würde, wenn die Schmerzen einmal nachlassen würden.

    Sie hätte gerne auch mich dazu verpflichtet aus seinen labyrinthischen Gedankengängen wie sie herauszusuchen, was er nur sagte und was er wirklich meinte – „er hängt ja viel mehr an Dir als Du glaubst" unter Schluchzen -, also mehr zu geben als das Telefonat auf meinem Heimweg von der Arbeit, obwohl ich selbst dabei seinen Redefluss meist erst nach mehreren Anläufen und einer weiteren halben Stunde stoppen konnte.

    Waren es nur meine Bequemlichkeit und Gefühlskälte oder schon die Ahnung, dass ihn ohnehin nichts mehr von diesem nächsten und radikalsten Schritt auf seinem Weg abbringen würde?

    Jedenfalls rechtfertigte ich mich damit, dass der Versuch ihm das auszureden ohnehin aussichtslos wäre. Es sei zu seiner fixen Idee geworden, weil ihm die Notärzte unmittelbar nach dem Unfall während der ersten Beruhigungskeule erklärt hätten, dass eine Prothese nicht so schlimm wäre. Dass man in solchen Situationen genau deshalb Morphium verwendet, weil das im Rausch Erlebte, bei Andreas  eben die Harmlosigkeit einer Amputation, auch danach erhalten bleibt und der weiteren Perspektive damit den Schrecken nimmt.

    *

    Wann immer ich ihn in der Klinik besuchte oder ihn anrief, waren die Eltern dort, waren gerade gegangen oder würden gleich kommen. Selbst wenn ich Mutter einmal erreichte und sie nicht bei ihm war, wollte sie nicht sprechen: Sie würde gleich von einem Chirurgen angerufen werden. Sie müsste jetzt einen Arzt anrufen. Sie müsste etwas für ihn erledigen. Und vor allem: Er selbst könnte gleich anrufen.

    *

    Nur die kalkweißen Zehen mit überraschend schnell wachsenden Fußnägeln ließen erkennen, dass diese unförmige Masse einmal sein Unterschenkel gewesen war. Dazu der Rhythmus der Infusionstropfen und die surrende Pumpe, die unendliche Mengen an manchmal farbloser oder rosaroter, meist aber gelber Flüssigkeit herausholte. Ich setzte mich immer auf die Seite des Betts, wo nicht der Urinbeutel hing.

    *

    Was half ihm schon die Erklärung, dass sie sein Fersenbein inzwischen zusammengesetzt hatten? Dass die Knochenstücke tatsächlich noch Kallus bildeten? Ein Hohn, wie stolz sie ihm erklärten, was ihnen gelungen war, während ihn dort nur ein Höllenfeuer aus Schmerzen tyrannisierte. Was erwarteten sie von ihm? Dankbarkeit? Oder Anerkennung, weil sie ihn als Objekt für berufliche Spitzenleistung missbrauchten? Er wollte den Unterschenkel nur weg haben. Eine moderne Prothese war besser als ein eigenes Bein. Hatten sie nicht einem Südafrikaner verboten an der Olympiade teilzunehmen, weil seine Laufleistung durch die Prothesen unfair hoch geworden war? In zwei Wochen wäre er draußen aus diesem Zimmer, keine Schmerzen, keine besserwissenden Krankenschwestern, keine göttergleichen Ärzte, kein Kantinenfraß.  Endlich nicht mehr nur an Schmerz denken müssen.

    Nach jeder Operation das gleiche Ritual: Während die Welt sich um ihn noch von der vielstündigen Narkose immer anders verformte und der Schmerz sein einziger Anhaltspunkt war, erklärten ihm die Chirurgen schon stolz, dass sie diesen oder jenen Knochen aus unzähligen Splittern zusammengesetzt hatten, dass sie mit Titanteilen die Lücken ergänzt hatten, wo nur mehr Knochenbrei abgesaugt werden konnte. Dabei wollte er es nur los sein. Sogar die  axiale Bewegungsfähigkeit der Fußschaufel würden sie wieder herstellen können, erklärten sie sich mehr gegenseitig als ihm. Die Seitenbewegung hingegen bedurfte eines mehrstufigen Aufbaus, da dazwischen immer probiert und nachgemessen werden musste, voraussichtlich drei Etappen. Also noch drei Operationen! Er wollte nicht mehr, er konnte nicht mehr, was soll schon so furchtbar sein an einer Prothese?

