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Das Familiengeheimnis: Ein Leben in der Robotergesellschaft
Das Familiengeheimnis: Ein Leben in der Robotergesellschaft
Das Familiengeheimnis: Ein Leben in der Robotergesellschaft
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Das Familiengeheimnis: Ein Leben in der Robotergesellschaft

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About this ebook

Wie kann dieser Mensch nur so kategorisch behaupten, mich auf der Messe gesehen zu haben, wo ich doch definitiv gar nicht dort gewesen bin, fragt sich Herr Wang. Eine Verwechselung sei absolut ausgeschlossen. Habe ich etwa einen Doppelgänger?
Die fiktive Familie Wang steht im Mittelpunkt dieses im Deutschland des 21. Jahrhunderts spielenden Zukunftsromans und geht hier sehr erfolgreich ihren beruflichen Geschäften nach: Herr Wang betreibt mit großem Erfolg eine Robotik-Firma. Seine "intelligenten", humanoiden Roboter erfüllen bereits viele Aufgaben für den Menschen, aber Herr Wang ist noch nicht zufrieden. Er strebt danach, den perfekten, dem Menschen ebenbürtigen Roboter zu entwickeln, und dazu will er seinen bereits sehr wissensträchtigen Androiden auch noch ein Bewußtsein sowie Gefühle verleihen. Dabei unterstützt ihn seine Frau, die als Dozentin für Neuroinformatik an der Universität Ulm zusammen mit Kollegen aus den Bereichen Hirnforschung und Künstliche Intelligenz in interdisziplinär besetzten Teams arbeitet, mit den neuesten Forschungsergebnissen.
Auf dieser Familie liegt allerdings eine schwere Bürde. Ihr ist ein besonderes Schicksal beschieden, wie es mit den neuen Errungenschaften der Medizintechnik des 21. Jahrhunderts eben auch möglich sein wird. Es ist ihr "Familiengeheimnis", das ihnen mehr und mehr Probleme bereitet. Erst sehr spät erfährt Herr Wang, der "Held" des Romans, die ganze Tragweite des großangelegten Forschungsprogramms, in dem er selbst und seine ganze Familie auch nur ein kleines Objekt, ein Spielball der Wissenschaft gewesen sind.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateNov 25, 2016
ISBN9783738093650
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    Book preview

    Das Familiengeheimnis - Peter Beuthner

    Vorwort

    Das 21. Jahrhundert beschert uns u.a. viele technologische Innovationen und in der Folge davon auch gesellschaftliche Veränderungen. Wir stehen erst am Anfang dieses Jahrhunderts, aber viele Neuerungen befinden sich bereits in der Umsetzung vom Laborstadium in die Praxis unseres Alltages. Insbesondere die Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie ermöglichen allen Menschen unmittelbaren Zugriff auf das Wissen der Welt und verändern die Gesellschaft im sozialen Miteinander: „Soziale Netzwerke und „Smombies zeigen bereits jetzt ein deutlich verändertes Sozialverhalten. Auch Verkehrssysteme werden immer „intelligenter und leistungsfähiger: Autonome Verkehrsmittel fahren ohne Bedienung, und elektronische Verkehrsleitsysteme garantieren optimalen Verkehrsfluß ohne Staus. Fortschritte in der Robotik und Künstlichen Intelligenz verändern zunehmend unsere Arbeitswelt: In zahlreichen Unternehmen haben die Arbeitsroboter schon heute viele Menschen ersetzt; andere Stichworte sind „Industrie 4.0; „Internet der Dinge". Aber auch unser soziales und privates Umfeld wird sich damit verändern: Man denke nur an Serviceroboter jeglicher Art, die immer weiter vervollkommnet werden. Roboter werden zunehmend mehr unser Bruttosozialprodukt generieren und uns Menschen dadurch neue Freiräume für kreative Tätigkeiten verschaffen. Und die vielen Neuerungen in der Nano-, Bio- und Gentechnologie ermöglichen ganz neue Verfahren in diversen Anwendungsbereichen, insbesondere auch in der Medizin zur Früherkennung und Behandlung von Erkrankungen, in verstärktem Maße sogar zu deren Vermeidung. Aber die Möglichkeiten gehen noch viel weiter: Sie erlauben auch die Reproduktion und gentechnische Veränderung von Menschen im Sinne individuell gewünschter Optimierung – Stichwort: Designerbaby.

    In dieser Welt spielt der vorliegende Roman, in dessen Mittelpunkt die in Deutschland lebende chinesische Familie Wang steht, die hier sehr erfolgreich ihren beruflichen Geschäften nachgeht: Herr Wang betreibt mit großem Erfolg eine Robotik-Firma, und seine Frau ist Dozentin für Neuroinformatik an der Universität Ulm. Die Wangs sind auch gesellschaftlich sehr geachtet und haben einen großen Freundes­kreis in Ulm. Zusammen mit ihren drei Kindern führen sie ein glückliches, harmonisches Familienleben und orientieren sich dabei an chinesischen Traditionen, insbesondere am Konfuzianismus. Und für die Zukunft haben sie noch hochstrebende Pläne. Alles scheint bestens.

    Doch: Unverhofft kommt oft, heißt es sprichwörtlich. Manche Ereignisse treffen einen völlig überraschend und unerwartet. Niemals hätte man auch nur einen Ge­danken darauf verwendet, daß einem so etwas passieren könnte. Besonders, wenn es eine schlimme Nachricht ist, fühlt man sich zunächst wie vom Schlag getroffen, ist unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, und hadert mit seinem Schicksal. Aber selbst ein Ereignis, dessen Eintreffen man zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit hätte für möglich halten müssen, weil man wußte, daß die potentielle Möglichkeit dafür gegeben war, kann einen völlig unerwartet und unvorbereitet treffen und sogar aus der Bahn werfen.

    So ergeht es auch den Wangs. Eines Tages, wie aus heiterem Himmel, passiert das, was sie zwar nie ganz hatten ausschließen können, aber eben doch nicht wirklich für möglich gehalten und deshalb gut verdrängt hatten. Ein böser Schicksalsschlag, wie sie es empfinden. Es kam völlig über­raschend. Ein dummer Zufall, ein kleines Mißgeschick, eine Unvor­sichtigkeit vielleicht nur wird ihnen zum Verhängnis.

    Aber berichten wir doch der Reihe nach . . .

    Ein Arbeitstag geht zu Ende

    Es war ein anstrengender Tag für Wang Qiang. Schon früh um 6.00 Uhr war er zu Hause los­­ge­fah­ren, um rechtzeitig zum Beginn der Verhandlungen in Leipzig zu sein. Dieser Termin war für ihn sehr wichtig, es ging immerhin um die Übernahme des in wirtschaftliche Schwie­rig­kei­ten geratenen Systemhauses AnthropoTech, seines größten Konkurrenten auf dem Sek­tor der Roboter-Entwicklung in Deutschland. Den ganzen Tag über hatte er mit dem Ge­schäfts­führer und den Gläubiger­banken verhandelt. Es waren sehr schwierige Verhand­lungen, und nicht alle Punkte konnten abschließend geklärt werden, aber er war trotzdem sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Man hatte schließlich weitgehende Einigung erzielt, und für die noch offe­nen Punkte zeichneten sich Wege zur Verständigung ab.

    Jetzt, auf der Rückfahrt nach Hause, hatte er es sich in seinem Auto halb sitzend, halb lie­gend bequem gemacht. Er schaute ein bißchen in die Gegend, und erst allmählich regis­trierte er, daß es ein wunderschöner Herbsttag gewesen sein mußte. Die Sonne sandte noch ein paar warme Strahlen und tauchte die Landschaft in ein farbenfrohes Gemälde mit ange­nehm wei­chen Konturen. Das Fahrzeug schwebte gleichmäßig und fast lautlos durch dieses Gemälde und führte ihn dank Selbstfahrautomatik autonom und sicher auf seinem Weg nach Hause. Er mußte sich nicht auf den Verkehr konzentrieren, und so konnte er die Fahrtzeit nutzen, sich zu entspannen, die vorbeiziehenden Landschaftsbilder zu genießen oder die Augen zu schließen und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Er spürte die langsam nach­lassende Anspannung, die sich im Laufe des Tages zunehmend, aber von ihm selbst auf Grund seiner vollen Konzentration auf die Verhandlungen unbe­merkt, aufgebaut hatte. Er freu­te sich auf sein Zuhause, auf seine Familie, auf seine medi­tativen Entspannungsübungen. Kurz vor Ulm, sein Autopilot zeigte noch 25 Kilometer bis zu seiner Wohnung, rief er zu Hause an, um seine Ankunft anzukündigen und ein paar Anwei­sun­gen an Robby zu geben.

    „Ja, sagte Robby, „ich habe schon gesehen, daß du kurz vor Ulm bist und gleich hier ein­tref­fen wirst, Qiang. Ich werde alles vorbereiten, bis gleich.

    Unwillkürlich kam ihm der Gedanke an die Worte von Herrn Güssen, dem Ge­schäfts­führer von AnthropoTech, der ihn neulich bei einem chinesischen Ausstellerstand auf der Leipziger Herbstmesse gesehen haben will. Wie kommt der Mensch bloß darauf, fragte er sich. Ich war doch gar nicht auf der Messe dieses Jahr. Habe ich vielleicht einen Doppelgänger? Nein, nein, der Güssen muß sich getäuscht haben. Aber komisch ist das schon. Dann dachte er wieder an den Ablauf der Gespräche, die unterschiedlichen Positio­nen und Argumente, an die erzielten Vereinbarungen, an die noch offenen Punkte. Würde seine Stra­tegie tatsächlich aufgehen, dann wäre das allein schon durch die Nutzung der sich aus dem Firmenzusammenschluß ergebenden Synergien ein kolossaler Gewinn für die Fort­ent­wick­lung seines Unternehmens. Er könnte jetzt endlich . . . aber da erkannte er auch schon die Autobahnabfahrt Ulm-West. Automatisch reduzierte das Fahrzeug die Geschwin­dig­keit und bog in die Abbiegespur ein. Nun dauerte es höchstens noch fünf Minuten bis nach Hause.

