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Die W-Formel oder das Spiel des Lebens
Die W-Formel oder das Spiel des Lebens
Die W-Formel oder das Spiel des Lebens
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Die W-Formel oder das Spiel des Lebens

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"mal was anderes": Auszug aus einer Rezension v. 02.02.2013 auf Neobooks: "In der Tat ein universelles Werk, was wiss. und phil. Grenzbereiche tangiert. ... Da Erkenntnis bekanntlich die unendliche Annäherung des Denkens an das Objekt ausmacht, bleibt sie im Abschluss unmöglich. Im Umkehrschluss wäre ein Erkenntnisende auch katastrophal, da es gleichbedeutend mit einem Geistesende wäre. Wie ist das also mit den Gedanken? Am Anfang war das Wort, nein die Tat, wie im Faust heißt. Aber wenn man bedenkt, dass die ganze Welt voller Informationen steckt, welche die Dinge treiben und sein lässt, wie sie sind, - ihnen ihre Sinnbestimmung verleiht, bin ich mir da nicht mehr so sicher. Worin liegt nun der Sinn allen Seins, vielleicht nur darin, dass sich das 'Etwas' vom 'Nichts' unterscheiden muss. Während das 'Etwas' durch Widersprüche, Polarisationen (positiv/ negativ/ männlich/ weiblich) gekennzeichnet wird, ist das 'Nichts' nicht zu definieren. Selbst ein Vakuum, bildet einen luftleeren Raum und die Abwesenheit von Etwas hinterlässt noch immer eine Lücke, was ja auch wieder was ist. Hm… eine solch harmonische, widerspruchsfreie und vor alle 'sinnlose' Singularität bereitet Probleme ---
Dass die Welt zu komplex ist, um sie in Gänze zu verstehen, ist bekannt, und daran wird auch dieses Büchlein gewiss nichts ändern. Dennoch ist es überaus interessant, dem Autor in seiner Argumentationslinie zu folgen, wobei sich zweifellos eine beispiellose Vielschichtigkeit von Anregungen und Ideen auf diesem Gebiet auftut.".
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateSep 21, 2013
ISBN9783847627142
Die W-Formel oder das Spiel des Lebens

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    Die W-Formel oder das Spiel des Lebens - Günter Laube

    Vorwort

    »Ich habe keine besondere Begabung, sondern bin nur leidenschaftlich neugierig.«

    (Albert Einstein)

    Wer beim Anblick des Titels befürchtet, dieses Buch erinnert an eine Formelsammlung aus der Schulzeit oder dem Studium oder an eine mehr oder weniger unverständliche wissen­schaftliche Abhandlung, der kann beruhigt werden: Es domi­nieren eindeutig die Buchstaben gegenüber den Zahlen.

    Das W im Titel soll dabei selbstverständlich Assoziationen auslösen. Fußballer mögen an eine Weltmeister-Formel den­ken, Meteorologen an eine Wetter-Formel, Schüler und Stu­denten an eine Weisheits-Formel. Für viele Philosophen und Wissenschaftler dürfte der Begriff der seit längerem gesuchten Welt-Formel naheliegend sein, während es für die Allgemein­heit eine ganz offensichtliche Bedeutung haben kann: die Weiblichkeits-Formel.

    Nun, all diese Aspekte sollen in vorliegendem Werk Berücksichtigung finden. Bei der W-Formel handelt es sich allerdings um keine Formel im herkömmlichen Sinne, sondern »vielmehr um ein physikalisches Prinzip«, wie der Physik-Nobelpreis­träger Steven Weinberg anlässlich einer Wissenschaftler-Ta­gung in Potsdam 1999 in einem Spiegel-Interview vermutete. Und da die Menschen vor allem in frühen Jahren das Leben spielerisch entdecken, kann man es von einer gewissen Seite auch als das Spiel des Lebens betrachten. Also lassen Sie uns ein wenig neugierig sein und Fragen stellen. So wie Kinder ihre Eltern fragen: Wer? Wie? Was? Wieso? Weshalb? Warum?

    Einleitung

    »Ich möchte über Dinge schreiben, die ich nicht verstehe. Wer schuf die Erde und die Meere und alles? Was macht die Sonne heiß? Wo war ich, ehe ich zur Mutter kam? Wie groß ist der Weltenraum? Wer hat ihn erschaffen?«

    (Helen Keller)

    Stille. Langsam hebe ich den Kopf. Mein Blick erfasst die Leh­rerin, die anderen Schüler, die Tische, die Tür, die Tafel. Heute steht eine Klausur auf dem Programm. Zwei Stunden. Grund­kurs. Übermorgen soll dann die nächste Klausur bewältigt werden, in einem weiteren Fach. Und in den anderen Fächern werden in den nächsten Wochen ebenfalls Klausuren auf dem Stundenplan stehen. Einige unseres Kurses sind fleißig dabei und schreiben und schreiben. Sie scheinen die Aufgabe ver­standen und die richtigen Gedanken gefasst zu haben. Hat die Lehrerin beim Ausarbeiten der Aufgaben für die Klausur die­selben Gedanken gehabt? Auf welchen Wegen kommen die in die Gehirne von uns Schülern? Wenn die Lehrerin mit uns allen in einem Raum sitzt, müssten dann nicht alle die gleichen Gedanken haben und die Antworten wissen? Fragen über Fra­gen.

    Zurück zum Thema: Wer sich mit der W-Formel auseinan­der setzen will, landet früher oder später unvermeidlich bei zwei einander scheinbar widersprechenden Thesen. Sowohl zur allgemeinen als auch zur speziellen Erklärung der Welt und aller damit verbundenen Dinge wie Weiblichkeit oder Weisheit herrscht in der (natur-)wissenschaftlich geprägten Anschauung die Meinung vor, dass sich der Mensch über ei­nen langen Zeitraum von Jahrmillionen über verschiedene Formen eines einfachen Organismus, mehrzellige Lebewesen, niedere und höhere Tiere schließlich aus einem Affen entwi­ckelt habe. Der andere Pol wird von religiös eingestellten Personen vertreten, die der Ansicht sind, dass Gott die Welt und den Menschen geschaffen habe. Ende der Durchsage.

