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Der Weg nach Afrika - Teil4: Das Anlegemanöver und der Machtwechsel – Von den gestaltlichen Verformungen und Vergehen
Der Weg nach Afrika - Teil4: Das Anlegemanöver und der Machtwechsel – Von den gestaltlichen Verformungen und Vergehen
Der Weg nach Afrika - Teil4: Das Anlegemanöver und der Machtwechsel – Von den gestaltlichen Verformungen und Vergehen
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Der Weg nach Afrika - Teil4: Das Anlegemanöver und der Machtwechsel – Von den gestaltlichen Verformungen und Vergehen

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Das Hospital war klinisch und menschlich ein Augenöffner, denn abgemagerte Kinder mit den grossen Augen und ausufernden Wasserbäuchen oder Kinder mit amputierten Armen und Beinen nach Minenexplosionen hatten die Jungärzte in ihrer Studienzeit noch nicht gesehen. Dafür mussten sie nach Afrika kommen, um sich ein Bild dieser afrikanischen Wirklichkeit zu machen. Es war fürs Leben, wenn einer begriffen hatte, unter welchen Umständen hier die Arbeit geleistet wurde, um den Menschen der Armut und des Elends zu helfen. Ein Verdrückenwollen gab es nicht.
Der neue Zeitgeist konnte sich mit dem alten Zeitgeist, als die Granaten einschlugen und detonierten, nicht mehr messen. Dem neuen Zeitgeist war das Ringen ums Leben abhanden gekommen. Die Menschen fühlten sich ihres Lebens sicher genug, als dass sie die besondere Herausforderung mit dem Leben bis zu den Patienten trugen. Der neue Zeitgeist hatte zu einem Motivationsverlust geführt, dem Patienten ein guter Arzt zu sein. Es bedrückte, dass gegen diesen Verlust nicht anzukommen war, weil zur Herstellung der erforderlichen Motivation das Team gehört, dass dem Leben denselben Stellenwert zubilligt wie zur Zeit, als es noch krachte und der Zeitgeist lebendiger, ringender und grösser war, als die Koevoet (Brecheisen) ihre nächtlichen Razzien durch die Krankensäle machte, es an vielen Dingen fehlte, aber nicht an der Motivation, aus der Not zu lernen und als Arzt mit ganzer Kraft am Patienten zu arbeiten.
Die Sicherheit des Lebens hatte in den Jahren nach der Unabhängigkeit zur Verflachung der emotionalen Empfindsamkeit geführt. Die menschlichen Kostbarkeiten des miteinander Sprechens und Arbeitens waren abgestumpft, waren zur Fassade verstummt. Menschen waren kaum noch wiederzuerkennen. Es war ein Verlust, der höchst bedauerlich war, der mit der neuen Freiheit und der Unabhängigkeit im Hospital spürbar wurde. Mit dem Ende der schweren Erschütterungen kam auch das Ende der herzlichen, hilfreich menschlichen Kommunikation.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateMay 30, 2021
ISBN9783753189550
Der Weg nach Afrika - Teil4: Das Anlegemanöver und der Machtwechsel – Von den gestaltlichen Verformungen und Vergehen

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    Der Weg nach Afrika - Teil4 - Helmut Lauschke

    Das Anlegemanöver

    Das Anlegemanöver

    und der Machtwechsel

    Von den gestaltlichen Verformungen und Vergehen

    Autobiographie Teil 4

    Was die schöpferisch-erfinderische Leistung des Menschen zum Wohle und Fortbestand der Menschheit betrifft, da mag es Unterschiede von Volk zu Volk geben. Was aber den Vertrauensbruch, den Machtmissbrauch, die Selbstbereicherung und Korruption angeht, da stehen die Menschen der dunklen Haut den Menschen der weissen Haut in keiner Weise nach. Bedenkt man, dass besonders von den hautschwarzen Menschen eine beachtliche Zahl sich aus der Not der Armut befreit und erhoben hat, dann verwundert ihr korruptes, selbst- und machtsüchtiges Verhalten in der Rücksichtslosigkeit der Selbstbereicherung umso mehr, als sie von den Nöten der Armut und des Hungers von Menschengruppen und ganzen Völkern wissen und trotzdem ihre charakterlosen Betrügereien auf Kosten der wehrlosen Menschen fortsetzen und sich für ihr unmenschliches Verhalten nicht entschuldigen, sondern weiter den Mund der Falschheit mit der Lüge und der sträflichen Selbstbereicherung gross auftun.

    Die deutsche Studentin hatte ihr dreimonatiges Praktikum beendet und war nach Deutschland zurückgekehrt. Sie hatte die ärztliche Begabung mitgebracht und ihre Augen für Afrika geöffnet. So konnte sie viel sehen und lernen, was nur hier in der Kürze der Zeit möglich war. In der Geburtshilfe hatte sie eine grosse Zahl von Geburten verfolgt und assistiert und eine kleinere Zahl, die für eine Studentin schon erstaunlich war, unter Anleitung der Hebamme selbst ausgeführt. Sie lernte die Pflegearbeit an den Frühgeborenen und verfolgte die Untersuchung an Kindern mit Aufgeschlossenheit und Fragen. Sie assistierte bei einigen Operationen, so auch bei einem Verletzten, dem die Knochenstücke des gebrochenen Unterkiefers zusammengedrahtet wurden. Sie nähte unter Aufsicht zahlreiche Hautwunden und hatte Freude an der Arbeit. Es war Dagmar, die an einem frühen Abend unter die Dusche sprang und dort, als wäre es ein Bombenkeller, Schutz suchte, als es mehrere Male fürchterlich krachte und die Wohnstelle von Dr. Ferdinand aus den Fugen zu reissen drohte. Da hatte es im Hause der Cronjes bis ins elterliche Schlafzimmer eingeschlagen, wo der Vater seine Hand im Badezimmer über seine Jungen hielt. Nach den Einschlägen, die die heftigsten waren, fuhren sie mit dem Toyota Corolla zum Hospital, den sich Dr. Ferdinand vor einiger Zeit zugelegt hatte, nachdem es das Getriebe im Heckmotor des VW-Käfers nicht mehr tat.

