Das Familiengeheimnis: Ein Leben in der Robotergesellschaft
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Die fiktive Familie Wang steht im Mittelpunkt dieses im Deutschland des 21. Jahrhunderts spielenden Zukunftsromans und geht hier sehr erfolgreich ihren beruflichen Geschäften nach: Herr Wang betreibt mit großem Erfolg eine Robotik-Firma. Seine "intelligenten", humanoiden Roboter erfüllen bereits viele Aufgaben für den Menschen, aber Herr Wang ist noch nicht zufrieden. Er strebt danach, den perfekten, dem Menschen ebenbürtigen Roboter zu entwickeln, und dazu will er seinen bereits sehr wissensträchtigen Androiden auch noch ein Bewußtsein sowie Gefühle verleihen. Dabei unterstützt ihn seine Frau, die als Dozentin für Neuroinformatik an der Universität Ulm zusammen mit Kollegen aus den Bereichen Hirnforschung und Künstliche Intelligenz in interdisziplinär besetzten Teams arbeitet, mit den neuesten Forschungsergebnissen.
Auf dieser Familie liegt allerdings eine schwere Bürde. Ihr ist ein besonderes Schicksal beschieden, wie es mit den neuen Errungenschaften der Medizintechnik des 21. Jahrhunderts eben auch möglich sein wird. Es ist ihr "Familiengeheimnis", das ihnen mehr und mehr Probleme bereitet. Erst sehr spät erfährt Herr Wang, der "Held" des Romans, die ganze Tragweite des großangelegten Forschungsprogramms, in dem er selbst und seine ganze Familie auch nur ein kleines Objekt, ein Spielball der Wissenschaft gewesen sind.
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Das Familiengeheimnis - Peter Beuthner
Vorwort
Das 21. Jahrhundert beschert uns u.a. viele technologische Innovationen und in der Folge davon auch gesellschaftliche Veränderungen. Wir stehen erst am Anfang dieses Jahrhunderts, aber viele Neuerungen befinden sich bereits in der Umsetzung vom Laborstadium in die Praxis unseres Alltages. Insbesondere die Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie ermöglichen allen Menschen unmittelbaren Zugriff auf das Wissen der Welt und verändern die Gesellschaft im sozialen Miteinander: „Soziale Netzwerke und „Smombies
zeigen bereits jetzt ein deutlich verändertes Sozialverhalten. Auch Verkehrssysteme werden immer „intelligenter und leistungsfähiger: Autonome Verkehrsmittel fahren ohne Bedienung, und elektronische Verkehrsleitsysteme garantieren optimalen Verkehrsfluß ohne Staus. Fortschritte in der Robotik und Künstlichen Intelligenz verändern zunehmend unsere Arbeitswelt: In zahlreichen Unternehmen haben die Arbeitsroboter schon heute viele Menschen ersetzt; andere Stichworte sind „Industrie 4.0
; „Internet der Dinge". Aber auch unser soziales und privates Umfeld wird sich damit verändern: Man denke nur an Serviceroboter jeglicher Art, die immer weiter vervollkommnet werden. Roboter werden zunehmend mehr unser Bruttosozialprodukt generieren und uns Menschen dadurch neue Freiräume für kreative Tätigkeiten verschaffen. Und die vielen Neuerungen in der Nano-, Bio- und Gentechnologie ermöglichen ganz neue Verfahren in diversen Anwendungsbereichen, insbesondere auch in der Medizin zur Früherkennung und Behandlung von Erkrankungen, in verstärktem Maße sogar zu deren Vermeidung. Aber die Möglichkeiten gehen noch viel weiter: Sie erlauben auch die Reproduktion und gentechnische Veränderung von Menschen im Sinne individuell gewünschter Optimierung – Stichwort: Designerbaby.
In dieser Welt spielt der vorliegende Roman, in dessen Mittelpunkt die in Deutschland lebende chinesische Familie Wang steht, die hier sehr erfolgreich ihren beruflichen Geschäften nachgeht: Herr Wang betreibt mit großem Erfolg eine Robotik-Firma, und seine Frau ist Dozentin für Neuroinformatik an der Universität Ulm. Die Wangs sind auch gesellschaftlich sehr geachtet und haben einen großen Freundeskreis in Ulm. Zusammen mit ihren drei Kindern führen sie ein glückliches, harmonisches Familienleben und orientieren sich dabei an chinesischen Traditionen, insbesondere am Konfuzianismus. Und für die Zukunft haben sie noch hochstrebende Pläne. Alles scheint bestens.
Doch: Unverhofft kommt oft, heißt es sprichwörtlich. Manche Ereignisse treffen einen völlig überraschend und unerwartet. Niemals hätte man auch nur einen Gedanken darauf verwendet, daß einem so etwas passieren könnte. Besonders, wenn es eine schlimme Nachricht ist, fühlt man sich zunächst wie vom Schlag getroffen, ist unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, und hadert mit seinem Schicksal. Aber selbst ein Ereignis, dessen Eintreffen man zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit hätte für möglich halten müssen, weil man wußte, daß die potentielle Möglichkeit dafür gegeben war, kann einen völlig unerwartet und unvorbereitet treffen und sogar aus der Bahn werfen.
So ergeht es auch den Wangs. Eines Tages, wie aus heiterem Himmel, passiert das, was sie zwar nie ganz hatten ausschließen können, aber eben doch nicht wirklich für möglich gehalten und deshalb gut verdrängt hatten. Ein böser Schicksalsschlag, wie sie es empfinden. Es kam völlig überraschend. Ein dummer Zufall, ein kleines Mißgeschick, eine Unvorsichtigkeit vielleicht nur wird ihnen zum Verhängnis.
Aber berichten wir doch der Reihe nach . . .
Ein Arbeitstag geht zu Ende
Es war ein anstrengender Tag für Wang Qiang. Schon früh um 6.00 Uhr war er zu Hause losgefahren, um rechtzeitig zum Beginn der Verhandlungen in Leipzig zu sein. Dieser Termin war für ihn sehr wichtig, es ging immerhin um die Übernahme des in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratenen Systemhauses AnthropoTech, seines größten Konkurrenten auf dem Sektor der Roboter-Entwicklung in Deutschland. Den ganzen Tag über hatte er mit dem Geschäftsführer und den Gläubigerbanken verhandelt. Es waren sehr schwierige Verhandlungen, und nicht alle Punkte konnten abschließend geklärt werden, aber er war trotzdem sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Man hatte schließlich weitgehende Einigung erzielt, und für die noch offenen Punkte zeichneten sich Wege zur Verständigung ab.
Jetzt, auf der Rückfahrt nach Hause, hatte er es sich in seinem Auto halb sitzend, halb liegend bequem gemacht. Er schaute ein bißchen in die Gegend, und erst allmählich registrierte er, daß es ein wunderschöner Herbsttag gewesen sein mußte. Die Sonne sandte noch ein paar warme Strahlen und tauchte die Landschaft in ein farbenfrohes Gemälde mit angenehm weichen Konturen. Das Fahrzeug schwebte gleichmäßig und fast lautlos durch dieses Gemälde und führte ihn dank Selbstfahrautomatik autonom und sicher auf seinem Weg nach Hause. Er mußte sich nicht auf den Verkehr konzentrieren, und so konnte er die Fahrtzeit nutzen, sich zu entspannen, die vorbeiziehenden Landschaftsbilder zu genießen oder die Augen zu schließen und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Er spürte die langsam nachlassende Anspannung, die sich im Laufe des Tages zunehmend, aber von ihm selbst auf Grund seiner vollen Konzentration auf die Verhandlungen unbemerkt, aufgebaut hatte. Er freute sich auf sein Zuhause, auf seine Familie, auf seine meditativen Entspannungsübungen. Kurz vor Ulm, sein Autopilot zeigte noch 25 Kilometer bis zu seiner Wohnung, rief er zu Hause an, um seine Ankunft anzukündigen und ein paar Anweisungen an Robby zu geben.
„Ja, sagte Robby, „ich habe schon gesehen, daß du kurz vor Ulm bist und gleich hier eintreffen wirst, Qiang. Ich werde alles vorbereiten, bis gleich.
Unwillkürlich kam ihm der Gedanke an die Worte von Herrn Güssen, dem Geschäftsführer von AnthropoTech, der ihn neulich bei einem chinesischen Ausstellerstand auf der Leipziger Herbstmesse gesehen haben will. Wie kommt der Mensch bloß darauf, fragte er sich. Ich war doch gar nicht auf der Messe dieses Jahr. Habe ich vielleicht einen Doppelgänger? Nein, nein, der Güssen muß sich getäuscht haben. Aber komisch ist das schon. Dann dachte er wieder an den Ablauf der Gespräche, die unterschiedlichen Positionen und Argumente, an die erzielten Vereinbarungen, an die noch offenen Punkte. Würde seine Strategie tatsächlich aufgehen, dann wäre das allein schon durch die Nutzung der sich aus dem Firmenzusammenschluß ergebenden Synergien ein kolossaler Gewinn für die Fortentwicklung seines Unternehmens. Er könnte jetzt endlich . . . aber da erkannte er auch schon die Autobahnabfahrt Ulm-West. Automatisch reduzierte das Fahrzeug die Geschwindigkeit und bog in die Abbiegespur ein. Nun dauerte es höchstens noch fünf Minuten bis nach Hause.