    Er solle doch froh sein, dass er in einem Land lebe, in dem solche Behandlungen nicht nur möglich seien, sondern auch gemacht werden, sagten sie dann. Nichts sei leichter als ein Bein abzuschneiden, das habe man im Krieg gesehen, Narkose, Knochensäge, zugenäht, erledigt. Aber wenn er doch gar nicht wolle? Sie würden ihn daran erinnern, wenn der Alltag wieder begänne. Wenn das Morphium einmal abgesetzt sei.

    Dabei war es eben dieser Alltag, den er sich mit solchen Schmerzen erst gar nicht vorzustellen vermochte und es war genau dieses Morphium, das ihn seine Optionen klar abwägen ließ, denn in einem Feuerwerk aus Qualen konnte er nicht denken. Sie dürften doch gar nicht anders entscheiden, als mit allen Mitteln sein Bein zu retten versuchen, beendeten sie die Diskussion schließlich meist, und er könne ihnen und sich helfen, indem er genügend  Proteine essen würde, damit die Muskeln so gut wie möglich erhalten blieben und es später Substanz für den Wiederaufbau von Muskeln und Haut gäbe.

    *

    „Für Mutter ist alles erledigt, wenn ich aus dem Spital komme und das Bein noch dran ist" war ein typisches Telefonat, wenn ihn das Morphium wie aufgezogen plappern ließ.

    „Wie es mir dabei geht, ob ich das überhaupt will, das interessiert sie alles gar nicht. Hauptsache erledigt. Hauptsache keinen Krüppel in der Familie."

    Ich versuchte ihn erst gar nicht zu überzeugen, hinterher würde er mir dann nur vorwerfen,  ich hätte ihm das Falsche geraten.

    „Ich wünsche Dir Du kannst darüber selbst entscheiden, wenn Du wieder einigermaßen klar bist" ließ ich deshalb alles offen. Und er wiederholte seinen Gedanken immer wieder, bis ich aufhören musste oder seine Schmerzen so stark wurden, dass er neues Morphium brauchte. 

    *

    Auch wenn sich alle Linien nach einer Operation bogen und die Lichter bis in sein Hirn leuchteten, die Stimmen hallten und ihn seine eigene Schwere in die Matratze drückte, so waren doch diese Stunden immer seine besten. Die Narkose erstickte nämlich auch die Schmerzen und während sein Hirn langsam klarer wurde, begann jedes Mal die Hoffnung, dass die Schmerzen diesmal vielleicht nicht zurückkämen. Er dachte nur an das Bein, verfolgte den Verlauf geistig – sehen konnte er es aus seiner Liegeposition unter der Decke nicht – Zentimeter für Zentimeter, über das Knie hinaus Richtung Knöchel. Noch kein Schmerz. Noch erträglicher Schmerz. Immerhin noch besser als vor der Operation. Wieder unverändert. Die Flammen leckten seinen Unterschenkel entlang, begannen an der Ferse und eroberten sich die Rückseite, dann die Vorderseite, dann auch das Knie. Anfangs hatte er noch den Tastendruck auf die Schmerzpumpe vermieden, jetzt nicht mehr. Was hilft es schon? Wohlig warm strömte dann Morphium durch seinen Körper, alles entspannte sich, sein Körper erhob sich aus der Matratze. Das Feuer reduziert auf siedendes Wasser und er konnte wieder denken: Machten sie die Operationen überhaupt für ihn oder nur für ihren Berufsstolz? Wie viele Operationen würde es noch geben? Wann würde sein Körper die Narkosen nicht mehr aushalten? Würden die Schmerzen je vergehen? Wie lange würde die Rehabilitation dauern? Die volle Bewegungsfähigkeit würde er wahrscheinlich nicht erreichen, als muss er damit gleich umgehen lernen wie mit einer Prothese. Wenn der Untergrund uneben ist, dann reicht die axiale Bewegung der Schaufel nicht mehr zum Gehen, da wäre eine Prothese mit ihrer Federung und Stoßdämpfer sicher besser. Ein Krüppel wäre er auf jeden Fall.

    Wäre es da nicht besser, dass wenigstens jeder gleich sah, dass er es war? Würde er nicht dann endlich auch besser behandelt werden?  Was nicht gesehen wurde, existierte offenbar nicht: Seine Hormonstörungen hörten sie sich vielleicht zwar an, aber schon im nächsten Moment verhielten sie sich, als ob es nicht um ihn ginge, als ob alles nur Theorie wäre. Kein Bedauern, kein Mitleid, keine Rücksicht. Keine Anerkennung, wie er damit umging. Schlimmer noch, wenn er einer Frau davon erzählte, dann heuchelten sie vielleicht noch Mitgefühl für dieses oder jenes Symptom, aber spätestens wenn er auf die auf die eingeschränkte Potenz zu sprechen kam, wechselten sie das Thema und er sah ihnen an, dass jede weitere Minute mit ihm für sie nur mehr verloren war. Also sollten sie es lieber gleich sehen, kein Bein! Dann konnten sie einen Bogen um ihn machen, nicht mit ihm reden, wenigstens gäbe es keine Enttäuschung über geheucheltes Interesse. Aber die anderen  würden endlich verstehen müssen. Sich anders verhalten müssen.