    Auf dem Vorplatz trafen sie auf Dr. Witthuhn mit seiner Freundin. Allen steckte der Schreck tief in den Knochen. Das Hospital war noch einmal davongekommen, wenn auch sein Wasserturm beschädigt wurde. Die andern Einschläge trafen einige Häuser und Hütten in Klein-Angola gleich hinter dem Hospital. Die Studentin sollte die zischenden Granaten und das Einschlagsgetöse nicht vergessen. Näher war sie noch nicht am Krieg gewesen. Sie nahm auch teil am Lesen der Briefe deutscher Ärzte auf die Kleinanzeige im Deutschen Ärzteblatt, von denen sie beeindruckt war. Es waren einhundertzweiundreissig Briefe, die da eingegangen waren, die nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus dem Elsass und aus Südamerika kamen. Es waren ältere Ärzte, die es auf mehr als einen Dr. vor ihren Namen gebracht hatten. Bei einem standen drei Doktortitel vor dem Namen. Ein Neurologe aus Hamburg schrieb, dass er gern nach Afrika kommen möchte, um die Apparatemedizin hinter sich zu lassen und wieder Medizin am Menschen zu betreiben. Andere schrieben, dass sie bereits in Pension seien, sich aber noch jung genug fühlten, um als Ärzte in Afrika tätig zu werden. Es gab auch zwei Ehepaare, wo Mann und Frau Ärzte waren, und die Frauen gleich mitkommen wollten. Viele Jungärzte hatten auf die Anzeige geschrieben, die kommen wollten, um ihre ersten Erfahrungen nach Abschluss des Studiums zu sammeln. Sie schrieben davon, wie schwierig es war, in Deutschland einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Das Studium der Briefe gab einen guten Überblick über die Situation in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1987, wo der Wohlstand die Dinge der Gesellschaft beherrschte, in der es menschlich aber kalt und einsam geworden war. Der Drang nach Freiheit lag zwischen den Zeilen vieler Briefe.

    Als die Studentin Oshakati verliess, wusste sie, dass sie viel gelernt hatte, medizinisch wie aus der Armut der Menschen. Sie wusste auch, dass einen Monat nach ihrer Ankunft in Deutschland die Zweierdelegation aus ärztlichem Direktor und dem Superintendenten ihr folgen würde, um die Auswahl der Kollegen zu treffen, die für den afrikanischen Krisenherd vor der angolanischen Grenze geeignet schienen. Die Vorauswahl wurde gemeinsam mit Dr. Ferdinand getroffen, weil er sich in den deutschen Verhältnissen am besten auskannte. Es waren die Jungärzte, die in Betracht gezogen, angeschrieben und zum Interview in verschiedenen deutschen Städten eingeladen wurden. So kam der deutsche Ärztenachschub in Sicht. Die Reaktion auf die Kleinanzeige war ein Zeitphänomen für sich, weil hier keiner mit einer solchen Resonanz gerechnet hatte. Sie übertraf bei weitem alle Erwartungen. Es war ein sichtbares Zeichen, dass etwas in Bewegung kam, das für die Zukunft des Hospitals von Bedeutung war und den Patienten helfen sollte. Die deutsche Resonanz zeigte auch, dass der Weg in die Unabhängigkeit Namibias nicht mehr so weit sein konnte, wenn auch die Granaten weiter einschlugen, das Leben erschwerten und die Menschen in Angst und Schrecken versetzten. Doch da kam Licht am Ende des Tunnels auf und mit ihm die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

    Die Weissen im Dorfe wurden weniger. Immer mehr Familien verzogen sich aus Gründen der zunehmenden Unsicherheit weiter südlich oder ganz nach Südafrika zurück, wo das Leben eben sicherer und angenehmer war als vor der angolanischen Grenze. Es waren jene Familien, deren Väter entweder Offiziere waren und durch andere Offiziere abgelöst wurden, die im Wissen um die letzte Entscheidungsschlacht, wie es der Brigadegeneral einmal sagte, nun ohne Familie kamen, oder in Zivilkleidung etwas mit dem Militär, wie Materialbeschaffung, Brückenbau, Flughafensicherung oder Maschineninstandhaltung und Motorenwartung zu tun hatten. Da die Granaten immer näher einschlugen, wuchs auch die Furcht vor dem Kessel, den jeder Krieg immer mehr machte, in dem man sass und sich denken konnte, dass da ein Rauskommen immer schwieriger wurde. Man stellte sich auf' s Letzte ein, ohne das Letzte mit den Granatenschlägen erleben zu wollen. Da war es nicht verwunderlich, dass die Väter ihre Familien in Sicherheit brachten, um den Frauen und Kindern das zu ersparen, was sie den andern Müttern und Kindern zumuteten. Das Dorf war zur Festung geworden, in dem sich die Menschen verbunkerten, so wie die strotzenden Munitionslager verbunkert waren. Wofür eigentlich noch geschossen wurde, den Gesichtern konnte man es nicht mehr eindeutig ablesen wie noch ein Jahr zuvor. Viele Häuser waren unbewohnt, an manchen standen einige Fenster offen, und die Türen waren nicht richtig verschlossen. Die Vorgärten verwilderten, und der Wind überzog sie mit dem Sand der ausgestreckten Wüstententakel. Es war ein trostloses Bild, das mit der letzten Entscheidungsschlacht einherging, das eine depressive Wirkung hatte, die stärker als erwartet war, die sich der verdammten Vereinsamung und allgemeinen Verelendung wie ein Wasserkopf aufsetzte. Es war soweit, dass die Menschen auf ein Ende mit Schrecken warteten, weil der Schrecken ohne Ende lang genug gedauert hatte. Unter diesen Begleitumständen wurde die Arbeit am Hospital fortgesetzt, wo die grosse Zahl der andrängenden Patienten die zuverlässigste Grösse war. Um dem Arbeitsleben den Anstrich der Routine zu geben, wenn man vom abblätternden Anstrich von den Wänden und Türen und von dem vielen andern absah, das verbeult und rissig, rostig, verklemmt und abgebrochen war, wurden die Morgenbesprechungen um halbacht weiterhin eingehalten.

