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Söhne der Gewalt
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Ebook422 pages5 hours

Söhne der Gewalt

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About this ebook

Eine Mordserie beschäftigt die Polizei in Duisburg und die Öffentlichkeit. Innerhalb von zwei Wochen werden führende Vertreter einer rechten Partei umgebracht. Die Morde werden sehr professionell ausgeführt. Das lässt den Verdacht aufkommen, es könnte ein Berufskiller sein, und diese Überlegung ist richtig, denn der Mörder hat in Kampfeinsätzen im Kosovo das Töten gelernt. Seit 2004 war der Mörder mehr als zehn Jahre als Söldner für eine Private Military Company, die im Auftrag der Bundeswehr illegale Operationen, überwiegend vom Bundestag nicht sanktionierte Kampfeinsätze gegen albanische Freischärler, durchführt hat, tätig.
Mit den Ermittlungen ist eine Hauptkommissarin mit Migrationshintergrund beauftragt. Özlem Günes wuchs als Kind türkischer Gastarbeiter in Duisburg auf und ermittelt nun in der rechten Ecke der Gesellschaft.
Als sich der Ring der Polizei um den Mörder immer mehr schließt, werden einige Leute, die kein Interesse daran haben, dass im Rahmen der Ermittlungen Dinge ihrer illegalen Aktivitäten an die Öffentlichkeit gelangen, nervös. Zuerst behindern sie die Ermittlungen nur, aber als dies erfolglos zu sein scheint engagieren sie Killer. So wird aus dem Mörder ein Gejagter.
Kann der Mörder mit seinem Raubtierinstinkt entkommen? Wird einer der Killer ihn erwischen? Oder kann die Polizei ihn verhaften.
LanguageDeutsch
Publisherepubli
Release dateNov 17, 2017
ISBN9783745048841
Söhne der Gewalt

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    Söhne der Gewalt - Erich Szelersky

    Prolog

    2001 Wuppertal, Landgericht

    Die Zuschauer erhoben sich von ihren Bänken, als die Richter der großen Strafkammer am Landgericht Wuppertal den Gerichtssaal zur Urteilsverkündung betraten. Es herrschte gespannte Aufmerksamkeit. Das Interesse der Medien war riesig. Viele Reporter lokaler und überregionaler Zeitungen waren gekommen, um einem weiteren Akt deutscher Aufarbeitung seiner faschistischen Vergangenheit beizuwohnen. Vor Gericht stand ein Aktivist der neonazistischen Freien Kameradschaften und Mitglied des Kampfbundes Deutscher Sozialisten.

    Vor dem Haupteingang des Gebäudes hatte sich eine Gruppe von etwa hundert rechtsradikalen Sympathisanten versammelt, die fahnenschwenkend gegen die in ihren Augen bestehende Unrechtsjustiz der deutschen Demokratie protestierten.

    Nur unweit entfernt skandierte eine Gruppe Linksalternativer mit nicht geringerem Aggressionspotential antifaschistische Slogans.

    Ein großes Aufgebot an Polizei sorgte so unauffällig wie möglich dafür, dass diese beiden Gruppen sich nicht zu nahe kamen.

    Der Vorsitzende Richter begann mit der Urteilsverkündung:

    Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil:

    Der Angeklagte wird wegen Landfriedensbruch, in

    Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten verurteilt.

    Der Haftbefehl des Amtsgericht Wupper­tal

    bleibt aufrechterhalten.

    Der Angeklagte hörte mit versteinerter Miene die Worte des Richters. Das Strafmaß übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Er hatte auf eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung gehofft.

    In seinem Kopf drehte es sich. Er musste in den Knast. Oberflächlich war bei ihm keine Regung zu erkennen, doch bei genauerem Hinsehen blieben die angespannten Kiefermuskeln, die seinen verbitterten Gesichtszügen eine angsteinflößende Härte gaben, nicht verborgen. Man konnte nur erahnen, wie sein ganzer Körper von einer Welle der Aggression erfasst wurde. Sein Blick wanderte vom Richter zum Oberstaatsanwalt und sog sich an den Mitangeklagten fest.

    Sechs Monate Gefängnis mit Bewährung auf zwei Jahre für seinen besten Kumpel.

    Dieser Arsch hat sich kaufen lassen, fuhr es ihm durch seinen Kopf.

    Auch die weiteren Angeklagten kamen mit Bewährungsstrafen davon.