Sein Haus war sehr schön gelegen, in einem nördlichen Außenbezirk der Stadt Ulm. Hier war im Laufe der letzten Jahrzehnte mit fortschreitendem Ausbau der sogenannten Wissenschaftsstadt, auch Science Park oder Brain Town genannt, einer Ansammlung von Universität und Hochschule sowie diversen Forschungsinstituten und anderen forschungsnahen Einrichtungen und Industriebetrieben, eine sehr große Trabantenstadt für die dort Beschäftigten entstanden. Und hier hatte Wang Qiang, der Inhaber und Geschäftsführer der im Areal der Wissenschaftsstadt gelegenen Roboter-Firma BrainTech, vor etwa fünf Jahren ein 800 Quadratmeter großes Baugrundstück von der Stadt angeboten bekommen und sofort zugegriffen. Denn hier stimmte nach seiner Vorstellung so ziemlich alles. Die ganze Infrastruktur war beinahe beispiellos: Kurze innerörtliche Verbindungswege, Anbindung an Autobahnen und Schnellzüge sowie an einen Flughafen, städtische Ämter, Zubringer- und Entsorgungsdienste, sportliche Einrichtungen, Schulen und Kindergärten sowie ausreichend Einkaufsmöglichkeiten und nette Lokale. Trotzdem konnte man das Gefühl haben, in einem Park zu leben, denn breite Grüngürtel und kleine, künstlich angelegte Seen und Bachläufe lockerten die Bebauung auf. Eine phantastische Wohnlage. Und auch die ganze Atmosphäre, die von dieser Anlage und ihren Bewohnern ausstrahlte, hatte ihn sogleich in ihren Bann gezogen. Man sah es dieser Trabantenstadt wirklich nicht an, daß sie einst – unter vorbildlicher Integration der schon vorher dort angesiedelten Gemeindeeinrichtungen – praktisch komplett auf dem Reißbrett entstanden war. Dies erfuhr er erst viel später und wollte es kaum glauben, daß hier schon vor über drei Jahrzehnten die Stadtplaner und Landschaftsarchitekten offenbar Hand in Hand mit Industrie, Handwerk und Handel sowie Naturschutzverbänden und interessierten Bürgern weit vorausschauend auf die ökonomischen und die ökologischen Belange zukünftiger Generationen ein ganzheitliches Konzept entwickelt und damit eine Meisterleistung in Sachen Lebensqualität abgeliefert haben, das einen an paradiesische Zustände denken ließ.
Der Erwerb des Grundstücks, das Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie alle damit verbundenen behördlichen Vorgänge waren erstaunlich unbürokratisch und unkompliziert abgelaufen, so daß Qiang sofort mit der Umsetzung seines Bauprojektes beginnen konnte.
Bei der Bauplanung hatte er sich ganz nach der Jahrtausende alten chinesischen Tradition des ‚Feng-Shui‘ gerichtet, denn, obgleich er sich selbst nicht für abergläubisch hielt, orientierte er sich bei seinem Denken und Handeln doch immer wieder an den von alters her überlieferten Gebräuchen und Regeln seiner Heimat. Er konnte es rational nicht begründen, aber irgendwie hatte er das Gefühl, mit der ihm vertrauten Tradition im Einklang stehen zu müssen, um sich wirklich wohl fühlen und gut schlafen zu können.
Alles schien wunderbar gelungen, denn die Jahre, die Qiang dort mit seiner Familie bisher verbracht hatte, waren voller Glück, beruflicher Erfolge und gesellschaftlicher Anerkennung. Eine bessere Bestätigung für seine Überzeugung konnte er gar nicht bekommen.
Inzwischen war er zu Hause angekommen. Die Toreinfahrt und das Garagentor öffneten sich automatisch, so daß er ohne Halt einfahren konnte. Danach schlossen sich die Tore wieder. Nachdem er das Fahrzeug abgestellt hatte, zeigte sein Bord-Display die gefahrenen Kilometer und die dafür erforderlichen Straßenbenutzungsgebühren mit der Bitte um Kenntnisnahme und Bestätigung an. Qiang sah keinen Grund, zu widersprechen. Also drückte er auf die Bestätigungstaste, wonach der angezeigte Betrag automatisch von seinem Konto abgebucht wurde.
In der Garage wurde er schon von Robby erwartet, der ihm seine Tasche und seine Jacke abnahm, um sie ins Haus zu tragen. „Hallo Robby, sagte er, „ist alles okay hier?
„Guten Abend, Qiang, antwortete Robby höflich. „Ja, das Entspannungsbad ist angerichtet, das Essen ist für 19.30 Uhr vorbereitet. Chan ist noch in einem Seminar, sie wird gegen 19.00 Uhr hier sein. Long, Jiao und Jie sitzen an ihren Computern und bereiten sich auf die nächsten Prüfungen vor.
„Prima, dann nehme ich jetzt als erstes mein Bad, anschließend mache ich noch eine halbe Stunde Qi Gong, und dann bin ich genau zum Essen fertig", freute sich Qiang. Er war zirka 1,85 Meter groß und von sportlich-schlanker Figur. Mit seinem pech-schwarzen, kurzgeschnittenen Haar, einem vergleichsweise schmalen Gesicht, aus dem eine sehr scharf geschnittene, schmale Nase herausragte, und seiner sehr glatten Haut machte er – rein äußerlich betrachtet – einen sehr jungenhaften Eindruck, während sein selbstbewußtes und vornehmes Auftreten sowie seine ausgesprochen höflichen Umgangsformen einen wahren Gentleman zeigten.
Als es halb acht geworden war, kam Qiang frisch gestärkt und gutgelaunt aus seinem Meditationsraum, wo ihm die Qi Gong-Übungen, eine seit etwa 6.000 Jahren in China praktizierte Körperübung in Form bestimmter Bewegung, Atmung und meditativer Konzentration, zu seinem offenkundig wunderbaren Zustand völliger innerer Ruhe, Ausgeglichenheit und Gelassenheit verholfen hatten.
Im Wohnzimmer begrüßte er Chan, seine Frau. Ihr Name bedeutet so viel wie „schön, „anmutig
. Und in der Tat war sie eine bildschöne Frau, machte ihrem Namen alle Ehre. Besonders ihre wunderschön geformten Mandelaugen mit den langen Wimpern schienen ihrem ausgesprochen hübschen Gesicht den letzten Schliff zur Vollkommenheit zu geben. Sie hatte schulterlange, pech-schwarze Haare, die sie üblicherweise an den Seiten zurückgekämmt und am Hinterkopf zusammengesteckt trug. Sie war etwa 1,75 Meter groß und wie ihr Mann von sportlich-schlanker Figur. Auch sie hatte heute einen außergewöhnlich langen Tag an der Uni Ulm, wo sie als Dozentin für Neuroinformatik tätig war, hinter sich, denn normalerweise dauerte ihr Arbeitstag höchstens bis etwa 16 Uhr.
Sie tauschten kurz ihre Tageserlebnisse aus und riefen dann die Kinder herein, die sich nach Beendigung ihrer Computerarbeiten gerade noch im Garten ein wenig in der traditionellen chinesischen Kunst der Selbstverteidigung – Tai Chi Chuan, auch bekannt als Schattenboxen – übten.
Mit Ausnahme von Long, der sich in beiden Stilrichtungen – neben Tai Chi auch in Kung Fu – übte, interessierten sich die drei Kinder insbesondere für das Tai Chi Chuan (Chuan heißt Faust), mit dem sie täglich Körper und Geist trainierten – anfangs vor allem Ausdauer und Körperbeherrschung, im fortgeschrittenen Stadium stärker die innere Konzentration und Ausgewogenheit der Bewegungen betonend. Mit zunehmender Beherrschung der üblicherweise im Zeitlupentempo ausgeführten Bewegungen übten sie sich auch sehr gerne und ausgiebig im schnellen und effizienten Ablauf dieser Übungen in simulierter Kampfhandlung.
Nachdem sie sich gewaschen hatten, kamen sie lebhaft diskutierend ins Wohnzimmer und umarmten ihre Eltern zur Begrüßung – drei sehr aufgeweckte und hübsche Kinder.
„Das wird aber auch Zeit, daß ihr endlich da seid, sagte Long mit leicht vorwurfsvoll klingendem Ausdruck, „wir haben schon einen riesigen Hunger.
Long, der Älteste, war 14 Jahre alt, von drahtiger, sportlich durchtrainierter Gestalt und fast schon so groß wie sein Vater. Geistig war er, wie seine Eltern, technisch-wissenschaftlich orientiert. So hatte er sich schon früh für deren Arbeit, die Robotertechnik und die Neuroinformatik, interessiert. Es faszinierte ihn der Gedanke, eines Tages künstliche Menschen zu schaffen, die den natürlichen ebenbürtig oder sogar überlegen sein würden. Er betrachtete es als die Herausforderung schlechthin und war begierig, sie anzunehmen.
Seine Schwester, Jiao – die „Bezaubernde, „Liebenswerte
, war zwei Jahre jünger als er. Ein sehr aufgewecktes, beredtes Mädel. Sie interessierte sich – einer ausgeprägten weiblichen Neugier folgend – ganz allgemein für den Lauf der Welt in seiner Gesamtheit, also für alles, was so auf der Welt in der Vergangenheit passierte und in der Zukunft passieren könnte, die Geschehnisse und ihre Entwicklung. Weil dies ein sehr weites Feld war, pflegte sie ein Zeitfenster herausgehobenen Interesses einzugrenzen: Die neuzeitliche Historie der letzten 200 Jahre und die Vorausschau auf die zukünftigen zwanzig, dreißig Jahre. Sie wußte noch nicht, wie sie sich beruflich orientieren würde, ob sie sich eher der Historie oder vielleicht doch lieber der Zukunftsforschung widmen sollte. Jedenfalls beschäftigte sie sich für ihr Alter erstaunlich intensiv mit den historischen Abläufen wie auch mit den publizierten Zukunftsprognosen, und dabei speziell mit den evidenten oder scheinbaren Zusammenhängen, konsumierte sehr viel einschlägige Literatur und debattierte gern auch im Familienkreis darüber.
Der Jüngste, Jie, interessierte sich – ungeachtet seines Alters von gerade mal zehn Jahren – bereits sehr für Wirtschafts- und Gesellschaftsfragen, aber auch für Philosophie, Physik und vieles mehr. Und er nutzte gern jede sich bietende Gelegenheit, mit anderen über Gott und die Welt zu diskutieren. Aber gerade weil er so vielseitig interessiert war, hatte er noch keine konkrete Vorstellung, was er später einmal studieren würde.
Alle Drei gehörten in ihrer jeweiligen Jahrgangsstufe zu den besten Schülern. Sie waren vielseitig interessiert, lernbegierig, fleißig, und doch nicht streberhaft. Ihre schnelle Auffassungsgabe erleichterte ihnen das Lernen. Und die vielen angeregten Unterhaltungen im Familienkreis zu diversen Themenkomplexen haben ihre vielseitigen Interessen geweckt.
