Mathildas Buch: Ein Stück Familienheimat
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Unwillkürlich wird Marissa während des Lesens in einen Strudel von Emotionen gezogen, die sie körperlich und seelisch an ihre Grenzen bringen. Das Miterleben der traumatischen Vorfälle von damals vermischt sich mit ihren eigenen nicht verarbeiteten Erlebnissen. Der Schmerz über die bei einem tragischen Unfall tödlich verunglückte Schwester, das schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter, der getrennt lebende Vater.... All das lässt Marissa eine Acherbahnfahrt der Gefühle erleben.
Dank der liebevollen Unterstützung ihrer Großmutter findet sie letztlich den Mut, sich auf den Weg zu machen... hin zur Mutter, zur verlorenen Schwester und zum Vater....
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Buchvorschau
Mathildas Buch - Gudrun Elisabeth Bartels
„Mathildas Buch"
Gudrun Elisabeth Bartels
oder: Ein Stück Familienheimat
Der wahre Roman einer Familie
Der Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg war bei Bauarbeiten entdeckt worden. Die kontrollierte Sprengung der 5-Zentner-Bombe erfolgte am späten Abend und ließ den Himmel über der Stadt feuerhell erleuchten.
Die Detonation war noch mehrere hundert Metern spürbar und hinterließ erheblichen Schaden. Ein Gebäude in unmittelbarer Nähe brannte völlig aus. Etliche Fenster von Wohnungen und Geschäften gingen zu Bruch.
Das ganze Ausmaß der Sprengung wurde erst am nächsten Morgen sichtbar und noch Tage, Wochen und Monate danach spürten die betroffenen Menschen den Nachhall der Explosion.
Marissa
Das reetgedeckte niedrige Haus duckte sich hinter den Dünen vor dem Wind der See zusammen. Im Laufe der langen Jahre, die es hier schon kauerte, war es alt und grau geworden, hatte Falten und Furchen. Die Fenster waren blind geworden von der salzigen Gischt, die immer wieder bei kräftigem Wind und Sturm dagegen peitschte.
Der Hauseingang wurde von einem Vordach geschützt. Ein kleiner, schmaler grob gepflasterter Weg führte den Ankömmling zur Türe, an der die Jahre ebenfalls nicht spurlos vorüber gegangen waren. Das Holz war grau und porös, die Angeln rostig. Aber die massive Konstruktion hielt bisher allen Wettereinbrüchen stand.
Neben der Tür blickten rechts und links die beiden kleinen Fenster jedem Besucher freundlich entgegen. So freundlich wie jeder empfangen wurde, der den schweren, goldenen Türklopfer betätigte. Diesen hatte ein Vorfahr des letzten Eigentümers von einer seiner abenteuerlichen Reisen mitgebracht. Er war höchst kunstvoll geschmiedet und hielt jeden, der ihn berührte, erst einmal zum staunenden Betrachten an.
In der Tat war es eher ein Schmuckstück denn ein Gebrauchsgegenstand, den man da in der Hand hielt. Ein goldener Reif, kunstvoll geschmiedeter ineinander verflochtener Stränge, die sich wie ein Gitter verwoben. Geschmückt mit bunten, großen, gläsernen Steinen, die – wenn die Sonne darauf fiel – in großartigen Kaskaden funkelten und Lichtersträuße auf Tür und Eingang zauberten. Vielleicht waren es wertvolle Edelsteine. Vielleicht nur billiges Glas. Niemand hatte sich bisher die Mühe gemacht, das zu erforschen. Aber das war auch nicht wichtig. Wichtig waren nur die Freude, die der Anblick in Jedem auslöste und ein Gefühl von Glück.
Als Marissa durch die Dünen kam und die steinige Wegpflasterung zum Haus hinunterging, spürte sie sogleich dieses wundersame Glücksgefühl, das ihr entgegenwehte wie schon der Wind am Strand, über den sie zuvor hierher gestapft war. Sanft und leicht wie eine streichelnde Hand. Und das Licht hinter den milchigen Fenstern strahlte zu ihr wie eine Ermunterung. Das genügte um ihr den sonst schon dunklen Weg zu erhellen und sie sicher bis zur Haustüre zu führen.
Dort angekommen strich sie über die kunstvollen Verzierungen des Türklopfers, hob ihn an und ließ ihn gegen die Holztür fallen. Nur ganz leicht. Sie wartete nicht, bis ihr geöffnet wurde. Sie wusste, sie wurde erwartet.
Lange war sie nicht hier gewesen, doch sobald sie die Schwelle überschritten hatte, war alles wieder da. Die Vertrautheit, die Wärme, die Geborgenheit.
Gerade die Wärme tat ihr augenblicklich überaus wohl. Ihre Haare und Kleidungsstücke klebten ihr verschwitzt am Körper und sie schmeckte Salz auf ihren Lippen. Sie war sehr müde. Sie sehnte sich nach einem weichem Bett, einer warmen dicken Decke, in die sie sich kuscheln konnte, eintauchen in tiefe Traumwelten weit ab von der Wirklichkeit.
Sobald sich ihre Augen an die dämmrige Helle des Raumes gewöhnt hatten, nahm sie immer mehr die altvertrauten Gegenstände war. Den Kamin, in dem an Winterabenden ein wohliges Feuer brannte, jetzt aber dunkel vor sich hin schlief, der alte Lehnstuhl davor, auf dem noch immer die alte bunte Flickendecke lag, die die Großmutter vor langer Zeit in liebevoller Handarbeit selber hergestellt hatte und dem Großvater viele Jahre die alten, müden Beine wärmte.
Auf dem kleinen, runden Holztisch lagen Stapel von Büchern, gelesenen und ungelesenen. Daneben standen Becher und Teekanne für den sofortigen Gebrauch. Auf dem Kaminsims lehnten Schwarz-Weiß-Fotos alter Verwandter und - wie ein Fremdkörper - eine Fotografie aufgenommen in modernster Digitaltechnik. Marissa musste nicht näher gehen um zu sehen, wer darauf abgebildet war. Vielmehr ließ sie ihren Blick rasch darüber hinweggleiten, hin zu dem Schrank mit den Glastüren, hinter denen sich Schätze aus aller Welt befanden. Krüge, Gläser, Steine, Becher aus Gold, verzierte Teller und Gefäße. Errungenschaften von den weiten Reisen des alten Seefahrers, dem das Haus einst gehörte und mit dem Inventar von seinen Erben an die neuen Eigentümer verkauft worden war. Marissa fand sie wunderschön. Sie öffnete eine der Türen des Schrankes und nahm zielgerichtet ein kleines, wundersam filigranes hölzernes Schmuckkästchen heraus, welches es ihr schon als Kind angetan hatte und das sich auf besondere Weise von den anderen Sätzen unterschied, so als ob es nicht dazugehörte. Der Deckel war geschmückt mit einer kunstvoll geschnitzten Rose, die sich von oben herab um das ganze Kästchen rankte. Vorsichtig strich Marissa über die Blütenblätter, die Stile, spürte sacht die kleinen Stacheln und meinte den feinen Duft der Rose zu riechen als sie ihre Nase daranhielt. Immer wenn sie früher das Kästchen in der Hand gehalten hatte, war die Neugierde groß gewesen zu erforschen, was es wohl enthielt, aber der Deckel war verschlossen. Einen Schlüssel gab es nicht und sie hatte sich nie getraut, den versteckten Verschlussmechanismus zu erforschen. Auch niemand sonst hatte bisher scheinbar das Bedürfnis gehabt, an das Innere zu gelangen. Irgendwie gehörte dieses Geheimnis zu dem Kunstwerk und machte es wohlmöglich noch bedeutsamer.