    In seinem Kopf drehte sich alles. Er hatte es geahnt. Sie hatten ihn mit ihren Aussagen ans Messer geliefert.

    Die Urteilsbegründung hörte er nicht mehr. Er wollte es nicht, und er konnte es auch nicht. Sein Hirn ließ nichts mehr an ihn heran. Wie an einem Faradayschen Käfig prallte alles von ihm ab. In seinem Kopf kreiste alles um einen einzigen Gedanken: Verrat.

    1

    2016 Duisburg

    »Wer ist da?«

    »Der Pizzaservice. Sie haben eine Pizza bestellt.«

    »Kommen Sie rauf.«

    Der Summer ging und öffnete die Haustüre des Mehrfamilienhauses in Homberg. Von der zwölften Etage hatte man einen sehr schönen Blick auf den Rhein und den Stadtteil Ruhrort mit seinen restaurierten Häusern aus der Gründerzeit. Ludger Möhlendieck wohnte alleine in dem Appartement mit der herrlichen Aussicht.

    Vor fünf Jahren war seine Frau ausgezogen. Kurz darauf erhielt er das Schreiben eines Anwalts, in dem ihm in knappen Sätzen mitgeteilt wurde, dass seine Frau die Scheidung wünsche. Es hatte ihn nicht sonderlich überrascht, litt die Ehe doch schon seit einigen Jahren unter dem ständigen Streit zwischen ihm und seiner Frau. Nach dem von Amts wegen angesetzten Versöhnungstermin, der jedoch eher das Gegenteil bewirkte, hatte er einen letzten Versuch unternommen und sie gefragt, warum sie ihn verlassen wolle. Sie hatte mit üblen Beschimpfungen geantwortet und ihn einen unverbesserlichen Neonazi genannt, mit dem sie nicht länger zusammenleben wolle. Daraufhin

    hatte er sich wortlos umgedreht und in seiner Stammkneipe betrunken.

    Ludger Möhlendieck hörte das Rumpeln des Aufzuges und kurz darauf öffnete sich der Aufzug mit dem typischen Schleifgeräusch. Heraus kam mit schlurfendem Schritt ein Mann in abgerissenen Jeans mit Baseballmütze und Dreitagebart. Vor sich trug er den Pappkarton mit der Pizza.

    »Ihre Pizza.«

    »Was bekommen Sie?«

    »Neunfünfzig.«

    »Ja. Warten Sie einen Augenblick.«

    Möhlendieck drehte sich um und ging ins Wohnzimmer. Er entnahm seinem Portemonnaie einen Zehneuroschein. Als er zur Wohnungstür zurückkehrte war sie verschlossen. Etwas überrascht, dass der Pizzabote sie offenbar von außen zugeschlagen hatte, bevor er ihm das Geld geben konnte, griff er zur Türklinke, um sie zu öffnen. Er kam nicht dazu, denn ein brutaler Schlag gegen seinen Hals nahm ihm die Luft. Ludger Möhlendieck röchelte und schnappte krampfhaft nach Luft, doch es kam ihm vor, als ob seine Lunge zugesperrt wäre. Der Pizzabote schlug erneut zu und die Dielendecke begann sich in wilden Kapriolen um Möhlendieck zu drehen. Seine weit aufgerissenen Augen nahmen ungläubig staunend wahr, was mit ihm geschah, doch sein Hirn registrierte es nicht. Er wurde hochgewirbelt und durch seine Wohnung geschleppt.

    Plötzlich bekam er wieder Luft. Er öffnete seine Augen und sah, dass er sich auf dem Balkon befand. Was geschah mit ihm? Wollte der Pizzafahrer ihn an die frische Luft bringen, damit er wieder zu sich kam? Ludger Möhlendieck kam nicht dazu, diesen Gedanken weiter zu führen, denn mit einem wuchtigen Schwung schleuderte der Eindringling ihn über das Balkongeländer. Möhlendieck riss seine Augen ungläubig auf. Der Kerl wollte ihn in die Tiefe stürzen. Alles ging so schnell, dass er sich nicht einmal mehr wehren konnte.