    Bei beiden Meinungen existieren diverse Nuancen und Ab­stufungen, und in gewisser Weise sind sie sogar berufsbedingt per Definition geistiges Eigentum nicht weniger Menschen. Ein Angehöriger des Vatikans, einer Kirche etc. wird in der Regel ein Anhänger der Gottes-Variante sein, während ein (Natur-)Wissenschaftler zumeist die Theorie der Entwicklung des Menschen aus untergeordneten Tieren vertreten wird. Doch beide Seiten scheinen den wahren Schlüssel für das Ver­ständnis der Zusammenhänge in der Welt bzw. das Grund­prinzip noch nicht gefunden zu haben. So berichtete das Ham­burger Abendblatt im August 2011 genauso wie Die Welt im März 2010 von Wirtschafts-, Politik- und Finanzproblemen mit regionalem und überregionalem, ja globalem Charakter. Im März 2010 wurden Gewalt und Missbrauch in der Katholi­schen Kirche offenbar, und im September 2010 gab es zwi­schen Israelis und Palästinensern einen »neuen Anlauf im Jahrhundertkonflikt« (Stuttgarter Zeitung). Doch schon im Mai 2011 gab es wieder »Tote bei Protesten gegen Israel« (FAZ).

    Eine einseitige Betrachtung der Welt ist also in dieser Bezie­hung nicht erstrebenswert, weder die religiöse Seite noch die wissenschaftliche scheinen im Laufe der Menschheitsevoluti­on alle Teilprinzipien für die W-Formel erarbeitet zu haben. Für den Hochschulbereich formulierte im November 2000 der Präsident der Berliner Humboldt-Universität, Prof. Dr. Jürgen Mlynek, in einem Interview mit Spektrum der Wissenschaft Leit­linien für eine zukünftige Entwicklung der Universitäten: »Hochschulen müssten der Pflege der Gesamtheit der Wissen­schaften dienen«, und »Forschungsarbeiten auf zukunftsträch­tigen Wissensgebieten setzen interdisziplinäres Arbeiten vor­aus«.

    Auf die W-Formel angewandt bedeutet das, dass man sich also grundsätzlich mit beiden Glaubensrichtungen auseinan­der setzen muss und zu keiner der beiden Theorien uneinge­schränkt ja und Amen sagen, sondern eine Art Mittelweg ge­hen sollte. Um diesen Weg verfolgen zu können, muss man sich konsequenterweise mit beiden Denkrichtungen vertraut machen, gewissermaßen beide Seiten zu Wort kommen lassen. Nur muss man dann das richtige Maß finden, denn sonst geht es einem wie Faust, den Goethe sagen ließ:

    »Habe nun, ach! Philosophie,

    Juristerei und Medizin,

    Und leider auch Theologie

    Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.

    Da steh' ich nun, ich armer Tor,

    Und bin so klug als wie zuvor!«

    Was die Welt im Innersten zusammenhält, beschäftigte nicht nur Goethe, sondern mittlerweile immer mehr Menschen - und auch Wissenschaftler: »Gott oder Physik« titelte GEO im Juni 2008, »Theologen und Wissenschaftler suchen nach dem Ursprung der Welt«, berichtete das Hamburger Abendblatt fünf Monate später, und Universitäten wie zum Beispiel die Uni Köln bieten zur individuellen Qualifizierung zahlreiche Studi­engänge in verschiedenen Fakultäten an.

    Auch Old Shatterhand hatte studiert, bevor er in den Wilden Westen reiste und Winnetou kennen lernte, aber rückblickend erkannte er: »Ein Greenhorn ist eben ein Greenhorn - und ein solches Greenhorn war damals auch ich. ... Ich glaubte im Ge­genteil, ein außerordentlich kluger und erfahrener Mensch zu sein, hatte ich doch, wie man so zu sagen pflegt, studiert und nie vor einer Prüfung Angst gehabt. Daß dann das Leben die eigentliche und richtige Hochschule ist, deren Schüler täglich und stündlich geprüft werden und vor der Vorsehung beste­hen müssen, das begriff mein jugendlicher Sinn damals noch nicht.«

    Da kommt mir die Lebensweisheit meiner Eltern in den Sinn: »Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.« Es reicht also nicht, nur ein guter Theoretiker zu sein, man muss diese Kenntnisse dann auch in der Praxis anwen­den und üben. Schließlich machte auch erst die Praxis und so­mit das Leben Old Shatterhand zu dem, der er war.

    Also lassen Sie uns Fragen stellen! Seit über 40 Jahren beglei­ten uns »Wer? Wie? Was?« auf unserem Weg, oder wie es Thomas Osterkorn, Chefredakteur des stern, im April 2009 et­was konkreter formulierte: »Der Mensch ist das einzige Lebe­wesen, das weiß, dass es sterben muss. Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit macht Angst und wirft Fragen auf: War­um leben wir überhaupt? Was kommt danach? Gibt es ein Le­ben nach dem Tod? Und wenn ja, wie sieht es aus?«

    Um diesen Dingen auf den Grund zu gehen, lade ich Sie zu einer Reise ein. Und zwar sowohl im räumlichen als auch im zeitlichen Sinne. Aber wir nutzen dazu kein Raumschiff und auch kein Auto oder eine sonstige Maschine, sondern vollfüh­ren die Reise in Gedanken. Das hat den Vorteil, dass alle Leser mitkommen können, denn die Plätze selbst in einem großen Schiff wären sonst schnell belegt. Außerdem kostet es keinen Sprit, ist somit umweltschonend und damit zeitgemäß. Wir werden unterwegs auch mal Pause machen, um die Dinge Re­vue passieren zu lassen, und einen Blick auf die Karte werfen, um uns nicht zu verfahren; denn wie schon Daliah Lavi wuss­te: »Die Welt ist groß und kompliziert, so wie ein Labyrinth«.

    Und da wir auf unserer Reise auch kein Gepäck brauchen, können wir uns schnurstracks auf den Weg machen. Die erste Frage lautet: Wen soll man fragen, wenn man etwas nicht weiß?

    Bei der inwischen über zehn Jahre alten Spielshow »Wer wird Millionär?« mit Günther Jauch gibt es mehrere Joker für diese Zwecke, und auch wir werden ohne weitere Quellen nicht auskommen. Versetzen wir uns also kurz in unsere Schulzeit zurück: Der erste Schultag eines jeden Schuljahres diente nicht selten der Quellenbeschaffung; als Schüler musste man sich mit einem Haufen neuer Bücher eindecken, die im I­dealfall aus der Schulbücherei zu entleihen waren. Andern­falls gab es dann abends ein Gespräch mit den Eltern, denen feierlich eine Liste überreicht wurde.