Sie lächelte leicht als sie es zurück an seinen Platz stellte und die Schranktür schloss.
„Da bist du ja." Die Stimme hinter ihr klang rau und etwas heiser.
Marissa drehte sich um und sah sich von den Augen der kleinen Frau vor sich eingenommen. Klein war sie immer gewesen, aber jetzt kam es ihr vor, als hätte sie sich nochmal mehr ein Stück in sich zusammengezogen.
„Oma". Vorsichtig trat sie zu ihr und umarmte sie leicht wie ein zerbrechliches Gut.
„Issa… Die warme Hand der alten Frau legte sich auf die junge Wange der Enkelin. „Wie schön.
Dann bemerkte sie das leichte Zittern, das Marissa durchlief, sah auf ihre nackten Füße.
„Was ist passiert – wo sind deine Schuhe?"
„Ach, die habe ich irgendwo am Strand liegengelassen und meinen Rucksack auch. Ich musste doch gleich zum Meer. Jetzt bin ich müde und mir ist kalt."
Die Großmutter nickte: „Geh nach oben in dein Zimmer. Nimm dir Handtücher und ein paar Sachen aus dem Schrank. Ich koche derweil einen Tee."
Marissa küsste die faltige Wange der Großmutter und stieg dann die enge Holztreppe hinauf. Im oberen Stockwerk war es nahezu dunkel und nicht so warm wie unten. Der Flur kam ihr sehr niedrig vor. Die Kammer links war das Zimmer ihrer Großmutter. Das große Bett war für zwei bezogen aber nur eine Decke war zurückgeschlagen. Auf dem Nachttisch neben der unbenutzten Seite stand ein Bild mit einem großen, stämmigen, gutaussehenden Mann, der auch trotz seines weißen Haupthaares und den tiefen Stirnfurchen, bubenhaft frech aus den Augen blickte. Marissa grinste kurz als sie dem Blick des Großvaters begegnete. Er war immer ein großer Junge gewesen, bis zum Schluss und hatte mit ihr, der jungenhaften Enkeltochter viele, wilde Abenteuer durchlebt.
Das Zimmer gegenüber war immer ihres gewesen. Sie liebte das schmale Bett, das sich unter die Dachschrägen zwängte und den Blick durch die Dachluke mit Sicht auf den Himmel. Der wackelige Tisch, der alte Korbstuhl, das Regal mit den abgegriffenen, zerlesenen Büchern ihrer Kinderzeit.
Im Schrank fand sie Handtücher, rubbelte sich die verschwitzen kurzen Haare trocken und schälte sich aus dem unangenehm klebrigen Kleidern.
Der dicke, blaue Pullover mit den weißen Streifen roch nach Vergangenheit als sie ihn überstreifte und die selbstgestickten Strümpfe kratzen angenehm an den nackten, kalten Füße. Das Bett war bezogen. Auf dem Kopfkissen lag wie immer ein Säckchen mit Lavendel. Marissa nahm es in die Hand, roch daran und sank hinein in die Weichheit der Daunenfedern.
Als die Großmutter mit einer Tasse Tee ins Zimmer kam, schlief sie bereits.
*
Da war eine wohlige Wärme an ihren Füßen und eine schmeichelnde Bewegung. Noch halb im Schlaf nahm sie wahr, wie da etwas unter ihre Bettdecke zu kommen versuchte. Es dauerte eine Weile bis sie sich erinnerte, wo sie war, in welchem Bett sie lag und wer sie gerne früh morgens besuchte, wenn sie hier war.
„Teo… Sie richtete sich halb auf, griff suchend mit der Hand an das Fußende des Bettes. „…komm her, mein Süßer.
Eine warme, feuchte Nase berührte vorsichtig ihre Finger, bevor eine kleine Zunge anfing, daran zu lecken und spitze Zähne ein wenig ihre Haut berührten.
Jetzt setzte sich Marissa gänzlich auf und umfing das Fell des alten Katers, der kaum Halt auf dem weichen Bettzeug fand. „Wie geht es dir, alter Freund?" Sie kraulte ihm liebevoll den Hals und sogleich schnurrte das Tier zufrieden. Sie nahm ihn auf den Schoß und sah ihn aufmerksam in die grünen Katzenaugen. Sein ehemals dickes, schwarzes Fell war merklich ausgedünnt und wies einige kahle Stellen auf.
„…wirst auch nicht jünger, was?" sprach sie zu ihm und merkte, dass sie diese Tatsache genauso berührte wie das Erkennen des Altersprozesses bei ihrer Großmutter. Und sie selber - sie wurde auch jedes Jahr älter, ohne dass sie etwas daran ändern konnte. Noch war sie jung genug, das nicht so wichtig zu nehmen aber hin und wieder ertappte sie sich dabei, wie sie darüber ins Grübeln geriet. In letzter Zeit verstärkt und ohne einen für sie erkennbaren Grund.
Durch das schräge Dachfenster blinzelte die Sonne zu ihr und den schwarz-grauen Kater in ihrem Arm. Es sah aus als würde es ein schöner Tag werden.
„Komm, Teo – auf nach draußen." Der Kater sprang noch recht behende vom Bett als Marissa die Decken zurückschlug und aufstand.
Sie hörte ihre Großmutter bereits unten in der Küche werkeln. Die alte Dame stand stets vor sechs Uhr auf und blickte ihrer Enkelin munter entgegen.
„Gut geschlafen?" wollte sie wissen.
„Und wie… Marissa reckte ihre Arme hoch über den Kopf. „ - himmlisch, wie immer hier.
„Möchtest du draußen frühstücken? Auf der Terrasse ist es schon warm."
Noch bekleidet mit ihrem dicken Wollpullover und den Socken lief Marissa durch die Küche hinaus ins Freie. Die Sonne strahlte ihr sogleich hell ins Gesicht und ließ sie die Augen schließen. Als sie diese wieder öffnete, blickte sie auf das blühende Prachtmeer aus Blumen, Sträuchern und Gräsern, Kräutern, Obstbäumen und Gemüsebeete, das wie eine Naturorgie den Garten hinterm Haus vereinnahmte. Lediglich die kleine Terrasse ließ Platz zum Niedersetzen auf der alten Holzbank mit dem selbstgezimmerten Tisch. Auf diesem stand bereits alles für ein ausgiebiges Frühstück bereit.
Marissa ertappte sich dabei, wie sie gleichsam wie der Kater anfing zu schnurren vor lauter Wohlbefinden. Das war das Paradies.
Ihre Großmutter kam mit der dicken, geblümten Teekanne aus der Küche und lachte. „Meine kleine Katze. Setz dich und lass es dir schmecken."
Marissa zog die Socken aus, krempelte die Ärmel des Pullovers hoch und ließ sich mit allen Sinnen in diesen Sonnenmorgen gleiten.
*
Und dann - das Meer.