Sie waren von ihren Eltern entsprechend der kulturellen Tradition der Chinesen im Sinne der konfuzianischen Soziallehre erzogen worden. Das bedeutet Ehrerbietung, Pflichtgefühl und unbedingten Gehorsam der Kinder gegenüber ihren Eltern, Anerkennung der Autorität der Eltern wie der älteren Generation generell gegenüber der jüngeren. Strenge Hierarchie, klar definierte Rollen, Rechte und Pflichten sind in der Soziallehre des Konfuzius die Grundpfeiler, die letztlich alle der obersten Maxime, der Herstellung und Erhaltung der sozialen Harmonie, dienen sollen.
Qiang und seine Frau waren von ihren Eltern in dieser Tradition erzogen worden und pflegten sie in ihrer Familie auch weiterhin. Aber sie waren weit herumgekommen in der Welt durch ihre Geschäfte und hatten auf diese Weise zahlreiche Kontakte mit anderen Kulturen. Sie waren gewissermaßen Wanderer zwischen den Welten, kannten die eine wie die andere. Unabhängig davon hatten sich in den letzten Jahrzehnten, eben auch im Zuge der Globalisierung und der damit verbundenen zahlreichen interkulturellen Kontakte, nach und nach bestimmte Gepflogenheiten in der geschäftlichen Kommunikation und Interaktion herauskristallisiert, die im internationalen Business inzwischen praktisch zum Standard geworden waren. Qiang und Chan waren bestens vertraut damit, und diese Einflüsse waren natürlich auch an ihnen nicht spurlos vorübergegangen. So war es nicht verwunderlich, daß sie die alten konfuzianischen Regeln nicht allzu streng handhabten. Nichtsdestotrotz standen sie zu ihrer eigenen Tradition mit ihren Werten, wollten diese auf keinen Fall verleugnen. Sie suchten das eine mit dem anderen bestmöglich zu verbinden – in der Gesellschaft, im Beruf und in der Familie.
Draußen war es inzwischen fast stockdunkel geworden, und sie begaben sich in das Eßzimmer. Hier war es taghell, als schiene direkt im Zimmer die Sonne.
Das Prinzip der Glühlampen, wie es einstmals von Thomas Edinson entwickelt worden war, hatte längst ausgedient. Das Wort „Lampe war schon fast ganz aus der Mode gekommen, jetzt sprach man nur noch von „Licht
. Man beherrschte inzwischen die Technik bis zu den sehr hohen Frequenzen im sichtbaren Bereich. Und so lag es nahe, das Tageslicht in die Wohnung zu holen. Dazu hatte man in jedem Raum eine winzige, praktisch nicht sichtbare Antenne an der Decke, die elektromagnetische Wellen im sichtbaren Frequenzbereich abstrahlte, deren Eigenschaften über eine elektronische Regelung vorgegeben werden konnten.
„Ach, das ist mir jetzt aber zu ungemütlich, sagte Chan gleich beim Eintreten. „Ich möchte es nicht so grell haben. Wie seht ihr das?
„Natürlich, wie du wünschst mein Schatz. Schaffen wir eine angenehmere Atmosphäre, antwortete Qiang spontan und sprach dann ein Kommando in den Raum: „Licht wärmer!
Die Lichtfarbe änderte sich langsam und kontinuierlich von weiß zu gelb oder, wie man auch sagte, von kaltem zu warmem Licht.
„Stopp! sagte Chan, als sie das Gefühl hatte, daß jetzt ein angenehmer Warmton erreicht war. Und augenblicklich wurde der Einstellvorgang beendet. „Ist es euch auch so recht?
fragte sie die anderen Familienmitglieder.
„Ja, ist okay!" kam es vielstimmig.
„Vielleicht doch noch eine Idee dunkler?" fragte Chan nochmal nach.
„Von mir aus", kam es wieder vielstimmig.
„Licht dimmen! kommandierte Chan, und die Lichtintensität nahm langsam und gleichmäßig ab. „Stopp!
rief sie wieder, und auch dieser Einstellvorgang war beendet.
„Jetzt gefällt es mir gut, bemerkte sie zufrieden, „so ist es angenehm. Für euch auch?
Die anderen nickten.
Aber ihrer Mimik nach schien sie doch noch nicht zufrieden mit der Einstellung. „Hm . . ., vielleicht doch wieder eine Idee heller?" fragte sie nach kurzem Zögern und schaute dabei leicht verschmitzt lächelnd in die Gesichter der anderen.
Long wollte gerade eine Unmutsäußerung anbringen, als er bemerkte, daß seine Mutter herzhaft zu lachen anfing. Da wußte er sofort Bescheid: „Ich glaube, du hast dir in letzter Zeit zu viele alte Videos von diesem Klassiker, dem Loriot, angesehen, was?"
Chan prustete vor Lachen: „Ja, ich finde diese Szenen immer wieder köstlich! Die kleinen Schwächen der Menschen – wirklich fein beobachtet und meisterhaft wiedergegeben, einfach köstlich anzuschauen!"
Alle lachten mit.
In der Küche dampften drei große Kesselpfannen, sogenannte Woks, vor sich hin und verströmten einen köstlichen, appetitanregenden Duft nach geröstetem Sesam, nach Soja und Sirup, Ingwer und Zwiebeln, Knoblauch, Chili und Cayenne, nach Fisch, Fleisch und Gemüse. Alles war nur kurz, aber heftig in siedendheißem Öl angebraten worden, so daß das Gemüse Biß und Vitamine behielt und Fisch und Fleisch zart und saftig blieben.
Der Tisch war bereits gedeckt – ein großer runder Tisch, dessen mittlerer Teil drehbar war. Auf diesem wurden nacheinander die Schüsseln mit den verschiedenen Speisen abgestellt, so daß jede Schüssel – nach entsprechender Drehung des Mittelteils – für jeden bequem erreichbar war.
„Robby hat uns schon verraten, daß es heute unser Lieblingsessen – Nang King Niu Wei – gibt", sagte Long. Das war ein pikant zubereiteter Ochsenschwanz in Sojasoße.
„Ja, und außerdem haben wir einen Bärenhunger, deshalb konnten wir es kaum noch erwarten, bis ihr endlich gekommen seid", ergänzte Jie.
„Jetzt seid ihr ja erlöst von der Warterei, beruhigte Chan die Kinder, „die Raubtierfütterung kann sofort beginnen. Also bedient euch.
Sie setzten sich zu Tisch, und Robby, der Haus-Roboter der Familie, erläuterte die Speisenfolge: „Heute gibt es folgende Menü-Auswahl: Schweinefleisch süß-sauer, Fisch mit Zitronensoße . . . und . . . – Robby machte eine kurze Pause, schaute in die Runde, um dann mit einem Augenzwinkern in Richtung Jiao fortzusetzen – „auf Wunsch einer einzelnen Dame
, und damit meinte er Jiao, „gibt es . . . Ochsenschwanz Nanking; außerdem gibt es grüne Bohnen mit Bambusspitzen und Won-Tan-Suppe. Ich wünsche guten Appetit!"
Alle waren begeistert und bedienten sich der köstlich duftenden und schmeckenden Speisen von den vorbeikreisenden Schüsseln. Robby schien sich über die zufriedenen Gesichter zu freuen und machte lächelnd eine kurze Verbeugung.
Genaugenommen waren es eigentlich fünf Roboter, die allen Familienmitgliedern als dienstbare „Geister" zur Verfügung standen. Sie hörten alle auf denselben Namen. Das war einfach praktischer für die Familie, schon um mögliche Verwechslungen von vornherein auszuschließen, denn die Roboter sahen alle gleich aus.
Sie waren in der Firma von Qiang entwickelt und gebaut worden. Ihre Motorik, ihre Sensorik, ihre „Intelligenz und ihre Funktionssteuerung waren im Laufe der Jahre ständig verbessert worden. Inzwischen waren sie fast als perfekt zu bezeichnen. Äußerlich waren sie den Menschen nachgebildet, und sie bewegten sich auch genau wie diese. Intellektuell waren sie dem Menschen hinsichtlich eigener Kreativität noch unterlegen, aber bezüglich Geschwindigkeit und Präzision, „Gedächtnisleistung
und „Konzentration schon deutlich überlegen. Sie verfügten über die Fähigkeit, die menschliche Sprache zu verstehen – auch Sätze mit „äh
, Satzbrüche und Versprecher – und sich auch selbst so zu artikulieren. Neben Deutsch verstanden sie Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch, Japanisch und Chinesisch, und sie konnten aus allen diesen Sprachen ins Deutsche übersetzen. Das war ihr Standard-Sprachschatz, selbstverständlich konnte jede weitere Sprache im Bedarfsfall sofort „nachgeladen werden. Eigene Gefühle konnten sie noch nicht entwickeln, aber immerhin waren sie mit ihrer Wahrnehmungsfähigkeit bereits in der Lage, zwischen verschiedenen Gemütslagen des Menschen zu differenzieren und entsprechend „einfühlsam
zu reagieren.
Da die Wangs fünf Roboter im Haus hatten, stand im Bedarfsfall jedem der fünf Familienmitglieder je einer zur selben Zeit für Dienstleistungen zur Verfügung. Sie machten praktisch alles, was so an Hausarbeit anfiel – und sie kochten vorzüglich! Sie hatten tausend Rezepte im „Kopf", die im Laufe der Jahre durch die Familie ständig verfeinert und entsprechend einprogrammiert worden waren. Angebranntes oder noch ungares Essen, zu stark oder zu wenig gewürzt – das alles gab es bei ihnen nicht, es war immer von gleich guter Qualität.
„Und? Was habt ihr heute so erlebt?", fragte Qiang, während er nacheinander seine drei Kinder prüfend anschaute.
„Och, fing Long an, „ich habe ziemlich viel gelernt heute, weil wir morgen eine Prüfung in Bio haben.