    Der schwarze Superintendent gab sich alle Mühe, um das Hospital nicht weiter runterkommen zu lassen und die Depression nicht von den Wänden tränen zu lassen. Er hatte es durch ständigen Einsatz und Erinnern erreicht, dass die rausgebrochenen Fensterscheiben durch neue ersetzt wurden, von denen mittlerweile durch neue Detonationen einige wieder gerissen und zersplittert waren. Er hatte erreicht, dass an den Toiletten gearbeitet wurde, sie weniger verstopft waren als davor, wobei altes durch neues nicht ersetzt wurde, weil es nichts Neues gab. Er hatte erreicht, dass es mehr Waschschüsseln in der inneren Medizin, Spucknäpfe für die Tuberkulösen und Milch für die Kinder und andern Patienten gab, wenn es auch nicht für alle langte. Was er nicht erreicht hatte, obwohl er sich den Mund fuselig telefoniert hatte, wie er sagte, waren neue Schaumgummimatratzen, um die verrotteten alten mit den Uringerüchen, den Scheiss- und anderen Flecken, was da nicht rauszukriegen war, dem Verbrennungsofen zu übergeben, damit endlich matratzenmässig, Reinschiff gemacht wurde. Auch gab es keine neue Hospitalkleidung und Bettwäsche für die Patienten, weil es dafür kein Geld gab und im Budget der Administration nicht vorgesehen war, wie es der 'Sekretaris' sagte, als er dem Superintendenten zusagte, darüber nachzudenken und mit den Leuten, die das Geld verwalteten, zu sprechen. Der 'Sekretaris' hatte offensichtlich noch nicht zu Ende gedacht oder mit den Fachleuten noch nicht zu Ende gesprochen, obwohl das Telefonat mit der Nachdenk- und Sprechzusage schon einige Monate her war. Da konnte auch der Superintendent mit der Hautfarbe der Zukunft, der sich der weisse 'Sekretaris' trotz Nichteinhalten seiner Zusagen möglicherweise aus Gründen des besseren Rüberkommens und Anschmiegens an die neue Besatzung verpflichtet gefühlt haben mochte, nichts machen. So gut wie alle Themen, die in den Morgenbesprechungen angesprochen wurden, hatten die Eigenschaft des Dauerbrenners an sich, weil es an Mangel mehr als genug gab, wo aber zu den alten immer neue dazukamen, sich den unteren turmhoch aufsetzten, und der Mangelturm in den Himmel wuchs, an dem die unteren Mängel noch glühten. Es war das besondere Verdienst der weissen Matrone, der Anschmiegsames nicht stand und sich auch nicht gefallen liess, die die Patienten im Blickfeld behielt, wenn sie in die Zukunft schaute und dabei den Mangelturm nicht schrumpfen liess. Andererseits war sie realistisch genug, um den Turm nicht zu tief in den Himmel reinzustecken. Sie war eine gerade und kluge Frau, die kämpferisch blieb und den Reichenturm zu Babel sehr wohl vom Armenturm zu Oshakati zu unterscheiden wusste.

    Es kam die Zeit, als sich der weisse ärztliche Direktor und der schwarze Superintendent auf den Weg nach Deutschland machten, um die Jungärzte dort zu interviewen und fürs Hospital zu rekrutieren. Der Eine kannte das geteilte Deutschland, weil er als Fliegerarzt mit südafrikanischem Arztdiplom für einige Jahre beim Richthofengeschwader der Bundeswehr im Oldenburgischen gedient hatte. Der Andere kannte es nicht, auch wenn er eine gute Meinung von den Deutschen hatte, weil er sie für fleissig, gründlich und sauber hielt. Für den Superintendenten war made in Germany ein Qualitätszeichen, an das er nichts kommen liess. Die Leitung des Hospitals übergab er während seiner Abwesenheit dem schwarzen Kinderarzt, dem er die erhöhte Verantwortlichkeit anvertraute. Der Superintendent sagte dem Dr. Ferdinand, dass er sich auf den Deutschlandbesuch freue und gespannt sei, wie dort die Menschen leben. Dr. Ferdinand hatte ihm zwar schon so manches aus dem deutschen Leben erzählt, doch sollte er seine eigenen Erfahrungen machen, die er mit hohen Erwartungen auch machen wollte. So waren sie abgereist, wollten sich etwa einen Monat Zeit auf dem andern, kleineren Kontinent leisten, sich im deutschen Leben umsehen, deutsch essen und trinken und mit vier Händen voller Zusagen zürückkommen. Der schwarze Kinderarzt hatte das Regiment übernommen, führte die Morgenbesprechungen an, indem er weit vor der Zeit bereits auf dem erhöhten Superintendentenstuhl sass, in dem er durch seine Körperkürze fast versank, und sich mit beiden Armen über die grosse Schreibtischplatte vornüber lehnte. Die Note des Wichtigen war nun hinter dem Schreibtisch nicht zu verkennen. Der Interimsuperintendent setzte sich aufrecht auf den Drehstuhl, selbst dabei blieb er kurz, wenn er etwas genauer hören wollte. An den Themen in den Morgenbesprechungen änderte sich ebensowenig wie am Versagen, die besprochenen Dinge in die Tat umzusetzen und den runtergekommenen Zustand des Hospitals zu heben. Die Arbeit nahm ihren gewohnten Gang, für Dr. Ferdinand mit vielen Operationen, was ihm körperlich anzusehen war, weil es sich da meistens um harte Knochenarbeit handelte. Doch auch er hatte sich daran gewöhnt, hatte sich gleich zu Beginn auf die Arbeit körperlich eingestellt, als er in drei Monaten zwanzig Kilo an Gewicht verlor und von da an den Gürtel immer enger schnallte, neue Löcher mit dem Pfriem in den Gürtel stach, um die Schnalle festzumachen. So waren nach drei Jahren statt der vier nun acht Gürtellöcher. Das war deutlich genug, wie die Arbeit an ihm zehrte. Doch selbstgemachte Gürtellöcher sah er auch an den Patienten, wenn sie die Hose zum Untersuchen öffneten, wo die alten Männer noch viel mehr Löcher in den teils verdrehten, teils angerissenen Gürteln hatten.