Eine Stunde später lief sie barfuß in dem alten Kleid, das sie im Schrank ihrer Großmutter hatte hängen sehen, hinunter zum Strand. Aus einem Impuls heraus hatte sie sich das augenscheinlich selbstgenähte Kleidungsstück übergeworfen. Es war aus leichtem Stoff, altmodisch mit großen Blumenmuster bedruckt und ihr viel zu weit, aber es schmiegte sich angenehm weich an ihre Haut und flatterte jetzt luftig um ihrem Körper als sie über den Sandstrand lief.
Das Meer rauschte in einiger Entfernung gemäßigt vor sich hin, zog sich mit der Ebbe immer mehr vom Land zurück und ließ den Wattboden mit seiner einzigartigen Welt sichtbar werden. Marissa konnte es kaum erwarten, ihre Füße im Schlick zu versenken und durch die Priele zu waten. Aber erstmal musste sie ihren Rucksack finden, den sie gestern irgendwo am Rande des Strandes hatte fallen lassen als sie ihre Schuhe und Strümpfe auszog, um über den noch warmen Sand zu laufen. Das war ihr erster Gang gewesen. Gleich nachdem sie die Fähre verlassen hatte, war sie hierhergekommen. Zu ihrem Strand. Zu ihrem Meer. Die Abendsonne war schon dabei gewesen, einzutauchen in das Wellenmeer, dessen Schaumkronen rötlich schimmerten.
War das tatsächlich erst gestern gewesen? Nach der schier endlosen Reise durch ganz Deutschland schien es ihr schon wie eine Ewigkeit her, dass sie aufgebrochen war um sich hierher auf den Weg zu machen. Hierher in das Oasen-Paradies ihrer Kindheit, in dem sie sich sicher und aufgehoben fühlte.
Sie spürte bereits wie sie hier freier atmete, sich ihre Muskeln entspannten, ihre Seele anfing Flügel zu bekommen. Die noch junge Morgensonne glitzerte auf dem fernen Wasser, nur wenige feine Federwolken durchzogen den blauen Himmel.
Außer dem Meeresrauschen war nichts zu hören. Noch waren keine Menschen am Strand, bis zu dieser entfernten Stelle verirrte sich kaum Jemand, der sich in der Gegend nicht auskannte. Ein stilles Fleckchen Erde abseits der lauten Welt. Genau der Ort, wo sie jetzt sein wollte.
Ihr Rucksack wartete auf sie. Ihre Schuhe und Strümpfe waren voller Sand und feucht von der Nacht. Sie schlug sie aus, setzte sich den Rucksack auf und lief mit den Schuhen in der Hand Richtung Wasser. Endlich versanken ihre Zehen in dem matschigen Wellenboden. Genüsslich suhlte sie diese darin und freute sich, wenn es ein schmatzendes Geräusch gab, sobald sie den Fuß wieder herauszog. Ein kleiner Krebs kam ihrem großen Zeh bedrohlich nahe. Marissa stieg leicht über ihn hinweg, wich so gut es ging einem Haufen Wattwürmer aus.
Liebend gerne wäre sie stundenlang so weiter durch das Watt gezogen, aber der Rucksack drückte ihr unangenehm auf den Schultern und die Schuhe in der Hand schränkten ihre Bewegungsfreiheit zusätzlich ein. Sie lenkte ihre Schritte Richtung Strand, hob eine große weiße Muschel auf und stapfte durch ihr Gepäck beschwert durch den Sand zurück.
Wenn sie die Sachen im Haus abgeladen hatte, würde sie wiederkommen.
Sie hatte vor, die Zeit, die sie hier sein würde, fast gänzlich am Strand zu verbringen, das Meer zu beschauen, den Himmel zu sehen, die Sonne zu spüren. Wind zu schmecken und Wasser zu riechen. Sich fallen zulassen und in sich zu horchen, sich selbst zu begegnen und Klarheit zu finden. Bilder, Gedanken und Ideen. Oder auch nur die Stille und Ruhe des Augenblicks.
Ohne Zwang, ohne Druck, ohne Ziele. Und dann – wer wusste schon, was kommen würde. Sie wollte Vertrauen gewinnen, Zuversicht und Glauben. An sich, an das Leben.
Die Sachen in ihrem Rucksack waren allesamt zerknüllt, sauber zwar aber ohne Sorgfalt hineingestopft, wahllos auch und ohne Überlegung. Ihr Aufbruch war recht überstürzt geschehen und hatte ihr nicht viel Zeit zum ausgiebigen Planen gegeben. Doch ihr Lieblingskleid mit den schmalen, fliederfarbenen Streifen fand sich inmitten des Kleiderknäuels und Marissa tauschte es sofort gegen das Blumengewand der Großmutter aus. Gleich fühlte sie sich mehr als sie selbst.
Das altmodische Kleidungsstück hatte ihr gleichsam ein Stück Vergangenheit angezogen, in der sie sich irgendwie unwohl fühlte. Als ob an dem Stoff etwas haftete, das sie in einen Strudel von gestrigem Geschehen ziehen wollte. Erst hatte sich alles so weich und luftig angefühlt und als sie über den Strand gelaufen war, war es gewesen als könne sie gleich davonfliegen. Aber hinter dieser Leichtigkeit war auch etwas Dunkles, Schweres zu spüren, was sie frösteln ließ.
Jetzt wo sie ihr eigenes Kleid anhatte und das alte neben ihr auf dem Boden lag, merkte sie den Unterschied. Irritiert nahm sie dieses in die Hand, befühlte es, drehte es hin und her als erwarte sie, etwas zu entdecken. Aber da war nichts. Es war nur ein Kleid.
Sie schüttelte den Kopf, nahm einen Bügel aus dem Schrank und hängte das Kleidungsstück hinein. Dann sortierte und faltete sie oberflächlich ihre mitgebrachten Sachen, legte sie ebenfalls in den Schrank, verstaute unten den Rucksack. Dann lief sie die Treppe hinunter in die Küche. Sie hatte es plötzlich ganz eilig. Die Großmutter erwartete sie schon, hielt ihr einen Beutel entgegen und meinte: Du willst doch sicher den Tag am Strand verbringen. Ich hab dir etwas Proviant zusammengepackt.
Marissa nahm den Beutel und drückte die Großmutter an sich. „Du bist lieb, Oma. Ist es dir denn recht, wenn ich dich einfach so alleine lasse?"
Die warme Hand der Großmutter legte sich liebevoll auf die Wange der Enkelin.
„Ich bin es gewöhnt, allein zu sein. Wenn du später wiederkommst, freue ich mich auf eine nette Unterhaltung. Genieß die Sonne und lass Gedanken, Gedanken sein. „Danke, Oma
. Marissa küsste sie leicht auf die Wange. Der lächelnde Blick der alten Dame begleitete sie über den Pfad hin zum Strand.
*
Die Morgensonne war von der Terrasse weggewandert über die Beete und Gewächse, hin zu den Heckenrosen, wo es von Insekten summte.
Von ihrem Platz auf der Bank, die nun angenehm im Schatten lag, genoss die alte Dame den prachtvollen Anblick ihres wilden Gartens. Er war ihre Freude und angenehme Beschäftigung, die ihr allerdings zunehmend schwerer fiel, was sie aber kaum zugegeben hätte. Manchmal ging es recht langsam voran mit Jäten, Unkrautzupfen, Schneiden und Pflücken. Doch die Pflanzen schienen es dieser Langsamkeit zu danken, indem sie üppig wuchsen und gediehen ohne mangelnde Pflege gleich mit Welken oder Verdorren zu beantworten. Als ob sie damit zufrieden waren, überhaupt da zu sein und ihrer Gärtnerin Lebensfreude zu schenken.