    Sein Haus war sehr schön gelegen, in einem nördlichen Außenbezirk der Stadt Ulm. Hier war im Laufe der letzten Jahrzehnte mit fortschreitendem Ausbau der sogenannten Wissen­schafts­stadt, auch Science Park oder Brain Town genannt, einer Ansammlung von Univer­si­tät und Hochschule sowie diversen Forschungsinstituten und anderen forschungs­­nahen Ein­rich­tun­gen und Industriebetrieben, eine sehr große Trabantenstadt für die dort Beschäftigten entstanden. Und hier hatte Wang Qiang, der Inhaber und Geschäfts­führer der im Areal der Wissenschafts­stadt gelegenen Roboter-Firma BrainTech, vor etwa fünf Jahren ein 800 Qua­dratmeter großes Baugrundstück von der Stadt angebo­ten bekommen und sofort zuge­grif­fen. Denn hier stimmte nach seiner Vorstellung so ziemlich alles. Die ganze Infrastruktur war beinahe beispiellos: Kurze innerörtliche Verbindungswege, Anbin­dung an Autobahnen und Schnellzüge sowie an einen Flughafen, städtische Ämter, Zubringer- und Entsorgungs­dienste, sportliche Einrich­tun­gen, Schulen und Kindergärten sowie ausreichend Einkaufs­möglichkeiten und nette Lokale. Trotzdem konnte man das Gefühl haben, in einem Park zu leben, denn breite Grüngürtel und kleine, künstlich angelegte Seen und Bachläufe lockerten die Bebauung auf. Eine phantastische Wohnlage. Und auch die ganze Atmos­phäre, die von dieser Anlage und ihren Bewohnern ausstrahlte, hatte ihn sogleich in ihren Bann gezogen. Man sah es dieser Trabantenstadt wirklich nicht an, daß sie einst – unter vor­bildlicher Integration der schon vorher dort angesiedelten Gemeinde­einrichtungen – prak­tisch komplett auf dem Reißbrett entstanden war. Dies erfuhr er erst viel später und wollte es kaum glauben, daß hier schon vor über drei Jahrzehnten die Stadtplaner und Landschafts­archi­tekten offenbar Hand in Hand mit Industrie, Handwerk und Handel sowie Naturschutz­verbänden und interessierten Bürgern weit vorausschauend auf die ökono­mischen und die öko­logischen Belange zukünf­tiger Generationen ein ganz­heitliches Konzept entwickelt und damit eine Meister­leistung in Sachen Lebensqualität abgeliefert haben, das einen an paradie­sische Zustände denken ließ.

    Der Erwerb des Grundstücks, das Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie alle damit ver­bundenen behördlichen Vorgänge waren erstaunlich unbürokratisch und unkompliziert ab­­ge­­laufen, so daß Qiang sofort mit der Umsetzung seines Bauprojektes beginnen konnte.

    Bei der Bauplanung hatte er sich ganz nach der Jahrtausende alten chinesischen Tradition des ‚Feng-Shui‘ gerichtet, denn, obgleich er sich selbst nicht für abergläubisch hielt, orientier­te er sich bei seinem Denken und Handeln doch immer wieder an den von alters her über­lieferten Gebräuchen und Regeln seiner Heimat. Er konnte es rational nicht begründen, aber irgendwie hatte er das Gefühl, mit der ihm vertrauten Tradition im Einklang stehen zu müs­sen, um sich wirklich wohl fühlen und gut schlafen zu können.

    Alles schien wunderbar gelungen, denn die Jahre, die Qiang dort mit seiner Familie bisher ver­bracht hatte, waren voller Glück, beruflicher Erfolge und gesellschaftlicher Anerkennung. Eine bessere Bestätigung für seine Überzeugung konnte er gar nicht bekommen.

    Inzwischen war er zu Hause angekommen. Die Toreinfahrt und das Garagentor öffneten sich automatisch, so daß er ohne Halt einfahren konnte. Danach schlossen sich die Tore wieder. Nachdem er das Fahrzeug abgestellt hatte, zeigte sein Bord-Display die gefahrenen Kilo­meter und die dafür erforderlichen Straßenbenutzungsgebühren mit der Bitte um Kenntnis­nahme und Bestätigung an. Qiang sah keinen Grund, zu widersprechen. Also drückte er auf die Bestäti­gungs­­­taste, wonach der angezeigte Betrag automatisch von seinem Konto abge­bucht wurde.

    In der Garage wurde er schon von Robby erwartet, der ihm seine Tasche und seine Jacke ab­nahm, um sie ins Haus zu tragen. „Hallo Robby, sagte er, „ist alles okay hier?

    „Guten Abend, Qiang, antwortete Robby höflich. „Ja, das Entspannungsbad ist angerichtet, das Essen ist für 19.30 Uhr vorbereitet. Chan ist noch in einem Seminar, sie wird gegen 19.00 Uhr hier sein. Long, Jiao und Jie sitzen an ihren Computern und bereiten sich auf die nächs­ten Prüfungen vor.

    „Prima, dann nehme ich jetzt als erstes mein Bad, anschließend mache ich noch eine halbe Stunde Qi Gong, und dann bin ich genau zum Essen fertig", freute sich Qiang. Er war zirka 1,85 Meter groß und von sportlich-schlanker Figur. Mit seinem pech-schwarzen, kurzgeschnittenen Haar, einem ver­gleichs­­­weise schma­len Gesicht, aus dem eine sehr scharf geschnittene, schma­le Nase herausragte, und seiner sehr glatten Haut machte er – rein äußerlich betrachtet – einen sehr jungenhaften Eindruck, während sein selbstbewußtes und vornehmes Auftreten sowie seine ausgesprochen höflichen Um­gangs­­formen einen wahren Gentleman zeigten.

    Als es halb acht geworden war, kam Qiang frisch gestärkt und gutgelaunt aus seinem Medi­ta­tions­­raum, wo ihm die Qi Gong-Übungen, eine seit etwa 6.000 Jahren in China praktizierte Körperübung in Form be­stimm­ter Bewegung, Atmung und meditativer Konzentration, zu seinem offenkundig wunderbaren Zustand völ­li­ger innerer Ruhe, Ausgeglichenheit und Gelassenheit verholfen hatten.

    Im Wohnzimmer be­grüßte er Chan, seine Frau. Ihr Name bedeutet so viel wie „schön, „anmutig. Und in der Tat war sie eine bildschöne Frau, machte ihrem Namen alle Ehre. Besonders ihre wunderschön geform­ten Mandelaugen mit den lan­gen Wimpern schienen ihrem ausgesprochen hübschen Gesicht den letzten Schliff zur Vollkommenheit zu geben. Sie hatte schulterlange, pech-schwarze Haare, die sie üblicherweise an den Seiten zurückgekämmt und am Hinter­kopf zusammengesteckt trug. Sie war etwa 1,75 Meter groß und wie ihr Mann von sportlich-schlanker Figur. Auch sie hatte heute einen außergewöhnlich langen Tag an der Uni Ulm, wo sie als Dozentin für Neuroinformatik tätig war, hinter sich, denn normalerweise dauer­te ihr Arbeits­tag höchstens bis etwa 16 Uhr.

    Sie tauschten kurz ihre Tageserlebnisse aus und riefen dann die Kin­der herein, die sich nach Beendigung ihrer Computerarbeiten gerade noch im Garten ein wenig in der traditionellen chinesischen Kunst der Selbstverteidigung – Tai Chi Chuan, auch be­­kannt als Schattenboxen – übten.

    Mit Ausnahme von Long, der sich in beiden Stilrichtungen – neben Tai Chi auch in Kung Fu – übte, interessierten sich die drei Kinder insbesondere für das Tai Chi Chuan (Chuan heißt Faust), mit dem sie täglich Körper und Geist trainierten – anfangs vor allem Ausdauer und Körperbeherrschung, im fort­geschrit­tenen Stadium stärker die innere Konzentration und Ausgewogenheit der Bewegun­gen beto­nend. Mit zunehmender Beherrschung der üblicherweise im Zeitlupentempo aus­geführten Be­we­gungen übten sie sich auch sehr gerne und ausgiebig im schnellen und effizienten Ab­lauf die­ser Übungen in simulierter Kampfhandlung.

    Nachdem sie sich gewaschen hatten, kamen sie lebhaft diskutierend ins Wohnzimmer und um­arm­ten ihre Eltern zur Begrüßung – drei sehr aufgeweckte und hübsche Kinder.

    „Das wird aber auch Zeit, daß ihr endlich da seid, sagte Long mit leicht vorwurfsvoll klingen­dem Ausdruck, „wir haben schon einen riesigen Hunger.

    Long, der Älteste, war 14 Jahre alt, von drahtiger, sportlich durchtrainierter Gestalt und fast schon so groß wie sein Vater. Geistig war er, wie seine Eltern, technisch-wissenschaftlich orien­­tiert. So hatte er sich schon früh für deren Arbeit, die Robotertechnik und die Neuro­infor­matik, interessiert. Es faszinierte ihn der Gedanke, eines Tages künstliche Menschen zu schaffen, die den natürlichen eben­bürtig oder sogar überlegen sein würden. Er betrachtete es als die Herausforderung schlecht­hin und war begierig, sie anzunehmen.

    Seine Schwester, Jiao – die „Bezaubernde, „Liebenswerte, war zwei Jahre jünger als er. Ein sehr aufgewecktes, beredtes Mädel. Sie inte­ressierte sich – einer ausgeprägten weiblichen Neugier folgend – ganz allgemein für den Lauf der Welt in seiner Gesamtheit, also für alles, was so auf der Welt in der Ver­gan­gen­heit pas­sier­te und in der Zukunft passieren könnte, die Geschehnisse und ihre Entwicklung. Weil dies ein sehr weites Feld war, pflegte sie ein Zeit­fenster herausgehobenen Interesses ein­zugren­zen: Die neuzeitliche Historie der letzten 200 Jahre und die Vorausschau auf die zukünf­tigen zwan­zig, dreißig Jahre. Sie wußte noch nicht, wie sie sich beruflich orientieren würde, ob sie sich eher der Historie oder vielleicht doch lieber der Zukunfts­forschung widmen sollte. Jedenfalls be­schäf­tigte sie sich für ihr Alter erstaunlich intensiv mit den historischen Abläufen wie auch mit den publizierten Zukunfts­prognosen, und dabei speziell mit den evidenten oder schein­baren Zusammen­hängen, kon­sumierte sehr viel einschlägige Literatur und debattierte gern auch im Familien­kreis darüber.

    Der Jüngste, Jie, interessierte sich – ungeachtet seines Alters von gerade mal zehn Jahren – bereits sehr für Wirtschafts- und Gesellschaftsfragen, aber auch für Philosophie, Physik und vieles mehr. Und er nutzte gern jede sich bietende Gelegenheit, mit anderen über Gott und die Welt zu diskutieren. Aber gerade weil er so vielseitig interessiert war, hatte er noch keine konkrete Vor­stellung, was er später einmal studieren würde.