Er sprach ein sehr gutes, fast schon akzentfreies Deutsch, obwohl er erst seit etwa fünf Jahren in Deutschland lebte. Bis zu seinem neunten Lebensjahr war er in China aufgewachsen, und nur im letzten, dem neunten Jahr, als schon klar war, daß die Familie nach Deutschland übersiedeln würde, hatte er, zusammen mit den Geschwistern, zur Vorbereitung auf den Wechsel schon Deutschunterricht bekommen. Die Eltern hatten bereits vorher berufliche Kontakte nach Deutschland und im Rahmen dieser Tätigkeiten begonnen, die deutsche Sprache zu lernen.
„Was für Themen bearbeitet ihr denn gerade in Bio?", wollte Qiang wissen.
„Wir behandeln zur Zeit die Vererbungslehre von Mendel, antwortet Long, „ein wirklich interessantes Thema. Ich werde es auch als Vortragsthema wählen.
Jeder Schüler mußte in jedem Fach einmal pro Halbjahr einen Vortrag zu einem selbstgewählten Thema aus dem behandelten Stoffgebiet halten. Man hatte damit sehr gute Erfahrungen gesammelt, denn auf diese Weise lernten die Schüler frühzeitig, selbständig ein Thema vertieft zu erarbeiten und dann in möglichst freier Rede coram publico vorzutragen. Und so war es inzwischen in allen Schulen des Landes zur Selbstverständlichkeit geworden.
„Es ist ja eigentlich schon verwunderlich, daß die Kinder, obwohl von denselben Eltern abstammend, trotzdem doch sehr verschieden sein können, konstatierte Long. „Die Ursachen dafür herauszufinden, stelle ich mir fast so spannend wie einen Krimi vor – und der Mendel hat mit seinen Versuchen dafür die Grundlage geschaffen und entsprechende Regeln, die später nach ihm benannten Mendelschen Regeln, formuliert.
„Wieso? Was hat der für Versuche gemacht?" wollte Jiao wissen.
„Der hat in einem Klostergarten ganz systematisch eine große Reihe von Kreuzungen verschiedener Erbsenrassen durchgeführt und ausgewertet. Seine Beobachtungen, wie sich die unterschiedlichen Merkmale der Erbsenrassen, also zum Beispiel die Wuchsform, die Blütenfarbe oder die Gestalt und Farbe der Samen, auf die jeweiligen Nachkommen verteilten, hat er 1865 in einem Buch veröffentlicht. Seine Ergebnisse zeigten unter anderem die Häufigkeitsverteilung bei der Vererbung der unterschiedlichen Merkmale in einem ganz bestimmten Zahlenverhältnis, beispielsweise 1:2:1 oder 3:1, je nachdem, ob es sich um intermediäre oder dominant-rezessive Vererbung handelt."
„Was muß ich darunter verstehen?" fragte Jiao.
„Das zu erklären würde jetzt hier sicher zu weit führen, dazu müßte ich länger ausholen", erwiderte Long.
„Ja toll – sehr interessant! unterbrach ihn Jiao etwas unwirsch, wobei sie besonders das „sehr
betonte. „Ich verstehe zwar im Moment nur ‚Bahnhof‘, aber du kannst ruhig weiter dozieren. Auf mich brauchst du ja keine Rücksicht zu nehmen!" Und es klang fast schon ein wenig beleidigt.
„Das lernst du auch alles noch in der Schule, mein Kind, versuchte Chan ihre Tochter zu vertrösten. „Hab nur etwas Geduld.
Jiao schien etwas genervt und verdrehte demonstrativ die Augen.
„Naja, ich will hier auch gar nicht in die Details gehen, fuhr Long fort. „Jedenfalls gelten die Gesetzmäßigkeiten der Vererbung für die ganze belebte Natur und damit eben auch für den Menschen, wie man durch Familien- und insbesondere auch Zwillingsforschung schon lange weiß. Auch beim Menschen gibt es dominante und rezessive Merkmale. Das zeigt sich besonders deutlich bei bestimmten Krankheiten oder Abnormitäten, aber auch bei charakteristischen Äußerlichkeiten oder Angewohnheiten.
„Deine Angewohnheiten sind manchmal ganz schön lästig! platzte Jiao wieder dazwischen. „Von wem hast du die?
Alle lachten.
„Zweimal darfst du raten!" rief Jie lachend.
„Also, wenn ich mir unsere Familie so anschaue, dann habe ich den Eindruck, daß wir Drei, und damit meinte Long seine Geschwister und sich, „uns ja auch erkennbar unterscheiden – und zwar nicht nur äußerlich, sondern auch im Wesen, daß wir aber andererseits teilweise unübersehbar deutliche Ähnlichkeiten zu unseren Eltern aufweisen. Ich denke zum Beispiel, daß ich ganz offensichtlich eher nach Paps komme
, sagte Long, „während Jiao deutlich mehr von Mam geerbt hat. Bei Jie kann ich bisher keine klare Dominanz zur einen oder anderen Seite entdecken, er hat wohl von euch beiden ungefähr gleich viel mitbekommen."
Jiao kicherte: „Du bist ein Mischling, kleiner Bruder!"
„Du bist selbst ein Mischling!" wehrte sich Jie vehement.
„Ihr braucht euch gar nicht zu streiten! unterbrach Long die beiden. „Mischung ist ganz normal! Oder vielmehr: Das ist ja gerade das Normale! Genau das ist nämlich von der Natur beabsichtigt, es ist praktisch das Grundprinzip der Evolution! . . . Da fällt mir übrigens gerade ein Gedicht vom alten Goethe ein, das wir in diesem Zusammenhang in der Schule gelernt haben. Wollt ihr’s hören?
„Ja, gerne", bat Chan sofort.
„Offenbar hat sich der alte Dichterfürst auch schon mit genau dieser Thematik befaßt, jedenfalls läßt das sein folgendes Gedicht vermuten:
‚Vom Vater hab ich die Statur
des Lebens ernstes Führen,
vom Mütterchen die Frohnatur
und Lust zu fabulieren.
Urahnherr war der Schönsten hold,
das spukt so hin und wieder;
Urahnfrau liebte Schmuck und Gold,
das zuckt wohl durch die Glieder.
Sind nun die Elemente nicht
aus dem Komplex zu trennen,
was ist denn an dem ganzen Wicht
Original zu nennen?‘"
Qiang und Chan klatschten beifällig in die Hände, denn sie freuten sich, daß er das Gedicht so schön aufgesagt hatte, während Jiao und Jie noch etwas nachdenklich schienen.
„Du siehst also, kleiner Bruder, belehrte Long seinen jüngeren Bruder, „man hat schon viel, viel früher festgestellt, daß die Erbanlage jedes Kindes immer von beiden Elternteilen bestimmt ist; es gibt immer wieder neue Vermischungen. Deshalb sind die Menschen ja so verschieden! Auch innerhalb einer Familie, obwohl da die Unterschiede sicher nicht ganz so groß sind.
Long war für seine vierzehn Jahre ein guter Beobachter. Er hatte beim Betrachten von Familienfotos schon relativ früh festgestellt, daß er eine sehr große Ähnlichkeit mit seinem Vater hatte, was ihm überdies auch Freunde und Bekannte gelegentlich bestätigten. Und diese Tatsache trieb ihn immer wieder um. So ertappte er sich beispielsweise immer öfter dabei, Ausdrucksweise, Gestik und Gebärden seines Vaters ganz offenbar zu imitieren. Aber imitierte er sie willentlich? Oder agierte er vielmehr unwillkürlich aus sich selbst heraus und stellte gewissermaßen erst im nachhinein durch Selbstbeobachtung fest, daß er sich genauso verhalten hatte, wie es sein Vater in dieser Situation getan haben würde? Er wußte es nicht. So sehr ihn diese Frage beschäftigte, er fand keine Antwort darauf. Immerhin war dieser, für ihn unbefriedigende Umstand Motivation genug, sich stärker in die Thematik der Vererbungslehre einzuarbeiten – immer in der Hoffnung, die Ursachen für diese Evidenz eines Tages doch noch zu ergründen.
Sie unterhielten sich noch eine Weile weiter über dies und das, obwohl es inzwischen schon halb elf geworden war. Mit dem Essen waren sie längst fertig, und der Tisch war von Robby bereits abgeräumt.
„So, jetzt ist es aber schon ziemlich spät, sagte Qiang schließlich, „es wird Zeit für euch zum Schlafengehen. Morgen früh um sechs ist die Nacht vorbei, also hopp, hopp ins Bett.
Sie wünschten sich eine gute Nachtruhe, und die Kinder gingen auf ihre Zimmer.
„Wie sieht deine Planung für morgen aus?" fragte Qiang seine Frau, nachdem die Kinder draußen waren.
„Ich habe morgen vormittag zwei Vorlesungen, und danach will ich die Beiträge unseres heutigen Symposiums noch ein bißchen für mich aufarbeiten, damit ich die Dinge nicht so schnell vergesse", antwortete Chan.
„Ja richtig! Ihr hattet ja heute euer Symposium! Erzähl doch mal; wie war’s? Was kam dabei heraus?"
Chan seufzte: „Ach, weißt du, es war natürlich für mich heute ein sehr interessanter Tag. Aber es war auch sehr anstrengend, den ganzen Tag über konzentriert zuzuhören, den geistig anspruchsvollen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen zu folgen. Und entsprechend müde bin ich jetzt, um nicht zu sagen: völlig groggy. Deshalb wäre ich dir sehr dankbar, wenn du dich mit deinen Fragen vielleicht bis morgen gedulden könntest."
„Selbstverständlich, mein Schatz. Ich will dich natürlich nicht quälen. Es hat auch Zeit bis morgen. Er beugte sich zu ihr hinüber, küßte sie auf beide Wangen und fragte, während er sich wieder zurücklehnte: „Um welche Thematik ging es eigentlich heute noch mal?
„Es ging – kurz gesagt – im wesentlichen um die Frage des Bewußtseins: Was ist Bewußtsein? Läßt es sich durch eine mathematische Formel beschreiben? Oder hilft vielleicht die Quantenphysik dabei weiter? Ist Bewußtsein überhaupt eine Größe, die objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis zugänglich ist? Ist die Erschaffung eines künstlichen Bewußtseins denkbar? Und so weiter. An diesem Thema arbeiten wir ja schon seit langer Zeit, wie du weißt."