Der Garten und das alte Haus waren es, was ihr geblieben war. Vieles hatte sich im Laufe der vergangenen Jahre verändert, Menschen waren aus ihrem Leben verschwunden, die ihr viel bedeutet hatten, Umstände und Lebenssituationen waren andere geworden.
War es Schicksal oder Vorsehung, was alles so kommen ließ wie es kam? Emilia dachte kaum mehr darüber nach, nahm jeden Tag wie er war, ließ geschehen, was geschah. War zufrieden mit dem, was sie hatte und lebte jeden Augenblick als einmalig und einzigartig. Das machte sie zu einem zufriedenen, dankbaren Menschen. Wenn sie ein Wort für ihr jetziges Leben verwenden sollte, konnte ihr nur das Wort „Glück" über die Lippen kommen.
Der Weg hin zum „Glück" war lang gewesen, hatte ihr viel abverlangt und sie manchmal daran zweifeln lassen, dass sie ein Gefühl von Glück jemals erleben würde. Alt musste sie werden, um es zu erreichen und um zu erkennen, dass ihr das Glück trotz allem Unglück, das sie überstehen musste, immer zur Seite gestanden und über alle Widrigkeiten hinweggetragen hatte.
Jetzt wünschte sie sich nur noch, dieses Wissen um das Glück weiterzugeben an die, die es gerade nicht spüren konnten, die meinten, es wäre von ihnen gewichen. Sie wünschte, sie könnte es irgendwie verpacken und wie ein Geschenk vor sie stellen, damit sie es sahen und annahmen.
Zu allererst hätte sie es am liebsten ihrer Tochter Juliane überreicht, die es, wie sie fand, am nötigsten hatte. Aber sie wusste, sie würde dieses Geschenkglück nicht sehen, auch wenn es ganz nah vor ihr schweben würde. Sie würde einfach daran vorbeilaufen, blind und eilig.
Aber Marissa, ihre Enkelin mit dem jugendlichen Lebenssinn, die würde es wohl sehen. Bei ihr würde sie leichter Erfolg haben damit, ihr zu zeigen, dass trotz all dem schmerzvollen Leid, das ihr schon begegnet war, auch eine Helligkeit daneben stand. Und dann – so hoffte Emilia, würde dieses Erkennen auch die Augen ihrer Tochter öffnen. Ihre Augen – und ihr Herz. Es konnte nicht sein, dass sie sich dem Leben entzog. Und sich und die Tochter vergaß. Die Tochter, die noch da war und so viel Leben vor sich hatte.
Emilia hatte im Gesicht ihrer Enkelin eine große Menge an Lust und Freude gesehen als sie zum Strand gelaufen war. Schnell. Leicht. Da war nichts gewesen von dem Schatten, der manchmal um sie strich. Und das hatte Emilia aufatmen lassen. Es würde alles gut werden. Trotz dem Traurig-sein von gestern.
Schicksalhafte Wendungen gab es immer, würde es immer geben. Man wusste nie, ob und wann das Leben sie für einen bereithielt. Wie konnte man jemals sicher sein, vorbereitet oder stark genug für Einschläge, die plötzlich und aus scheinbar heiterem Himmel neben einem explodierten.
Auch die Menschen, die vor über siebzig Jahren sorglos den Jahrhundertsommer genossen, waren nicht im Geringsten darauf vorbereitet gewesen, was in den nächsten Jahren auf sie zukommen würde – auch wenn es Vorzeichen für die Katastrophe gegeben hatte. Sie lebten ihr Leben, lachten, liebten, gingen ihrer Arbeit nach, fuhren in den Sommerurlaub voller herrlicher Sonne.
1939 war Emilia fünf Jahre alt. Ein kleines Mädchen, das gerade seine Welt und sich entdeckte. Was wusste sie von der Welt draußen, was dort geschah, was sich langsam aber sicher zusammenbraute, bis es am 1. September 1939 zu dem verheerenden Angriff Deutschlands auf Polen kam. Und dann rollte ein unvorstellbares Inferno über ganz Europa und die Welt, das noch bis zum heutigen Tag seines Gleichen sucht und allen nachfolgenden Generationen immer wieder das Entsetzen ins Gesicht und die Tränen in die Augen treibt.
Emilias Vater war Postbeamter in Berlin, ihre Mutter arbeitete stundenweise in einem Laden für Schreibwaren, der für Emilia ein kleines Paradies war mit den vielen Farben und Stiften, mit denen sie die großen Bogen Papier verschönern durfte, die ihr die Ladeninhaberin in die Ecke legte, wo Emilia bleiben konnte, wenn ihre Mutter arbeitete. Sie war ein braves, ruhiges Kind, das sich gut selbst beschäftigen konnte. Stundenlang malte sie eifrig an einem Kunstwerk, wobei ihre kleine Zunge genauso eifrig von einem Mundwinkel zum anderen wanderte. Oder sie blätterte in bunten Büchern mit vielen Bildern und erzählte sich ihre eigenen Geschichten dazu.
Manchmal sang sie auch mit kräftiger, ausdrucksstarker Stimme, die jeden Zuhörer sogleich in den Bann zog. „Das Kind hat aber eine Stimme", bemerkte wohl ein Kunde, der im Laden Briefpapier kaufte. Und Emilias Mutter nickte voller Stolz. Heimlich dachte sie bei sich: vielleicht wird sie mal eine große Sängerin. Wer konnte das schon wissen. Wer konnte schon wissen, was in den nächsten Jahren alles geschah. Welche Welten und Träume zusammenbrachen, welche Leben, kaum gelebt, wieder endeten, welche Städte zu Ruinen wurden.
Dieser Krieg. Immer wieder sehr präsent – gerade jetzt - durch den nahenden Jahrestag, die Berichterstattungen im Fernsehen, Dokumentation, Gedenkfeiern, Ansprachen, Umarmungen früherer Feinde und der besorgte Blick gen Osten, wo sich Unheilvolles zusammenbraute.
Emilia war es kaum möglich, die Bilder und Kommentare zu verfolgen. Doch ganz konnte sie sich diesen nicht entziehen. In ihr war sofort alles wund und schmerzend sobald sie nur den Ton des Fliegeralarms vernahm oder das Geräusch der sich im Anflug befindenden Maschinen….
Hier bei ihr war es friedlich und beschützt. Traumumfangen ruhig.
Sie blickte hinüber auf das Fleckchen Rasen mit den Gänseblümchen, auf dem sich gerade eine Amsel niedergelassen hatte. Später zum Tagesende hin würde sie wieder ihr Abendlied singen. Laut und zwitschern, voller Koloraturen in den höchsten Tönen, die Emilia sehr bewunderte. Niemals hatte sie es selber zu solcher Kunstfertigkeit geschafft, obwohl ihr Gesangstalent tatsächlich nicht unerheblich gewesen war, wie bereits im Kindesalter vermutet. Zur großen Gesangskarriere hatte es aber nicht gereicht. Wer wusste schon genau warum.
Aber sie bedauerte das nicht. Alles war letztlich für ihre Persönlichkeit so richtig gewesen, wie es gekommen war. Und schließlich hatte der Krieg das seinige dazugetan, eventuelle Träume und Wünsche verlöschen zu lassen.