    Der schwarze Freitag

    Die Zweierdelegation nahm sich die zweite Woche in Deutschland, als der schwarze Freitag kam. Es war der 19. Februar 1988 ein Zahltag, an dem Menschen, so einige Schwestern, in der Barclay's Bank Schlange standen, um ihre Gehaltschecks gegen bares Geld einzulösen. An den Schaltertheken schoben sie noch die Querformate mit den aufgedruckten Zahlen von Datum und Geldbetrag und den beiden Unterschriften durch den Spalt unter der dick verglasten Trennwand mit dem Sprechloch weiter oben und bekamen dafür die bunteren, oft nachgeahmten Scheine mit den Münzen hinter dem Komma zurück, steckten das Gewechselte in Taschen weg, als sieben vor eins die ganze Bank in die Luft flog. Die Riesenladung Dynamit hatte das Dach hoch katapultiert, die Seitenmauern weggesprengt und vierunddreissig Menschen in den Tod gerissen. Es gab eine grosse Zahl an Verletzten und Schwerverletzten, die wie auf einem laufenden Fliessband gebracht wurden mit Verbrennungen, zerschmetterten und abgerissenen Armen und Beinen, zerrissenen Gesichtern, Armen, Händen und Füssen. Schwestern und Ärzte legten Infusionen, machten Wiederbelebung dort, wo das Leben zu kippen drohte, machten Verbände, wo eine Operation nicht erforderlich war. Da kamen die Patienten in den Sälen auf den Boden, denen es besser ging, um Betten für die Verletzten freizumachen. In allen Op-Räumen wurde operiert, sogar Dr. Ruth, die Gynäkologin, stieg da mit ein, und operierte Dinge, die sie noch nie getan hatte. Einige der Verletzten waren durch die Verbrennungen fürchterlich entstellt. So kam eine Frau im 'theatre 2' auf den Op-Tisch, der das verbrannte Gesicht zu einem Mondgesicht aufgequollen war, das es unmöglich machte, ihr Alter zu schätzen. Sie hatte weitere Verbrennungen an den Armen, über Brustkorb und dem Rücken. Die Gewalt der Explosion hatte ihr den rechten Unterschenkel abgerissen. Die Schwestern sagten, dass sie Sarah sei, eine junge Schwesternhelferin, die vor dem Gang zur Bank eine hübsche, junge Frau gewesen war. Ihr schnitt Dr. Ferdinand im Schnellverfahren den Rest des Beines ab und nähte die überhängenden Weichteillefzen über dem kurzen Oberschenkelstumpf zusammen. Dann versorgte er die vielen Risswunden im Gesicht, an Armen und Händen und legte die Verbände an, die den grösseren Teil des Körpers bedeckten. Ihr wurde das Leben gerettet auf Kosten der Lebensqualität. Für Sarah sollte ein anderes Leben beginnen, von dem sie noch nicht geträumt hatte. Auch der neue Chirurg, der nun nicht mehr so neu war, versorgte im 'theatre 3' Brandwunden und machte Amputationen an Fingern und Füssen. Die Schwestern rannten, wischten den Boden, räumten die gebrauchten Instrumente in die Siebe zurück und brachten neue, verpackte Instrumentensets, wechselten Sauerstoffflaschen und füllten die Narkosegeräte mit flüssigem Lachgas auf. In der Desinfektionsabteilung wurden die Instrumente blutfrei gebürstet, neu verpackt und mit Volldampf sterilisiert. Es war die Not, die alle im Teamgeist vereinte, und keiner nahm Notiz von den durchschwitzten, grünen Hemden und Hosen. Not war der grosse Meister, der jegliches Nörgeln und Zaudern verbot. Alle steigerten sich bis zur obersten Leistungsgrenze, verschütteten ihr Adrenalin, mit dem sie sonst vorsichtiger umgingen. So war die Erschöpfung, die alle nach sechs Stunden befiel, als der letzte Verletzte das 'theatre' verliess, ein Beweis für die aussergewöhnliche Anstrengung und Leistung. Der schwarze Freitag nahm seine zweite Tücke. So gingen schlagartig alle Lichter aus, als sich Dr. Ferdinand im Umkleideraum den Schweiss vom Körper rieb und dabei war, sich das Zivile überzuziehen. Warum das noch dazukommen musste, das wusste er in diesem Augenblick nicht und bekam es auch später nicht heraus, als das Anlegemanöver schon Jahre zurücklag. Der schwarze Kinderarzt als der amtierende Superintendent und ärztliche Direktor in einer Person erschien vor der Ausgangstür des 'theatre', als Dr. Ferdinand das 'theatre' verliess. Draussen, als er auf ihn stiess, stellte der amtierende Superintendent banal fest, dass da ein power cut sei, den ein Schaden am Hauptkabel verursachte, was nicht mehr banal, sondern völlig unverständlich war. Da war Glück im zweiten Unglück, dass die Verletzten versorgt waren, bevor der Stromausfall das ganze Hospital befiel und lahmlegte. Da ging nun nichts mehr, und auch in der Nacht sollte es dunkel im 'theatre', dem 'Outpatient department' und in den Sälen bleiben.