    Die ersten Lehrer eines Kindes sind in der Regel die Eltern, die Großeltern oder ältere Geschwister. Mein Vater wurde so zugleich mein erstes Vorbild, denn er wusste viel, und aus meiner Kinder-Perspektive fast alles. Egal ob Mathe oder Deutsch, Geschichte oder Erdkunde, Englisch oder Franzö­sisch, ja sogar Sport - ich genoss eine umfangreiche (Aus-)Bil­dung, ergänzend zur Schule. Später fand ich heraus, dass er soviel wusste, weil er es selber einmal gelernt hatte, sei es in der Schule, in der Ausbildung, im Beruf oder im Laufe des Le­bens. Historisches, Geographisches und Technisches vertiefte er durch Briefmarken sammeln, einem seiner Hobbys. Es ist ganz erstaunlich, was für Geschichten sich hinter so einer klei­nen Marke verbergen. So war es naheliegend ihm nachzuei­fern, ich würde schließlich auch einmal ein Mann werden. Al­lerdings war das in den jungen Jahren eher unbewusst. Denn er war ja einfach da. Und so nahm ich es ganz natürlich hin. Später sollte es anders werden, als das Selbstbewusstsein an­fing sich zu entwickeln. Aber dahin kommen wir auf unserer Reise noch früh genug.

    Zurück zu den Quellen und deren Beschaffung: Nicht jeder, der etwas zu erzählen oder mitzuteilen hat, verarbeitet seine Gedanken in einem wissenschaftlich aufgemachten Buch oder Artikel in einer Zeitschrift. Heutzutage gibt es weitere Mög­lichkeiten: Zunächst wäre hier das Buch zu nennen, in dem die Geschichte in Romanform dargestellt wird. Eine andere Möglichkeit ist die der Verfilmung, denn Filme wirken nach­haltig. Wem ist zum Beispiel ein Spruch wie »Ich schau dir in die Augen, Kleines?« nicht geläufig?

    »Der Film ist ein Spiegel der menschlichen Seele«, so Dirk Blothner, Professor für Psychologie an der Uni Köln, denn »er führt Zusammenhänge anschaulich vor Augen«, wenn auch vielleicht nicht immer so unmittelbar wie im bildgewaltigen »Jenseits von Afrika«. Das Prinzip jedoch wird auch in der Slapstick-Komödie »Is' was, Doc?« verdeutlicht: »Ist das nun Zufall?«, fragte (sich) Howard Bannister, als er Barbra Strei­sand auf dem Klavier fand. Sie hatte Politische Wissenschaf­ten, Geologie, Musikkunde, Literaturwissenschaften, Archäo­logie und Semantik studiert.

    »Was wolltest du überhaupt werden?«

    »Ein kluges Kind«. Und während des Studiums galt: »Ich hab' 'nen ganzen Schwung Bücher gelesen und war ziemlich oft im Kino.«

    Im Film werden Bild und Ton verarbeitet, doch eine der wohl ältesten Möglichkeiten der Menschheit zu kommunizie­ren, ist nur der Ton, die Musik: eine der direktesten Arten, sei­nen Gegenüber zu erreichen. Man muss sich nur an die Szene­rie in einer Disco oder auf einem Konzert erinnern. Das gilt Generationen-übergreifend, etwa bei Klängen von John Miles und »Music was my first love«. Ebenso werden viele beim Hö­ren des Songs »Mrs. Robinson« von Simon & Garfunkel an den Film denken, oder beim Lesen des Buches an das Lied. Wem würde bei der Titelmelodie vom »Weißen Hai« nicht ein gewisses Bild im Geiste aufsteigen? Wer hätte nie bei einem Sport-Event den Queen-Klassiker »We are the Champions« gehört und eventuell sogar mitgesungen? Und was wäre ein Film wie »Dirty Dancing« ohne Musik? Undenkbar!

    Oder wie die Queen of Pop es ausdrückte: »Music makes the people come together, yeah!« (Madonna, Music)

    Speziell seit den späten 1990er Jahren stellt das Internet eine mehr als umfangreiche Quelle dar, Zeitschriften und Zeitun­gen runden das Angebot weitestgehend ab. So baut sich also das für dieses Buch verwendete Quellenverzeichnis zunächst aus sechs Kategorien auf: Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Fil­me, Musik und Internet-Artikel. Des Weiteren kommen Quel­len persönlicher Natur hinzu, so das Tagebuch von meiner Großmutter mit Erinnerungen aus der Zeit des Zweiten Welt­kriegs. Da es nicht öffentlich zugänglich ist, werde ich es im entsprechenden Kapitel im Original wiedergeben. Eine weite­re Quelle stellt das sich vor allem in jüngerer Vergangenheit verstärkt etablierende Public Viewing, eine andere das Radio dar. Dazu gesellen sich Erfahrungen aus meinem Studium, die Lebensweisheit meiner Eltern, die sie mir in den 1980er Jahren beigebracht haben: »Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir!«, und meine eigene Lebenserfahrung, die ich im Laufe von vier Jahrzehnten gesammelt habe. Wie ich in­zwischen herausgefunden habe, gilt die Weisheit meiner El­tern nicht nur für die Schulzeit, sondern für das ganze Leben. Da jeder sein eigenes, individuelles Leben und somit auch sei­ne eigenen Erfahrungen macht, werde ich meine jeweils an ei­nem allgemein verständlichen Beispiel erläutern.

    Da auch die interessanteste Reise mit ein wenig Esprit ange­nehmer gestaltet werden kann, werden wir Anekdoten des »Grandseigneur des deutschen Humors«, Loriot, (Stuttgarter Zeitung) genauso begegnen wie Autobiografien, zum Beispiel der von dem »Geheimagenten wider Willen« Thomas Lieven, die Johannes Mario Simmel zu Papier brachte. Lieven war nicht sein richtiger Name, aber aus gewissen Gründen war die Nutzung dieses Namens unumgänglich. Daher werde ich, wenn ich auf dieses Buch bzw. diese Geschichte eingehe, auch bei diesem Namen bleiben. Lieven hatte zwei Schwächen: Frauen und Kochen, und während seiner unfreiwilligen Agen­tentätigkeit lernte er in Frankreich auch Josephine Baker ken­nen. Von dieser Szene leitet sich auch der Titel des Buches »Es muss nicht immer Kaviar sein« ab. Es kam 1960 auf den Markt, fand sich im Bücherschrank meiner Eltern und hat mir gewisse Einblicke in die Geschehnisse während des Zweiten Weltkriegs aus der Perspektive eines »Augenzeugen« ermög­licht. Es ist eine Autobiografie in Romanform und gehört da­mit zu meinen bevorzugten Büchern. Denn »je näher man am Ball ist, um so besser« (Helmut Schön).