    Alle Drei gehörten in ihrer jeweiligen Jahrgangsstufe zu den besten Schülern. Sie waren viel­sei­tig interessiert, lernbegierig, fleißig, und doch nicht streberhaft. Ihre schnelle Auf­fassungs­ga­be erleichterte ihnen das Lernen. Und die vielen angeregten Unterhaltungen im Familien­kreis zu diversen Themenkomplexen haben ihre vielseitigen Interessen geweckt.

    Sie waren von ihren Eltern entsprechend der kulturellen Tradition der Chinesen im Sinne der konfuzianischen Soziallehre erzogen worden. Das bedeutet Ehrerbietung, Pflichtgefühl und un­be­dingten Gehorsam der Kinder gegenüber ihren Eltern, Anerkennung der Autorität der Eltern wie der älteren Generation generell gegenüber der jüngeren. Strenge Hierarchie, klar definierte Rollen, Rechte und Pflichten sind in der Soziallehre des Konfuzius die Grund­pfeiler, die letzt­lich alle der obersten Maxime, der Herstellung und Erhaltung der sozialen Harmonie, dienen sollen.

    Qiang und seine Frau waren von ihren Eltern in dieser Tradition erzogen worden und pfleg­ten sie in ihrer Familie auch weiterhin. Aber sie waren weit herumgekommen in der Welt durch ihre Geschäfte und hatten auf diese Weise zahlreiche Kontakte mit anderen Kulturen. Sie waren ge­wis­sermaßen Wanderer zwischen den Welten, kannten die eine wie die andere. Unab­hängig davon hatten sich in den letzten Jahrzehnten, eben auch im Zuge der Globali­sierung und der damit ver­bundenen zahlreichen inter­kulturellen Kontakte, nach und nach bestimmte Gepflogenheiten in der geschäftlichen Kommu­nikation und Interaktion heraus­kristallisiert, die im internationa­len Business inzwischen praktisch zum Standard geworden waren. Qiang und Chan waren bestens vertraut damit, und diese Einflüsse waren natürlich auch an ihnen nicht spurlos vorübergegangen. So war es nicht verwunderlich, daß sie die alten konfuzianischen Regeln nicht allzu streng handhabten. Nichtsdestotrotz standen sie zu ihrer eigenen Tradition mit ihren Werten, wollten diese auf keinen Fall verleugnen. Sie such­ten das eine mit dem anderen bestmöglich zu verbinden – in der Gesellschaft, im Beruf und in der Familie.

    Draußen war es inzwischen fast stockdunkel geworden, und sie begaben sich in das Eßzim­mer. Hier war es taghell, als schiene direkt im Zimmer die Sonne.

    Das Prinzip der Glühlampen, wie es einstmals von Thomas Edinson entwickelt worden war, hatte längst ausgedient. Das Wort „Lampe war schon fast ganz aus der Mode gekommen, jetzt sprach man nur noch von „Licht. Man beherrschte inzwischen die Technik bis zu den sehr hohen Frequenzen im sichtbaren Bereich. Und so lag es nahe, das Tageslicht in die Woh­nung zu holen. Dazu hatte man in jedem Raum eine winzige, praktisch nicht sichtbare An­tenne an der Decke, die elektro­magnetische Wellen im sichtbaren Frequenzbereich ab­strahl­te, deren Eigenschaften über eine elektronische Regelung vorgegeben werden konn­ten.

    „Ach, das ist mir jetzt aber zu ungemütlich, sagte Chan gleich beim Eintreten. „Ich möchte es nicht so grell haben. Wie seht ihr das?

    „Natürlich, wie du wünschst mein Schatz. Schaffen wir eine angenehmere Atmosphäre, ant­wor­tete Qiang spontan und sprach dann ein Kommando in den Raum: „Licht wärmer!

    Die Lichtfarbe änderte sich langsam und kontinuierlich von weiß zu gelb oder, wie man auch sagte, von kaltem zu warmem Licht.

    „Stopp! sagte Chan, als sie das Gefühl hatte, daß jetzt ein angenehmer Warmton erreicht war. Und augenblicklich wurde der Einstellvorgang beendet. „Ist es euch auch so recht? fragte sie die anderen Familienmitglieder.

    „Ja, ist okay!" kam es vielstimmig.

    „Vielleicht doch noch eine Idee dunkler?" fragte Chan nochmal nach.

    „Von mir aus", kam es wieder vielstimmig.

    „Licht dimmen! kommandierte Chan, und die Lichtintensität nahm langsam und gleichmäßig ab. „Stopp! rief sie wieder, und auch dieser Einstellvorgang war beendet.

    „Jetzt gefällt es mir gut, bemerkte sie zufrieden, „so ist es angenehm. Für euch auch?

    Die anderen nickten.

    Aber ihrer Mimik nach schien sie doch noch nicht zufrieden mit der Einstellung. „Hm . . ., viel­leicht doch wieder eine Idee heller?" fragte sie nach kurzem Zögern und schaute dabei leicht verschmitzt lächelnd in die Gesichter der anderen.

    Long wollte gerade eine Unmutsäußerung anbringen, als er bemerkte, daß seine Mutter herz­haft zu lachen anfing. Da wußte er sofort Bescheid: „Ich glaube, du hast dir in letzter Zeit zu viele alte Videos von diesem Klassiker, dem Loriot, angesehen, was?"

    Chan prustete vor Lachen: „Ja, ich finde diese Szenen immer wieder köstlich! Die kleinen Schwächen der Menschen – wirklich fein beobachtet und meisterhaft wiedergegeben, ein­fach köstlich anzuschauen!"

    Alle lachten mit.

    In der Küche dampften drei große Kesselpfannen, sogenannte Woks, vor sich hin und ver­ström­ten einen köstlichen, appetitanregenden Duft nach geröstetem Sesam, nach Soja und Sirup, Ingwer und Zwiebeln, Knoblauch, Chili und Cayenne, nach Fisch, Fleisch und Gemüse. Alles war nur kurz, aber heftig in siedendheißem Öl angebraten worden, so daß das Gemüse Biß und Vitamine behielt und Fisch und Fleisch zart und saftig blieben.

    Der Tisch war bereits gedeckt – ein großer runder Tisch, dessen mittlerer Teil drehbar war. Auf diesem wurden nacheinander die Schüsseln mit den verschiedenen Speisen abgestellt, so daß jede Schüssel – nach entsprechender Drehung des Mittelteils – für jeden bequem erreich­bar war.

    „Robby hat uns schon verraten, daß es heute unser Lieblingsessen – Nang King Niu Wei – gibt", sagte Long. Das war ein pikant zubereiteter Ochsenschwanz in Sojasoße.

    „Ja, und außerdem haben wir einen Bärenhunger, deshalb konnten wir es kaum noch erwar­ten, bis ihr endlich gekommen seid", ergänzte Jie.

    „Jetzt seid ihr ja erlöst von der Warterei, beruhigte Chan die Kinder, „die Raubtierfütterung kann sofort beginnen. Also bedient euch.

    Sie setzten sich zu Tisch, und Robby, der Haus-Roboter der Familie, erläuterte die Speisen­folge: „Heute gibt es folgende Menü-Auswahl: Schweinefleisch süß-sauer, Fisch mit Zitro­nen­­soße . . . und . . . – Robby machte eine kurze Pause, schaute in die Runde, um dann mit einem Augen­zwinkern in Richtung Jiao fortzusetzen – „auf Wunsch einer einzelnen Dame, und damit meinte er Jiao, „gibt es . . . Ochsenschwanz Nanking; außerdem gibt es grüne Bohnen mit Bam­bus­spitzen und Won-Tan-Suppe. Ich wünsche guten Appetit!"

    Alle waren begeistert und bedienten sich der köstlich duftenden und schmeckenden Speisen von den vorbeikreisenden Schüsseln. Robby schien sich über die zufriedenen Gesichter zu freuen und machte lächelnd eine kurze Verbeu­gung.

    Genau­genommen waren es eigentlich fünf Roboter, die allen Familien­mit­glie­dern als dienst­bare „Geister" zur Verfügung standen. Sie hörten alle auf denselben Namen. Das war ein­fach praktischer für die Familie, schon um mögliche Verwechslungen von vorn­herein aus­zu­­schließen, denn die Roboter sahen alle gleich aus.

    Sie waren in der Firma von Qiang entwickelt und gebaut worden. Ihre Motorik, ihre Sensorik, ihre „Intelligenz und ihre Funktionssteuerung waren im Laufe der Jahre ständig verbessert worden. Inzwischen waren sie fast als perfekt zu bezeichnen. Äußerlich waren sie den Menschen nach­gebildet, und sie bewegten sich auch genau wie diese. Intellektuell waren sie dem Men­schen hinsichtlich eigener Kreativität noch unterlegen, aber bezüglich Geschwin­digkeit und Präzision, „Gedächtnisleistung und „Konzentration schon deutlich überlegen. Sie verfügten über die Fähigkeit, die menschliche Sprache zu verstehen – auch Sätze mit „äh, Satzbrüche und Versprecher – und sich auch selbst so zu artikulieren. Neben Deutsch verstanden sie Eng­lisch, Französisch, Spanisch, Russisch, Japanisch und Chinesisch, und sie konnten aus allen diesen Sprachen ins Deutsche übersetzen. Das war ihr Standard-Sprachschatz, selbst­ver­ständ­lich konnte jede weitere Sprache im Bedarfsfall sofort „nach­geladen werden. Eigene Gefüh­le konnten sie noch nicht entwickeln, aber immerhin waren sie mit ihrer Wahr­neh­mungs­­­fähigkeit bereits in der Lage, zwischen verschiedenen Gemüts­lagen des Menschen zu differenzieren und entsprechend „einfühlsam zu reagieren.

    Da die Wangs fünf Roboter im Haus hatten, stand im Bedarfsfall jedem der fünf Familien­mit­glieder je einer zur selben Zeit für Dienstleistungen zur Verfügung. Sie machten praktisch alles, was so an Hausarbeit anfiel – und sie kochten vorzüglich! Sie hatten tausend Rezepte im „Kopf", die im Laufe der Jahre durch die Familie ständig verfeinert und entsprechend einpro­gram­miert worden waren. Angebranntes oder noch ungares Essen, zu stark oder zu wenig gewürzt – das alles gab es bei ihnen nicht, es war immer von gleich guter Qualität.

    „Und? Was habt ihr heute so erlebt?", fragte Qiang, während er nacheinander seine drei Kinder prüfend anschaute.