    Die beiden Sterilisatoren hatten den Dampf und Geist aufgegeben, und die Schwestern dort räumten und bürsteten die Instrumente im Dämmerlicht sauber, so gut da noch sauber zu bürsten war. Ein Unglück kommt selten allein, eine Lebensweisheit, die sich hier an diesem Nachmittag erneut bewahrheitet hatte. Diese Wahrheit holte rasch alle Überflieger jedweder Art auf den Boden der traurigen Tatsache zurück. Die wartenden Patienten, die im 'Outpatient department' im Dämmerlicht sassen, wurden auf ihre Dringlichkeit hin geprüft. Dort trafen die Schwestern die notwendige Auslese, machten aus der geringeren Dringlichkeit die aufgeschobene Dringlichkeit und schickten einen Grossteil der Patienten wieder nach Hause, um am nächsten Morgen bei Tageslicht zu erscheinen. Die dringlichen Fälle mit dem Aufschubsverbot wurden dann und in der Nacht bei Kerzenlicht untersucht und behandelt. Operationen konnten nicht druchgeführt werden. So mussten chirurgische Fälle zum evangelisch-lutherischen Missionshospital nach Onandjokwe weitergeleitet werden, das fünfundvierzig Kilometer von Oshakati entfernt lag.

    Dr. Ferdinand verliess das Hospital bei Dunkelheit. Er hatte nochmals nach den Patienten gesehen und Notizen in den Krankenblättern nachgetragen. Es war still über dem Vorplatz, als er ihn überquerte. Der Betonboden vor der Rezeption war von Patienten dicht angereiht, die dort unter Tüchern und Decken lagen und übernachteten. Es waren mehr Patienten als sonst, unter denen auch jene waren, die im Dämmerlicht auf den Bänken in der OPD sassen und darauf warteten, vom Arzt gesehen zu werden, denen die Schwestern aufgrund des Stromausfalls den Status der aufgeschobenen Dringlichkeit gaben und aufs Licht des nächsten Tages vertrösteten. Der Pförtner schob das Tor hinter ihm zu und setzte sich auf seinen Stuhl zurück. Dr. Ferdinand nahm den kürzeren Weg zwischen Stacheldraht und zerfleddertem Lattenzaun und an den fünf leerstehenden, hochgestelzten Blockhäusern vorbei, passierte den Kontrollpunkt am Dorfeingang mit dem zerknitterten 'Permit'-Papier in der Hand, sah vor ihm streunende Hunde die Strasse entlanglaufen, die ihren Kopf geradeaus hielten und von ihm keine Notiz nahmen. Er ging durch eine Sandwolke, die sich legte, und sah von der Fünferkolonne der 'Elands' mit den langen Rohren den letzten von hinten. Dann öffnete er vor seiner Wohnstelle das Tor, schob es wieder zu und legte den Riegel ins Schloss. Die Sandalen mit den durchschwitzten Korksohlen streifte er in der Veranda ab, zog sich im Wohnzimmer das klebrige Hemd vom Körper, warf es über die Sessellehne und machte in der Küche eine Tasse Tee. Mit der Tasse setzte er sich auf die Stufe vor der Veranda und zündete eine Zigarette an. So schwarz war ein Freitag noch nicht gewesen wie dieser, an dem gleich massenweise Menschen in den Tod gerissen wurden. Er erinnerte sich an die russischen Tiefflieger über Pirna, die den Bus zerschossen, den der Vater zur Flucht der Familie, einiger Patienten und Freunde organisiert hatte, der sie durch das ehemalige Böhmisch Mähren zu den besseren Amerikanern fahren sollte, wo dann bei Aussig die gefürchteten Russen kamen, die den Kindern von den urigen 'T-34' Schokoladen und Süssigkeiten runterwarfen. Nach dem Tieffliegerangriff über Pirna lagen die Toten zerschossen in den Strassen, und die Verletzten bluteten sich aus. Er dachte darüber nach, warum der Mensch es nicht seinlassen kann, andere Menschen umzubringen. Da war er sich sicher, dass da die Politik im Spiele war, wo der eine den Erfolg dem andern nicht gönnt, der da kein Pardon und keine Skrupel kennt, das Leben unschuldiger Menschen gleich mit zu vernichten. Die Verrohung im Denken mit der rücksichtslosen Besessenheit nach Macht macht aus dem Menschen den Barbaren, der beim Töten nichts mehr empfindet, auch nicht, wenn er sich vorher an wehrlosen Frauen und Mädchen vergeht. Es war ein Freitag, den er so schwarz nicht wieder erleben wollte. Dr. Ferdinand setzte sich ins Wohnzimmer und las den siebten Psalm in der Buber'schen Verdeutschung: "DU, mein Gott, an dem ich mich berge, befreie mich von all meinen Verfolgern, rette mich!, sonst zerreisst man löwengleich meine Seele, zerspellt, und kein Rettender ist. // Steh auf, DU, in deinem Zorn, erhebe dich wider das Aufwallen meiner Bedränger, rege dich mir zu in dem Gericht, das du entbietest!" Wie oft mögen sich die Juden diesen Psalm vorgesagt haben, als sie nackt Schlange vor den Gaskammern in Auschwitz und Treblinka standen, dachte er in diesem Augenblick. Dr. Ferdinand war erschöpft, doch Hunger hatte er nicht. Er holte sich die zweite Tasse Tee und machte die folgende Notiz:

    Nicht nur verfressen seid ihr und spuckt den Wortkern der Not wie einen billigen Kirschkern aus, ihr seht noch zu, wie da gemordet wird, seid selbst Zeuge und fresst weiter.