    Eine Erfahrung, die auch die fernab der Zivilisation im indonesischen Urwald aufgewachsene Sabine Kuegler in ihrer Autobiografie »Dschungelkind« beschreibt: Sie las zahlreiche Zeitschriften, um ihre Kenntnisse auf den »westlichen Stand« zu bringen, nachdem sie als Siebzehnjährige zurück nach Eu­ropa kam und somit auf eine Schule nach westlichem Modell gelangte. Diese Zeitschriften entstammten allen Sparten unse­rer mehr als vielfältigen Kulturlandschaft. Immerhin hatte sie aus den Zeitschriften und aus Gesprächen mit (Schul-)Freun­dinnen genug gelernt, um im europäischen Großstadt-Dschungel zu überleben. Dieses Prinzip werden wir auf unse­rer Reise auch verfolgen.

    Ebenfalls ganz nah am Ball war Albert Schweitzer, der Theo­logie, Philosophie und Medizin studierte. Mehrere Jahrzehnte lebte er in Lambarene, im heutigen Gabun, in Westafrika, so auch von 1939 bis 1948, während des Zweiten Weltkrieges. Als er im August 1948 nach Europa kam, machte er die Erfahrung, »daß durch den Krieg und seine Greuel die Menschen für die Idee der Ehrfurcht vor dem Leben noch empfänglicher gewor­den waren.« Eine Beobachtung, die er im darauf folgenden Jahr in den USA bestätigt fand. Hier machte er die Bekannt­schaft von Ärzten, die ihn 1942 mit einer großen Medikamen­tenlieferung just zu dem Zeitpunkt unterstützten, als er im - von der Welt, die mit dem Weltkrieg beschäftigt war - nahezu abgeschnittenen Lambarene diesen Nachschub dringend brauchte.

    Alle angesprochenen Quellen gehören zum Kulturgut der Menschheit. Also sollte man darauf auch zurückgreifen, um etwas derart Umfassendes wie die W-Formel darzustellen. Denn die Welt ist groß und kompliziert!

    I. Was?

    »Möchtest du sehen, wo die Zeit herkommt?«, fragte Meister Hora Momo.

    (Michael Ende, Momo)

    Anlässlich des Einstein-Jahres 2005 wurden im April-Heft von Bild der Wissenschaft die »7 Rätsel der Physik« präsentiert. Ne­ben den altbekannten Fragen nach Materie, Masse und Zeit lautete die siebte Frage: Gibt es die Weltformel? Eine einzige, alles erklärende Formel, ein alter Traum der Physiker. Doch wie es in dem Artikel heißt, scheint der Weg zu dieser Formel noch weit zu sein, auch rund sechs Jahre nachdem sich die Physiker-Elite im Jahre 1999 in Potsdam zu einer Konferenz über die Weltformel getroffen hatte. Fast 400 theoretische Phy­siker haben es damals nicht geschafft, und im Mai 2006 schrie­ben die Kieler Nachrichten: »Irrte Charles Darwin? Neue Debat­te um moderne Evolutionstheorie«.

    Das legt die Vermutung nahe, dass hier in der Tat ein interdisziplinärer Ansatz hilfreich sein könnte. So wie es Erwin Schrödinger verfolgte, der sich fragte »Was ist Leben?« und als Physiker die Welt der Biologie betrachtete, oder aus Sicht eines Universalgelehrten wie Alexander von Humboldt. Es sei denn, wir würden ein kleines Mädchen von acht oder zwölf Jahren mit einem wilden, pechschwarzen Lockenkopf, das nichts besitzt als das, was es findet oder geschenkt erhält, und eine Schildkröte treffen, die uns den Weg zu Meister Secundus Minutius Hora, dem Meister der Zeit, und seiner Allsichtbrille zeigen könnten. Denn mit dieser Brille könnten wir alles se­hen.

    Michael Endes »Momo«, das Kind, das den Menschen die von den Zeit-Dieben, den grauen Herren, gestohlene Zeit zu­rückbrachte, begegnete mir zum ersten Mal in der Schule, in Form eines Hörspiels. Gewisse Elemente werden uns auch auf unserer Reise begegnen, aber so lange wir Momo und Kassio­peia am südlichen Rand einer großen Stadt, in der Ruine eines alten Amphitheaters, nicht treffen, werden wir auch den Weg zum Nirgend-Haus in der Niemals-Gasse nicht finden. Und somit auch nicht die kleine goldene Allsichtbrille. Insofern gilt es, ein weiteres Prinzip anzuwenden, das Momo verfolgte: Sie konnte zuhören. Mit Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Und den Leuten kamen auf einmal Gedanken, die ihnen bei ihren Problemen weiterhalfen. So wollen auch wir zuhören und uns dann weiterführende Gedanken machen. So wie früher, als wir Kinder waren.

    Vertrauen wir nun gleich am Anfang unserer Reise auf die Erfahrung von Momos Freund Beppo Straßenkehrer: »Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächs­ten Atemzug, an den nächsten Besenstrich«.

    Und damit kommen wir zurück zu meiner Klausur. Trotz­dem ich jetzt theoretisch gerüstet bin und mir eine Menge Quellenmaterial zur Verfügung steht, finde ich in die erste Frage nicht rein. Mein Nachbar hingegen scheint die richtigen Gedanken gefunden zu haben. Er beschreibt Seite um Seite. Andere im Raum schreiben ebenfalls. Ich kann nicht lesen, was mein Nachbar schreibt, jeder hat seinen eigenen Tisch. Er sitzt einen Meter von mir entfernt. Ich muss mir also meine eigenen Gedanken machen. Irgendwie komisch, immerhin scheinen die Gedanken mit den Lösungen für die Aufgaben ja in diesem Raum zu sein. Aber egal, ob zehn oder einen Meter entfernt, mein Gehirn steht irgendwie nicht auf Empfang. Vielleicht liegt das daran, dass die anderen mehr gelernt ha­ben? Im Idealfall genau das, was heute abgefragt wird? Das ist es, genau! Ich habe einfach nur das Falsche gelernt.