    Was soll er also mit einem nur optisch reparierten Bein?

    *

    Mutter verstand, warum er das Eiweißpräparat nicht nehmen wollte, vielmehr gar nicht  nehmen durfte. Schließlich machte ihm sein Hormonhaushalt immer stärker zu schaffen, je länger er seine Testosteron-Medikamente nicht nehmen durfte. Und die Chirurgen hatten keine Ahnung, wie mit seiner Problematik umzugehen wäre und machten sich auch nicht die Mühe, einen Endokrinologen zu fragen, sondern zwangen ihm lieber standardmäßig Eiweiß auf.

    Jedenfalls nahm sie jeden Tag eine Flasche mit nach Hause, später, als seine Dosis verdoppelt wurde, alle beide und versuchte sie all denen aufzudrängen, die es in ihren Augen natürlich viel dringender brauchten. Wie ihr Vater, verglich sie stolz, der am letzten Tag im Krankenhaus jedes Mal dem Arzt die Lade gezeigt hatte, wo er all die Tabletten gesammelt hatte, die er hätte einnehmen sollen.  Andreas wusste es besser als die Ärzte, selbst wenn sein Zustand so schlecht war, es war einfach unglaublich, über welche Dinge er wie genau Bescheid wusste.

    *

    „Jeden Tag in der Früh denke ich mir nur:  Hoffentlich können sie Dein Bein retten!" Mutter ließ die ganze moderne Technik von Prothesen nicht gelten, schließlich sei ein eigenes Bein immer noch ein eigens Bein und auch mit einer Gehbehinderung sei man noch lange kein Krüppel. Wenn es nur dranbliebe, Schmerzen hin oder her. Ihr tut schließlich auch jeden Tag etwas weh, die Zähne müsse man schon zusammenbeißen. Glaubt er denn wirklich mit einer Prothese sei alles gelöst? Er hat ja keine Ahnung, wie ihr Vater mit seinem fehlenden Bein gekämpft hat! Sein ganzes Leben wäre anders verlaufen, wenn ihn nicht jeder als Krüppel behandelt hätte. Sie hätten ihn nicht ständig hintergangen und ausgenützt. Sie hätten nicht nur den Körper gesehen, sondern auch den Menschen, der darin gefangen war.

    Wollte er wirklich so ein Schicksal?

    *

    Vater hatte es einfach satt. Wieso musste er wieder alles ertragen? Hatte Andreas ihn gefragt, als er wieder mit den Motorrädern anfing? Hatte er ihm nicht gesagt, er solle keine Harley nehmen, weil sich die bei Geschwindigkeit kaum kontrollieren ließen? Bei den Entscheidungen soll er nie dabei sein, aber hinterher, wenn der Schaden da ist, da kann er dann kommen.

    *

    „Wir haben es geschafft stand der Chirurg mit einem Röntgenbild vor ihm „das Puzzle ist zusammengesetzt. Und das Beste überhaupt: Die Beweglichkeit wird über 80% liegen! Wollte er einen Vortrag vorbereiten? Die Schmerzen loderten wie am ersten Tag. Nicht einmal eine konkrete Stelle war auszumachen, das Zentrum nicht zu finden. „Jetzt kommt noch der Kollege für die Haut und packt unser Kunstwerk ein Und die Schmerzen? „Das kriegen die auch noch hin! hatte er seinen Teil erfüllt.

    Es sollte die letzte Erfolgsmeldung gewesen sein. Die noch vorhandene Haut am Unterschenkel reichte nicht, ein Titanteil bohrte sich heraus. In der nächsten Operation nahm man deshalb Haut vom anderen Bein - also zusätzliche Schmerzen und eine neue riesige Narbe - aber die wurde abgestoßen.