    „Och, fing Long an, „ich habe ziemlich viel gelernt heute, weil wir morgen eine Prüfung in Bio haben.

    Er sprach ein sehr gutes, fast schon akzentfreies Deutsch, obwohl er erst seit etwa fünf Jahren in Deutschland lebte. Bis zu seinem neunten Lebensjahr war er in China aufge­wachsen, und nur im letzten, dem neunten Jahr, als schon klar war, daß die Familie nach Deutschland über­siedeln würde, hatte er, zusammen mit den Geschwistern, zur Vor­berei­tung auf den Wechsel schon Deutschunterricht bekommen. Die Eltern hatten bereits vorher berufliche Kontakte nach Deutschland und im Rahmen dieser Tätigkeiten begonnen, die deut­sche Sprache zu lernen.

    „Was für Themen bearbeitet ihr denn gerade in Bio?", wollte Qiang wissen.

    „Wir behandeln zur Zeit die Vererbungslehre von Mendel, antwortet Long, „ein wirklich inte­res­­san­­tes Thema. Ich werde es auch als Vortragsthema wählen.

    Jeder Schüler mußte in jedem Fach einmal pro Halbjahr einen Vortrag zu einem selbst­ge­wähl­ten Thema aus dem behandelten Stoffgebiet halten. Man hatte damit sehr gute Erfah­run­gen gesammelt, denn auf diese Weise lernten die Schüler frühzeitig, selbständig ein Thema vertieft zu erarbeiten und dann in möglichst freier Rede coram publico vorzutragen. Und so war es inzwischen in allen Schulen des Landes zur Selbstverständlichkeit geworden.

    „Es ist ja eigentlich schon verwunderlich, daß die Kinder, obwohl von denselben Eltern ab­stam­­­mend, trotzdem doch sehr verschieden sein können, konstatierte Long. „Die Ursachen da­für herauszufinden, stelle ich mir fast so spannend wie einen Krimi vor – und der Mendel hat mit seinen Versuchen dafür die Grundlage geschaffen und entsprechende Regeln, die später nach ihm benann­ten Mendelschen Regeln, formuliert.

    „Wieso? Was hat der für Versuche gemacht?" wollte Jiao wissen.

    „Der hat in einem Klostergarten ganz systematisch eine große Reihe von Kreuzungen ver­schie­dener Erbsen­rassen durchgeführt und ausgewertet. Seine Beobachtungen, wie sich die unter­­schied­lichen Merkmale der Erbsenrassen, also zum Beispiel die Wuchsform, die Blü­ten­­farbe oder die Gestalt und Farbe der Samen, auf die jeweiligen Nachkommen ver­teilten, hat er 1865 in einem Buch veröffentlicht. Seine Ergebnisse zeigten unter anderem die Häu­fig­keits­­verteilung bei der Vererbung der unterschiedlichen Merkmale in einem ganz bestimm­ten Zah­len­­verhältnis, beispielsweise 1:2:1 oder 3:1, je nachdem, ob es sich um intermediäre oder domi­nant-rezessive Vererbung handelt."

    „Was muß ich darunter verstehen?" fragte Jiao.

    „Das zu erklären würde jetzt hier sicher zu weit führen, dazu müßte ich länger ausholen", er­widerte Long.

    „Ja toll – sehr interessant! unterbrach ihn Jiao etwas unwirsch, wobei sie besonders das „sehr betonte. „Ich verstehe zwar im Moment nur ‚Bahnhof‘, aber du kannst ruhig weiter dozieren. Auf mich brauchst du ja keine Rücksicht zu nehmen!" Und es klang fast schon ein wenig be­leidigt.

    „Das lernst du auch alles noch in der Schule, mein Kind, versuchte Chan ihre Tochter zu ver­trösten. „Hab nur etwas Geduld.

    Jiao schien etwas genervt und verdrehte demonstrativ die Augen.

    „Naja, ich will hier auch gar nicht in die Details gehen, fuhr Long fort. „Jedenfalls gelten die Gesetzmäßigkeiten der Vererbung für die ganze belebte Natur und damit eben auch für den Menschen, wie man durch Familien- und insbesondere auch Zwillingsforschung schon lange weiß. Auch beim Menschen gibt es dominante und rezessive Merkmale. Das zeigt sich be­son­ders deutlich bei bestimmten Krankheiten oder Abnormitäten, aber auch bei charakte­ris­tischen Äußerlichkeiten oder Angewohnheiten.

    „Deine Angewohnheiten sind manchmal ganz schön lästig! platzte Jiao wieder dazwischen. „Von wem hast du die?

    Alle lachten.

    „Zweimal darfst du raten!" rief Jie lachend.

    „Also, wenn ich mir unsere Familie so anschaue, dann habe ich den Eindruck, daß wir Drei, und damit meinte Long seine Geschwister und sich, „uns ja auch erkennbar unterscheiden – und zwar nicht nur äußerlich, sondern auch im Wesen, daß wir aber andererseits teilweise unüber­sehbar deutliche Ähnlichkeiten zu unseren Eltern aufweisen. Ich denke zum Beispiel, daß ich ganz offensichtlich eher nach Paps komme, sagte Long, „während Jiao deutlich mehr von Mam geerbt hat. Bei Jie kann ich bisher keine klare Dominanz zur einen oder anderen Seite ent­decken, er hat wohl von euch beiden ungefähr gleich viel mitbekommen."

    Jiao kicherte: „Du bist ein Mischling, kleiner Bruder!"

    „Du bist selbst ein Mischling!" wehrte sich Jie vehement.

    „Ihr braucht euch gar nicht zu streiten! unterbrach Long die beiden. „Mischung ist ganz normal! Oder vielmehr: Das ist ja gerade das Normale! Genau das ist nämlich von der Natur beab­sichtigt, es ist praktisch das Grundprinzip der Evolution! . . . Da fällt mir übrigens gerade ein Gedicht vom alten Goethe ein, das wir in diesem Zusammenhang in der Schule gelernt haben. Wollt ihr’s hören?

    „Ja, gerne", bat Chan sofort.

    „Offenbar hat sich der alte Dichterfürst auch schon mit genau dieser Thematik befaßt, jeden­falls läßt das sein folgendes Gedicht vermuten:

    Vom Vater hab ich die Statur

    des Lebens ernstes Führen,

    vom Mütterchen die Frohnatur

    und Lust zu fabulieren.

    Urahnherr war der Schönsten hold,

    das spukt so hin und wieder;

    Urahnfrau liebte Schmuck und Gold,

    das zuckt wohl durch die Glieder.

    Sind nun die Elemente nicht

    aus dem Komplex zu trennen,

    was ist denn an dem ganzen Wicht

    Original zu nennen?‘"

    Qiang und Chan klatschten beifällig in die Hände, denn sie freuten sich, daß er das Gedicht so schön aufgesagt hatte, während Jiao und Jie noch etwas nachdenklich schienen.

    „Du siehst also, kleiner Bruder, belehrte Long seinen jüngeren Bruder, „man hat schon viel, viel früher festgestellt, daß die Erbanlage jedes Kindes immer von beiden Elternteilen be­stimmt ist; es gibt immer wieder neue Vermischungen. Deshalb sind die Menschen ja so verschieden! Auch innerhalb einer Familie, obwohl da die Unterschiede sicher nicht ganz so groß sind.

    Long war für seine vierzehn Jahre ein guter Beobachter. Er hatte beim Betrachten von Famili­en­fotos schon relativ früh festgestellt, daß er eine sehr große Ähnlichkeit mit seinem Vater hatte, was ihm überdies auch Freunde und Bekannte gelegentlich bestätigten. Und diese Tatsache trieb ihn immer wieder um. So ertappte er sich beispielsweise immer öfter dabei, Ausdrucks­weise, Gestik und Gebärden seines Vaters ganz offenbar zu imitieren. Aber imitierte er sie willentlich? Oder agierte er vielmehr unwillkürlich aus sich selbst heraus und stellte gewisser­maßen erst im nachhinein durch Selbstbeobachtung fest, daß er sich genau­so ver­halten hatte, wie es sein Vater in dieser Situation getan haben würde? Er wußte es nicht. So sehr ihn diese Frage beschäftigte, er fand keine Antwort darauf. Immerhin war dieser, für ihn unbefriedigende Umstand Motivation genug, sich stärker in die Thematik der Vererbungslehre einzuarbeiten – immer in der Hoffnung, die Ursachen für diese Evidenz eines Tages doch noch zu ergründen.

    Sie unterhielten sich noch eine Weile weiter über dies und das, obwohl es inzwischen schon halb elf geworden war. Mit dem Essen waren sie längst fertig, und der Tisch war von Robby bereits abgeräumt.

    „So, jetzt ist es aber schon ziemlich spät, sagte Qiang schließlich, „es wird Zeit für euch zum Schlafen­gehen. Morgen früh um sechs ist die Nacht vorbei, also hopp, hopp ins Bett.

    Sie wünschten sich eine gute Nachtruhe, und die Kinder gingen auf ihre Zimmer.

    „Wie sieht deine Planung für morgen aus?" fragte Qiang seine Frau, nachdem die Kinder draußen waren.

    „Ich habe morgen vormittag zwei Vorlesungen, und danach will ich die Beiträge unseres heuti­gen Symposiums noch ein bißchen für mich aufarbeiten, damit ich die Dinge nicht so schnell vergesse", antwortete Chan.

    „Ja richtig! Ihr hattet ja heute euer Symposium! Erzähl doch mal; wie war’s? Was kam dabei heraus?"

    Chan seufzte: „Ach, weißt du, es war natürlich für mich heute ein sehr interessanter Tag. Aber es war auch sehr anstrengend, den ganzen Tag über konzentriert zuzuhören, den geistig an­spruchs­vollen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen zu folgen. Und entsprechend müde bin ich jetzt, um nicht zu sagen: völlig groggy. Deshalb wäre ich dir sehr dankbar, wenn du dich mit deinen Fragen vielleicht bis morgen gedulden könntest."

    „Selbstverständlich, mein Schatz. Ich will dich natürlich nicht quälen. Es hat auch Zeit bis mor­gen. Er beugte sich zu ihr hinüber, küßte sie auf beide Wangen und fragte, während er sich wieder zurücklehnte: „Um welche Thematik ging es eigentlich heute noch mal?