    Aber wie ist das allgemein mit den Gedanken? Immerhin sind wir nicht die Einzigen, die diese Klausur schreiben, im Nachbarkurs gibt's die nächste Woche, in anderen Schulen der Stadt ebenfalls in diesen Tagen, und in den anderen Schulen im Land, in Europa, ach was, überall in der Welt sicherlich auch! Ja, im Prinzip kann die Gedanken doch jeder haben, un­abhängig davon, wo er ist. Und in zeitlicher Hinsicht gibt es auch keine Beschränkung. Mein jüngerer Bruder wird Ähnli­ches denken und verarbeiten müssen, wenn er in ein paar Jah­ren in dieser Klasse ist. Gedanken existieren also jenseits von Raum und Zeit, würde ein Physiker wohl sagen. Haben sie denn auch elektromagnetischen Charakter, breiten sich wie Wellen aus? Ein Physiker wäre wohl auch der geeignetste, um Gedanken zu beschreiben. Denn gleich müssen sie sein, der Mensch übersetzt sie gewissermaßen nur in seine Sprache. Aber Form, Farbe und Klang bleiben immer gleich. Nur dass der Engländer blue, der Franzose bleue und der Deutsche blau sagt. Aber zeigt man allen eine blaue Wand, meint jeder das gleiche.

    Andererseits scheint es auch vollkommen individuelle Ge­danken zu geben, wie im Falle von Albert Einstein, denn nur er hat die Relativitätstheorie formuliert und die Gedanken dafür entwickelt. Oder wie bei Newton, dem der Gedanke der Schwerkraft fast in den Schoß fiel. In Form eines Apfels.

    Die Lehrerin hatte den Gedanken schon, als sie uns die Auf­gabe gestellt hat. Aber wozu hat sie die Aufgabe erstellt? Wenn wir mal davon absehen, dass die Aufgabe ein Teil der Klausur ist, die ihrerseits wiederum ein Teil der Gesamtnote im Zeugnis ausmacht, dann doch aus dem Grund, dass wir unseren Geist entwickeln, dass wir lernen, oder vereinfacht ausgedrückt: Damit wir schlauer werden. Oder intelligenter. Dies könnte ein Grundprinzip sein, denn sowohl Newton als auch Einstein hatten Lehrer und sind zur Schule gegangen, aber die Gedanken, die sie nachher ausformulierten, hatten eben sie, und nicht ihre Lehrer. Offenbar gibt es also Gedanken, die von vielen verarbeitet werden können, einige, die von einer kleinen Anzahl an Menschen, und äußerst wenige Ge­danken, die nur von einzelnen Menschen verarbeitet werden können. Woher kommen aber diese Gedanken? Was genau sind Gedanken?

    Das sind schon knifflige Fragen, doch wir wollten ja einen Schritt, Atemzug, Besenstrich nach dem anderen machen. Widmen wir uns also wieder der W-Formel: Unsere erste Sta­tion führt uns in das 19. Jahrhundert, genau ins Jahr 1881: In den USA, in Alabama, in der Stadt Tuscumbia lag das Anwe­sen Ivy Green. Hier wohnten die Kellers. Vater Arthur war Offizier der konföderierten Armee gewesen, Mutter Kate war Anfang zwanzig, einige Jahre jünger als ihr Mann und hatte vor zwei Jahren ihr erstes gemeinsames Kind bekommen: He­len. Im Frühling stellten die Eltern der zweijährigen Helen Keller fest, dass sie blind und taub war. Infolge einer wenige Monate zuvor erlittenen Krankheit. Mehrere Ärzte bestätigten in den folgenden Tagen die Diagnose und fügten stets hinzu, dass keine Aussicht auf Heilung bestand. In dieser Zeit wur­den Taubblinde wie Geisteskranke behandelt, ein so genann­tes normales Leben war für solche Menschen ausgeschlossen, ebenso für deren Angehörige - soweit sie sich denn um das kranke Kind kümmerten. Die dritte Fertigkeit, die sie schließ­lich verlor, war das Sprechen. Der Hausarzt von Arthur und Kate Keller erklärte ihnen, dass dies leider zu solch einer Er­krankung dazu gehöre, da sie nicht hören kann, was sie spricht. Wiederum einige Zeit später setzten sich die beiden mit Erziehungsgedanken auseinander. Ob es einen Erzieher gäbe, der trotz »dreifacher Ohnmacht« den Geist von Helen erreichen könnte. Ausschlaggebend war die Feststellung, dass Helens Tast- und Geruchssinn nicht nur funktionierten, son­dern sogar - soweit möglich - die Disfunktion der übrigen Sin­ne kompensierten. Die Jahre zogen ins Land, und im Sep­tember 1886 stießen die Kellers auf Charles Dickens' »Reise­notizen über Amerika«, in denen er von der Erziehung eines taubstummen und blinden Mädchens berichtet. Ihr Name war Laura Bridgman, ihr Erzieher Doktor Samuel Gridley Howe, Leiter der Perkinsschen Blindenanstalt in Boston. Nach entsprechenden Erkundigungen veranlassten einige weitere Punkte Arthur und seine Frau schließlich, dass er mit Helen eine Reise unternahm. Von den Südstaaten in den Norden, zu­nächst nach Baltimore, was im 19. Jahrhundert eine nicht un­erheblich längere Reise als heutzutage war. Es ging mit der Ei­senbahn, und so bekamen auch andere Menschen die kleine Helen zu Gesicht, die bisher kaum das elterliche Grundstück verlassen hatte. Nachdem Helen und ihr Vater diverse Rat­schläge von fremden Mitreisenden überstanden hatten, trafen sie Doktor Chisholm, eine Kapazität auf dem Gebiet der Au­genheilkunde. Eine Mitreisende gab Keller den Rat, das Kind einschläfern zu lassen, da es falsches Mitleid wäre, das Kind am Leben zu erhalten. Arthur Keller wechselte daraufhin mit seiner Tochter das Abteil und hoffte nun, dass Chisholm ihnen weiterhelfen könne. Zunächst konnte er das nicht, sondern be­stätigte die Diagnose der lebenslangen Taubblindheit. Aber auf die Bemerkung Kellers, dass Helen immer weiter wie ein Tier leben müsse, empfahl er ihm, eine geeignete Lehrerin zu suchen. Und er konnte ihm einen Kontakt vermitteln: Doktor Alexander Graham Bell, den Erfinder des Telefons. Er war ur­sächlich Taubstummenlehrer und wohnte in Washington. Ar­thur und Helen fuhren also weiter. Nach Washington. Und Bell konnte weiterhelfen, er konnte von einem weiteren Bei­spiel berichten, einer Französin, die ebenfalls taubstumm und blind war und trotzdem erzogen worden war. Nur wusste er nicht, von wem.