Ein leiser Seufzer stieg in ihr auf. Sie schluckte ihn hinunter ohne ihn weiter wahrzunehmen, gab sich einen Ruck und erhob sich etwas mühsam von der Bank. Sie würde jetzt eine Kleinigkeit essen und dann ihr Mittagsschläfchen halten. Dann würde sie noch ein wenig im Garten arbeiten, wenn es nicht zu heiß war und schließlich würde Marissa wiederkommen.
Marissa, die ihren Namen von Anfang an verkleinert hatte. Marissa kam ihr nie über die Lippen. Als kleines Mädchen brachte sie gerade mal „Issa" zustande. Eine Marissa wie sie sich selber vorstellte, war sie nicht. Das klang nach exotischer Schönheit mit langen, schwarzen Haaren und tiefdunklen Augen. Sie hielt sich weder für eine Schönheit, noch besaß sie eine lange, schwarze Haarpracht. Allein die Augenfarbe mochte etwas mit dem Bild einer Marissa übereinstimmen. Sie waren zwar nicht tiefdunkel, doch von einem angenehm warmen braun-grünen Farbton, der mitunter zu wechseln schien. Abhängig von der jeweiligen Stimmungslage, in der sie sich gerade befand. Ihre Haarfarbe war eher dunkelblond und derzeit mit einigen rötlichen Strähnchen durchzogen. Emilia fand ihre Enkelin durchaus hübsch, auch wenn sie sich mit ihrer bunten Frisur nicht ganz anfreunden konnte. Aber so war die Jugend nun mal.
Was war es für eine Revolution gewesen als Emilia sich nach dem Krieg gegen den Willen des Vaters ihre langen Zöpfe abschneiden ließ und eines Tages mit einem Bubikopf zuhause erschien. Das Donnerwetter darüber hatte sie noch heute in den Ohren. Aber für sie war es ein Sieg gewesen, ein Triumph über die despotische Strenge des Vaters und die weiche Nachgiebigkeit der Mutter, die immer auszugleichen versuchte und gerade dadurch mitunter Missstimmung hervorrief. Dabei hatte sie es als Jüngste immer noch vergleichsweise gut gehabt. Ihr älterer Bruder Nikolas war den Launen des Vaters ungleich häufiger ausgesetzt und lieferte sich mit ihm heftige Wortgefechte, die das eine oder andere Mal beinahe ins Handgreifliche überzugehen drohten, wenn die Mutter sich nicht rechtzeitig zwischen die beiden Streithähne gestellt hätte.
Das war jetzt schon eine Ewigkeit her doch für Emilia waren die Bilder dieser Szenen noch sehr präsent genauso wie das Gefühl von damals. Nicht schön.
Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf während sie sich eine Scheibe Brot hinunterschnitt und es dick mit Käse belegte. Schüttelte die Bilder weg in die Vergangenheit. Die Decke auf dem alten Sofa lud sie schmeichelnd ein, sich auszustrecken, die Augen zu schließen und für eine Weile Erinnerungen und Jetztzeit zu vergessen.
*
Marissa fühlte sich im siebten Himmel. Der Strand schien ihr allein zu gehören. Hierher ans äußerste Ende verirrten sich kaum ein paar Strandläufer. Hin und wieder kam ein Hund angejagt, der seinem Besitzer ausgerissen war, blieb vor ihr stehen, umkreiste sie misstrauisch und jagte schließlich weiter, wenn der Ruf seines Herrchens ertönte.
Aber das alles war keine wirkliche Störung für sie, die sie ausgestreckt auf dem großen Handtuch lag, das sie mitgenommen hatte. Da sie keinen Hut hatte, hatte sie sich kurzer Hand ihren langen, weißen, dünnen Schal, den sie fast ständig bei sich trug, um den Kopf gewunden, um sich vor der intensiven Sonneneinstrahlung zu schützen. Sie kam sich ein wenig vor wie eine Beduinenfrau und hätte gerne noch einen weiten Kaftan gehabt, denn Sonnencreme hatte sie keine und musste befürchten, dass sie sich mit ihrer hellen Haut, die schnell zu Rötungen neigte, einen Sonnenbrand einfing. Aber letztlich wollte sie daran nicht denken, überhaupt nicht denken – an nichts - nur das Hiersein genießen. Schon als sie gestern hier ankam, hatte sie sich sofort leichter gefühlt. In der Stadt hatte sie immer den Eindruck, eingezwängt zu sein. Die Enge der Häuser, die Straßen, die vielen Menschen und der ewige Verkehr nahmen ihr die Luft und Raum, frei zu atmen. Das merkte sie immer besonders, wenn sie davon ausbrach und wie jetzt die Freiheit des Alleinseins und die wohltuende Ausgeglichenheit der Natur spürte, die sich ausbreitete wie es ihr gefiel. Dann fragte sie sich, was sie in der Großstadt zu suchen hatte. Warum sie nicht am Meer war, auf der Insel, in der frischen Luft.
Das Studium und München waren schon in weite Ferne gerückt, nicht nur durch die räumliche Entfernung. Das alles war jetzt unwichtig.
Es war so schön hier. Im Sand, in der Sonne…
Sie ließ sich von all dem umhüllen, von der weit entfernten Brandung des Meeres einlullen… von dem Gesang der Möwen wegtragen…
…war es das Bellen eines Hundes? Das Rufen einer Stimme? Oder etwas aus ihrem Inneren, das sie hochschrecken ließ? Es kam so plötzlich, dass sie abrupt aufsprang.
Das kunstvoll zum Turban gebundene Tuch auf ihrem Kopf geriet ins Rutschen und fiel wie ein zusammengebrochener Wasserfall zu Boden. Sie stand da, blickte darauf wie zu etwas Unwirklichem. Wie in Zeitlupe nahm sie es auf, steckte es in ihren Beutel mit dem Proviant, von dem sie nur wenig gegessen hatte, schlang sich das Handtuch um die Schultern und dann lief sie - so schnell es ging über den weichen Sand, der unter ihren Füßen immer wieder zur Seite wich und kaum Halt gab. Marissa fluchte vor sich hin, versuchte schneller zu laufen, verlor das Gleichgewicht und spürte einen stechenden Schmerz am rechten Fußgelenk. Augenblicklich schossen ihr Tränen in die Augen. Wütend wischte sie sie weg. Sie würde nicht weinen. Sie weinte nie.
Sie fühlte die Sonnenwärme über sich, sah in die Helle hinauf.
Das verwischte Weinen brannte auf ihren Wangen.
*
Das Schnarchen ihrer Großmutter hörte sie bereits als sie auf dem kleinen Trampelpfad um das Haus humpelte. Trotz der Schmerzen im Knöchel musste sie lachen. Wie oft hatten die Kinder sich früher heimlich in das Schlafzimmer geschlichen und die Großmutter beobachtet, die mit offenen Mund auf dem Rücken lang, wie ein Karpfen, der unfreiwillig Luft schnappte und diese unglaublichen Sägegeräusche von sich gab. Der Großvater daneben hatte meist die Decke über dem Kopf gezogen, auf dem er schon seine wollende Nachtmütze hatte und Wattebäusche in den Ohren. Geholfen hatte es nicht viel. Einmal hatte er im Vertrauen den Kindern zugeflüstert: „Es ist einfach furchtbar. Wenn ich es nicht schaffe, vor ihr einzuschlafen, ist es vorbei." Dann hatte er die Augen zum Himmel verdreht und theatralisch geseufzt. Er tat den Mädchen Leid, doch sie wussten, dass er trotzdem seine Frau über alles liebte und es nie über sich gebracht hätte, im Zimmer nebenan zu schlafen.