    „Es ging – kurz gesagt – im wesentlichen um die Frage des Bewußtseins: Was ist Bewußt­sein? Läßt es sich durch eine mathematische Formel beschreiben? Oder hilft vielleicht die Quan­tenphysik dabei weiter? Ist Bewußtsein überhaupt eine Größe, die objektiver wissen­schaftlicher Erkenntnis zugänglich ist? Ist die Erschaffung eines künstlichen Bewußtseins denkbar? Und so weiter. An diesem Thema arbeiten wir ja schon seit langer Zeit, wie du weißt."

    „Ja, sicher, und es ist höchst interessant und wissenschaftlich bestimmt sehr anspruchsvoll, da­von bin ich über­zeugt. Ich bin schon sehr gespannt auf eure Erkenntnisse. Und vor allem auch auf die Umset­z­barkeit dieser Erkenntnisse in technische Lösungen. Das würde unsere Ro­boter­­entwicklung weiter deutlich voran bringen. Wann, glaubst du denn, könnte es soweit sein?"

    „Das läßt sich heute leider noch nicht so genau abschätzen, soweit sind wir einfach noch nicht. Wir haben da noch einen besonderen Knackpunkt. Wenn wir den gelöst haben, dann sehen wir klarer. Aber der hängt eben nicht nur von uns ab, wie du weißt. Wir arbeiten in unse­rem interdisziplinären Team ja eng mit unseren Kollegen in der Hirnforschung zusam­men, und die haben das Problem leider auch noch nicht richtig im Griff. Unsere Arbeit ist aber letztlich abhängig von ihren Ergebnissen, baut gewissermaßen auf ihren Erkennt­nissen auf. Durch die Teamarbeit sind wir immerhin auf dem jeweils neuesten Stand ihrer Erkennt­nisse, kön­nen sie partiell sogar durch eigene Beiträge unterstützen und auf diese Weise die ganze Entwicklung forcieren, aber wir können sie natürlich nicht überholen."

    „Ja, ich weiß. Wir müssen uns noch gedulden, obwohl ich gerne viel schneller vorankommen würde. Er machte eine kurze Pause. „Immerhin bin ich heute wenigstens geschäftlich einen großen Schritt voran­gekommen. Wir sind uns ziemlich einig in den Fragen der Geschäfts­übernahme, es gibt nur noch marginale Punkte, die wir in den nächsten paar Tagen auch geklärt haben werden. Ich bin sehr zufrieden mit dem heutigen Tag. Aber müde bin ich jetzt auch.

    „Ja, ich auch."

    „Ach, übrigens, das muß ich dir doch noch schnell erzählen . . ."

    „Was denn?

    „Der Güssen hat doch allen Ernstes behauptet, er hätte mich neulich auf der Leipziger Messe gesehen. Dabei war ich doch dieses Jahr gar nicht dort! Der hat Gespenster gesehen, anders kann ich mir das nicht erklären."

    „Na, dann hat er sich eben getäuscht. Das kann ja mal passieren."

    „Das habe ich ihm auch nahezulegen versucht. Ich habe ihm klar und deutlich gesagt, daß ich dieses Jahr nicht auf der Messe war. Aber er sagte, er könne Stein und Bein schwören, daß er mich gesehen hat."

    „Dann hast du vielleicht einen Doppelgänger?"

    „Hmmm . . . Das wäre die einzige plausible Erklärung, wenn er sich nicht wirklich verguckt hat. . . . Aber Doppelgänger? Zum Verwechseln ähnlich? Ich weiß nicht. . . . Allerdings tun sich die Europäer ja bekanntlich etwas schwerer, Asiaten zu unterscheiden. Insofern wäre eine Verwechslung schon leicht möglich."

    „Hat er deinen Doppelgänger nicht angesprochen? Denn dann hätte sich das Mißverständnis doch sehr schnell aufgeklärt."

    „Er hat mir erzählt, er habe mich an einem chinesischen Ausstellerstand gesehen, wie ich gerade telefonierte. Da wollte er nicht stören, deshalb habe er gewartet, bis ich das Telefonat beende. Aber dann sei ich plötzlich hinter dem Stand verschwunden. Daher habe er keine Gelegenheit gehabt, mich zu begrüßen."

    „Na, wie auch immer, wir können es heute nicht mehr aufklären. Gehen wir mal davon aus, daß er sich getäuscht hat."

    „Was anderes bleibt uns sowieso nicht übrig. Mich irritiert nur, daß er so felsenfest davon überzeugt war, mich gesehen zu haben, und eine Verwechslung kategorisch ausschloß."

    „Aber es kann nur eine Verwechslung gewesen sein! Also haken wir es ab und gehen ins Bett."

    „Okay. Ich will nur noch kurz die Nachrichten anschauen, dazu bin ich heute den ganzen Tag noch nicht gekommen."

    Robby hatte die Aufforderung verstanden, sandte ein Signal an den MEC, den Media Con­trol­ler, und im Nu war der Nachrichtenkanal eingeschaltet. Das war nur einer aus einer Vielzahl unterschiedlicher Themen-Kanäle, die man per Fernsteuerung aus dem WorldNet abrufen konn­te. Das Bild wurde auf einem groß­formatigen Flachdisplay, das wie ein Gemäl­de an der Wohn­zimmerwand hing, dargestellt.

    Gerade wollten sie sich auf das Sofa setzen, als Chan durch das Fenster den Mond erblickte und spontan ausrief: „Ach, schau mal, der Mond, wie schön klar und hell der scheint! Komm, laß uns noch einen Moment auf die Terrasse gehen." Sie nahm ihren Mann bei der Hand und zog ihn hinter sich her.

    Beim Hinausgehen sagte Qiang noch zu Robby: „Also, kannst nochmal ausschalten, wir sehen uns die Nachrichten etwas später an."

    „Kein Problem", antwortete Robby lakonisch, während er sich freundlich lächelnd verbeugte. Und es war mit TV on demand in der Tat kein Problem, denn wann immer man einen Kanal anwählte, erhielt man das gewünschte Programm jeweils von Anfang an – so, als würde das Programm genau und ausschließlich für diesen einen Teilnehmer ausgestrahlt. Man konnte das Programm auch jeder Zeit anhalten, zurückspulen und nach beliebiger Zeit wieder starten, als hätte man das Programm auf dem eigenen Videorecorder gespeichert – hatte man aber nicht. Das war gar nicht nötig. Die Übertra­gungs­kapazität des WorldNet war so immens, daß Millionen von Programmen in Form digitaler Datenpakete simultan übertragen werden konn­ten.

    Nachdem Robby das Programm abgeschaltet hatte, erschien wieder das Landschafts­gemäl­de von Guilin auf dem Bildschirm. Chan liebte diese phantastische und manchmal schon ein wenig verwunschen und geisterhaft anmutende Landschaft in China so sehr, daß dieses Bild fast immer gemäldegleich dargestellt wurde, wenn das Display nicht gerade als „Kino­lein­wand" genutzt wurde. Aber natürlich konnte auch jedes andere gewünschte Bild statt dessen darge­stellt werden wie etwa die ebenfalls von Chan geliebten Peonienbilder chine­sischer Künstler oder eigene Fotos.

    Auf der Terrasse angekommen, atmete Chan zwei-, dreimal tief durch und schwärmte dann: „Hm . . . Gute, frische Luft, das tut gut! Spürst du es auch?"

    Qiang atmete ebenfalls tief durch und sagte dann: „Ja . . . Ich glaube schon, daß die Luft hier bes­ser ist als in Nanjing."

    „Das glaube ich auch, pflichtete Chan ihm bei. „Aber heute erscheint sie mir besonders gut. Und sieh mal den Sternenhimmel. Es ist ganz klare Sicht heute.

    Qiang legte seinen Arm über ihre Schultern, schaute erst zum Mond und dann zu ihr, die wohl gedankenversunken im Mondlicht zu träumen schien. Nachdem er sie so eine Weile liebevoll von der Seite betrachtet hatte, drehte er sich ihr ganz zu, nahm sie in beide Arme und schaute ihr in die Augen, in denen sich das Mondlicht silbern spiegelte. „Du bist wunder­schön! flüster­te er leise, drückte sie noch etwas fester an sich und küßte sie auf die Stirn. „Deine Lippen sind irgendwie unbeschreiblich verführerisch, erotisch, säuselte er weiter und küßte sie zärt­lich auf den Mund. Und während er sie weiter liebkoste, auf die Wangen und auf die Ohr­läpp­chen küßte, und sie mit tiefem Einatmen förmlich aufzusaugen schien, sagte er: „Du riechst so aufregend gut. Dann sah er ihr wieder in die Augen und sagte: „Ich liebe dich. Ich liebe dich sehr.

    Sie schmiegte sich an ihn und entgegnete: „Ich fühle mich sehr wohl bei dir. Ich brauche deine Nähe." Dann schauten sie beide wieder zum Mond, die Köpfe aneinandergeschmiegt.

    Es war still ringsherum. Nur das plätschernde Geräusch des Bächleins in ihrem Garten war zu hören und hin und wieder der Ruf eines Käuzchens in der Ferne. Der Garten war zwar nicht besonders groß, aber es war doch immer wieder für jeden Besucher verblüffend, wie hier auf vergleichsweise kleinem Raum verschiedene Gestaltungselemente, wie künstlich angelegte Teiche und Bäche, künstliche Hügel aus Erde und Felsgestein, sichtbegrenzende Mauern, Torbögen, verschlungene Wege und Brücken, ein kleiner Pavillon sowie zahlreiche Bäume, Bambushecken und Blu­men, die jeweils eine ganz bestimmte Bedeutung für die Chi­nesen haben, zu einem in seiner Vielfältigkeit wohl-ausbalancierten, harmonischen Gesamt­kunstwerk arrangiert wurden, das den geneigten Betrachter zu Versenkung und Beschau­lichkeit einlud. In jedem Winkel des Gartens ergaben sich wieder neue Perspektiven, neue Eindrücke. Aber von keinem Punkt aus konnte man den Garten vollständig überblicken. Das gab ihm scheinbare Größe und hielt den Besucher in neugieriger Erwartung auf den nächsten Blickwinkel.

    Chinesische Laternen beleuchteten den sich durch den Garten schlängelnden Weg, spiegel­ten sich auf der Wasseroberfläche von Teich und Bach silbrig-gelblich wider und luden den Be­trach­ter zu romantisch verklärter Stimmung ein.

    Nachdem sie so eine Weile, eng aneinander gekuschelt, träumend in den Garten geschaut hatten, unterbrach Chan die traute Zweisamkeit: „Mir wird allmählich kalt."

    „Es ist doch nicht kalt, entgegnete Qiang, „es ist sogar sehr mild heute. Aber du bist wahr­schein­lich sehr, sehr müde, sonst könntest du nicht in meinen Armen frieren.