    Noch am Tage der Rückkehr nahm Arthur Keller Kontakt zu Michael Anagnos auf, dem Leiter der Blindenanstalt in Boston. Anagnos war Howes Schwiegersohn und antwortete per Brief, dass er sich nach einer geeigneten Lehrkraft umsehen werde. Was er auch tat. Er beriet sich mit der ersten Pflegerin des In­stituts, Miss Hopkins, die dort seit 20 Jahren arbeitete. Doch diese hielt die Erzieherinnen, die in den letzten Jahren ihr Ex­amen abgelegt hatten, für zu jung, um eine solch schwere Auf­gabe zu bewältigen. Auch die in den Augen von Anagnos be­gabteste Pflegerin, die im Alter von 14 Jahren 1880 selbst als Patient blind und halb verhungert nach Boston gekommen war und ihr Augenlicht durch Operation wiedergewann, war nach Ansicht von Miss Hopkins der Aufgabe nicht gewach­sen. Denn sie hatte noch nie mit taubstummen Kindern gear­beitet und erst im Jahr zuvor ihr Examen gemacht.

    Schließlich galt es abzuwägen: Einerseits würden die Kinder und Kollegen die Zwanzigjährige hier in Boston vermissen, andererseits dürfte es so gut wie ausgeschlossen sein, irgend­wo in Amerika eine geeignetere Person zu finden. Der Kom­promiss lautete: Sie soll selbst entscheiden.

    Als Anagnos der Zwanzigjährigen die schwierige Aufgabe wenige Tage später erläuterte, brachte er auch die Erkenntnis­se von Doktor Bell zur Sprache, der dem Kind Lebendigkeit und Intelligenz in auffälligem Maße zuerkannte. Abschließend gab er ihr drei Tage Bedenkzeit, denn eine solche Entschei­dung sollte nicht überstürzt gefällt werden. Von Boston nach Tuscumbia am Tennessee umzuziehen, das vom Sezessions­kriege noch verwüstet war, war keine Kleinigkeit, ihr Leben würde sich sehr verändern, auch den äußeren Umständen nach. Von der Großstadt in die Provinz. Der Direktor erklärte ihr auch, dass von ihr keine Wunder erwartet würden. Sollte das Experiment scheitern und sie es gegebenenfalls abbrechen, würde ihr kein Vorwurf gemacht werden.

    Die junge Pflegerin brauchte jedoch keine drei Tage, sie war eine Frau, und Frauen entscheiden Dinge gerne mal aus dem Bauch heraus. Während ihr Bauch noch im Zimmer des Direk­tors die Reise nach Süden antrat, beschäftigte sich ihr Kopf in den folgenden Tagen und Wochen mit den Aufzeichnungen von Doktor Howe über die Erziehung von Laura Bridgman.

    Ende Februar 1887 trat sie dann ihre Reise in den Süden an, der Kopf folgte dem Bauch. Miss Hopkins, die sie wie eine Tochter behandelt hatte, erklärte ihr zum Abschied, dass sie wahrscheinlich die größte Aufgabe ihres Lebens vor sich habe, und dass sie ihr in schwerer Stunde schreiben solle. Die junge Pflegerin versprach es, stieg in den Zug und trat die Reise in ein neues Leben an. Im Gepäck hatte sie eine Puppe und einen langen Brief in Blindenschrift, mit Grüßen von den Kindern der Perkinsschen Blindenanstalt, von denen sie sich auf emo­tionale Weise verabschiedet hatte. Auch wenn sie sie sehr ver­missen würden, fanden die Kinder es doch richtig und wichtig, dass sie das kleine Mädchen in Alabama aus ihrer stillen, dunklen, schwarzen Welt herausholen wollte.

    Nach sieben Jahren in Boston kam die junge Frau am 3. März 1887 in Tuscumbia an. Sie wurde von Kate Keller erwar­tet, herzlich empfangen und mit einem kleinen Pferdewagen nach Ivy Green gebracht. Dort lernte sie alsbald ihren Schütz­ling, Helen Keller, kennen. Die Erziehung der Taubblinden, die bis dahin in gewisser Weise wie ein wildes Tier gelebt hat­te, konnte beginnen, und in späteren Zeiten sollte es auf der ganzen Welt keine Biografie Helen Kellers geben, die nicht auch von Anne Sullivan gehandelt hätte, der jungen Erzieher­in aus Boston, die wenige Monate später in einem Brief an Miss Hopkins schrieb: »Ich weiß, daß die Erziehung dieses Kindes der Hauptinhalt meines Lebens sein wird.«

    Walter Pause fasste die Biografie Helen Kellers in »Das Le­ben triumphiert« zusammen, einem weiteren Exemplar aus dem Bücherschrank meiner Eltern. Auch diesem Werk werden wir auf unserer Reise wiederholt begegnen, denn es bietet für die Prinzipien, die wir suchen, wertvolle Hinweise aus dem Leben.

    Doch jetzt lassen Sie uns einen noch größeren Sprung in die Vergangenheit machen: Abraham, der Urvater von drei Weltreligionen, stammte aus Ur in Chaldäa, dem heutigen Irak. Vor rund 4.000 Jahren soll er dort gelebt haben. Und damit sind wir bei einem Grundthema: der Religion. Oder genauer gesagt: den Religionen. Denn es gibt derer eine ganze Menge.

    II. Welche?

    »Ich könnte losziehen mit der Frage im Kopf: Gibt es Gott? Oder Jahwe, Shiva, Ganesha, Brahma, Zeus, Ram, Vishnu, Wotan, Manitu, Buddha, Allah, Krishna, Jehowa?«

    (Hape Kerkeling)

    Abraham gilt den drei monotheistischen Religionen Juden­tum, Christentum und Islam als Stammvater. Er ist im Allge­meinen deswegen bekannt, weil er noch im hohen Alter von 100 Jahren einen Sohn mit seiner Frau Sara, die bereits 90 Jahre alt war, zeugte und diesen später auf Gottes Geheiß opfern sollte. Was er auch durchzuführen gedachte. Doch im letzten Moment erschien ihm ein Engel, und Abraham opferte statt seines Sohnes einen Widder, der sich in einem nahen Ge­strüpp verfangen hatte. Der Name Abraham bedeutet »Vater der Menge«, und in der Bibel steht, dass Gott ihm sagte: »Du wirst Stammvater einer Menge von Völkern« (Genesis 17,4). Der Ausgangspunkt dieser Religionen liegt in einem geographisch sehr engen Gebiet, auf der arabischen Halbinsel, im Nahen Osten. Damit haben wir bereits drei Weltreligionen benannt, doch welche gibt es noch?