„Ja, sicher, und es ist höchst interessant und wissenschaftlich bestimmt sehr anspruchsvoll, davon bin ich überzeugt. Ich bin schon sehr gespannt auf eure Erkenntnisse. Und vor allem auch auf die Umsetzbarkeit dieser Erkenntnisse in technische Lösungen. Das würde unsere Roboterentwicklung weiter deutlich voran bringen. Wann, glaubst du denn, könnte es soweit sein?"
„Das läßt sich heute leider noch nicht so genau abschätzen, soweit sind wir einfach noch nicht. Wir haben da noch einen besonderen Knackpunkt. Wenn wir den gelöst haben, dann sehen wir klarer. Aber der hängt eben nicht nur von uns ab, wie du weißt. Wir arbeiten in unserem interdisziplinären Team ja eng mit unseren Kollegen in der Hirnforschung zusammen, und die haben das Problem leider auch noch nicht richtig im Griff. Unsere Arbeit ist aber letztlich abhängig von ihren Ergebnissen, baut gewissermaßen auf ihren Erkenntnissen auf. Durch die Teamarbeit sind wir immerhin auf dem jeweils neuesten Stand ihrer Erkenntnisse, können sie partiell sogar durch eigene Beiträge unterstützen und auf diese Weise die ganze Entwicklung forcieren, aber wir können sie natürlich nicht überholen."
„Ja, ich weiß. Wir müssen uns noch gedulden, obwohl ich gerne viel schneller vorankommen würde. Er machte eine kurze Pause. „Immerhin bin ich heute wenigstens geschäftlich einen großen Schritt vorangekommen. Wir sind uns ziemlich einig in den Fragen der Geschäftsübernahme, es gibt nur noch marginale Punkte, die wir in den nächsten paar Tagen auch geklärt haben werden. Ich bin sehr zufrieden mit dem heutigen Tag. Aber müde bin ich jetzt auch.
„Ja, ich auch."
„Ach, übrigens, das muß ich dir doch noch schnell erzählen . . ."
„Was denn?
„Der Güssen hat doch allen Ernstes behauptet, er hätte mich neulich auf der Leipziger Messe gesehen. Dabei war ich doch dieses Jahr gar nicht dort! Der hat Gespenster gesehen, anders kann ich mir das nicht erklären."
„Na, dann hat er sich eben getäuscht. Das kann ja mal passieren."
„Das habe ich ihm auch nahezulegen versucht. Ich habe ihm klar und deutlich gesagt, daß ich dieses Jahr nicht auf der Messe war. Aber er sagte, er könne Stein und Bein schwören, daß er mich gesehen hat."
„Dann hast du vielleicht einen Doppelgänger?"
„Hmmm . . . Das wäre die einzige plausible Erklärung, wenn er sich nicht wirklich verguckt hat. . . . Aber Doppelgänger? Zum Verwechseln ähnlich? Ich weiß nicht. . . . Allerdings tun sich die Europäer ja bekanntlich etwas schwerer, Asiaten zu unterscheiden. Insofern wäre eine Verwechslung schon leicht möglich."
„Hat er deinen Doppelgänger nicht angesprochen? Denn dann hätte sich das Mißverständnis doch sehr schnell aufgeklärt."
„Er hat mir erzählt, er habe mich an einem chinesischen Ausstellerstand gesehen, wie ich gerade telefonierte. Da wollte er nicht stören, deshalb habe er gewartet, bis ich das Telefonat beende. Aber dann sei ich plötzlich hinter dem Stand verschwunden. Daher habe er keine Gelegenheit gehabt, mich zu begrüßen."
„Na, wie auch immer, wir können es heute nicht mehr aufklären. Gehen wir mal davon aus, daß er sich getäuscht hat."
„Was anderes bleibt uns sowieso nicht übrig. Mich irritiert nur, daß er so felsenfest davon überzeugt war, mich gesehen zu haben, und eine Verwechslung kategorisch ausschloß."
„Aber es kann nur eine Verwechslung gewesen sein! Also haken wir es ab und gehen ins Bett."
„Okay. Ich will nur noch kurz die Nachrichten anschauen, dazu bin ich heute den ganzen Tag noch nicht gekommen."
Robby hatte die Aufforderung verstanden, sandte ein Signal an den MEC, den Media Controller, und im Nu war der Nachrichtenkanal eingeschaltet. Das war nur einer aus einer Vielzahl unterschiedlicher Themen-Kanäle, die man per Fernsteuerung aus dem WorldNet abrufen konnte. Das Bild wurde auf einem großformatigen Flachdisplay, das wie ein Gemälde an der Wohnzimmerwand hing, dargestellt.
Gerade wollten sie sich auf das Sofa setzen, als Chan durch das Fenster den Mond erblickte und spontan ausrief: „Ach, schau mal, der Mond, wie schön klar und hell der scheint! Komm, laß uns noch einen Moment auf die Terrasse gehen." Sie nahm ihren Mann bei der Hand und zog ihn hinter sich her.
Beim Hinausgehen sagte Qiang noch zu Robby: „Also, kannst nochmal ausschalten, wir sehen uns die Nachrichten etwas später an."
„Kein Problem", antwortete Robby lakonisch, während er sich freundlich lächelnd verbeugte. Und es war mit TV on demand in der Tat kein Problem, denn wann immer man einen Kanal anwählte, erhielt man das gewünschte Programm jeweils von Anfang an – so, als würde das Programm genau und ausschließlich für diesen einen Teilnehmer ausgestrahlt. Man konnte das Programm auch jeder Zeit anhalten, zurückspulen und nach beliebiger Zeit wieder starten, als hätte man das Programm auf dem eigenen Videorecorder gespeichert – hatte man aber nicht. Das war gar nicht nötig. Die Übertragungskapazität des WorldNet war so immens, daß Millionen von Programmen in Form digitaler Datenpakete simultan übertragen werden konnten.
Nachdem Robby das Programm abgeschaltet hatte, erschien wieder das Landschaftsgemälde von Guilin auf dem Bildschirm. Chan liebte diese phantastische und manchmal schon ein wenig verwunschen und geisterhaft anmutende Landschaft in China so sehr, daß dieses Bild fast immer gemäldegleich dargestellt wurde, wenn das Display nicht gerade als „Kinoleinwand" genutzt wurde. Aber natürlich konnte auch jedes andere gewünschte Bild statt dessen dargestellt werden wie etwa die ebenfalls von Chan geliebten Peonienbilder chinesischer Künstler oder eigene Fotos.
Auf der Terrasse angekommen, atmete Chan zwei-, dreimal tief durch und schwärmte dann: „Hm . . . Gute, frische Luft, das tut gut! Spürst du es auch?"
Qiang atmete ebenfalls tief durch und sagte dann: „Ja . . . Ich glaube schon, daß die Luft hier besser ist als in Nanjing."
„Das glaube ich auch, pflichtete Chan ihm bei. „Aber heute erscheint sie mir besonders gut. Und sieh mal den Sternenhimmel. Es ist ganz klare Sicht heute.
Qiang legte seinen Arm über ihre Schultern, schaute erst zum Mond und dann zu ihr, die wohl gedankenversunken im Mondlicht zu träumen schien. Nachdem er sie so eine Weile liebevoll von der Seite betrachtet hatte, drehte er sich ihr ganz zu, nahm sie in beide Arme und schaute ihr in die Augen, in denen sich das Mondlicht silbern spiegelte. „Du bist wunderschön! flüsterte er leise, drückte sie noch etwas fester an sich und küßte sie auf die Stirn. „Deine Lippen sind irgendwie unbeschreiblich verführerisch, erotisch
, säuselte er weiter und küßte sie zärtlich auf den Mund. Und während er sie weiter liebkoste, auf die Wangen und auf die Ohrläppchen küßte, und sie mit tiefem Einatmen förmlich aufzusaugen schien, sagte er: „Du riechst so aufregend gut. Dann sah er ihr wieder in die Augen und sagte: „Ich liebe dich. Ich liebe dich sehr.
Sie schmiegte sich an ihn und entgegnete: „Ich fühle mich sehr wohl bei dir. Ich brauche deine Nähe." Dann schauten sie beide wieder zum Mond, die Köpfe aneinandergeschmiegt.
Es war still ringsherum. Nur das plätschernde Geräusch des Bächleins in ihrem Garten war zu hören und hin und wieder der Ruf eines Käuzchens in der Ferne. Der Garten war zwar nicht besonders groß, aber es war doch immer wieder für jeden Besucher verblüffend, wie hier auf vergleichsweise kleinem Raum verschiedene Gestaltungselemente, wie künstlich angelegte Teiche und Bäche, künstliche Hügel aus Erde und Felsgestein, sichtbegrenzende Mauern, Torbögen, verschlungene Wege und Brücken, ein kleiner Pavillon sowie zahlreiche Bäume, Bambushecken und Blumen, die jeweils eine ganz bestimmte Bedeutung für die Chinesen haben, zu einem in seiner Vielfältigkeit wohl-ausbalancierten, harmonischen Gesamtkunstwerk arrangiert wurden, das den geneigten Betrachter zu Versenkung und Beschaulichkeit einlud. In jedem Winkel des Gartens ergaben sich wieder neue Perspektiven, neue Eindrücke. Aber von keinem Punkt aus konnte man den Garten vollständig überblicken. Das gab ihm scheinbare Größe und hielt den Besucher in neugieriger Erwartung auf den nächsten Blickwinkel.
Chinesische Laternen beleuchteten den sich durch den Garten schlängelnden Weg, spiegelten sich auf der Wasseroberfläche von Teich und Bach silbrig-gelblich wider und luden den Betrachter zu romantisch verklärter Stimmung ein.
Nachdem sie so eine Weile, eng aneinander gekuschelt, träumend in den Garten geschaut hatten, unterbrach Chan die traute Zweisamkeit: „Mir wird allmählich kalt."
„Es ist doch nicht kalt, entgegnete Qiang, „es ist sogar sehr mild heute. Aber du bist wahrscheinlich sehr, sehr müde, sonst könntest du nicht in meinen Armen frieren.