    Sie holten Haut vom Oberarm, noch eine Narbe, und wieder kein Erfolg. Sie steigerten die Proteindosis um endlich die Abmagerung zu beenden und mehr Substanz zu schaffen, was wir nur daran erkannten, dass Mutter noch mehr Flaschen nach Hause brachte. Ob nicht das fehlende Protein ein Problem sein könnte, fragte ich sie, aber Andreas hatte ihr schon erklärt, dass die Haut ja kein Muskel sei, im Gegenteil also, je kleiner die Muskeln umso weniger Haut brauche man auch zum Abdecken. Er hatte sich ganz genau informiert.

    Warum konnten sie nicht endlich amputieren?

    Einen Ausweg gäbe es noch, verstanden die Ärzte nicht, warum er das Bein opfern wolle, das gerade bilderbuchhaft gerettet worden sei: Man könne einen Strang des Bauchmuskels  für das Sprunggelenk verwenden. Die Bauchmuskulatur sei nämlich nicht im gleichen Ausmaß nötig.

    Nein, seinen Bauchmuskel opfert er bestimmt nicht. Gerade auf ihn war er immer so stolz gewesen! Wer konnte schon 1000 Sit-ups ohne Unterbrechung machen? Nie wieder würde er aus dem Liegen ohne Hilfe der Arme aufstehen können! Und er liebte es seine Hand von seinen Rippen ausgehend über den festen Bauchmuskel gleiten zu lassen und die Festigkeit und Straffheit zu spüren. Dieser Muskel war der einzige, der ihm die ganze Zeit geblieben war, den würde er nicht hergeben. Noch dazu für ein Bein, das ohnehin längst verloren war.

    Zuerst hatten sie die Knochensplitter zusammengebastelt ohne daran zu denken, dass sie danach Haut brauchen würden. Jetzt wollten sie ihm den Bauch nehmen ohne daran zu denken, was danach käme. Nein, nicht den Bauchmuskel. Nur endlich amputieren.

    Ahnten die Ärzte endlich,  welche Macht da ihre Bemühungen behinderte, als sie den Leiter des Rehabilitationszentrums holten, damit er Andreas erzählte, wie das tägliche Leben von Prothesenträgern aussah? Sie verschoben die nächste Operation um kostbare drei Tage und was immer er ihm erzählt hatte, zumindest redete Andreas zum ersten Mal nicht mehr von der Amputation. Zwar wollte er weiterhin nicht auf seinen Bauchmuskel verzichten, aber wenigstens auf Haut aus dem anderen Oberarm.

    War es also reiner Zufall, dass genau an dem Tag, als in Google News von einer Studie berichtet wurde, nach der männliche Hormone die Heilung von schweren Verletzungen deutlich erschweren, er begann seine testosteronhaltigen Hormonpräparate wieder zu nehmen, was ihm die Ärzte verboten hatten und was er ihnen jetzt auch verschwieg? „Damit er endlich wieder Zuversicht und Kraft hat" hatte sie ihm Mutter heimlich ins Spital gebracht.

    Sicher ist, dass er Google News damals täglich las. Sicher ist auch, dass er genau damals wieder mit der Einnahme begann. Ungewiss ist, was er damit erreichen wollte. Ob er selbst oder sein Unterbewusstsein gerade das Kommando hatte.

    Zwei Tage später dann die entscheidende Hauttransplantation und kurz darauf das tote Bein. Und dann – schon auf dem Operationstisch - das einzige Mal ein Eingeständnis, was er wirklich wollte.

    Rückblende: Phase 5

    Von diesem Tag sind mir viele Details wie eingebrannt in Erinnerung geblieben, obwohl sie sich in nichts von denen vieler anderer Tage unterschieden, die ähnlich angefangen hatten. Und das lag nicht daran, wie sehr  dieser Tag  mein Leben verändern würde, denn das würde mir erst viel später klar werden.