    Einige Jahrhunderte vor Christus lehrten Buddha, Lao-Tse und Konfuzius in Indien und China. In Indien war der Hindu­ismus die dominierende Religion, die älteste polytheistische Religion der Welt. Sofern man von den Naturvölkern absieht, die Naturreligion praktizierten. Die alten Griechen wiederum hatten ihre Mythologie, in Persien gab es Zoroaster, auch Za­rathustra genannt, und Manitu dürfte jedem ein Begriff sein, der jemals Indianergeschichten gehört oder gelesen hat. Es gibt also in der Tat eine Fülle von Religionen, doch »was nützt Religion?«

    Mit dieser Frage provozierte das Nachrichtenmagazin Focus im Dezember 2006 seine Leserschaft. Kurz vor Weihnachten machte sich jeder so seine Gedanken ob dieses Themas. Denn grundsätzlich ist es eine berechtigte Frage. »Mal abgesehen von der Wahrheitsfrage, macht der Glaube glücklicher und ge­sünder? Dient er der Gesellschaft? Oder gibt es noch andere Gründe, wieso Menschen zu Beginn des dritten Jahrtausends Religion noch brauchen? Was also nützt Religion?«

    Was bringt Menschen zum Beispiel dazu, von überall her nach Mekka zu pilgern, sich an Regeln zu halten, wie fünf tägliche Gebete, den Haddsch zu begehen, die Pilgerfahrt, den Weg, den jeder Muslim einmal in seinem Leben gehen muss.

    Braucht man Religion manchmal oder nur in Ausnahmesitu­ationen? In großer Not und von schwerer Krankheit heimge­sucht verrichtete Robinson Crusoe sein erstes Gebet seit Jah­ren, nachdem er auf der Insel gestrandet war und sich be­wusst wurde, dass er »die Wege der Vorsehung verkannt hat­te«.

    Oder braucht man Religion immer, in allen möglichen For­men und Varianten, wie zum Beispiel in Brasilien? »Im größ­ten katholischen Land der Welt beten Millionen Menschen zu schwarzen Göttern, wächst die Anhängerschaft zahlloser Sek­ten und Naturreligionen«, berichtete Der Spiegel 1978. Es bete­ten Millionen zu heidnischen Göttern, die vor allem afrikani­schen Ursprungs waren; weiße und schwarze Magie, Voodoo und Kulte herrschten unter der Bevölkerung. Althergebrach­ten religiösen Einstellungen und neuen Ansichten begegnen wir auch im Film »Volver - Zurückkehren« oder im Vampir-Film »From Dusk till Dawn«, in dem George Clooney Harvey Keitel, den von Zweifeln geplagten Priester, fragt: »Wie kann Gott existieren, wenn dir und deinen Kindern deine Frau weg­genommen wird?«

    Clooney, der den Verbrecher Seth verkörpert, wird inzwi­schen als Mörder von der Polizei gejagt, und er glaubte bisher nicht an Vampire. Aber angesichts der Tatsachen, mit denen er in der Spelunke konfrontiert wurde, und die in einem orgias­tischen Blutbad endeten, »hatte er seine Lebensmaxime vor 30 Minuten geändert: Was immer da draußen ist und versucht zu uns zu kommen, ist das pure Böse, direkt aus der Hölle. Aber wenn es eine Hölle gibt, aus der diese Monster kommen, dann muss es auch einen Himmel geben, Jakob!«

    Diese Logik entwickelte im indonesischen Urwald auch Sa­bine Kuegler, das »Dschungelkind«, gegenüber Bebe, einem Eingeborenen vom Stamm der Fayu: »Wer ist Tohre?«

    »Er ist der böse Geist; er kommt nachts aus dem Urwald und frisst einen auf. ... Er frisst das Leben im Körper.«

    »Und wie heißt dann der gute Geist?«

    »Was für ein guter Geist? Es gibt keinen guten Geist!«

    »Es muss doch auch einen guten Geist geben, wenn es einen bösen gibt.«

    »Bebe schaute mich verdutzt an. Nein, es gab definitiv kei­nen guten Geist. Wie traurig, dachte ich mir. Jetzt verstand ich, warum die Fayu nachts nicht gern ins Freie gingen«, schreibt das Dschungelkind.

    »Dschungelkind?«, mag sich jetzt mancher fragen, dem sind wir doch eben schon kurz begegnet? Stimmt, und das macht eine kurze Exkursion erforderlich, wir springen in die Mitte des 20. Jahrhunderts: Auf einem Vortrag eines Freundes von Albert Schweitzer entschied sich ein junges Mädchen im Alter von zwölf Jahren, später Entwicklungshelferin zu werden. Die Grundlage lieferten eine Ausbildung zur Krankenschwester und die Heirat mit einem Mann, der später ebenfalls in den Entwicklungsdienst gehen wollte. Nach einer entsprechenden Sprachausbildung und der Geburt ihrer ersten Tochter, Judith, begannen Doris und Klaus-Peter Kuegler ihre Arbeit in Nepal. Dort wurde 1972 Sabine geboren, zwei Jahre später ihr Bruder Christian. Nach einem Zwischenstopp in Deutschland ging es für die Familie am 23. April 1978 nach West-Papua, Indone­sien. Hier lebten Sprachforscher, Anthropologen, Missionare und Piloten zusammen in einer kleinen Siedlung namens Da­nau Bira, mitten im Urwald.

    Sie richteten sich ein, und eines Tages entdeckte Klaus-Peter Kuegler auf einer seiner Expeditionen einen neuen Eingebore­nen-Stamm: die Fayu, die seit Generationen in einem Kreislauf des Tötens gefangen waren. Der Stamm war in vier Gruppen getrennt, die sich gegenseitig befehdeten und jede ihre eige­nen Gebiete hatten. Als über eingeborene Dolmetscher mühe­voll ein erster Kontakt hergestellt werden konnte, wurde der Vater des Dschungelkindes gefragt, was er hier wolle. Er ant­wortete, dass er überlege, ob er mit seiner Familie hierher zie­hen solle, da er mit ihnen leben und ihnen eine Botschaft von Liebe und Frieden bringen wolle. Die Antwort des Fayu-Krie­gers: »Ich möchte nicht mehr Krieg führen und Menschen um­bringen. Bitte komm wieder!«

    Sie verabredeten ein Treffen, drei Monate später. Bei diesem Treffen lernte Sabines Vater Häuptling Baou kennen, der als der gefährlichste und kaltblütigste Fayu-Krieger galt. Dieser gab sein Einverständnis, dass die Kueglers zu ihnen ziehen sollten, und er wies ihnen auch direkt einen Grund und Boden für ihr Haus zu: in der neutralen Zone zwischen allen vier Stämmen. Zur weiteren Arbeit zog 1980 die ganze Familie in das »Verlorene Tal«, in die Nähe eines Stammes, bei dem es noch Kannibalismus gab und Gewalt und Brutalität zum All­tag gehörten. Auch gegenüber den eigenen Frauen.