    Mit letzter Anstrengung konnten seine Hände das Balkongeländer greifen und sich festhalten. Der Fremde fasste seine Hand und wollte den Griff lösen, doch Möhlendieck war kräftig und gab nicht nach. In Todesangst klammerte er sich an dem Geländer fest. Unter ihm lagen elf Etagen, zu hoch, um einen Absturz zu überleben. Allmählich fand er zu sich zurück. Er war kräftig und athletisch, nicht so leicht kleinzukriegen und suchte nach Halt für seine Füße, um sich abzustützen und zurück auf den Balkon zu ziehen. Da ließ der Griff des Pizzaboten nach. Schon glaubte er, es geschafft zu haben und der Eindringling hätte aufgegeben, da erschien die schäbige Gestalt wieder über ihm. In seinen Händen hielt er eine Marmorkugel von der Größe eines Fußballs, ein Dekorationsgegenstand, den seine Frau ihm bei ihrem Auszug gelassen hatte. Die Kugel krachte auf seine rechte Hand nieder und es knirschte, als die Finger zerschmettert wurden. Er hing nur noch an seiner linken Hand. Durch sein Gehirn zuckte ein Gedanke: Er wird doch nicht. Und tatsächlich. Der Fremde zögerte einen kleinen Moment in dem sicheren Gefühl seines Triumpfes. Er zog seine Baseballkappe ab und beugte sich nah zu Möhlendieck herab, sodass er ihn erkennen konnte.

    »Du?«, stammelte Ludger Möhlendieck ungläubig.

    Dann krachte die Kugel auf seine linke Hand nieder.

    2

    2016 Duisburg

    Am Schalter der Sparkassenfiliale in Neumühl herrschte reger Andrang. Es war der erste eines Monats und die Rentner holten ihre Rente ab. In der Schlange, die sich gebildet hatte, stand eine alte Frau. Ihr Kreuz war gebeugt, das, was man landläufig einen Witwenbuckel nannte, und eine Folge von Osteoporose war. Der Kassierer kannte sie und begrüßte sie freundlich:

    »Guten Morgen Frau Georgie.«

    Sie nickte nur.

    »Heute ist´s ein bisschen weniger. Er zahlte ihr fünfhundert Euro aus. Ohne sich ihre Enttäuschung anmerken zu lassen bedankte sich die Frau, nahm das Geld in Empfang und ging.

    Ihr Mann war früh gestorben und sie hatte nur eine kleine Witwenrente; zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben. Doch vor ein paar Jahren hatte sich ihre Lage schlagartig geändert. Mit einem Mal waren tausend Euro mehr auf dem Konto. Sie konnte es kaum glauben, doch der Kassierer der Sparkasse versicherte ihr, dass alles mit rechten Dingen zuginge.

    »Hier sehen Sie, Frau Georgie. Es ist eine Überweisung von der Mauritius Commercial Bank auf Mauritius.«

    Als sie ihn verständnislos ansah klärte er sie auf.

    »Das ist eine Insel im Indischen Ozean.«

    Die alte Frau nickte nur und nahm statt der üblichen fünfhundert Euro eintausendfünfhundert mit. Von nun an waren Monat für Monat tausend Euro zusätzlich zu ihrer Rente auf dem Konto.

    Anfangs hatte sie jeden Monat erwartet, dass der unverhoffte Geldsegen wieder versiegen würde, doch als dies nicht eintrat, gewöhnte sie sich mit der Zeit an das zusätzliche Geld. Nicht dass sie es gebraucht hätte. Das meiste war in einer Teekanne in ihrem Küchenschrank gelandet, wo es still vor sich hin schlummerte. Ein bisschen hatte sie für sich genommen, hatte sich für den Winter ein Paar dicke Hausschuhe gekauft und einen ordentlichen Wintermantel, denn der alte war inzwischen schon zwanzig Jahre alt und verschlissen.

    Große Ansprüche hatte Frau Georgie ihr Leben lang nicht gehabt, und wenn das so ist findet man sich damit ab. Der unverhoffte Geldsegen hatte ihr aber etwas mehr Lebensqualität gegeben, auch wenn sie den größten Teil des Geldes gar nicht ausgab. Das Geld vermittelte ihr den Anschein, nicht arm zu sein, etwas zu haben, sich etwas leisten zu können, wenn sie es nur wolle. Und etwas zurücklegen war auch schön, denn vielleicht würde ihr Sohn ja irgendwann einmal zu ihr zurückkehren und dann würde sie etwas Geld für ihn haben.

    So landete das Geld in der Teekanne.

    Eines ließ ihr jedoch keine Ruhe. Immer und immer wieder hatte sie sich das Gehirn zermartert, wer wohl der unbekannte Spender sein könnte, aber es fiel ihr niemand anderes ein als Karl-Heinz. Es konnte eigentlich nur ihr Sohn sein, dem sie den Geldsegen zu verdanken hatte, doch woher sollte er so viel Geld haben.