    Um Himmelswillen!, wo fresst ihr euch hin?, und seid doch Teil des Mordes! Von euren Mäulern trieft das Fett, wenn die andern nichts zu essen haben, nur reden wollt ihr nicht, wenn ihr reden solltet.

    Was denkt ihr, wer ihr eigentlich seid? Habt ihr Gott in euren Taschen, wenn ihr das Taschentuch herauszieht und das Fett euch von den Lippen, den Essschweiss aus euren Gesichtern wischt?

    Denkt ihr euch denn nichts dabei, wenn ihr seht, dass andere hungern, gefoltert und ermordet werden?

    Das kann doch nicht sein, solang die Kirche noch im Dorfe steht, wo die Psalme gelesen und nachgesprochen werden!

    Ihr, mit den fetten Ärschen, lasst die andern ruchlos verkommen? Geht das schon soweit?

    Habt ihr's nicht von den Kindern gelernt, die euch die Plastiken auf die vollen Tische knallen, die Bilder mit den Wasserbäuchen um die Ohren hauen, dass ihr mal zur Besinnung kommen müsst und statt zu fressen jetzt arbeiten und antworten sollt!

    Ist es wirklich schon soweit, dass ihr's wisst und das Gewissen schweigt, ihr euch nichts mehr dabei denkt, was da jeden Tag passiert, weil ihr so verfressen seid?

    Dann soll euch doch der Teufel holen, egal, wie erhaben ihr euch dünkt!

    Die Zeit rennt aus, vergesst es nicht, auch ihr kommt an die Reihe, da werdet ihr's bekommen, um was ihr euch verfressen habt.

    Die Hähne krähten den Samstagmorgen ein, die Sonne schickte ihre ersten Strahlen in den Tag. Die Nacht war ruhig gewesen. Dr. Ferdinand nahm den Hörer ab und legte ihn wieder auf. Da war Totenstille. Er ging unter die Brause, um sich den Schlaf vom Körper zu waschen und setzte sich mit der Tasse Kaffee in den ausgesessenen Sessel, um Zeuge des Sonnenaufgangs zu sein und aus ihm das Wissen abzuleiten, dass das Leben weitergeht. Er machte sich auf den Weg zum Hospital und wollte ihn als Spazierweg verstehen. Katzen huschten hinter hohen Grasbüscheln und lauerten. Hunde liefen gedankenlos über die Strasse, als hätten sie nichts im Sinn. Der Wachhabende an der Sperrschranke verschluckte sein Gähnen, als Dr. Ferdinand ihm das goeiemôre sagte und das verknitterte 'Permit'-Papier in der Hand hielt. Der Pförtner an der Toreinfahrt sass auf dem Stuhl und pellte das Ei, steckte es in den Mund und verrieb die Eierschalen mit dem Schuh im Sand. Er überquerte den Vorplatz, wo die Menschen vor der Rezeption dicht gedrängt auf dem Betonboden lagen. Im ersten Raum der Intensivstation lag Sarah, deren Gesicht geschwollen war, dass sie die Augen nicht öffnen konnte. Die Temperatur ihres Körpers war erhöht, sie musste mehr Flüssigkeit trinken. Der Blutdruck hielt sich an der unteren, der Puls an der oberen Grenze. Sie schlief, da ihr die Schwester kurz vorher die Spritze gegen die Schmerzen gegeben hatte. Er trug ihr Befinden mit den lebenswichtigen Daten im Krankenblatt ein, sah nach den andern Patienten und notierte deren Lebensdaten ebenfalls. Dr. Ferdinand ging noch durch die anderen Säle, um auch dort nach den Patienten zu sehn, die das Unglück des schwarzen Freitags hart getroffen hatte. Dann schaute er noch ins 'Outpatient department', wo die Patienten vom vergangenen Abend sassen, denen die Schwestern aufgrund des Stromausfalls die aufgeschobene Dringlichkeit zugesprochen und sie aufs Licht des nächsten Morgens vertröstet hatten. Da es keine chirurgisch Verletzten gab, trat er den Rückweg an, nahm den Weg über das Postamt, wo er einen Brief aus Deutschland aus dem Postfach zog, kaufte im kleinen Supermarkt Brot, Aufstrich und Zigaretten und ging zur Wohnstelle zurück. Er streifte die Sandalen in der Veranda ab und machte sich in der Küche einen Tee, in den er zwei Teelöffel Zucker einrührte. Der Brief kam vom Bruder, der wissen wollte, wie es ging, ob es etwas Neues zu berichten gab. Er schrieb von der Arbeit in Deutschland, wo die Menschen im Dauerstress stecken, weil sie anders nicht mehr leben könnten. Alle machten ein ernstes Gesicht, weil das Finanzamt immer tiefer in den Taschen griff. Die Zahl der Arbeitslosen nehme zu, doch die Gewerkschaften streiken weiter. Die grossen Unternehmen verlegen ihre Werke nach Asien und Amerika, um billiger zu produzieren und die hohen Lohn- und Lohnnebenkosten zu umgehen. So nehme die Armut im Lande zu und mit ihr die Diebstähle in den Kaufhäusern und der Autos von den Parkplätzen. Die Autos fahren dann mit neuen Besitzern in den Ostblockländern weiter oder werden über Italien und den Balkan nach Afrika verschifft. Millionenbeträge gingen in die DDR, die ihre politischen Gefangenen zu Höchstpreisen verhökerten und mit dem Menschenhandel ihre Devisenlöcher stopfen.