Und die Schwestern liebten das Schnarchen der Großmutter und erschraken gruselig-gerne, wenn ein überaus lauter Rachenton sie zusammenzucken und rasch wieder in die Betten rennen ließ. Das war lange her. So vieles war lange her.
Marissa setzte sich auf die Bank auf der Terrasse und lauschte dem Schnarchkonzert der Großmutter. Das Bein mit dem wehen Knöchel hielt sie ausgestreckt von sich. Es pochte da drinnen und brannte. Sie hatte große Lust sich selbst zu beschimpfen. Wahrscheinlich war es jetzt vorbei mit dem erholsamen Stranddasein. Sie wollte gerade eine gewaltige innerliche Selbstanklage beginnen, als ein lauter Schnarcher ertönte und ein darauffolgender Seufzer, der anzeigte, dass die Großmutter durch ihr eigenes Schnarchen wach geworden war. Marissa beugte sich von der Bank so gut es ging nach hinten, um einen Blick von der Großmutter auf dem Sofa zu erhaschen. Die hatte sich schon aufgesetzt, blickte etwas zerwühlt um sich und nahm sogleich die Enkelin wahr.
„Kind, bist du schon da? Wie lange habe ich denn geschlafen? Beim Aufstehen legte sie die Decke zusammen und schlurfte dann auf die Terrasse. Marissa hob die Schultern: „Ich weiß nicht, bin gerade gekommen.
„Ist etwas?" Die Großmutter blickte sie forschend an, merkte sogleich am Tonfall der Enkelin, dass irgendetwas nicht stimmte.
Marissa stieß voller Missbilligung sich selber gegenüber einen Zischlaut aus.
„Bin am Strand umgeknickt. Mein Knöchel tut ziemlich weh."
„Ach je. Wie dumm. Soll ich dir einen kalten Wickel machen? Die Großmutter wurde gleich pragmatisch. Mit langen Gefühlsbekundungen hielt sie sich nicht auf. Marissa nickte. „ Das wäre nicht schlecht.
Es war ihr unangenehm als die Großmutter schließlich mit einem feuchten Wickel wiederkam und ihr noch einen Schemel unter den Fuß stellte. „So – das sollte helfen. Sonst rufe ich morgen Dr. Schmidtmann an."
„Tut mir Leid, Oma. Ich sollte dir helfen, nicht du mir." Marissas Stimme steckte tief in ihrem Hals.
„Papperlapapp. Watt mutt, dat mutt. Beruhigend legte sie ihre warme Hand auf die Schulter der Enkelin. „ Ich freu mich, dass du da bist. - Jetzt gibt es einen guten Tee und dann genießen wir den Nachmittag. Ich habe auch noch von deinen Lieblingskeksen…
Die Großmutter zwinkerte vergnügt mit den Augen und schlurfte in die Küche.
*
Es tat ihr gut bemuttert zu werden. Seit sie zum Studieren in München war, musste sie für alles selber sorgen, um die täglichen Bedürfnisse und Notwendigkeiten abzudecken. Einerseits war es eine schöne Form der Selbstständigkeit und Unabhängigkeit und Teil ihres Erwachsenseins. Anderseits aber sehnte sie sich doch hin und wieder danach, einfach das Essen vorgesetzt zu bekommen und die gewaschene Wäsche nur noch in den Schrank räumen zu müssen. Das waren Annehmlichkeiten, die sie jetzt richtig zu schätzen wusste, nachdem es diese so nicht mehr gab. Natürlich hatten diese früher bedeutet, unter den Blicken und der Kontrolle der Eltern zu stehen, sich anzupassen und immer wieder zu rechtfertigen, wenn sie zu spät nach Hause kam, schlecht gekleidet rumlief. Das war manchmal recht mühsam. Dabei waren ihre Eltern nicht mal wirklich richtig streng, da kannte sie weit schlimmere Ausführungen. Ihr Vater konnte zuweilen richtig cool sein und drückte viel öfter ein bis zwei Augen zu als ihre Mutter. Manchmal steckte er ihr auch unter der Hand zusätzlich zum Taschengeld einen weiteren Geldschein zu und freute sich mit Marissa über die kleine Heimlichkeit.
Das gefiel Marissa sehr. Nicht nur wegen des unverhofften Geldsegens, sondern weil sie es liebte Geheimnisse zu haben, verbotene Verbünde einzugehen, eine eigene Welt zu leben, die so niemand kannte. Als Kind war sie eine Art Meisterin darin gewesen, sich Geschichten auszumalen, Bilder heraufzubeschwören und sich selber in ein anderes Leben zu phantasieren.
Bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr teilte sie ein Zimmer mit ihrer jüngeren Schwester. Zwar war es hinreichend groß, sodass jede von ihnen an einem Ende des Raumes für sich eine eigene Ecke hatte, aber die Gegenwart der anderen war doch immer spürbar. Eine Privatsphäre war so gut wie nicht vorhanden und ihre Geheimnisse und das andere Leben geriet immer mehr in Gefahr. Als dann die Neugierde der Schwester in ihr Tagebuch eindrang, sahen die Eltern die Notwendigkeit ein, jeder von ihnen ein eigenes Zimmer zu ermöglichen.
Kurzerhand räumte der Vater sein sogenanntes Arbeitszimmer, in das er sich von Zeit zu Zeit zurückzog. Was genau er da tat, hatte Marissa nie recht herausgefunden und auch nicht sonderlich nachgeforscht. Vielleicht lebte er dort auch in einer anderen Welt. Wenn dem so war, konnte sein Opfer nicht hoch genug geschätzt werden, diese aufzugeben. Marissa nahm das Zimmer sofort als ihres in Beschlag. Zwar war es sehr viel kleiner als das andere, aber es lag hinten am Ende des Flures, ein wenig abseits von der übrigen Betriebsamkeit und das Fenster gab den Blick in den kleinen Garten frei. Ein Glücksraum für ihre Phantasiewelten. Die nächsten Jahre waren dann auch Glücksjahre zu nennen, auch wenn ihr es selber so nicht bewusst war. Das Glück lag einfach in dem Zustand der zufriedenen Bedürfnislosigkeit, den sie lebte. Von ihr aus hätte es immer so weiter gehen können.
*
Am nächsten Morgen fühlte sich ihr Knöchel wie ein unförmiger, schwerer Klumpen an, der an ihrem Fuß klebte und es ihr unmöglich machte, mit diesem aufzutreten. Versuchte sie es, durchzuckte sie augenblicklich ein stechender Schmerz und sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzustöhnen.
Der Weg die Treppe hinunter in die Küche gestaltete sich für sie wie eine Art Übung zum Erlernen ungewöhnlicher Fortbewegungsmöglichkeiten.