    Karl-Heinz hatte schon für sie gesorgt als er erst fünfzehn war. Ihr Mann war Hüttenarbeiter gewesen und früh gestorben. Nicht mal sechzig war er geworden. Lungenkrebs, inoperabel, hatten die Ärzte diagnostiziert. Zuerst Chemo, dann Bestrahlungen. Alles ohne Erfolg. Sechs Monate später war er tot. Plötzlich war sie mittellos, musste Sozialhilfe beantragen, und als sie das Alter hatte, erhielt sie eine kleine Rente.

    Karl-Heinz war ihr einziger Sohn. Sie hatte ihn groß gezogen und an ihr hing er auch. Seinen Vater dagegen hatte er nicht vermisst. Das war auch nicht verwunderlich, denn manchmal hatten die beiden sich eine ganze Woche nicht gesehen. Hatte sein Vater Frühschicht, war er schon zur Arbeit gegangen, wenn Karl-Heinz aufstand. Nachmittags schlief sein Vater. Bei Nachtschicht schlief er sowieso den ganzen Tag, und in der Woche, in der er Mittagschicht hatte, war er auf der Arbeit wenn Karl-Heinz zu Hause war.

    Als kleiner Junge litt Karl-Heinz darunter, dass er keinen Vater hatte, der ihm beistand, wenn er Hilfe brauchte. Später genoss er die Freiheiten, die sich ihm durch die Lebensumstände und die Gleichgültigkeit seines Vaters boten.

    Er verbrachte seine Zeit auf der Straße und lernte, sich nach den dort herrschenden Gesetzen durchzusetzen. Seine Mutter gab sich zwar alle Mühe und war um Karl-Heinz und seine jüngere Schwester besorgt, doch es fiel ihr alleine schwer. Als Karl-Heinz älter war empfand er Mitleid mit ihr und aus dieser Haltung heraus handelte er manchmal in dem Bestreben, ihr keine Sorgen zu machen. Deshalb kam es schon mal vor, dass er einer Schlägerei aus dem Weg ging; aber das war nur selten der Fall. Sein Lebensumfeld hatte ihn geprägt und ihn gelehrt, dass Gewaltanwendung ein probates Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen war und da er über ein solides Aggressionspotential und wenig Angst verfügte, war er bald einer der Anführer der Straßenkinder. Seine Mutter wusste, dass Karl-Heinz als ein gefürchteter Schläger galt, ihr gegenüber war er aber immer fürsorglich gewesen. Auch für seine kleine Schwester übernahm Karl-Heinz Georgie Verantwortung. Er hatte zwei Gesichter. Unerbittlich und brutal gegenüber Menschen, die ihm nicht viel bedeuteten und voller Hilfsbereitschaft für diejenigen, denen er nahestand.

    Nun war die Überweisung ausgeblieben. Was mag der Grund dafür sein? Hoffentlich war Karl-Heinz nichts passiert.

    3

    2016 Duisburg, Diskothek ´Taff´

    Aus den Lautsprechern dröhnte die Musik von Frei Wild:

    Das ist das Land der Vollidioten

    die denken, Heimatliebe ist gleich Staatsverrat.

    Wir sind keine Neonazis und keine Anarchisten,

    wir sind einfach gleich wie Ihr, von hier.

    Das ist Land der Vollidioten,

    Das ist Land der Vollidioten,

    Das ist Land der Vollidioten,

    Das ist das Land der Vollidioten

    Das Land der Vollidioten…

    An einer der Säulen, die die Tanzfläche des ´Taff´ umsäumten, standen zwei junge Männer und beobachteten die junge Frau auf der Tanzfläche, die sich mit geschlossenen Augen ekstatisch zu den einpeitschenden Rhythmen bewegte. Sie tanzte allein, wie alle anderen auch. Jeder suchte seine eigene Interpretation des Songs in tänzerischer Bewegung auszudrücken. Die Schwüle der rauchgeschwängerten Luft ließ die Akteure auf der Tanzfläche schwitzen.

    Die beiden jungen Männer, die sich betont lässig gaben, hielten jeder ein Glas Bier in ihren Händen. In ihrem Outfit unterschieden sie sich nicht von den anderen. Sie gehörten dazu und dies brachten sie durch ihr Äußeres auch zum Ausdruck. Das Dröhnen hörte abrupt auf und ein langsameres Stück begann. Die junge Frau erwachte aus ihrer Versunkenheit und machte sich auf den Weg zu dem Tisch, auf dem sie ihre Cola abgestellt hatte. Sie war gerade ein paar Schritte gegangen, als einer ihrer beiden Beobachter auf sie zu kam und an ihre Schultern fasste.