„Da magst du recht haben. Komm, laß uns wieder reingehen. Morgen ist auch noch ein Tag."
Sie gingen ins Wohnzimmer, wo Robby schon auf sie wartete und fragen zu wollen schien, ob er die Nachrichten wieder einschalten sollte. Qiang nickte ihm kurz zu und prompt lief die Sendung. Sie machten es sich auf dem Sofa gemütlich. Und während Qiang die Bilder der Nachrichten verfolgte, kuschelte sie sich fest an ihn und schloß die Augen.
Nachdem er die Nachrichten zu Ende gesehen hatte und aufstehen wollte, bemerkte Qiang, daß seine Frau bereits schlief. Behutsam hob er sie auf und trug sie hoch zum Schlafzimmer im Obergeschoß.
„Danke", murmelte Chan verschlafen, die unterwegs doch aufgewacht war.
Wenig später waren sie im Bett.
Qiang konnte nicht gleich einschlafen, ihm gingen noch so viele Gedanken durch den Kopf. Aber er fühlte sich behaglich wohl und zufrieden. Die Familie lebte nun seit etwa fünf Jahren in Deutschland und hatte sich seither bestens akklimatisiert. Sie fühlten sich wohl hier in Ulm, aufgenommen von der Gesellschaft, anerkannt und geachtet, ja geschätzt. Neben ihrer beruflichen Beanspruchung pflegten sie regelmäßige gesellschaftliche Kontakte. So waren insbesondere ihre ein- bis zweimaligen Einladungen pro Jahr an einen ausgewählten Kreis von Honoratioren der Stadt aus Politik, Wirtschaft, Forschung und Lehre schon zur festen Regel geworden. Es waren von allen Beteiligten immer wieder sehr gern wahrgenommene Gelegenheiten der Kontaktpflege und des Informations- und Meinungsaustausches. Ja, und das aller wichtigste für ihn war natürlich die Tatsache, daß seine Geschäfte so erfolgreich liefen. Vor fünf Jahren hätte er das noch nicht einmal zu träumen gewagt, jetzt schlief er mit der Gewißheit darüber und einem seligen Lächeln ein.
Am nächsten Tag
Pünktlich um 6.00 Uhr erklang in den Schlafzimmern Musik, bei den Eltern Klaviermusik von Chopin, zart beginnend und dann langsam stärker werdend, bei den Kindern Modern Beat. Man hielt sich aber nicht lange auf dabei. Alle waren von früher Jugend an gewohnt, jeden Morgen, auch am Wochenende, regelmäßig zu dieser Zeit aufzustehen, und die Gewohnheit ließ sie inzwischen längst von allein erwachen. Es hätte eigentlich keines Weckers bedurft, aber mit der Gewißheit rechtzeitigen Gewecktwerdens ließ es sich eben doch irgendwie besser schlafen; man hatte dann nicht die Unruhe, vielleicht doch einmal zu verschlafen. Und ein bißchen angenehme Musik am Morgen war ja auch eine gute Einstimmung für den Tag. Alle kamen aus ihren Betten gekrochen, zogen sich einen Trainingsanzug über und gingen in den Garten.
Qiang und Chan pflegten von Kindheit an die seit Jahrtausenden überlieferten chinesischen Körperübungen des Tai Chi, und sie hatten es frühzeitig auch ihren eigenen Kindern weitervermittelt. Regelmäßig morgens gegen sechs Uhr ging die ganze Familie in den Garten, um gemeinsam ihre Entspannungsübungen zu machen. Es waren harmonische, fließende Bewegungen, die langsam und ohne Unterbrechung ausgeübt wurden, kombiniert mit einer bestimmten Atemtechnik und einer meditativen Konzentration auf bestimmte Körperregionen. Gemäß dem Prinzip von Yin und Yang ist jede Übung eine fortwährende Folge von Bewegung und Gegenbewegung: Auf Heben folgt Senken, auf Beugen folgt Strecken, auf Vorwärts- folgt Rückwärtsbewegung.
Nach etwa 40 Minuten beendeten sie ihre Übungen und gingen zum Duschen, und nach einer weiteren Viertelstunde saßen alle beisammen am Frühstückstisch.
Chinesen beginnen ihren Tag üblicherweise mit einem warmen Frühstück. Kaltes Essen ist für sie kein Essen. Dazu trinken sie entweder frisch aufgekochtes Wasser oder grünen Tee. Robby hatte bereits alles vorbereitet. Die Kinder aßen gern – so auch an diesem Morgen – gebratenes Gemüse mit Nudeln. Außerdem hatten sie sich ein paar süße Baozi, das sind gefüllte Klöße aus Hefeteig, bestellt. Es gibt nicht nur süße, sondern auch salzige Baozi, saure und sogar bittere, insgesamt mehr als 70 Varianten. Als Füllung wird Schweine-, Rind- oder Hammelfleisch, Krabben, Fisch und Gemüse aller Art verwendet. Sie sind sehr beliebt in China, man kann sie an fast jeder Straßenecke kaufen – chinesisches Fast Food. Sie werden gleich so, wie sie sind, das heißt ohne Soße oder ähnliches, von der Hand gegessen. Chan hatte sich Youtiao bei Robby bestellt, das sind fritierte Teigstangen, ähnlich den spanischen Churros, und dazu eine Art Crêpe, gefüllt mit Fleisch, Soja, Ei und Koriander. Qiang aß nur eine Schüssel Reissuppe, denn er mußte sich heute kurzfassen beim Frühstück, weil er bereits einen Besprechungstermin zu acht Uhr mit seinen Vorstandskollegen vereinbart hatte. Die neue Lage sollte besprochen, notwendige Maßnahmen mußten erörtert werden. Und dazu wollte er noch ein paar Dinge vorher vorbereiten.
Er wählte, wie gewöhnlich, den Runway, um zu seiner Firma zu kommen. Das war ökonomischer und ging sogar schneller, als wenn er seinen Wagen benutzt hätte. Diese Runways sind eine Art ‚Laufbänder‘ nach dem Prinzip der Rolltreppen, aber technisch verbessert und so breit, daß drei Leute bequem nebeneinander herlaufen können. Außerdem sind sie großzügig überdacht, so daß man sie auch bei Regen und Schneefall trockenen Fußes passieren kann, und des Nachts beleuchtet. Sie durchzogen die ganze Trabantensiedlung sternförmig, jeweils in Abschnitten von etwa 50 Meter Länge. In den vom Zentrum etwas entfernter gelegenen Bereichen gab es Querverbindungen. So wirkte die Gesamtanlage dieser Runways von oben betrachtet wie ein überdimensionales Spinnennetz.
Viertel vor acht war Qiang in seinem Büro, wo er von seinem Sekretär, natürlich auch ein Roboter, freundlich begrüßt wurde.
„Hallo Robby! grüßte er zurück. „Du weißt, daß wir gleich eine Besprechung haben?! Hast du uns ein paar Getränke hingestellt?
„Ja, selbstverständlich! Alles erledigt!" erwiderte Robby.
„Aber heute brauchen wir einen Prosecco zum Anstoßen. Es gibt was zu feiern!"
„Okay! Wird sofort erledigt!"
Qiang ging in sein Büro. Es war ein relativ großer, heller und unter Beachtung der Feng-Shui-Regeln sehr repräsentativ gestalteter Raum. Eine den neun Lebensbereichen des sogenannten Bagua entsprechende Gliederung und dezente Zuordnung verschiedener das Chi spendender, verstärkender und verteilender Hilfsmittel sowie weiterer im Raum verteilter Symbole und Accessoires sollten dafür sorgen, daß das Chi durch die Gesamtheit der in diesem Raum wirkenden Schwingungen positiv beeinflußt würde.
Eine breite Fensterfront ließ viel Licht herein. Das Mobiliar, eine Schrankwand, sein Schreibtisch, ein Tisch mit sechs Stühlen sowie eine Sesselgruppe, waren großzügig im Raum verteilt. Ein großes Aquarium stand zwischen der Sessel- und der Tischgruppe. Aquarien gelten in China als exzellente Chi-Spender, weil sie bewegtes Wasser mit dem Chi von Pflanzen und Tieren kombinieren, und gehören deshalb in jede Wohnung und eben auch in sein Arbeitszimmer. Daneben durften selbstverständlich die Pflanzen im Raum nicht fehlen, denn sie bringen ja selbst immer neue Lebenskraft hervor und gelten deshalb als ausgezeichnetes Hilfsmittel, um das Chi zu verstärken. Außerdem verbessern sie die Atemluft, indem sie die schädlichen Umweltgifte, die beispielsweise in Klebstoffen, Holzschutzmitteln und Kunststoffen enthalten sind, vernichten. Deshalb waren mehrere große Pflanzenkübel im Raum verteilt, vorzugsweise an Stellen, an denen das Chi nur spärlich vorhanden war und angereichert werden sollte, also insbesondere in den Ecken. Dabei handelte es sich vor allem um Philodendren und Drachenbäume, aber auch andere, bunt blühende Grünpflanzen, jedoch immer solche mit runden Blättern, da Pflanzen mit spitzen, lanzettförmigen Blättern ‚schneidendes Chi‘ aussenden und somit schädigend wirken könnten.
Die Ausgestaltung des Raumes war ganz wesentlich von Chan beeinflußt worden, die mit viel Liebe zum Detail und Gespür für Schönheit und schlichte Eleganz dafür gesorgt hatte, daß dieser Raum auf jeden, der ihn betrat, sogleich eine Atmosphäre des Wohlgefühls, der Harmonie und Behaglichkeit ausstrahlte.