Sie kam sich vor wie ein einbeiniger Storch, der eine Treppenstufe nach der anderen hinunterhüpfte. Allerdings nicht wirklich graziös, die rechte Hand krampfhaft um das Treppengeländer gekrallt. Mit ihrem Sinn für Humor konnte sich Marissa lebhaft ausmalen, was für ein kurioses Schauspiel sie da bot. Zum Glück gab es keine Zuschauer, die Großmutter war bereits lange unten und hätte es der Enkelin auch sicher verboten, hinunter zu kommen.
So schimpfte sie auch gleich als sie der Enkelin ansichtig wurde. „Issa, Kind. Das hättest du nicht tun sollen."
Marissa ließ sich schwer aufatmend auf einen Küchenstuhl fallen.
„Ach, Oma. Was soll ich denn oben so alleine? Und dann bei dem schönem Wetter. Wenn ich schon nicht zum Strand kann, möchte ich wenigstens bei dir im Garten sein."
Die Großmutter nickte verständnisvoll. „Ja – sicher. Doch ich glaube, ich werde besser Dr. Schmidtmann anrufen. Er sollte sich den Knöchel angucken."
Marissa wollte den Kopf schütteln und ablehnen. Tapfer sein, wie so oft. Doch irgendwie fehlte ihr dazu jetzt die Kraft und sie spürte auch, dass der Knöchel ärztlich versorgt werden musste. „Danke – das ist lieb", sagte sie als Emilia zum Telefonhörer griff, nicht ohne ihr zuvor einen großen Becher Tee eingeschenkt zu haben.
Während Emilia telefonierte, humpelte Marissa vorsichtig mit ihrem Becher in der Hand hinaus auf die Terrasse und machte es sich auf der Bank bequem. Auf dem Tisch stand wieder ein gutes Frühstück bereit und Marissa schnitt sich hungrig eine Scheibe von dem selbstgebackenen Brot der Großmutter hinunter, strich viel Butter und noch mehr Honig drauf, genoss die wunderbare Süße auf ihrer Zunge, am Gaumen, überall im Mund und spürte in ihrem Inneren, wie sich alles vor Wohlbehagen entspannte.
Wäre sie eine Katze wie der alte Teo, der sich heute Morgen noch gar nicht hatte sehen lassen, hätte sie angefangen zu schnurren. So beließ sie es aber mit einem überaus zufriedenen Seufzer. Die Sonne war wieder freundlich zur Stelle und schickte ihr zusätzlich warmes Gefühl ins Gesicht und auf den Körper.
Es war so schön, dass sie fast den schmerzenden Knöchel hätte vergessen können. Sie schloss die Augen für einen Augenblick in Richtung Sonne, sah sich in gold-rotes Licht gehüllt und warm umfangen.
*
Gegen Mittag kam der Arzt angeradelt auf einem alten aber robusten Fahrrad, das ihn vom Inseldorf über die Dünenwege hierher brachte. Ein kundiger Blick seinerseits auf Marissa geschwollenen Knöchel, brachte die eindeutige Diagnose einer Verstauchung und die Verordnung von Schonung, ruhiger Lagerung des Beines und Geduld.
„Das wird dann schon, meinte der Mediziner, „aber weite Strandläufe sind erstmal nicht drin, junge Dame.
Er sah Marissa mit einem jungenhaften Grinsen im Gesicht an. „Und auch sonst keine wilden Unternehmungen…"
Eine überflüssige Ermahnung, schon allein wegen mangelnder Möglichkeiten hier auf der Insel. Aber Marissa grinste zurück. Der Arzt war nett, sie mochte ihn. Sie hatte ihn schon früher ein paar Mal gesehen, wenn sie zu Besuch war. Aber das war lange her. Damals war sie noch ein Kind, ein Mädchen gewesen. Und er der alte Herr Doktor, obwohl er aus ihrer jetzigen Sicht als junge Erwachsene keineswegs sehr alt sein konnte. Vielleicht Anfang, Mitte Vierzig und noch sehr jugendlich in seinem Umgang. Sie spürte, dass er noch wusste, wie es war jung zu sein. „Ist recht, Herr Doktor, meinte sie launig. „Ich habe es gut hier.
„Das sehe ich, gab er zurück. „Die Großmama ist ja auch eine Perle.
Emilia lächelte geschmeichelt, bot dem Doktor zu trinken an und gab ihm noch ein Stück Kuchen mit auf den Weg. „Gerade eben fertiggebacken. Noch ein wenig warm."
Dr. Schmidtmann sträubte sich nur sehr wenig, nahm das Stück Kuchen, das Emilia ihm eingewickelt hatte und verstaute es vorsichtig ganz oben in seinen Packtaschen. Dann schwang er sich rasch auf sein Fahrrad, nicht ohne zu versprechen, in den nächsten Tagen nochmal vorbei zu schauen und bei Bedarf natürlich auch eher. Er winkte ohne sich dabei umzudrehen und war bald außer Sichtweite.
Emilia sah ihm lächelnd nach. „Der Timo, das ist so einer", meinte sie mit zweideutigem Unterton zu ihrer Enkelin.
„Ich finde ihn ganz nett", entgegnete Marissa.
„Ja, lächelte die Großmutter, „nett ist er.
*
Der Nachmittag verging in einer sonderbar schönen Mischung aus Pflaumenkuchen mit Sahne, verschlafenen Dasein, schweigender Unterhaltung und fließender Ruhe, die durch den Garten schlich wie ein scheues Tier.
Marissa lag wohlgebettet in dem alten Liegestuhl, der im Schuppen hinten am Ende des Gartens sein Dasein gefristet hatte und hellerfreut war, als er von ihr mit Emilias Hilfe ans Tageslicht befördert wurde.
Die Großmutter hatte sich seiner erinnert als sie sich darüber Gedanken machte, wie es für Marissa im Garten am bequemster wäre. Auf der hölzernen Bank konnte man zwar ganz gut sitzen, aber für ein entspannten Liegen und hochlagern des Fußes war sie auf Dauer nichts.
„Ich benutze ihn nicht mehr, mir ist er zu tief. Aber für dich müsste er genau richtig sein. So waren die beiden zusammen zum Gartenende über den Rasen gegangen bzw. gehumpelt, wobei Emilia erst nichts davon hatte wissen wollen, dass Marissa mitkam. „Du sollst den Fuß schonen…
„Ja, Oma", nickte Marissa und humpelt los. Sie war einfach zu neugierig, was wohl sonst noch in dem Schuppen zu entdecken war, den sie aus ihrer Kinderzeit als unheimlich empfunden hatte. Sie hatte sich immer ausgemalt, dass dort vielleicht eine Hexe wohnte, wie bei Hänsel und Gretel. Oder dass da vielleicht eine Prinzessin gefangen gehalten wurde und dringend darauf wartete, befreit zu werden. Oder ein gefährliches Untier, das dort eingesperrt war. Es gab unzählige Möglichkeiten, eine gruseliger als die andere. Und alle hatten sie daran gehindert, in unmittelbare Nähe des Schuppens zu kommen oder wohlmöglich ins Innere vorzudringen. Undenkbar….
Auch jetzt so viele Jahre später, war ihr ein klein wenig mulmig als sie dem Holzverschlag so nah kam. Ihr Verstand sagte ihr, dass es dort nichts zu fürchten gab, aber – man wusste ja nie.