    »Tanzen wir Steffi?«

    Sie drehte sich um und blickte in das Gesicht des Mannes mit den schon etwas vom Alkohol getrübten Augen. Er griff um ihre Hüften und begann mit ihr zu tanzen. Widerwillig drückte sie ihn von sich weg und ging weiter in Richtung ihres Tisches. Der junge Mann hielt sie mit einer Hand an der Schulter fest.

    »Nun komm. Hab Dich nicht so. Nur diesen Tanz.«

    Er verstärkte seinen Griff. Steffi wirkte unschlüssig. Sie kannte Thorsten. Er gehörte wie sie zu derselben Kameradschaft. Schließlich legte sie ihre Arme auf seine Schulter, tunlichst darauf bedacht, genügend Abstand zu ihm zu halten.

    »Aber nur diesen Tanz. Ich muss nämlich gleich nach Hause«, gab sie ihm unmissverständlich zu verstehen.

    Er grinste zustimmend und versuchte Ihren Widerstand, sie an sich zu ziehen, zu überwinden. Der Zweite beobachtete misstrauisch die Tanzenden. Thorsten sah die argwöhnischen Blicke seines Kumpels und beugte sich vor, um bei der lauten Musik direkt in Steffis Ohr hineinreden zu können.

    »Lass uns gehen, Steffi. Ich bring Dich nach Hause.«

    Steffi schüttelte den Kopf.

    »Brauchst Du nicht. Ich hab mein Auto draußen.«

    Sie schrie fast, damit ihre Worte durch die immer noch laute Musik zu ihm durchdringen konnten.

    »Ich muss Dir aber etwas ganz wichtiges sagen«, fuhr er unbeirrt fort, und schaute sie aus seinen trüben Augen an; aber Steffi war unbeeindruckt. Sie stieß ihn von sich und drehte sich von ihm weg.

    »Ich muss jetzt nach Haus, Thorsten. Muss morgen früh arbeiten.«

    Steffi verließ die Tanzfläche, doch Thorsten folgte ihr.

    »Du bist eine Superfrau. Ich liebe Dich; schon seit langem,

    Steffi.«

    Sie überhörte sein Geschwätz und trank den Rest ihrer Cola. Dann drehte sie sich zu ihm um.

    »Bleib hier. Ich fahr jetzt nach Hause. Und zwar allein.«

    Thorsten rückte näher an sie heran und versuchte, sie zu

    küssen.

    »Was meinst Du, was passiert, wenn ich Peter erzähle, wie Du Dich aufführst.«

    Thorsten Wegener wich für einen Moment zurück. Er wusste, dass Stefanie Bisalke die Freundin von Peter Schremczyk war.

    Als sie die Türe aufstieß schlug ihr kalte Luft entgegen. Es regnete diesen Nieselregen, den es im November oft gibt, wenn das Wetter sich nicht zwischen Nebel und Regen entscheiden kann. Sie schüttelte sich. Alle Konturen verschwammen in dem Grau in Grau des trostlosen Häusermeers und sie fühlte sich einsam in dieser Einöde. Einen Moment zögerte sie, ob sie durch den Regen laufen sollte; aber als sie Thorsten hinter sich auftauchen sah, lief sie los. Mit schnellen Schritten, fast wie eine Gejagte, hetzte sie zum Parkplatz. Thorsten ließ sich nicht abschütteln. Mit ein paar ausgreifenden Schritten holte er sie ein.

    »Komm, wir gehen noch zu mir«, bedrängte er die junge Frau und versuchte, sie in den Arm zu nehmen. Steffi entwand sich jedoch seiner Umklammerung. Sie beschleunigte ihre Schritte.

    »Lass mich, Thorsten.«

    »Wo ist Dein Auto? Ich bring Dich dahin.«

    »Das brauchst Du nicht. Ich finde den Weg auch alleine.«

    Sie gingen in die kleine Nebenstraße zu dem Parkplatz, auf dem Steffi ihr Auto abgestellt hatte. Dass Lucky ihnen in einigem Abstand folgte bemerkten sie zuerst nicht. Dann plötzlich hörten sie Lucky, als er ihnen hinterher rief.