Qiang machte sich ein paar Notizen, studierte seinen Terminkalender und gab noch verschiedene Anweisungen an seinen Sekretär, dann trafen auch schon seine Vorstandskollegen ein. Es war ein kleines, international besetztes Team, bestehend aus der Deutschen Susanne Krämer, zuständig für Finanzen und Controlling, der Britin Deborah Brown, zuständig für Marketing and Sales, dem Niederländer Lothar van Steben, zuständig für das operative Geschäft, das heißt für Entwicklung, Produktion und Auftragsabwicklung, der Französin Sandrine Marchal, zuständig für alle juristischen, administrativen und personellen Angelegenheiten, sowie ihm selbst, dem Chef, einem Chinesen. Qiang schätzte die Effektivität kleiner Führungsteams und flacher Hierarchien. Und die hohe Effizienz ihres Wirkens war der unbestrittenen Kompetenz der von ihm mit gutem Gespür ausgewählten Personen zu verdanken. Auch die vergleichsweise starke Repräsentanz von Frauen in seinem Team war mit Bedacht von ihm so gewählt, denn es war ihm hinreichend bekannt, daß gemischte Teams aus Männern und Frauen bessere Ideen entwickeln als gleichgeschlechtliche Gruppen – einfach schon deshalb, weil sie sich in ihren Fähigkeiten hervorragend ergänzen. Die sogenannten weiblichen Qualifikationen wie Team- und Dialogfähigkeit, emotionale Intelligenz und Organisationstalent sind in den von Männern dominierten Hierarchien früherer Zeiten meist zu kurz gekommen, häufig genug zum Nachteil der Unternehmen in Form von schlechtem Betriebsklima bis hin zu Frustration und dadurch bedingter Arbeitsunlust, mangelnder Bereitschaft zur Teamarbeit, häufigen „Hahnenkämpfen" zwischen Konkurrenten auf der Karriereleiter und anderen negativen Begleiterscheinungen – letztlich resultierend in geringerer Rentabilität und geringerem Profit. Das alles war Qiang sehr bewußt, und deshalb legte er so einen gesteigerten Wert auf gemischte Teams, auf Teamarbeit generell und auf interdisziplinäre und internationale Zusammensetzung seiner Teams.
Natürlich können solche Stellenbesetzungen unter Umständen andere Probleme aufwerfen, die entsprechend beachtet und gegebenenfalls behutsam gelöst werden müssen. So war im Team von Qiang beispielsweise die Kenntnis der jeweiligen kulturellen Kommunikationsregeln sowie der unterschiedlichen Glaubens- und Wertorientierungen, insbesondere zwischen der chinesischen und der westeuropäischen Kultur, für die interkulturelle Kommunikation von immenser Bedeutung für das Funktionieren einer guten, effektiven und effizienten Zusammenarbeit.
Es hatte in der Anfangszeit immer mal wieder das eine oder andere Verständigungsproblem gegeben, was niemanden wirklich verwunderte, weil keiner von ihnen die unterschiedlichen, durch die jeweilige Kultur geprägten Interaktionsmuster per se beherrschte. Theoretisch hatten sich sicher alle vorher schon einmal mit dieser Problematik auseinandergesetzt, man lebte ja schließlich in einer „globalisierten" Welt, aber es ist eben ein Unterschied, ob man sich in der Literatur etwas anliest oder in der Praxis anwenden muß. Während Qiang durch seine frühen Auslandsaufenthalte mit der westlichen Kultur schon vergleichsweise gut vertraut schien, hatten seine – durch die Bank noch relativ jungen – europäischen Kollegen vorher wenig direkte Berührung mit der chinesischen Kultur. Lediglich Deborah, die schon einige Zeit in Shanghai gelebt und an der renommierten China Europe International Business School ihren Master of Business Administration gemacht hatte, beherrschte die chinesische Sprache hinreichend gut. Aber selbst innerhalb des westlichen Kulturraumes gab es ja trotz aller Ähnlichkeiten und Vereinheitlichungsbemühungen immer noch nennenswerte Unterschiede, die in den einzelnen Regionen sogar ausdrücklich gepflegt wurden. Nicht jeder verstand beispielsweise den trockenen und häufig derben englischen Humor. Und nicht jeder kam mit der übertriebenen Gründlichkeit der Deutschen zurecht. So mußten sie alle erst lernen, den anderen wirklich richtig zu verstehen, und zwar im täglichen Umgang miteinander – learning by doing, nannten sie das. So ein Lernprozeß brauchte naturgemäß einige Zeit. Aber Qiang hatte von Anfang an nachdrücklich dafür gesorgt und vorbildhaft vorgelebt – und damit hat er diesen Lernprozeß ganz sicher auch beschleunigt –, daß in seiner Firma eine offene, vertrauensvolle, sehr kollegiale Atmosphäre herrschte, in der der Teamorientierung und der Aufrechterhaltung der sozialen Harmonie ein sehr hoher Stellenwert beigemessen wurde. Mißverständnisse und Fehler wurden offen angesprochen, aber nicht kritisiert, sondern gemeinsam ausgeräumt. Konfrontierende Äußerungen sollten unter allen Umständen vermieden werden. Deshalb war er stets bemüht, eine harmonische Gesprächsatmosphäre zu schaffen, die einen aggressiven Gesprächsstil, wie er im Westen des öfteren gepflegt wurde, gar nicht erst aufkommen ließ.
Da man sich inzwischen seit der Firmengründung vor etwa fünf Jahren kannte und erfolgreich zusammenarbeitete, hatte jeder eine hinreichend starke Sensibilisierung für die unterschiedlichen kulturellen Prägungen und damit auch das notwendige Verständnis für die verschiedenen Kommunikations- und Verhaltensweisen der anderen erworben, um kulturelle Regelverletzungen zu vermeiden. Die europäischen Kollegen hatten mit der Zeit auch gelernt, „zwischen den Zeilen zu lesen, das heißt, nichtverbale Mitteilungen, im situativen Kontext verborgene Informationen, „verschlüsselte
Botschaften wahrzunehmen und zu entschlüsseln. Das war notwendig für sie, um ihren Chef richtig zu verstehen. Denn obwohl Qiang stets sehr bemüht war, seine Interaktionsweise derjenigen seiner europäischen Kollegen anzupassen, passierte es ihm unwillkürlich doch immer mal wieder, sich in Andeutungen auszudrücken und seinen Zuhörern zu überlassen, das Unausgesprochene selbst zu interpretieren. Seine tiefe Verwurzelung in der chinesischen Kultur und Tradition ließ sich eben nicht so ohne weiteres ablegen, vielmehr prägte sie sein Denken und Handeln ganz selbstverständlich und automatisch. Für ihn war es Routine. Er hatte von klein auf ein feines sensorisches Gespür entwickelt und gelernt, Andeutungen, Unausgesprochenes und verschlüsselte Botschaften wahrzunehmen und zu interpretieren. Und gewöhnlich pflegte er, sich selbst normalerweise in der gleichen Weise auszudrücken. Die Zuhörer mußten deshalb nicht nur darauf achten, was er sagte, vielmehr mußten sie gewissermaßen zwischen den Zeilen lesen, mußten also versuchen zu interpretieren, was er wohl tatsächlich gemeint haben könnte. Wenn er sich allerdings im Gespräch einem verdutzten oder verständnislos blickenden Gesicht gegenüber sah, dann erinnerte er sich aber immer gleich wieder und erläuterte bereitwillig seine Ausführungen.
Dem „Gesicht im Sinne der Gesichtswahrung wird im chinesischen Sozialverhalten übrigens eine ganz besondere Bedeutung, ein sehr hoher Stellenwert beigemessen, und entsprechend schwer wiegt ein „Gesichtsverlust
, zum Beispiel als Folge von Verstößen gegen die von der Gesellschaft als verbindlich erachteten Werte und Normen oder auch nur von unerfüllten Erwartungen an seine Person. So ein Gesichtsverlust führt bei den Betroffenen in aller Regel zu großer Verlegenheit oder Schamgefühl und stört damit die nach Konfuzius geltenden Prinzipien für die zwischenmenschlichen Beziehungen, die vor allem der Herstellung und Erhaltung der sozialen Harmonie dienen sollen. Deshalb achten die Chinesen beim Reden wie im Handeln sehr darauf, niemanden leichtfertig zu beschämen, sondern bemühen sich vielmehr, ihnen „Gesicht zu geben".
Die europäischen Kollegen hatten damit in der Regel ein Problem, denn ihr ganzes Reden und Handeln ist traditionell viel stärker durch selbstbewußtes, intellektuelle Überlegenheit ausstrahlendes Auftreten und durch eine gelegentlich sehr aggressive, unerbittlich fordernde Rhetorik geprägt. Sie konfrontieren ihre Gesprächspartner üblicherweise gleich zu Beginn mit den harten Fakten und liefern dann ihre Begründungen nach, während die Chinesen es gewohnt sind, zunächst erst mal – nach europäischem Verständnis – „lange um den heißen Brei" herumzureden, um sich dann ganz langsam und allmählich an die relevanten Aussagen heranzutasten. Sie fühlen sich oft düpiert von dem konfrontierenden westlichen Gesprächsstil, während die Europäer häufig gelangweilt und schon ermüdet sind, wenn ihre chinesischen Gesprächspartner endlich auf den Punkt kommen. Auch das Gesprochene selbst, die inhaltliche Aussage wird unterschiedlich bewertet – die Schwerpunkte liegen hier auf der Logik und dort auf dem chinesischen Verständnis von Vernunft. Während eine Aussage für Europäer vor allem logisch sein muß, gilt es den Chinesen als entscheidender, daß sie auch vernünftig ist im Sinne einer Übereinstimmung mit der menschlichen Natur, seiner Behutsamkeit, Geduld und Selbstzurücknahme in den zwischenmenschlichen Beziehungen sowie in der Vermeidung aller Extreme. Wer sich in einer Auseinandersetzung dem Vorwurf „bu jiang-li", das heißt: „Er redet keine Vernunft", aussetzt, der hat sein Gesicht verloren. Das ist die schlimmste Mißbilligung. „Alles Unheil kommt davon, daß man den Mund zu weit auftut", lautet ein chinesisches Sprichwort. Deshalb gehen die Chinesen mit sprachlichen Äußerungen gewöhnlich zurückhaltend um und vermeiden Konflikte, wie sie leichthin in Diskussionen durch Rede und Gegenrede entstehen können. Der Austausch von Informationen und Fakten, nach westlicher Auffassung das Hauptziel einer Kommunikation, ist bei chinesischen Gesprächspartnern eher Nebensache; für sie ist die verbale Kommunikation in erster Linie ein Mittel, um Beziehungen zu beeinflussen und zu festigen.