    „Da magst du recht haben. Komm, laß uns wieder reingehen. Morgen ist auch noch ein Tag."

    Sie gingen ins Wohnzimmer, wo Robby schon auf sie wartete und fragen zu wollen schien, ob er die Nachrichten wieder einschalten sollte. Qiang nickte ihm kurz zu und prompt lief die Sen­dung. Sie machten es sich auf dem Sofa gemütlich. Und während Qiang die Bilder der Nach­rich­ten verfolgte, kuschelte sie sich fest an ihn und schloß die Augen.

    Nachdem er die Nachrichten zu Ende gesehen hatte und aufstehen wollte, bemerkte Qiang, daß seine Frau bereits schlief. Behutsam hob er sie auf und trug sie hoch zum Schlafzimmer im Ober­geschoß.

    „Danke", murmelte Chan verschlafen, die unterwegs doch aufgewacht war.

    Wenig später waren sie im Bett.

    Qiang konnte nicht gleich einschlafen, ihm gingen noch so viele Gedanken durch den Kopf. Aber er fühlte sich behaglich wohl und zufrieden. Die Familie lebte nun seit etwa fünf Jahren in Deutschland und hatte sich seither bestens akklimatisiert. Sie fühlten sich wohl hier in Ulm, auf­genommen von der Gesellschaft, anerkannt und geachtet, ja geschätzt. Neben ihrer beruf­lichen Beanspruchung pflegten sie regelmäßige gesellschaftliche Kontakte. So waren insbe­son­dere ihre ein- bis zweimaligen Einladungen pro Jahr an einen ausgewählten Kreis von Hono­ratioren der Stadt aus Politik, Wirtschaft, Forschung und Lehre schon zur festen Regel geworden. Es waren von allen Beteiligten immer wieder sehr gern wahrgenommene Gelegen­heiten der Kontaktpflege und des Informations- und Meinungsaustausches. Ja, und das aller wichtigste für ihn war natürlich die Tatsache, daß seine Geschäfte so erfolgreich liefen. Vor fünf Jahren hätte er das noch nicht einmal zu träumen gewagt, jetzt schlief er mit der Gewiß­heit darüber und einem seligen Lächeln ein.

    Am nächsten Tag

    Pünktlich um 6.00 Uhr erklang in den Schlafzimmern Musik, bei den Eltern Klavier­­musik von Chopin, zart beginnend und dann langsam stärker werdend, bei den Kindern Modern Beat­. Man hielt sich aber nicht lange auf dabei. Alle waren von früher Jugend an gewohnt, jeden Morgen, auch am Wochenende, regelmäßig zu dieser Zeit aufzustehen, und die Gewohnheit ließ sie inzwischen längst von allein erwachen. Es hätte eigentlich keines Weckers bedurft, aber mit der Gewißheit rechtzeitigen Gewecktwerdens ließ es sich eben doch irgendwie bes­ser schlafen; man hatte dann nicht die Unruhe, vielleicht doch einmal zu verschlafen. Und ein bißchen angenehme Musik am Morgen war ja auch eine gute Ein­stimmung für den Tag. Alle kamen aus ihren Betten gekrochen, zogen sich einen Trainings­anzug über und gingen in den Garten.

    Qiang und Chan pflegten von Kindheit an die seit Jahrtausenden überlieferten chinesischen Körper­übungen des Tai Chi, und sie hatten es frühzeitig auch ihren eigenen Kindern weiter­vermittelt. Regelmäßig morgens gegen sechs Uhr ging die ganze Familie in den Garten, um gemeinsam ihre Entspannungsübungen zu machen. Es waren harmonische, fließende Be­we­­gungen, die lang­sam und ohne Unterbrechung ausgeübt wurden, kombiniert mit einer be­stimmten Atem­technik und einer meditativen Konzentration auf bestimmte Körper­regio­nen. Gemäß dem Prinzip von Yin und Yang ist jede Übung eine fortwährende Folge von Bewe­gung und Ge­gen­bewegung: Auf Heben folgt Senken, auf Beugen folgt Strecken, auf Vorwärts- folgt Rück­wärtsbewegung.

    Nach etwa 40 Minuten beendeten sie ihre Übungen und gingen zum Duschen, und nach einer weiteren Viertelstunde saßen alle beisammen am Frühstückstisch.

    Chinesen beginnen ihren Tag üblicherweise mit einem warmen Frühstück. Kaltes Essen ist für sie kein Essen. Dazu trinken sie entweder frisch aufgekochtes Wasser oder grünen Tee. Robby hatte bereits alles vorbereitet. Die Kinder aßen gern – so auch an diesem Morgen – gebratenes Gemüse mit Nudeln. Außerdem hatten sie sich ein paar süße Baozi, das sind gefüllte Klöße aus Hefeteig, bestellt. Es gibt nicht nur süße, sondern auch salzige Baozi, saure und sogar bittere, insgesamt mehr als 70 Varianten. Als Füllung wird Schweine-, Rind- oder Hammel­fleisch, Krabben, Fisch und Gemüse aller Art verwendet. Sie sind sehr beliebt in China, man kann sie an fast jeder Straßenecke kaufen – chinesisches Fast Food. Sie werden gleich so, wie sie sind, das heißt ohne Soße oder ähnliches, von der Hand geges­sen. Chan hatte sich Youtiao bei Robby bestellt, das sind fritierte Teigstangen, ähnlich den spanischen Chur­ros, und dazu eine Art Crêpe, gefüllt mit Fleisch, Soja, Ei und Koriander. Qiang aß nur eine Schüssel Reissuppe, denn er mußte sich heute kurzfassen beim Früh­stück, weil er bereits einen Besprechungstermin zu acht Uhr mit seinen Vorstandskollegen ver­einbart hatte. Die neue Lage sollte besprochen, notwendige Maßnahmen mußten erörtert werden. Und dazu wollte er noch ein paar Dinge vorher vorbereiten.

    Er wählte, wie gewöhn­lich, den Runway, um zu seiner Firma zu kommen. Das war ökono­mischer und ging sogar schneller, als wenn er seinen Wagen benutzt hätte. Diese Runways sind eine Art ‚Laufbänder‘ nach dem Prinzip der Rolltreppen, aber tech­nisch verbessert und so breit, daß drei Leute bequem nebeneinander herlaufen können. Außerdem sind sie groß­zügig überdacht, so daß man sie auch bei Regen und Schneefall trockenen Fußes passieren kann, und des Nachts beleuchtet. Sie durchzogen die ganze Trabanten­siedlung sternförmig, jeweils in Abschnitten von etwa 50 Meter Länge. In den vom Zentrum etwas entfernter gele­ge­nen Bereichen gab es Querverbindungen. So wirkte die Gesamtanlage dieser Runways von oben betrachtet wie ein überdimensionales Spinnennetz.

    Viertel vor acht war Qiang in seinem Büro, wo er von seinem Sekretär, natürlich auch ein Robo­ter, freundlich begrüßt wurde.

    „Hallo Robby! grüßte er zurück. „Du weißt, daß wir gleich eine Besprechung haben?! Hast du uns ein paar Getränke hingestellt?

    „Ja, selbstverständlich! Alles erledigt!" erwiderte Robby.

    „Aber heute brauchen wir einen Prosecco zum Anstoßen. Es gibt was zu feiern!"

    „Okay! Wird sofort erledigt!"

    Qiang ging in sein Büro. Es war ein relativ großer, heller und unter Beachtung der Feng-Shui-Regeln sehr repräsen­tativ gestalteter Raum. Eine den neun Lebensbereichen des sogenann­ten Bagua entsprechende Gliederung und dezente Zuordnung verschiedener das Chi spen­den­der, verstärkender und verteilender Hilfsmittel sowie weiterer im Raum verteilter Symbole und Acces­soires sollten dafür sorgen, daß das Chi durch die Gesamtheit der in diesem Raum wirkenden Schwingungen positiv beeinflußt würde.

    Eine breite Fensterfront ließ viel Licht herein. Das Mobiliar, eine Schrankwand, sein Schreib­tisch, ein Tisch mit sechs Stühlen sowie eine Sesselgruppe, waren großzügig im Raum ver­teilt. Ein großes Aquarium stand zwischen der Sessel- und der Tischgruppe. Aquarien gelten in China als exzellente Chi-Spender, weil sie bewegtes Wasser mit dem Chi von Pflanzen und Tieren kombinieren, und gehören deshalb in jede Wohnung und eben auch in sein Arbeits­zimmer. Daneben durften selbstverständlich die Pflanzen im Raum nicht fehlen, denn sie brin­gen ja selbst immer neue Lebenskraft hervor und gelten deshalb als aus­gezeichnetes Hilfs­mit­tel, um das Chi zu verstärken. Außerdem verbessern sie die Atemluft, indem sie die schäd­lichen Umweltgifte, die beispielsweise in Klebstoffen, Holz­schutz­mitteln und Kunst­stof­fen ent­hal­ten sind, vernichten. Deshalb waren mehrere große Pflanzenkübel im Raum ver­teilt, vor­zugs­weise an Stellen, an denen das Chi nur spärlich vorhanden war und angerei­chert werden sollte, also ins­besondere in den Ecken. Dabei handelte es sich vor allem um Philo­­dendren und Drachenbäume, aber auch andere, bunt blühende Grünpflanzen, jedoch immer solche mit run­den Blättern, da Pflanzen mit spitzen, lanzettförmigen Blättern ‚schnei­den­des Chi‘ aussenden und somit schädigend wirken könnten.

    Die Ausgestaltung des Raumes war ganz wesentlich von Chan beeinflußt worden, die mit viel Liebe zum Detail und Gespür für Schönheit und schlichte Eleganz dafür gesorgt hatte, daß die­ser Raum auf jeden, der ihn betrat, sogleich eine Atmosphäre des Wohlgefühls, der Har­mo­­nie und Behaglichkeit ausstrahlte.