    »Heh, Ihr Beiden, wo wollt Ihr denn hin?«

    Thorsten und Steffi kümmerten sich nicht weiter um Lucky. Nach ein paar Minuten erreichten sie Steffis Auto. Noch gab Thorsten nicht auf.

    »Soll ich Dich nicht doch nach Hause fahren? Mein Auto steht da drüben.«

    Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm zu einem nicht weit entfernt auf dem Hof hinter dem Taff abgestellten Fahrzeug. Steffi schüttelte den Kopf und holte den Schlüssel aus ihrer Handtasche, um die Autotüre zu öffnen.

    »Du solltest besser ein Taxi nehmen. So voll wie Du bist kannst Du doch nicht mehr Auto fahren.«

    Thorsten war wütend. Es ärgerte ihn, dass Stefanie Bisalke ihn abblitzen ließ. In seiner Kameradschaft hatte er großes Ansehen. Er galt als ein Vertrauter von Peter Schremczyk, ihrem Anführer.

    »Stell Dich nicht so an, Du kleine Schlampe«, hörte sie ihn schreien, als er versuchte, mit seiner Hand unter ihren Rock zu gelangen.

    Steffi schlug ihm mit ihrer Handtasche auf den Kopf. Das machte Thorsten jedoch noch wütender. Als sie die Türe des Autos aufziehen wollte drehte Thorsten ihren Kopf zu sich und versuchte, sie zu küssen. Steffi drehte ihren Kopf weg und schlug um sich. Thorsten hielt das nicht ab. Er wurde immer aufdringlicher. Lucky sah dem Spiel einen Augenblick zu. Dann kam er hinzu, und die beiden Männer zerrten Steffi in den dunklen Hinterhof zu Thorstens Auto. Mit vereinten Kräften hoben sie die Frau mit einem Ruck auf die Motorhaube des Autos und während Lucky ihre Arme festhielt, versuchte Thorsten ihr trotz der Tritte, die er von Steffi abbekam, den Rock hoch zu ziehen. Steffi schrie und wehrte sich, doch auf dem Hinterhof hörte sie keiner.

    Der Innenhof war auf zwei Seiten von Miets- und Geschäftshäusern umgeben, die sich keine Mühe gaben, ihre verkommenen Rückfronten zu verstecken. Die Stadt hatte diese Ecke in den vergangenen dreißig Jahren vergessen. Käuferströme verliefen woanders, und die Nähe zum Rotlichtviertel der Stadt und zu dem riesigen Kraftwerk der Stadtwerke machte die Gegend für neue Bewohner auch nicht besonders attraktiv. Der Hinterhof lag an einer schmalen Straße, die tagsüber als Ausfahrt eines Parkplatzes diente, den man auf einem unbefestigten freien Platz angelegt hatte. Fußgänger fanden sich dort kaum ein. In dieser Ecke konnte man mitten in der Stadt verrecken und keiner bemerkte es.

    Steffi wehrte sich aus Leibeskräften. Sie trat, schrie und versuchte, ihre Hände aus der Umklammerung ihrer Peiniger zu lösen. Vergebens. Thorsten machte sich über sie her.

    Stefanie weinte und hoffte, der Albtraum würde schnell vorübergehen. Bilder zogen durch ihren Kopf. Sie dachte an Peter, mit dem sie seit einigen Jahren zusammenlebte, und der sie gerne heiraten wollte.

    Angeekelt von dem Kopf, der sie vergewaltigte, und tief in ihrer Seele ob der ihr angetanen Gewalt schloss sie in ihrer Hilflosigkeit ihre Augen.

    Dann ging alles ganz schnell. Völlig unvermittelt strich ein Luftzug über sie hinweg, und sie vernahm ein Knacken, ähnlich wie das Geräusch, das entsteht, wenn man ein Hühnerbein durchbricht. Nur einen Wimpernschlag später röchelte jemand, der in Todesangst bemüht war, nach Luft zu schnappen.

    Unmittelbar darauf war der Spuk vorüber. Sie bekam ihre Hände frei und ihre Vergewaltiger ließen von ihr ab. Panisch vor Angst unter dem Eindruck des gerade Erlebten brach sie in Tränen aus. Ihre Augen durchsuchten die Dunkelheit. Neben dem Auto lag Lucky auf dem Boden und schemenhaft glaubte sie zu erkennen, dass Thorsten von ihr wegtaumelte. Sie kniff ihre Augen in der Dunkelheit zusammen, um auf dem Hof mehr sehen zu können, doch die schwarze Nacht verschluckte ihre Umgebung.