    Eine typische Eintagsreise zum Headquarter nach München, Abflug um 6 Uhr, also Aufstehen um 4 Uhr dreißig. Der Wecker war nicht einmal abgegangen, da ich wieder einmal schon vorher hellwach gewesen war und den vorangegangen Tag nicht loswerden konnte: Technische Schwierigkeiten, von denen der Vorstand wieder gesagt hätte, dass sie aus meiner Position mit Durchsetzungskraft und nicht mit technischer Detailliebe zu lösen seien, wo ich aber wusste, dass man die rettende Idee nicht anschaffen konnte, ich also dabei sein musste. Übrigens Risse im Inneren eines Kondensators, ich weiß sogar noch welcher. Ärger mit dem Vertrieb in Deutschland, der zwar vorher nie Planzahlen abgab, dann aber Rekordlieferzeiten brauchte und seine Polemik über unsere Unfähigkeit natürlich gleich beim Vorstand platzierte, er war ja nur zwei Stockwerke entfernt. Diesmal wieder einmal Temperaturfühler für Bosch, einer der größten Kunden des Gesamtkonzerns,  das würde also heute nicht als Thema fehlen.  Das Nachfolgeproblem für die Qualitätsabteilung, wo der Leiter gekündigt hatte. Die längste Zeit hatte ich ihn gegen den Vorstand verteidigen müssen, weil der keine externe Besetzung gewollt hatte, aber jetzt war es plötzlich ein Riesenverlust, den man natürlich mir anlastete, auch wenn er mir gesagt hatte, was die wirklichen Gründe für seinen Weggang gewesen waren.  Zuwenig Aufträge, wie schon die letzten zwei Jahre, wie für alle anderen Bereiche, alle Konkurrenten, sogar Kunden, aber schließlich war genau mein Bereich der, von dem man in der Vergangenheit am meisten Wachstum erwarten konnte und sofort war wieder von meiner Präsenz bei Kunden die Rede gewesen.  Dazu eine stockende Vertragsverhandlung, Preise und Haftungsbedingungen, der Vorstand wollte endlich eine Pressmitteilung darüber, man brauchte positive Schlagzeilen, das Damoklesschwert sah er nicht oder es war ihm auch nicht wichtig. Dazu die Vorbereitung auf die heutige Strategiebesprechung für Kondensatoren, ich war bis 10 im Büro, auf der Heimfahrt noch mit Sylvia telefoniert, wenigstens diese halbe Stunde sollte unsere sein, aber  auch hier nichts Positives, ihr Vater erholt sich nur wenig von seinem Schlaganfall. Schnelles Essen und tatsächlich bin ich sofort eingeschlafen, aber schon nach drei Stunden war ich wieder wach und die Gedanken bei Rissen und Lieferung und Vertrag, bis an Schlaf nicht mehr zu denken war und ich den Wecker nicht mehr brauchte.

    Es war die letzte Woche vor dem Schulferienbeginn, nach der Sicherheitskontrolle wurden kleine Flaschen mit Sonnenmilch verschenkt, ich nahm ein paar mit, als ob ich viel an die Sonne kommen würde, tatsächlich erinnerten sie mich noch Jahre danach beim Einpacken für den Urlaub an diesen Morgen. Im Flugzeug konnte ich wenigstens die Zeitung lesen, dann schon Landung und S-Bahn, zu Fuß durch einen kleinen Park, der Sommer hatte begonnen, die greifbare Unbeschwertheit des Schulendes, wenn die Noten feststehen.  Verkäuferinnen auf dem Weg zur Arbeit, bunter und unbeschwerter als noch letzte Woche. Jede Woche der gleiche Ablauf, die Jahreszeiten nur als Kulisse für das Voranschreiten des Geschäftsjahres.  Der Himmel blau, das vorerst unbesiegbare Grün der Sträucher vor der ersten Hitze. In mir hingegen der Vertrag und die Lieferschwierigkeiten. Ich rufe den Entwickler wegen der Risse an, die neuen Testergebnisse  zumindest nicht so schlecht.

    Ein kurzer Termin in der Personalabteilung, dann das erste Treffen mit den drei Vorständen und dem eigentlichen Chef,  theoretisch nur mehr Aufsichtsrat, und meinem Marketingleiter zur Strategie bei Kondensatoren. Der Alte ist  irritiert, warum der Marketingleiter dabei ist, ich hatte ohnehin erwartet, dass er eigentlich etwas anderes in der Sitzung wollte, wie er schon seit Wochen in jedem Gespräch etwas anderes zu wollen scheint, es aber nicht nennen kann.  Das ganze Gespräch seltsam lustlos. Ich wusste natürlich, welche Aussagen dem Alten die Gewissheit geben, dass sein Wille mich erreicht hatte, und wie alle anderen  musste auch ich ein paar solche in meine Erklärungen einbauen, wenn das Gespräch überhaupt zu Ende geführt werden sollte, doch diesmal schienen sie ihn mehr zu stören als Aussagen, von denen ich wusste, dass er sie nicht hören wollte. Trotzdem kaum Widerspruch. Soviel hätte sich Hinterlaß, der für meinen Bereich zuständige Vorstand,  bei seinem Besuch am letzten Freitag auch abholen können.