    Qiang machte sich ein paar Notizen, studierte seinen Terminkalender und gab noch ver­schiedene Anweisungen an seinen Sekretär, dann trafen auch schon seine Vorstands­kol­le­gen ein. Es war ein kleines, international besetztes Team, bestehend aus der Deutschen Susanne Krämer, zuständig für Finanzen und Controlling, der Britin Deborah Brown, zustän­dig für Marketing and Sales, dem Niederländer Lothar van Steben, zuständig für das opera­tive Geschäft, das heißt für Entwicklung, Produktion und Auftragsabwicklung, der Französin Sandrine Marchal, zustän­dig für alle juristischen, administrativen und personellen Angele­gen­heiten, sowie ihm selbst, dem Chef, einem Chinesen. Qiang schätzte die Effektivität kleiner Führungsteams und flacher Hierarchien. Und die hohe Effizienz ihres Wirkens war der unbe­strittenen Kompetenz der von ihm mit gutem Gespür ausgewählten Personen zu verdanken. Auch die vergleichsweise starke Repräsentanz von Frauen in seinem Team war mit Bedacht von ihm so gewählt, denn es war ihm hinreichend bekannt, daß gemischte Teams aus Männern und Frauen bessere Ideen entwickeln als gleichgeschlechtliche Gruppen – einfach schon deshalb, weil sie sich in ihren Fähigkeiten hervorragend ergänzen. Die sogenannten weib­lichen Qualifikationen wie Team- und Dialogfähigkeit, emotionale Intel­li­genz und Organi­sationstalent sind in den von Männern dominierten Hierarchien frühe­rer Zeiten meist zu kurz gekommen, häufig genug zum Nachteil der Unternehmen in Form von schlechtem Betriebs­klima bis hin zu Frustration und dadurch bedingter Arbeits­unlust, man­gelnder Bereitschaft zur Teamarbeit, häufigen „Hahnenkämpfen" zwischen Kon­kur­renten auf der Karriereleiter und anderen negativen Begleiterscheinungen – letztlich resul­tierend in ge­rin­gerer Rentabilität und geringerem Profit. Das alles war Qiang sehr bewußt, und deshalb legte er so einen gestei­gerten Wert auf gemischte Teams, auf Team­arbeit generell und auf interdisziplinäre und inter­nationale Zusammensetzung seiner Teams.

    Natürlich können solche Stellenbesetzungen unter Umständen andere Probleme auf­werfen, die entsprechend beachtet und gegebenenfalls behutsam gelöst werden müssen. So war im Team von Qiang beispielsweise die Kenntnis der jeweiligen kulturellen Kommunikations­re­geln sowie der unterschiedlichen Glaubens- und Wertorientie­rungen, insbesondere zwischen der chinesischen und der westeuropäischen Kultur, für die interkulturelle Kommuni­kation von im­men­ser Bedeutung für das Funktionieren einer guten, effektiven und effizienten Zusam­men­­arbeit.

    Es hatte in der Anfangszeit immer mal wieder das eine oder andere Verständigungsproblem gegeben, was niemanden wirklich verwunderte, weil keiner von ihnen die unterschiedlichen, durch die jeweilige Kultur geprägten Interaktionsmuster per se beherrschte. Theoretisch hat­ten sich sicher alle vorher schon einmal mit dieser Problematik auseinandergesetzt, man lebte ja schließlich in einer „globalisierten" Welt, aber es ist eben ein Unterschied, ob man sich in der Literatur etwas anliest oder in der Praxis anwenden muß. Während Qiang durch seine frühen Auslandsaufenthalte mit der westlichen Kultur schon vergleichsweise gut ver­traut schien, hatten seine – durch die Bank noch relativ jungen – europäischen Kollegen vorher wenig direk­te Berührung mit der chinesischen Kultur. Lediglich Deborah, die schon einige Zeit in Shang­hai gelebt und an der renommierten China Europe International Business School ihren Master of Business Administration gemacht hatte, beherrschte die chinesische Sprache hinreichend gut. Aber selbst innerhalb des westlichen Kulturraumes gab es ja trotz aller Ähnlichkeiten und Vereinheitlichungs­bemühungen immer noch nennenswerte Unter­schiede, die in den einzelnen Regionen sogar ausdrücklich gepflegt wurden. Nicht jeder verstand beispielsweise den trocke­nen und häufig derben englischen Humor. Und nicht jeder kam mit der übertriebenen Gründ­lich­keit der Deutschen zurecht. So mußten sie alle erst lernen, den anderen wirklich richtig zu verstehen, und zwar im täglichen Umgang mitein­ander – learning by doing, nannten sie das. So ein Lern­prozeß brauchte naturgemäß einige Zeit. Aber Qiang hatte von Anfang an nachdrück­lich dafür gesorgt und vorbildhaft vorgelebt – und damit hat er diesen Lern­prozeß ganz sicher auch beschleunigt –, daß in seiner Firma eine offene, ver­trauens­volle, sehr kollegiale Atmos­phä­re herrschte, in der der Team­orien­tierung und der Aufrechterhaltung der sozialen Harmonie ein sehr hoher Stellenwert beige­messen wurde. Mißverständnisse und Fehler wurden offen angesprochen, aber nicht kritisiert, sondern gemeinsam ausgeräumt. Konfrontierende Äuße­run­gen sollten unter allen Umständen vermieden werden. Deshalb war er stets bemüht, eine harmonische Gesprächs­atmosphäre zu schaffen, die einen aggressiven Gesprächsstil, wie er im Westen des öfteren gepflegt wurde, gar nicht erst aufkommen ließ.

    Da man sich inzwischen seit der Firmen­gründung vor etwa fünf Jahren kannte und erfolg­reich zusammenarbeitete, hatte jeder eine hinreichend starke Sensibilisierung für die unter­schied­lichen kulturellen Prägungen und damit auch das notwendige Verständnis für die ver­schie­de­nen Kommunikations- und Verhaltensweisen der anderen erworben, um kulturelle Re­gel­ver­let­zungen zu vermeiden. Die europäischen Kollegen hatten mit der Zeit auch ge­lernt, „zwischen den Zeilen zu lesen, das heißt, nichtverbale Mitteilungen, im situativen Kon­text verborgene Informationen, „verschlüsselte Botschaften wahr­zunehmen und zu ent­schlüs­seln. Das war notwendig für sie, um ihren Chef richtig zu verstehen. Denn obwohl Qiang stets sehr bemüht war, seine Interaktionsweise derjenigen seiner europäischen Kolle­gen anzupassen, passierte es ihm unwillkürlich doch immer mal wieder, sich in Andeutungen auszudrücken und seinen Zuhörern zu überlassen, das Unausgesprochene selbst zu inter­pretieren. Seine tiefe Verwurzelung in der chinesischen Kultur und Tradition ließ sich eben nicht so ohne weiteres ablegen, vielmehr prägte sie sein Denken und Handeln ganz selbst­verständlich und automatisch. Für ihn war es Routine. Er hatte von klein auf ein feines sensorisches Gespür entwickelt und gelernt, Andeu­tun­gen, Unausgesprochenes und ver­schlüsselte Botschaften wahr­zunehmen und zu inter­pre­tie­ren. Und gewöhnlich pflegte er, sich selbst normalerweise in der gleichen Weise auszu­drücken. Die Zuhörer mußten deshalb nicht nur darauf achten, was er sagte, vielmehr mußten sie gewissermaßen zwischen den Zeilen lesen, mußten also versuchen zu interpretieren, was er wohl tatsächlich gemeint haben könnte. Wenn er sich allerdings im Gespräch einem ver­dutzten oder verständnislos blickenden Gesicht gegenüber sah, dann erinnerte er sich aber immer gleich wieder und erläuterte bereitwillig seine Ausführungen.

    Dem „Gesicht im Sinne der Gesichtswahrung wird im chinesischen Sozialverhalten übri­gens eine ganz besondere Bedeutung, ein sehr hoher Stellenwert beigemessen, und ent­sprech­end schwer wiegt ein „Gesichtsverlust, zum Beispiel als Folge von Verstößen gegen die von der Gesellschaft als verbindlich erachteten Werte und Normen oder auch nur von uner­füll­ten Erwartungen an seine Person. So ein Gesichtsverlust führt bei den Betroffenen in aller Regel zu großer Verlegenheit oder Schamgefühl und stört damit die nach Konfuzius gelten­den Prin­zi­pien für die zwischen­menschlichen Beziehungen, die vor allem der Her­stellung und Erhal­tung der sozialen Harmonie dienen sollen. Deshalb achten die Chinesen beim Reden wie im Handeln sehr darauf, niemanden leichtfertig zu beschä­men, sondern bemühen sich vielmehr, ihnen „Gesicht zu geben".

    Die europäischen Kollegen hatten damit in der Regel ein Problem, denn ihr ganzes Reden und Handeln ist traditionell viel stärker durch selbstbewußtes, intellektuelle Überlegenheit aus­strah­lendes Auftreten und durch eine gelegentlich sehr aggressive, unerbittlich fordernde Rhe­to­rik geprägt. Sie konfrontieren ihre Gesprächspartner üblicherweise gleich zu Beginn mit den harten Fakten und liefern dann ihre Begründungen nach, während die Chinesen es gewohnt sind, zunächst erst mal – nach europäischem Verständnis – „lange um den heißen Brei" herum­­zureden, um sich dann ganz langsam und allmählich an die relevanten Aussagen heran­zutasten. Sie fühlen sich oft düpiert von dem konfrontierenden westlichen Gesprächs­stil, wäh­rend die Europäer häufig gelangweilt und schon ermüdet sind, wenn ihre chine­sischen Ge­sprächspartner endlich auf den Punkt kommen. Auch das Gesprochene selbst, die inhaltliche Aus­sage wird unterschiedlich bewertet – die Schwerpunkte liegen hier auf der Logik und dort auf dem chinesischen Verständnis von Vernunft. Während eine Aussage für Europäer vor allem logisch sein muß, gilt es den Chinesen als entschei­dender, daß sie auch vernünftig ist im Sinne einer Übereinstimmung mit der menschlichen Natur, seiner Behut­sam­keit, Geduld und Selbstzurücknahme in den zwischenmenschlichen Bezie­hun­gen sowie in der Vermei­dung aller Extreme. Wer sich in einer Auseinandersetzung dem Vorwurf „bu jiang-li", das heißt: „Er redet keine Vernunft", aussetzt, der hat sein Gesicht ver­loren. Das ist die schlimmste Mißbilli­gung. „Alles Unheil kommt davon, daß man den Mund zu weit auftut", lautet ein chinesisches Sprichwort. Deshalb gehen die Chinesen mit sprach­lichen Äußerun­gen gewöhnlich zurück­haltend um und vermeiden Konflikte, wie sie leichthin in Diskussionen durch Rede und Gegen­rede entstehen können. Der Austausch von Informa­tionen und Fak­ten, nach westlicher Auffassung das Hauptziel einer Kommunikation, ist bei chinesischen Gesprächspartnern eher Nebensache; für sie ist die verbale Kommunikation in erster Linie ein Mittel, um Beziehungen zu beeinflussen und zu festigen.