    Sabine war sieben Jahre alt, als die Familie umzog, und viele Jahre später, als sie beurteilen konnte, wie es in Europa und in Deutschland aussah, brachte sie ihre Erinnerungen zu Papier. Der Name »Dschungelkind« ergab sich quasi von selbst: »Ich lernte den Dschungel zu respektieren und ihn auch zu beherr­schen, soweit das einem Menschen möglich ist. In den Wo­chen und Monaten nach unserer Ankunft wurde ich wie Tua­re: ein Kind des Dschungels.«

    Tuare war ein Fayu und der beste Freund und Spielkamerad von Sabine. In den folgenden Jahren tauten die Fayu-Kinder allmählich auf. Sie waren seit jeher in der Spirale von Hass, Angst und Tod gefangen, kannten keine Spiele, es galt die Blutrache. »Keine Liebe, keine Vergebung, keinen Frieden und keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft«, schreibt das Dschungelkind. Die Sterblichkeitsrate lag bei 70 Prozent für Neugeborene, die Lebenserwartung betrug 30 bis 35 Jahre. Die Fayu wussten keinen Ausweg aus dem Gesetz der Blutrache - auch wenn sie eigentlich Frieden wollten und keinen Tod. Klaus-Peter Kuegler und seine Familie waren für sie die Hoffnung, aus dem Teufelskreis ausbrechen zu können.

    Unsere Exkursion nach West-Papua der 1980er Jahre ist da­mit beendet, wir werden auf unserer Reise allerdings immer mal wieder hierher zurück kehren. Doch zunächst halten wir uns an das Prinzip. Parallelen zum Schamanismus, im Grunde eine Art Vorläufer von Religion, in der der Kontakt zur Geis­terwelt hergestellt wurde, sind unübersehbar.

    Im Grunde herrscht also überall auf der Welt eine Mischung von verschiedenen Glaubensrichtungen. Auch in Jerusalem, der Heiligen Stadt, herrscht eine Religionsvielfalt, und es ver­geht keine Woche, ohne dass Angehörige einer der drei gro­ßen Religionen eines ihrer frommen Feste feiern. Diese Tatsa­che entstammt dem Marco Polo-Reiseführer »Jerusalem« und dokumentiert, welche zentrale, ja dominante Rolle diese Stadt für Gläubige unterschiedlicher Konfessionen spielt, was sich wiederum auf viele Mitmenschen auswirkt. Durch diverse Ka­lenderreformen und durch die Orientierung der Juden am Mondkalender haben sich zwar die Daten einzelner Feste ver­schoben, doch die Grundprinzipien blieben erhalten. Der Mondkalender wiederum führt uns im Grunde zurück zu den Naturreligionen, die modernen Glaubensrichtungen hingegen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen Verkünder oder Lehrer oder Begründer aufzuweisen haben. Die zahlreichen Götter und Geister, die Hape Kerkeling aufzählte, entstammen verschiedenen Religionen, und jede birgt ihr eigenes Anschau­ungssystem, bis hin zur Wiedergeburt und dem Karma, das in den orientalischen Religionen, dem Hinduismus und dem Buddhismus eine Rolle spielt. Doch welche Religion und wel­che Götter stellen nun die richtige Glaubensrichtung dar bzw. welcher Gott ist der höchste Gott? Oder sind alle Religionen und alle Götter gleich?

    Damit stellt sich eine weitere Frage, nämlich wie eine Reli­gion oder Religion überhaupt zu Stande kommt? Um das zu klären, hilft eine klare Definition, was denn Religion über­haupt ist. Die Herkunft des Wortes »Religion« ist nicht end­gültig geklärt, gemäß Brockhaus stammt es vom lateinischen »religio«, was »Gottesfurcht« bedeutet und laut Cicero wie­derum zum Verb »relegere« in Beziehung steht: sorgsam be­achten. Eine andere Variante steuern Lactantius und Augusti­nus bei, die »religio« vom Verb »religare« - verbinden - ablei­ten. Dies klingt zumindest plausibel, geht es doch darum, die Verbindung zur göttlichen oder geistigen Welt herzustellen. So wie die Naturvölker es vormachten.

    Um noch einmal aus dem Brockhaus zu zitieren: Bei Religi­on handelt es sich um »ein (Glaubens-)System, das in Lehre, Praxis und Gemeinschaftsformen die >letzten< (Sinn-)Fragen menschlicher Gesellschaft und Individuen aufgreift und zu beantworten versucht. Diese >religiöse Frage< stellt sich in verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten in je an­derer Form.« Die verschiedenen Formen sind im Grunde ent­weder monotheistischer Natur, wie Judentum, Christentum und Islam, oder polytheistischer Natur, wie Naturreligionen und Hinduismus. »Religionssoziologisch lassen sich Religio­nen charakterisieren als Welterklärungs- und Lebensbewälti­gungssysteme.«

    Religion bedeutet also die Verbindung oder auch die Wie­derverbindung mit der geistigen Welt und soll uns dabei hel­fen, das Leben zu bewältigen oder zu meistern. Die meisten Religionen hatten einen Verkünder, einen Propheten, einen Lehrer, einen Begründer. Ist das so, als ob man auf die Tipps oder Ratschläge von anderen, Älteren oder Lehrern hört? Die­se Frage führt uns kurz zurück in meine Kindheit:

    Ein Fußballturnier steht auf dem Programm. Wir müssen zwar fahren, doch zahlreiche Eltern sind da und wollen ihre Sprößlinge anfeuern. Oder mal mit anderen Eltern schnacken. Unser Trainer, mein Vater, hat uns eingehend instruiert, wir haben eine Taktik, das Turnier ist halbwegs ausgeglichen be­setzt, wir könnten bis ins Halbfinale kommen, mit etwas Glück sogar ins Finale. Als wir gegen eine Mannschaft antre­ten, die mit einem eher kleinen Torwart spielt, nimmt er mich kurz vor Anpfiff zur Seite, macht mich darauf aufmerksam und ermuntert mich, mal aus der Entfernung zu schießen. Er weiß, dass ich einen ganz ordentlichen Schuss habe. Während des Spiels ergibt sich tatsächlich eine Situation: Ich bekomme den Ball und

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