    Eine Stunde in der Rechtsabteilung, natürlich ist die Haftung gefährlich und auch so hoch, dass sie den Konzern gefährden würde. Also mit dem Juristen wieder hinauf in die Vorstandsetage. Noch beim Hereinkommen schickt der Alte den Juristen weg.  Diesmal sind zwei Vorstände dabei, auf jeder Seite sitzt einer, hinter ihm das Fenster, weil immer sein Gegenüber Gegenlicht haben sollte, wie er bei Geselligkeiten jovial bekennt, draußen auch hier saftiges Grün von Baumwipfeln und etwas weiter weg eine große orange Kugel, Werbesymbol einer anderen Firma, die ich immer am Weg durch den Park gesehen hatte, deren Details ich aber erst in den nächsten Minuten aufnehmen würde, während das eigentlich längst Erwartete jetzt doch unerwartet eintrat. Es waren zwei Halbschalen mit Zacken, die aufeinander gesetzt waren, es war auch nicht ein einheitliches orange, sondern ein helleres oben, ein dunkleres unten. Vor blauem Himmel, über grünen Baumwipfeln.

    „Sie wollten damals die Position ja gar nicht  entzog sich der Alte jeder Begründung für das geänderte Thema „Ich habe damals lange gebraucht um Sie davon zu überzeugen Natürlich nicht unerwartet. Natürlich nicht so erwartet, nicht gerade heute. Die nach unten gerichteten spitzen Zacken der  Halbkugeln waren schwarz von abgelaufenem Regen.

    „Sie haben natürlich die größte Technikkompetenz von allen. Das bezweifelt keiner. Und man kann auch nicht sagen, dass Sie ein Weichei sind." Ich konnte sein Gesicht wie von ihm beabsichtigt im strahlenden Gegenlicht nicht erkennen, er hielt mit beiden Händen die Tischplatte fest. Die beiden Vorstände saßen bewegungslos an seinen Seiten, auch ihre Gesichter im Schatten. Der oberste Teil der Halbkugel war weiß. Sonnenlicht oder Vogelkot wie auf den Felsen in Südamerika? Ich glaube nicht, dass sich auch nur mein Pulsschlag änderte, es war als wäre ich gar nicht dabei.

    „Aber für eine Aufgabe mit 4000 Mitarbeitern, die so komplex ist, braucht man einfach mehr zögerte er erkennbar vorberechnet „Charisma. Und das ist Ihnen nicht gegeben Er hatte mir ja schon einmal gesagt, dass man groß und gewichtig sein sollte, beides war ich nicht. Größer als er war ich immerhin, dachte ich mir damals. Auch die beiden Orangetöne selbst hatten noch Schattierungen, die nicht nur aus dem Lichteinfall kamen.

    „Wollen Sie mich hinauswerfen?" fragte es aus mir. Hatte er erwartet, dass ich mich rechtfertigen würde? Seine beiden Daumen lagen auf der Platte, meine hätten sich in dieser Situation verspannt, seine nicht.

    „Ich möchte darum, dass Sie wieder nach Ungarn gehen, das hat ja funktioniert  Heißt: „da haben Sie funktioniert

    „Kann ich in Österreich bleiben?" überraschte ich ihn gleich nochmals. Er stand auf und wollte zur Tür, die 2 Vorstände wie Hündchen hinterher. Er musste an mir vorbei, der Nachteil seiner Sitzposition, aber sehr unangenehm war ihm auch das nicht, er vermied nicht einmal gezwungen den Blickkontakt, ich war nur einfach nicht mehr da. Auch kein Gruß.

    „Das sollen die beiden machen hatte er seine Aufgabe erledigt und schon draußen hörte ich ihn zu den beiden sagen „So erledigt man das, jetzt fehlt  nur mehr  Gerbner  Schaut her, so macht man das! Und offenbar war mein Kollege der anderen Division, einer der besseren übrigens, der nächste Programmpunkt.

    Ich war allein im leeren Besprechungszimmer zurückgeblieben, 4 Minuten waren seit dem Beginn vergangen, soviel war ich also wert nach 17 Jahren und vier Ländern, draußen noch immer die orange Kugel. Ich hatte danach zum Vertriebsleiter Deutschland gehen wollen, telefonieren wegen Liefertermin und auch wegen der Risse, hatte zur Patentabteilung gewollt. Alles weg, alles ohne mich. Ab wann eigentlich?