    Aus Afrika wusste der Bruder zu berichten, dass sich die südafrikanische Armee aus Angola zurückziehe, die dem Dr. Jonas Savimbi und seiner UNITA (União Nacional da Independencia Total de Angola) den Rest überlasse. Da dachte der Bruder in Afrika an die letzte Entscheidungsschlacht, wie sie der Brigadegeneral bezeichnete, als er mit erhobenem Zeigefinger sagte, dass da viel auf dem Spiele stehe und das Pulverfass erwähnte, auf dem er wie die andern Weissen sässen, das jederzeit hochgehen könne. Dr. Ferdinand legte den Brief zur Seite und zündete sich eine Zigarette an. Er dachte an die Menschen in Deutschland, die dem Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre nachtrauerten und denen es im Vergleich zu den Menschen vor der angolanischen Grenze noch ausgezeichnet ging. Was würden die Menschen sagen, wenn dort die Bank in dem Augenblick in die Luft gesprengt würde, wenn sie vor den Schaltern Schlange ständen, um ihre Schecks gegen Bares einzulösen? Doch damit war seit dem Ende der RFA mit der Philosophiestudentin Ulrike Meinhof und dem Rechtsanwalt Andreas Baader, für den sich der Existentialphilosoph, Schriftsteller, Theaterstückschreiber und Erzähler Jean-Paul Satre ('Wege der Freiheit', 'Der Aufschub', 'Der Pfahl im Fleische', 'Tote ohne Begräbnis') noch eingesetzt hatte, wohl nicht mehr zu rechnen.

    Dr. Ferdinand setzte sich gegen elf ins Auto und fuhr zur katholischen Missionsstation nach Okatana. An der Sperrschranke des zweiten Dorfausgangs mit der MG-Doppelstellung auf dem Wasserturm, der vor einem Jahr einen Granatenschlag abbekommen hatte, dass er schief stand, und wieder ins Lot gesetzt wurde, zeigte er sein 'Permit'-Papier vor, liess das Auto mit Verschieben der Vordersitze von innen inspizieren, und setzte die Fahrt fort. Er bog nach etwa einem Kilometer von der geteerten, strategischen Ost-West-Strasse nach rechts ab, passierte die vorwiegend von angolanischen Flüchtlingen bewohnte Blechhüttensiedlung mit den hängenden Tüchern vor den Eingängen und den gaffenden, schäbig gekleideten oder nackten Kindern, die am Strassenrand standen und grosse Augen machten. Da liefen die ständig knabbernden Ziegen zwischen den tuchverhängten Blechgestellen hin und her, gefolgt von abgemagerten Hunden. Dort lag die bunte Wäsche zum Trocknen auf den Dächern, wo daneben wenige, dürre Rinder in enger Umzäunung standen und auf ihren Schlachttag warteten. Vor ihm liess er zwei Schweine die Strasse in Richtung angolanische Siedlung überqueren, bevor sich die Räder durch den lockeren Sand mit den tief eingefahrenen 'Casspir'-Spuren wühlten. Er kam am Wasserturm vorbei, der etwa hundert Meter links von der Sandstrasse stand, von dessen Dach ihm das MG fast eine von rechts verplättet hätte, als er eines Nachts auf dem Rückweg von Okatana nach Oshakati war und nicht angehalten hatte, als ihm die Leuchtraketen in den Farben blau, gelb, rot das sofortige Anhalten signalisierten, was er damals nicht lesen konnte und die Farbenfreude der Raketen für einen freundlichen Nachtgruss hielt.

    So schlingerte er die langen fünf Kilometer bis zur Mission, wo ihn die Patres freundlich begrüssten. Sie standen unter dem grossen Baum vor dem Eingang zum Haus der Patres. Das ist ja schlimm, was da passierte, sagte der eine Pater, der sonst immer sagte, dass es schön sei, den Doktor mal wieder zu sehen, der solange nicht mehr da war. Sie gingen ins Haus und setzten sich ins Wohnzimmer mit den langen Wandregalen, die mit theologischen Büchern, Biographien und zusammengefassten Traktaten einiger Päpste und anderer frommer Männer gefüllt waren, und dem grossen Eisschrank, aus dem der andere Pater ein kaltes Bier herausholte, es in ein Glas einschenkte und Dr. Ferdinand vorsetzte. Auf dem Tisch lagen der 'Osservatore', das offizielle Wochenblatt des Vatikans und die 'Allgemeine Zeitung' für die Deutschsprachigen in Südwest. Es war ein schwarzer Feitag, der viele unschuldige Menschen in den Tod gerissen hat, andere, die es überlebten, durch die Verbrennungen und andere Verletzungen ein Leben überliess, an dem sie sich nicht mehr erfreuen könnten, der Kinder zu Waisen machte und die Menschen noch mehr verunsicherte, als sie es schon waren, kam er auf die Begrüssungsworte des Paters zurück, der das Wort schlimm gebrauchte. Sie sagten, dass es auch Familien in ihrer Gemeinde getroffen habe, wo den Kindern nun die Mütter fehlten. In einigen Familien hätte das Schicksal noch schwerer zugeschlagen, weil da beide Eltern fehlten, weil es den Vater seit langem nicht mehr gab, der entweder im Gefängnis sässe, oder mit der Swapo ins Exil gegangen war, oder erschossen oder von einer Mine zerrissen wurde. Da kann man nur hoffen, dass das bald zu Ende geht, sonst haben wir nur noch Waisenkinder, sagte der andere Pater. Dr. Ferdinand erzählte von den Verletzten, von Sarah mit den schweren Verbrennungen, die er auf dem Op-Tisch nicht wiedererkannte, weil ihr Gesicht zugeschwollen war, die vor dem Gang zur Bank eine hübsche, junge Frau gewesen war, der er nachher, weil sie die Explosion überlebte, das rechte Bein abschneiden musste. Da sagten beide Patres aus einem Munde: das ist ja furchtbar. Er sprach von den vielen Operationen, als sich keiner schonte, weil die Not der Meister war, die weder ein Nörgeln noch ein Zaudern erlaubte, die Ärzte und Schwestern zu einem Team zusammenschweisste.