Für Marketing and Sales hatte Qiang mit Deborah Brown ganz bewußt einen English native speaker eingestellt, denn Englisch war nun mal die Weltsprache schlechthin. Die Globalisierung hatte es mit sich gebracht, daß Englisch sich als einheitliche Verkehrs- und Geschäftssprache durchsetzte – und das, obwohl um die Jahrtausendwende nur etwa 320 Millionen Menschen Englisch gegenüber 1,3 Milliarden Menschen Chinesisch als Muttersprache hatten. Aber China war zu jener Zeit noch in der Entwicklung zur Weltmacht, hatte damals einfach nicht die Bedeutung wie die führenden westlichen Industrienationen, die sich im Geschäftsverkehr und selbst im Tourismusbereich alle des Englischen befleißigten. Inzwischen haben sich die Verhältnisse dramatisch geändert; jetzt ist China die Weltmacht schlechthin. Viele Nicht-Chinesen in aller Welt lernen inzwischen die chinesische Sprache. Nichtsdestotrotz hatte sich Englisch längst als Weltsprache durchgesetzt und fest etabliert. Auf dem Wege zur Weltmacht hatten mehr und mehr chinesische Jugendliche Englisch in den Schulen gelernt, um im internationalen Handel bessere Chancen zu haben. Auch dieser Trend hatte die Vormachtstellung von Englisch weiter unterstützt. Und gerade weil Englisch im Geschäftsverkehr so wichtig war, hatte Qiang den Marketing- und Sales-Bereich britisch besetzt.
Qiang begrüßte jeden seiner Kollegen per Handschlag, obwohl er eigentlich – wie alle Chinesen – das in Europa übliche Händeschütteln verabscheute. Aber da er nun mal hier lebte, versuchte er, sich den europäischen Sitten so gut wie möglich anzupassen. Während er noch mit jedem seiner Kollegen ein paar freundliche Worte wechselte, hatte Robby den Prosecco eingeschenkt und ging nun herum, um jedem ein Glas anzubieten.
„So, meine Damen und Herren, begann Qiang feierlich seine Rede, obgleich sie sich seit Jahren untereinander duzten, „um gleich mal ohne Umschweife auf den Anlaß dieser Besprechung zu kommen: Die Sache ist so gut wie perfekt! Und darauf sollten wir erst einmal anstoßen.
Sie erhoben die Gläser und prosteten sich zu. „Ich bin ausgesprochen happy", fuhr Qiang fort, „daß wir gestern so weit gekommen sind. Herr Güssen, der Geschäftsführer von AnthropoTec, zeigte sich am Ende doch ziemlich kooperativ. Unsere Abschätzung des Unternehmenswertes und seiner weiteren Geschäftsaussichten, die ich lange und ausführlich mit ihm diskutiert habe, machten ihm letztlich klar, daß sein Unternehmen in dieser Form nicht mehr lange würde bestehen können. Mit der derzeitigen kognitiven Performance seiner Roboter ist er einfach nicht mehr konkurrenzfähig, da helfen ihm auch die Vorteile seiner sicher sehr guten anthropotechnischen Eigenschaften nicht weiter. Die Kunden wollen heute einfach immer intelligentere Roboter, und da haben wir eindeutig die Nase vorn. Er hätte dringend in die Verbesserung der kognitiven Performance investieren müssen, aber dazu fehlten ihm die Mittel und das Know-how – vielleicht auch die notwendige Einsicht. Und den besten Zeitpunkt dafür hat er ohnehin schon verpaßt. Das könnte er jetzt auch gar nicht mehr aufholen, und das hat er schließlich eingesehen. Man konnte förmlich spüren, wie sich in ihm die Resignation breitmachte, obgleich er sehr bemüht war, sich nichts davon anmerken zu lassen. Und dann ging es nur noch um die Konditionen. Er wollte natürlich noch möglichst viel herausholen – für sich, aber auch für seine Mitarbeiter. Er selbst wird sich wohl zur Ruhe setzen, jedenfalls hatte ich diesen Eindruck. So deutlich hat er es nicht gesagt. Immerhin ist er bereits über sechzig und finanziell gut versorgt, wozu wir ja jetzt auch noch etwas beitragen. Das wird also nicht das Problem sein. Wichtiger ist ihm seine Verantwortung gegenüber seinen Mitarbeitern, und das ehrt ihn. Er hat zirka 80 Leute ohne die freien Mitarbeiter. Wenn wir die alle übernehmen würden, hätten wir ´ne ganze Menge Redundanz – aus wirtschaftlicher Sicht nicht sinnvoll. Wir können nur die übernehmen, die uns das Know-how mitbringen, das uns fehlt, beziehungsweise wo die besser sind als wir – also vor allem im anthropotechnischen Bereich. Nur so haben wir einen Synergiegewinn."
Bei dem Wort bekam er ganz glänzende Augen und kam fast ins Schwärmen: „Stellt euch das mal vor, Leute, wir verlieren auf einen Schlag einen unserer größten Konkurrenten und gewinnen gewissermaßen für ´nen Appel und ´nen Ei", er beherrschte das Deutsch schon wie seine Muttersprache, „genau die Kompetenz, die wir bisher nicht in dem Maße hatten, um wirklich ‚Spitze’ zu sein. BrainTech und AnthropoTech vereinigt – das ist nicht mehr zu toppen, jedenfalls kann uns in Europa keiner mehr das Wasser reichen. Wir werden eine ganz neue Roboter-Generation entwickeln, eine Symbiose aus den hervorragenden kognitiven Fähigkeiten unserer Roboter mit den ausgezeichneten anthropotechnischen Eigenschaften derer von AnthropoTech. Damit werden wir unschlagbar sein."
Nachdem er sich so eine Weile fast in den Rausch geredet hatte, kehrte allmählich wieder die Sachlichkeit zurück.
„Eine andere Frage, die wir noch zu klären haben, ist die Standortfrage: Was machen wir mit dem Standort Leipzig? Geben wir ihn auf? Und wann? Und wie können wir dabei noch ein gutes Geschäft machen? Ich denke, es macht einfach keinen Sinn, den Standort mit seiner Infrastruktur zu erhalten, gab er gleich selbst die Antwort. „Dann brauchten wir auch wieder mehr Personal dort. Es ist in jeder Hinsicht effektiver, den Standort zu schließen und die Leute, die wir brauchen, hierher zu holen. So deutlich habe ich das Thema gestern noch nicht angesprochen, aber wir werden in diesem Sinne verhandeln müssen. Ich bin sicher, Güssen wird das letztlich akzeptieren – er ist selbst Geschäftsmann und kennt die ökonomischen Erfordernisse. Wir werden aber seinen Mitarbeitern, die wir nicht übernehmen können, sicher eine Abfindung zahlen müssen, das erwartet er von uns. Und anders werden wir wahrscheinlich auch gar nicht aus den Verträgen mit ihnen herauskommen.
„Ist da schon über Zahlen gesprochen worden?", fragte Sandrine.
„Nein, soweit sind wir gar nicht gekommen; Güssen gab hier nur generell seiner Erwartung Ausdruck."
Er machte eine kurze Pause, und da keine weitere Frage kam, fuhr er fort: „Wir müssen also jetzt sehr kurzfristig, und er legte die Betonung deutlich auf das „kurz
, „folgende Action Items behandeln: Erstens alle juristischen Fragen im Zusammenhang mit der Geschäftsübernahme klären, Sandrine. Und denk auch an deren Patente, die sind sehr wichtig für uns. Zweitens die Personalfrage, also welche Leute sollten wir übernehmen und welche nicht – das müßt ihr zusammen entscheiden: Sandrine, Deborah und Lothar; zu diesem Zweck habe ich mit Güssen vereinbart, daß er uns eine Liste seiner Mitarbeiter mit deren Personalprofil zuschickt. Drittens eine erste Abschätzung der Gesamtkosten für die Übernahme einschließlich aller möglichen beziehungsweise notwendigen Abfindungszahlungen, Betriebsschließungs- und Überführungskosten, eventuell notwendige Erweiterungen am hiesigen Standort und so weiter, da bist du gefordert Susanne. Viertens Einsichtnahme in die technische Dokumentation, sobald dies möglich ist, und Identifizierung der für unsere weitere Produktentwicklung relevanten und interessanten Potentiale – darum kümmerst du dich mit deinen Ingenieuren, Lothar. Und fünftens, Deborah, du analysierst den Kundenkreis von Güssen und die sich für uns ergebenden zusätzlichen Geschäftspotentiale noch einmal etwas genauer. Du könntest auch schon mal ein Schreiben vorbereiten, mit dem wir alle Kunden von Güssen bezüglich der Geschäftsübernahme informieren, und in dem wir ihnen gleichzeitig unsere Produkte und Dienstleistungen anbieten, et cetera, et cetera; du weißt schon. Ich selbst entwerfe einen groben Zeitplan für den Gesamtvorgang, den wir dann mit zunehmender Klärung des Prozesses gemeinsam verfeinern werden. Also, wie sagt ihr Deutschen doch immer: ‚Es ist viel zu tun, packen wir es an!‘ – aber unsere laufenden Geschäfte dürfen in der Zwischenzeit nicht darunter leiden!"
Sie machten einen neuen Termin für das nächste Meeting aus und unterhielten sich anschließend noch über diverse Detailfragen, bevor sich die Versammlung gegen frühen Mittag in guter Stimmung auflöste.
Qiang zog sich in sein Büro zurück, wo er noch einmal in Ruhe alles Revue passieren lassen wollte. Immer wieder ging er gedanklich sein Verhandlungsmarathon mit Güssen und alle gerade besprochenen Punkte zum weiteren Vorgehen durch, immer wieder prüfend, ob nicht vielleicht wichtige Dinge übersehen worden sind, die unter Umständen sogar noch ein Scheitern der Geschäftsübernahme verursachen könnten. Es hing für ihn einfach zu viel vom Erfolg der Aktion ab. Zum einen hatte diese günstige Gelegenheit zu einer nicht unerheblichen Expansion seines Geschäfts mit einem Schlage eine überragende Bedeutung für die ganze weitere Entwicklung seiner Firma. Zum anderen aber