    Der Vertriebsleiter Deutschland kam mir aus dem Lift entgegen. „Ich muss jetzt Becker sagen, dass wir noch immer keinen Termin haben und er endlich was in ihrem Werk tun soll begrüßte er mich und mein Stammhirn konnte dennoch ungerührt schnippisch sein „Hat sich erledigt und während er mich noch anstarrte „Sie können sich jetzt mit einem anderen Bereichsleiter vergnügen. Ich bin es nicht mehr. Er suchte Blickkontakt, soviel hatte er offenbar doch nicht gewollt,  doch mein Gesicht zeigte nichts von mir. „Und jetzt? fragte er, was ich selbst noch nicht gefragt hatte. „Und jetzt will ich von der Scheißfirma nur mehr weg" formulierte sich selbstständig, was ich bisher nicht gedacht hatte, während mein Körper in den Lift stieg und mein Finger das Stockwerk meiner Abteilungen wählte.   Meine Füße gingen aus dem Lift hinaus. Aber was erwartete man von mir? Dass ich hier auf einen Anruf wartete, wo mir mehr erklärt wurde, wie es weitergehen sollte? Dass ich weitermachte, bis etwas verlautbart wurde? Dass ich um einen Termin bitten sollte?

    Dann kam ein Anruf aus dem Werk wegen der Risse und für ein paar Minuten war ich zurück in dieser Welt, Bewertung des technischen Risikos und der Konsequenzen, bleiben sie über längere Zeit dicht? Wann gibt es allenfalls eine neue Charge? Wird wohl gut gehen, denke ich mir beim Auflegen um gleich eingeholt zu werden. Nicht mein Problem! Und Gar nichts geht gut!

    Ich – endlich wieder ich - gehe zurück zum Lift, fahre hinunter und – noch vor wenigen Minuten ungeheuerlich - gehe einfach aus dem Gebäude. Mittagspausenzeit, Verkäuferinnen sitzen auf den Parkbänken, Fußball auf einer Wiese. Kein einziger Geschäftsmensch wie ich mit Sakko und Aktentasche. Ich rufe Sylvia an, die natürlich fragt, ob ich traurig bin und dass ich es nicht sein sollte, aber sonst natürlich auch nicht helfen kann. Dann meinen Kollegen, der heute nicht dabei war und sich geschockt gibt, wahrscheinlich aber erleichtert ist, dass er damit für sich Zeit gewonnen hatte, zwei Geschäftsführer wechselt man nicht innerhalb von ein paar Wochen, wahrscheinlich hätte ich auch so gedacht. S-Bahn zu Mittag, eigentlich warte ich noch immer auf einen Anruf, wie es weitergeht, aber der kommt nicht. Gebäude von Fernsehsendern, Felder mit Getreide und ein paar Mohnblumen. Ich spüre, dass mich alle anstarren. Geschäftsmann in der S-Bahn zu Mittag, telefoniert nicht, liest nichts. Ein Schwindler?

    Kein Schmerz, keine Angst, nicht einmal Wut über die Behandlung. Das alles sollte erst am nächsten Tag kommen. Nur mein Körper, geschwächt und untrainiert nach 7 Jahren ohne Freizeit und fast ohne Bewegung,  lächerlich hineingestopft in Business Kleidung. Ich beobachtete zum ersten Mal das Geschehen entlang der Bahnstrecke als gäbe es nichts Wichtigeres.

    Es gab ja auch nichts Wichtigeres mehr.

    Ich hatte diese Tretmühle gehasst, ich hatte gelitten, gezittert, gehofft. Irgendwelche Themen, die man niemandem Außenstehenden auch nur erklären konnten, nicht einmal Sylvia, hatten mein Leben bestimmt. Ich hatte gekämpft, hatte alles gegeben, was ich hatte, jeder Moment war geprägt von dem, was zu tun war, ich hatte entschieden, nicht für mich, nur zwischen Alternativen, zwischen kleineren Übeln, immer auf Bruch belastet.  Und wie ein Masochist muss ich die Qualen schließlich doch auch geliebt haben: Bis vor zwei Stunden war das noch ich.

    Jetzt ist alles leer, die Gedanken, der Inhalt, der Sinn herausgeschnitten. 

    Amputiert. 

    Ich bin es nicht mehr. Ich bin nicht ich. Ich bin nicht mehr vollständig. Ich bin nur mehr der Rest.  Der Stumpf ohne Funktion.

    Die Lounge leer, alle Geschäftsleute fliegen natürlich in der Früh oder am Abend, nicht einmal Lust auf die Schokolade, die ich sonst jedesmal für zuhause eingepackt habe. Wirtschaftsnachrichten auf dem Bildschirm, nicht für mich, was soll ich mit Wirtschaft? Nichts lesen, nichts denken, nur schauen. Alle schauen mich an. Alle merken es. Wissen es.