    Als er dann vom Stromausfall sprach, nachdem der letzte Verletzte aus dem 'theatre' gefahren wurde, weil das Hauptkabel beschädigt war, da fiel es den Patres schwer, ein Wort zu sagen, weil sie an ein Wunder da nicht glauben wollten. Das Mittagsglöckchen läutete zum Essen, und die Patres luden Dr. Ferdinand zum Mittagessen ein. Ein Pater sprach das Gebet vor dem Essen, in dem er der Toten und Verletzten, ihrer Familien und der Waisenkinder gedachte und den lieben Gott mit ganz einfachen Worten um seine verspätete Barmherzigkeit bat. Zu lang wollte er sein Gebet nicht machen, und so blieben die Obdachlosen und Hungernden diesmal unerwähnt. Nach dem Amen schlug jeder der Patres sein Kreuz auf die Brust. Im Einnehmen der Stühle wünschten sie einander und Dr. Ferdinand einen guten Appetit. Mit dem schärferen Messer war das zarte Schweinekotelett mühelos zu schneiden. Die gedämpften Kartoffeln hatten ihre Form behalten, sie waren weder wässrig noch versalzen. Der Salat war köstlich zubereitet, und der Zitronensaft war hausgemacht. Da liess sich gut essen unter dem verglasten Foto der freundlich auf den Tisch blickenden Muttergottes an der Wand, und Dr. Ferdinand genoss das Essen, das sich von der Hospitalkost so sehr unterschied. Die Patres wussten es offenbar besser, als sie sagten, dass das Ende des Apartheidregimes greifbar nahe sei, und die Menschen voll hinter der Swapo ständen. Dr. Ferdinand wollte es gerne glauben, doch nannte er den schwarzen Freitag einen barbarischen Schlag gegen die Menschen, der einen tiefen Krater auf dem letzten Wegstück gerissen hatte.

    Wer konnte dahinter stecken?, fragte er über den Tisch. Die Antwort kam spontan: die Swapo tut so etwas nicht. Auch die Patres hatten es erfahren, dass da wenige Minuten vor der Explosion schwarze Männer eine Kiste in der Bank abgestellt hätten, was im Gedränge der Menschen unbeachtet blieb. Sie sagten, dass es schwarze Männer nicht nur bei der Swapo, sondern auch bei der Koevoet (Brecheisen) gäbe, die weiterhin ihre nächtlichen Patrouillen mit den 'Casspirs' fuhren und hin und wieder Männer aus den Dörfern mitnähmen. Sie fügten hinzu, dass es schwer sein würde, die Schuldigen ausfindig zu machen. Nach dem kurzen Dankgebet zeigten die Patres das vergrösserte, neu ausbetonierte und blau gestrichene Schwimmbecken, das neben dem Patreshaus hinter hohen Mauern geschützt lag, zu dem sie durch eine schmale Aussentür gingen, die zu verschliessen war. Hinter der hohen Grenzmauer hatte sich das breite, gebogene Flussbett des Cuvelai zu einem See gestaut, über dem das grelle Sonnenlicht gleisste. Sie zeigten den Garten, in dem das Gemüse stand mit den grossen Salat- und Kohlköpfen, die Stangenbohnen, die die Zweimeterhöhengrenze überstiegen, wo der Boden dunkelerdig war und täglich aus den verlegten Leitungsrohren bewässert wurde. Die Gänse, bei denen es Junge gab, stolzierten durch ihren kleinen Garten an zwei Schildkröten vorbei. Sie hatten ihren kleinen Teich für sich, in den sie die Köpfe tauchten und nach dem Auftauchen mit den Schwingen hin und herschlugen. Daneben stand das grosse Vogelhaus mit den afrikanisch bunten Vögeln, die da munter dazwischenzwitscherten. Dann kam der Hühnerstall mit den Eiergelegen und den Durchgängen zu den zwei grossen, hoch eingezäunten Aussengehegen, getrennt nach jung und alt, wo einigen Hähnen der Kamm schwoll, wenn es die Hennen nicht wollten, oder das Jungvolk ihnen lästig wurde. Schliesslich machten sie den zwei Schweineställen die Aufwartung, von denen der eine durch halbhohe Trennmauern in Abteilungen für die Säue, die tragend waren und jene, die geworfen hatten, unterteilt waren, wo die Frischlinge mit der rosanen Haut vor den Zitzen der vollen Milchleisten lagen und an ihnen sogen, dabei mit den Vorderpfötchen gegen das Gesäuge der Mutter traten, um da noch mehr herauszusaugen. In den beiden letzten Abteilungen waren die Eber, erst der jüngere, der erregt grunzend und unruhig mit den Füssen in seiner Stallung auf der Stelle trat, weil er es kürzlich zum Vater brachte, und schliesslich der Stammeber, ein Riesenkerl, der da ausgestreckt lag, weil er das Ruhealter erreicht und als Vater genug Gutes geleistet hat. Er hatte ausgedient. Die Patres sprachen ihm weitere Vaterschaften ab und den nächsten Schlachttermin zu, weil es der Sohn beim Besteigen der Säue nicht weniger leidenschaftlich als der Vater machte und dabei gute Resultate erzielte. Im anderen, dem Kommunenstall, wurden die Ein- bis Vierjährigen gehalten, die durch grössere Durchgänge zum Schweinehof ausliefen und für den regelmässigen Fleischvorrat

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