    Für Marketing and Sales hatte Qiang mit Deborah Brown ganz bewußt einen English native speaker eingestellt, denn Englisch war nun mal die Weltsprache schlechthin. Die Globalisie­rung hatte es mit sich gebracht, daß Englisch sich als einheitliche Verkehrs- und Geschäfts­sprache durch­setzte – und das, obwohl um die Jahrtausendwende nur etwa 320 Millionen Men­schen Englisch gegenüber 1,3 Milliarden Menschen Chinesisch als Mutter­sprache hat­ten. Aber China war zu jener Zeit noch in der Entwicklung zur Weltmacht, hatte damals einfach nicht die Bedeutung wie die führenden westlichen Industrienationen, die sich im Ge­schäfts­verkehr und selbst im Tourismusbereich alle des Englischen befleißigten. Inzwischen haben sich die Verhältnisse dramatisch geändert; jetzt ist China die Weltmacht schlechthin. Viele Nicht-Chinesen in aller Welt lernen inzwischen die chinesische Sprache. Nichtsdesto­trotz hatte sich Englisch längst als Weltsprache durchgesetzt und fest etabliert. Auf dem Wege zur Welt­macht hatten mehr und mehr chinesische Jugendliche Englisch in den Schu­len gelernt, um im internationalen Handel bessere Chancen zu haben. Auch dieser Trend hatte die Vormacht­stellung von Englisch weiter unterstützt. Und gerade weil Englisch im Ge­schäftsverkehr so wichtig war, hatte Qiang den Marketing- und Sales-Bereich britisch be­setzt.

    Qiang begrüßte jeden seiner Kollegen per Handschlag, obwohl er eigentlich – wie alle Chine­sen – das in Europa übliche Händeschütteln verabscheute. Aber da er nun mal hier lebte, ver­such­te er, sich den europäischen Sitten so gut wie möglich anzupassen. Während er noch mit jedem seiner Kollegen ein paar freundliche Worte wechselte, hatte Robby den Prosecco eingeschenkt und ging nun herum, um jedem ein Glas anzubieten.

    „So, meine Damen und Herren, begann Qiang feierlich seine Rede, obgleich sie sich seit Jahren untereinander duzten, „um gleich mal ohne Umschweife auf den Anlaß dieser Be­sprech­ung zu kommen: Die Sache ist so gut wie perfekt! Und darauf sollten wir erst einmal anstoßen. Sie erhoben die Gläser und prosteten sich zu. „Ich bin ausgesprochen happy", fuhr Qiang fort, „daß wir gestern so weit gekommen sind. Herr Güssen, der Ge­schäftsführer von Anthropo­Tec, zeigte sich am Ende doch ziemlich kooperativ. Unsere Ab­schätzung des Unterneh­mens­wertes und seiner weiteren Geschäftsaussichten, die ich lange und aus­führ­lich mit ihm disku­tiert habe, machten ihm letztlich klar, daß sein Unternehmen in dieser Form nicht mehr lange würde bestehen können. Mit der derzeitigen kognitiven Per­formance seiner Roboter ist er ein­fach nicht mehr konkurrenzfähig, da helfen ihm auch die Vorteile seiner sicher sehr guten anthro­po­technischen Eigenschaften nicht weiter. Die Kun­den wollen heute einfach immer intel­li­gentere Roboter, und da haben wir eindeutig die Nase vorn. Er hätte dringend in die Verbesserung der kognitiven Performance investieren müssen, aber dazu fehlten ihm die Mittel und das Know-how – vielleicht auch die notwendige Einsicht. Und den besten Zeitpunkt dafür hat er ohnehin schon verpaßt. Das könnte er jetzt auch gar nicht mehr aufholen, und das hat er schließlich eingesehen. Man konnte förmlich spüren, wie sich in ihm die Resignation breit­machte, obgleich er sehr bemüht war, sich nichts davon anmer­ken zu lassen. Und dann ging es nur noch um die Konditionen. Er wollte natürlich noch möglichst viel herausholen – für sich, aber auch für seine Mitarbeiter. Er selbst wird sich wohl zur Ruhe setzen, jedenfalls hatte ich diesen Eindruck. So deutlich hat er es nicht gesagt. Immerhin ist er bereits über sechzig und finanziell gut versorgt, wozu wir ja jetzt auch noch etwas bei­tragen. Das wird also nicht das Problem sein. Wichtiger ist ihm seine Ver­ant­wor­tung gegenüber seinen Mitarbeitern, und das ehrt ihn. Er hat zirka 80 Leute ohne die freien Mit­arbeiter. Wenn wir die alle übernehmen würden, hätten wir ´ne ganze Menge Re­dundanz – aus wirtschaftlicher Sicht nicht sinnvoll. Wir können nur die übernehmen, die uns das Know-how mitbringen, das uns fehlt, bezie­hungs­weise wo die besser sind als wir – also vor allem im anthropo­technischen Bereich. Nur so haben wir einen Synergiegewinn."

    Bei dem Wort bekam er ganz glänzende Augen und kam fast ins Schwärmen: „Stellt euch das mal vor, Leute, wir verlieren auf einen Schlag einen unserer größten Konkurrenten und gewin­nen gewissermaßen für ´nen Appel und ´nen Ei", er beherrschte das Deutsch schon wie seine Muttersprache, „genau die Kompetenz, die wir bisher nicht in dem Maße hatten, um wirklich ‚Spitze’ zu sein. BrainTech und AnthropoTech vereinigt – das ist nicht mehr zu toppen, jedenfalls kann uns in Europa keiner mehr das Wasser reichen. Wir werden eine ganz neue Roboter-Generation entwickeln, eine Symbiose aus den hervorragenden kog­ni­tiven Fähigkeiten unserer Roboter mit den ausgezeichneten anthropotechnischen Eigen­schaften derer von AnthropoTech. Damit werden wir unschlagbar sein."

    Nachdem er sich so eine Weile fast in den Rausch geredet hatte, kehrte allmählich wieder die Sachlichkeit zurück.

    „Eine andere Frage, die wir noch zu klären haben, ist die Standortfrage: Was machen wir mit dem Standort Leipzig? Geben wir ihn auf? Und wann? Und wie können wir dabei noch ein gutes Geschäft machen? Ich denke, es macht einfach keinen Sinn, den Standort mit seiner Infrastruktur zu erhalten, gab er gleich selbst die Antwort. „Dann brauchten wir auch wieder mehr Personal dort. Es ist in jeder Hinsicht effektiver, den Standort zu schließen und die Leute, die wir brauchen, hierher zu holen. So deutlich habe ich das Thema gestern noch nicht angesprochen, aber wir werden in diesem Sinne verhandeln müssen. Ich bin sicher, Güssen wird das letztlich akzeptieren – er ist selbst Geschäftsmann und kennt die ökono­mischen Erfor­dernisse. Wir werden aber seinen Mitarbeitern, die wir nicht übernehmen kön­nen, sicher eine Abfindung zahlen müssen, das erwartet er von uns. Und anders werden wir wahr­schein­lich auch gar nicht aus den Verträgen mit ihnen herauskommen.

    „Ist da schon über Zahlen gesprochen worden?", fragte Sandrine.

    „Nein, soweit sind wir gar nicht gekommen; Güssen gab hier nur generell seiner Erwartung Aus­druck."

    Er machte eine kurze Pause, und da keine weitere Frage kam, fuhr er fort: „Wir müssen also jetzt sehr kurzfristig, und er legte die Betonung deutlich auf das „kurz, „folgende Action Items behandeln: Erstens alle juristischen Fragen im Zusammen­hang mit der Geschäfts­übernahme klären, Sandrine. Und denk auch an deren Patente, die sind sehr wichtig für uns. Zweitens die Personalfrage, also welche Leute sollten wir über­nehmen und welche nicht – das müßt ihr zu­sammen entscheiden: Sandrine, Deborah und Lothar; zu diesem Zweck habe ich mit Güssen vereinbart, daß er uns eine Liste seiner Mitarbeiter mit deren Personalprofil zuschickt. Drittens eine erste Abschätzung der Gesamtkosten für die Übernahme einschließ­lich aller möglichen beziehungs­weise notwendigen Abfindungs­zahlungen, Betriebs­­­­schlie­ßungs- und Über­­führungs­kosten, eventuell notwendige Erweite­rungen am hiesigen Standort und so weiter, da bist du gefordert Susanne. Viertens Einsichtnahme in die technische Doku­mentation, sobald dies möglich ist, und Identi­fi­zierung der für unsere weitere Produkt­entwick­lung relevanten und interessanten Potentiale – darum kümmerst du dich mit deinen Ingeni­eu­ren, Lothar. Und fünftens, Deborah, du analy­sierst den Kundenkreis von Güssen und die sich für uns ergebenden zusätzlichen Geschäfts­potentiale noch einmal etwas ge­nauer. Du könntest auch schon mal ein Schreiben vorbereiten, mit dem wir alle Kunden von Güssen bezüglich der Geschäftsübernahme informieren, und in dem wir ihnen gleichzeitig unsere Produkte und Dienstleistungen anbieten, et cetera, et cetera; du weißt schon. Ich selbst ent­werfe einen groben Zeitplan für den Gesamtvorgang, den wir dann mit zuneh­mender Klärung des Prozesses gemeinsam verfeinern werden. Also, wie sagt ihr Deutschen doch immer: ‚Es ist viel zu tun, packen wir es an!‘ – aber unsere laufenden Geschäfte dürfen in der Zwischen­zeit nicht darunter leiden!"

    Sie machten einen neuen Termin für das nächste Meeting aus und unterhielten sich an­schlie­ßend noch über diverse Detailfragen, bevor sich die Versammlung gegen frühen Mittag in guter Stimmung auflöste.

    Qiang zog sich in sein Büro zurück, wo er noch einmal in Ruhe alles Revue passieren lassen wollte. Immer wieder ging er gedanklich sein Verhandlungsmarathon mit Güssen und alle gerade besprochenen Punkte zum weiteren Vorgehen durch, immer wieder prüfend, ob nicht vielleicht wichtige Dinge übersehen worden sind, die unter Umständen sogar noch ein Scheitern der Geschäftsübernahme verursachen könnten. Es hing für ihn einfach zu viel vom Erfolg der Aktion ab. Zum einen hatte diese günstige Gelegenheit zu einer nicht unerheb­lichen Expansion seines Geschäfts mit einem Schlage eine überragende Bedeutung für die ganze weitere Entwicklung seiner Firma. Zum anderen aber

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