    Erstarrt stand sie neben dem Auto, unschlüssig, was sie tun sollte. Alles lief wie in Zeitlupe vor ihr ab, unwirklich wie in einem Horrortrip. Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, da gab es einen dumpfen Knall und Thorsten schrie kurz auf. Das Geräusch des auf den Asphalt aufschlagenden Körpers wurde von Thorstens Stöhnen übertönt.

    Sie wollte weglaufen, doch ihre Beine machten nicht mit. Wie angewurzelt lehnte sich an dem Auto, vor Angst orientierungslos, obwohl sie den Hof kannte.

    Thorstens schmerzerfülltes Stöhnen hing in ihren Ohren. Sie glaubte, sie müsste sich die Ohren zu halten, um nicht noch länger sein Jammern hören zu müssen.

    Dann riss eine Stimme aus der Dunkelheit sie aus ihrer Lethargie. Halb hingeflüstert, mehr gezischt, vernahm sie eine Stimme.

    »Hau ab!«

    Als Steffi nicht sofort reagierte wiederholte sich die Stimme.

    »Hau ab!«

    Sie schaute in die Richtung der Stimme. Schemenhaft erkannte sie den Schatten eines Mannes. Erneut überkam sie Panik. Sie rannte los. Nach ein paar Schritten wandte sie sich ungläubig noch einmal der Stimme zu. In dem bizarren Licht, das eine Laterne von der Straße in den Hof warf, erschienen die unscharfen Konturen ihres Retters. Sie kniff die Augen zusammen, um besser erkennen zu können, doch die Stimme wurde drohend.

    »Hau ab, sag ich! Mach, dass Du weg kommst!«

    Sie lief zu ihrem Auto, zog die Türe des kleinen Corsa auf und fuhr so schnell sie konnte weg. Ihre Knie zitterten und ihre Gedanken überschlugen sich. Wer hatte sie befreit? Hatte sie wirklich dieses Gesicht gesehen? Oder war es nur ein Trugbild gewesen?

    4

    2016 Duisburg, Mordkommission

    Özlem Günes war es schon einmal besser gegangen. Sie hatte nie unter Schlafstörungen gelitten. Seit einer Woche jedoch schreckte sie regelmäßig zwischen zwei und drei Uhr nachts aus dem Schlaf auf und lag dann ein, zwei Stunden wach im Bett. Die Ursache für ihre Schlaflosigkeit war ihr bewusst, denn es geisterte immer nur ein und dieselbe Frage durch ihren Kopf: Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Morden? Ist es vielleicht sogar ein und derselbe Täter?

    Özlem Günes war Hauptkommissarin im KK11 der Duisburger Polizei. Bescheiden wie sie war, würde sie, wenn man fragte, erklären, dass sie eine akzeptable Aufklärungsquote hätte, doch das war untertrieben. Die Hauptkommissarin mit türkischer Herkunft hatte eine außerordentlich gute Erfolgsbilanz aufzuweisen. Nicht zuletzt auch deshalb war sie schon mit dreiunddreißig Jahren zur Hauptkommissarin befördert worden. Eigentlich gab es also gar keinen Grund für sie, nachts sorgengeplagt aufzuwachen und sich das Hirn über ihren aktuellen Fall zu zermartern. Wenn sie trotzdem jede Nacht gegen drei schweißgebadet aufwachte, lag das an der besonderen Brisanz der aktuellen Mordserie, die vor knapp zwei Wochen begann.

    Angefangen hatte es ganz harmlos. Ein Mann war von dem Balkon seiner Wohnung in der zwölften Etage gestürzt. Was unten von ihm übriggeblieben war erregte zuerst nicht den Verdacht, es könne sich um einen unnatürlichen Tod gehandelt haben. Erst als bei der routinemäßigen kriminaltechnischen Untersuchung festgestellt wurde, dass bei der Leiche die Finger beider Hände zerschmettert waren, und dies nicht eine Folge des Aufpralls auf dem Betonboden der Garageneinfahrt zu dem Wohnhaus gewesen sein konnte, wurde Özlem informiert.

    Dr. Harald Schmüller, der Rechtsmediziner am Tatort, hatte ihr erklärt, dass der Tote sich heftig gewehrt haben musste, bevor er hinuntergestürzt ist.