    Auch das Flugzeug leer, nur Urlauber in Jeans und Polo, Sporttaschen statt Aktenkoffer in den Ablagen, die Stewardess freundlich wie immer. Sieht sie meine Verstümmelung? Was fehlt? Auch die höchsten Berggipfel schon ohne Schnee, die Sonne noch immer, als könnte es keinen schöneren Tag geben. Und mein wertloser Körper, bisher Träger von Bedeutung, jetzt leere Hülle,  wird zurück geflogen, weil er ja schließlich irgendwohin musste. Als ich das erste Mal für die Firma nach München geflogen und nicht gefahren war, war ich selbst beeindruckt gewesen, dass meine Zeit diesen Kostenunterschied wert war. 

    Kein Essen, kein Getränk, keine Zeitung. Wofür auch?

    Am frühen Nachmittag bin ich zuhause, die Wohnung an einem Wochentag im Sonnenlicht, eine fremde Welt, Sylvia tröstet mich, dabei hatte sie offenbar  inzwischen geweint. Für mich? Um mich? Ich kann ihr nicht einmal viel erzählen.  Also ein unendlich langer Nachmittag und Abend, an dem wir hätten auf der Terrasse sitzen können, aber ich kann nicht einmal sprechen und will auch sonst nichts.  Weder müde noch hungrig, nicht munter und nicht schläfrig, also dann noch die ganze Nacht. Sylvia schläft auch nicht, will es mir aber nicht zeigen. Ich bin allein. Ich bin auch nicht mehr der, den sie gewählt hat, ertragen, geliebt hat.

    Alles ist weg. Alles, was ich war, alles, wofür ich gelebt habe. 43 Jahre.

    *

    Sylvia kommen noch heute die Tränen, wenn sie an diesen Nachmittag erinnert wird. So zerstört war ich, so verletzt und vernichtet, so leer im Kopf und im Leben, dass ich vor allem Trost gebraucht hätte, auch wenn ich es wohl nicht erwartete.

    Statt eines einzigen Wortes dazu droschen die Eltern auf mich ein: „Wie konntest Du ihm hinterherspionieren?" war schon die Begrüßung. Wie konnte ich mit Gewalt in seine Wohnung eindringen und ihn unter Druck setzen?

    Ich hatte nicht die Kraft mich zu wehren, so klein hatte ich mich in meiner Hülle zusammengezogen, das ist schon fast alles, woran ich mich erinnern kann. Ich hatte wohl nur gefragt, ob ihnen sein Zustand denn nicht aufgefallen sei und was sie zu den Dingen in ihrem Vorraum sagten. Was sonst noch geschah, weiß ich nur von Sylvia. Ich habe noch gesagt, dass es auch mein Elternhaus wäre, als Andreas Sylvia aus seinem hinauswerfen wollte. Zuwenig Verteidigung dafür, dass sie es war, die ihn tagelang gesucht hatte, dafür, dass sie sich kaum vom Telefon entfernt hatte  um den täglichen Anruf nicht zu verpassen, dafür, dass sie auch mit mir leiden musste, dafür, dass sie sich jetzt anschreien lassen musste, dass ihr gesagt wurde, sie würde ja nicht einmal zur Familie gehören, dass sie das Niveau eines Bauarbeiters hätte. Zuwenig dafür dass sie sich fünf Stunden lang das alles anhören musste, weil ich nicht die Kraft hatte einen Schlussstrich zu setzen. Weil ich glauben wollte, es wäre weiterhin meine Familie.

    Sylvia hat mir trotzdem verziehen, meiner Mutter aber erst nach Jahren, als sie gegen den Krebs um ihr Leben kämpfte.

    *

    Wieder ein Tag in stumpfem Grau. Die Wände des Nachbargebäudes sahen feucht aus, auch wenn sie es nicht waren, das Tageslicht wie ein Schleier vor dem Fenster. Nichts zu hören. Andreas wusste, dass seine Kollegen in den Büros gleich neben ihm sein mussten, aber was taten sie? Wirklich forschen? Seit Jahren hatte das Institut nichts mehr publiziert, seit Jahrzehnten hatten sich die Vorlesungen nicht mehr geändert.  Wahrscheinlich sitzt Hartleb wieder beim Professor. Darauf kam es offenbar an, nicht auf Leistung und Ergebnisse. Sein eigenes Hirn zerfließt in Zeitlupe zu Brei. Der Schatten des Kabels seines Computers kriecht immerhin trotz fehlender Sonne über den Tisch, er legt die Kugelschreiberspitze genau auf die Schattengrenze und schaut zu, wie das Licht der Form der Spitze folgt. Der Kühlschrank schaltet sich ein. Natürlich könnte

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