    »Der Täter hat ihm mit einem schweren Gegenstand die Finger seiner Hände mit äußerster Brutalität zertrümmert, damit er das Balkongeländer loslässt, an das er sich in seiner Todesangst offenbar krampfhaft geklammert hatte.«

    All dies war für Özlem nichts Ungewöhnliches. Als Kriminalkommissarin im Morddezernat gehörten solche Erlebnisse zu ihrem Alltag. Schließlich war sie ja dafür da und konnte sich ihre Leichen nicht aussuchen. Sogar die Erkenntnis, dass es sich bei dem Toten um ein führendes Mitglied der Deutsch Nationalen Volks Union, die sich nach dem Verbot der rechtsradikaler Parteien durch das Bundesverfassungsgericht gegründet hatte, handelte, versetzte sie nicht besonders in Aufregung. Mord kam in den besten Familien vor. Warum nicht auch im rechtsradikalen Milieu.

    Özlem betrachtete den Mord daher zuerst einmal als einen Einzelfall ohne politischen Hintergrund und maß dem Umstand, dass der Tote ein bekannter Neonazi war, keine besondere Bedeutung bei.

    Eine erste Wendung bekam der Fall allerdings, als zwei Tage später ein zweiter Mord geschah, der mit dem ersten im Zusammenhang zu stehen schien, denn auch der zweite Tote gehörte der rechtsradikalen Szene an. Dies und die Tatsache, dass die Morde innerhalb von nur zwei Tagen geschehen waren, wies stark darauf hin, dass sie aus einem gemeinsamen Motiv heraus verübt worden sein könnten. Auch die Tatausübung legte die Vermutung nahe, dass derselbe Täter am Werk gewesen war, denn auch das zweite Opfer war von seinem Mörder sehr brutal vom Leben zum Tod befördert worden.

    Hinzu kam, dass die beiden Ermordeten politisch sehr aktiv in der DNVU gewesen waren.

    Der zweite Tote, ein gewisser Thomas Bellmann, war ebenso wie Ludger Möhlendieck ein Mitglied des Vorstandes der nordrhein-westfälischen DNVU gewesen, und zwei Tote innerhalb von nur zwei Tagen aus derselben Partei konnten eigentlich kein Zufall sein.

    Auch die Tatsache, dass bald Landtagswahlen sein würden und die beiden Mordopfer Kandidaten der DNVU waren, gab dem Ganzen eine besondere Facette.

    Özlem Günes erste Ermittlungen hatten ergeben, dass die beiden Ermordeten enge Vertraute des Landesvorsitzenden der DNVU waren und derselben Kameradschaft angehört hatten. Alle kannten sich, wie die Ermittlungen inzwischen ergeben hatten, schon seit zwanzig Jahren. Da die beiden Ermordeten etwa vierzig Jahre alt waren, hatten sie sich demnach schon als Jugendliche kennengelernt.

    Die Medien nahmen vom ersten Mord kaum Notiz. Im lokalen Teil der WAZ war über ihn eher als Randnotiz berichtet worden. Fast jeden Tag gab es irgendwo im Ruhrgebiet eine Gewalttat, über die man routinemäßig mit ein paar Zeilen berichtete.

    Nach dem zweiten Mord hatte sich die Zurückhaltung der Presse schlagartig ins Gegenteil verkehrt. In der Boulevardpresse wurde reißerisch von Nazimorden gesprochen, und in großen Lettern verkündeten diese Zeitungen ihr vermeintliches Wissen, wonach die Auseinandersetzungen um den zukünftigen Kurs der NPD-Nachfolgepartei noch nicht ausgestanden seien und nun mit anderen Mitteln fortgeführt würden.

    »Schau Dir das an, Özlem.« Der sie so ansprach war Oberkommissar Karl Tillmann. Er hielt ihr die Bildzeitung vor die Nase.

    »Jetzt haben sogar die den Fall aufgegriffen.«

    Er schüttelte angewidert den Kopf.

    »Woher die das alles wissen."

    »Naja, so kurz vor den Wahlen in Nordrhein Westfalen; da ist so ein Thema sehr willkommen, Karl.«

    In der Tat bestand durchaus eine reelle Chance für die DNVU, ins Landesparlament einzuziehen. Ob ihr allerdings die Morde dafür letztendlich dienlich sein würden oder eher den gegenteiligen Effekt erzielen würden, war strittig.

    Die Staatsanwaltschaft war bis unter die Haut sensibilisiert, und Oberstaatsanwalt Dr. Robert Müller-Fredestein, in dessen Händen die Ermittlungen bei der Staatsanwaltschaft lagen, ging Özlem Günes inzwischen mächtig auf

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