Die Türe quietschte ein bisschen in den Angeln als Emilia das rostige Schloss öffnete und ein muffiger Geruch schlug ihnen entgegen. In der Dunkelheit drinnen konnten sie kaum einen Gegenstand unterscheiden. „Hier muss doch noch Licht sein, murmelte Emilia und tastete auf dem Fußboden nahe der Türe. „Wusste ich’s doch
. Sie hielt eine riesige Taschenlampe in der Hand. „Ob die wohl noch geht?" Sie ging, auch wenn das Licht recht spärlich über das abgestellte Gerät glitt. Marissa hielt sich an der Tür gelehnt fest und versuchte, näheres zu erkennen. Alles in allem war das Ganze ziemlich enttäuschend. Von Geheimnissen, Gespenster oder ähnlichen mysteriösen Erscheinungen war nicht das Geringste zu entdecken. Nur altes Mobiliar, Bretter, Gerätschaften , ein vorsintflutlicher Rasenmäher, Staub und Spinnenweben – nichts ungewöhnliches.
„Da hinten – das könnte der Liegestuhl sein", meinte sie schließlich als sie ihren Blick über das Inventar hatte schweifen lassen - und quietschte unvermittelt entsetzt auf als sich etwas mit rasender Geschwindigkeit auf sie zubewegte und schon verschwunden war, bevor sie es genau wahrgenommen hatte.
„Mäuse, meinte Emilia trocken. „Komm hilf mir mit dem Liegestuhl, aber pass auf deinen Fuß auf.
Schließlich bugzierten sie das Möbel auf der alten Schubkarre, die ebenfalls untätig im Schuppen stand und stellten ihn an einen Schattenplatz auf den Rasen. Gemeinsam befestigten sie noch das zugehörige Fußteil und dann ließ sich Marissa sofort auf dem neuem Sitzplatz nieder.
„Hier bleib ich, verkündete sie. „Das gefällt mir.
„Freut mich. Ist hoffentlich ein bisschen Ersatz für den Strand."
„Absolut."
Marissa lehnte sich hingegeben zurück und ließ sich in den nächsten Stunden mehr und mehr in die grüne Sommerblätterwelt ziehen. Wenn sie die Augen schloss, hörte sich das leichte Rauschen in den Zweigen wie sanftes Wellenspiel an. Manchmal trug ein Windhauch den Duft von Lavendel zu ihr.
Irgendwann im Laufe des Tages war Kater Teo aufgetaucht mit einem, wie Marissa fand, verwegenen Gesichtsausdruck, der von nächtlichen Abenteuern zeugte. Er sprang sofort zu ihr auf die Liege und machte es sich am Fußende bequem. Sein Fell schmiegte sich angenehm an ihre nackten Beine. Dem wehen Knöchel kam er dabei instinktiv nicht zu nahe. Manchmal kitzelten seine Barthaare in ihren Kniekehlen. Sein Schnurren klang behaglich an Marissas Ohren und mischte sich mit dem lauen Wind, dem Blätterrauschen.
*
Anfangs schien es so als ob sich die Tage einer wie der andere in gleicher, angenehmer Weise aneinander reihen würden.
Marissa schlief morgens lange, genoss es, sich im Bett zu räkeln und erst dann aus den Decken zu kriechen, wenn ihr danach war oder Kater Teo sie so penetrant mit seiner kleinen, harten Zunge an den Zehen leckte, dass sie sich vor Kitzeln das Lachen nicht mehr verkneifen konnte und aufgab. „Ist gut, Schnurre-Teo, ich steh auf. Mit ihrem Knöchel ging es zwar alles langsam aber von Tag zu Tag erholte er sich. Und Dr. Schmidtmann, der ihn sich ansah, war zufrieden. „Noch ein paar Tage, dann kannst du wieder an den Strand. Aber bis dahin: Geduld!
Geduld – das war nicht unbedingt ihre Stärke, aber scheinbar hatte dieser ruhige, endlegende Ort eine besänftigende Wirkung auf sie, denn sie hatte kaum das Bedürfnis nach Unternehmungen oder Ablenkung. Es tat ihr einfach gut, hier zu sein. Ihre Großmutter war auch ein Schatz, verwöhnte sie so gut sie konnte. Einmal in der Woche kam der Kaufmann vom Dorf mit seinem Pferdefuhrwerk und lud eine ganze Ladung Lebensmittel vor Emilias Tür ab. Hinterher setzte er sich zu ihr auf die Terrasse oder bei schlechtem Wetter in die Wohnstube, bekam einen Kurzen – auch wenn er immer behauptete, während der Arbeit nicht zu trinken – und versorgte Emilia noch mit dem neuesten Klatsch und Tratsch der Insel.
Als Marissa ihn das erste Mal sah, konnte sie nicht glauben, was da für eine Erscheinung vom Kutschbock hinunterstieg. Ein altersloses Männlein, mit faltigem Gesicht, roter Nase und zwei Ohren, die derart weit vom Kopf abstanden, dass sie an ein paar Segel erinnerten. Vielleicht war er mal in einen Sturm geraten und hatte keine Mütze aufgehabt, dachte Marissa innerlich grinsend bei sich, hatte aber gleich ein wenig schlechtes Gewissen ob ihrer Respektlosigkeit. Und überhaupt war Knut Niederbrück ein Mann, der einem sofort in seinen Bann zog. Er konnte unglaublich farbig erzählen und besaß einen trockenen Humor, der jedes Zwerchfell arg strapazierte. Auch Marissa kam sehr bald in den Genuss, sich nicht mehr vor Lachen halten zu können. Von da an freute sie sich immer, wenn sie die Pferde von Knut Niederbrück herantraben hörte.
Ansonsten verbrachte sie viel Zeit im Garten auf ihrem Platz im Liegestuhl und gab sich dem süßen Nichtstun hin. Und dem Lesen. Sie hatte sich aus Emilias kleiner Bibliothek ein Buch geliehen und versank damit in die Tiefen der Welt voll Poesie und Wohllaut. Sie hatte immer gern und viel gelesen. Doch seit sie studierte, waren es nunmehr vorwiegend Fachbücher zur Veterinärmedizin, die sie sich zu Gemüte führte. Für unterhaltsame Literatur fand sie kaum Freiraum. Für was ein gestauchter Knöchel doch gut war.
Das Studium, so sehr sie sich dafür begeisterte, hatte sie zum Ende des Semesters sehr angestrengt. Irgendetwas in ihr war nicht mehr bereit gewesen, sich nach dem vorgesehenen Lehrplan zu richten, nach Vorlesungen. Alles ermüdete sie über Gebühr und nachts fand sie nicht die Ruhe, die ihr die benötigte Erholung hätte bringen können. Im Gegenteil fühlte sie sich in ihrem traumschweren Schlaf oft verfolgt, gedrängt, atemlos, sodass sie am Morgen müder erwachte als sie abends ins Bett gegangen war.
Die Bilder der Nacht standen schwarz-bedrohlich vor ihr, ohne dass sie sie hätte fassen und erkennen können. Sie verbargen sich hinter dem Vorhang der Taghelle ohne wirklich verschwunden zu sein. Eine unsichtbare Bedrohung von unwirklicher Realität.
Hier endlich konnte sie schlafen. Ruhig. Friedlich. Traumlos.
Das tat ihr gut. Das machte das Hiersein aus. Mehr war es nicht. Und doch so viel.
*
Emilia vermisste nichts. War sich selbst genug. Freute sich an ihrer Heimatoase, ihrem Pflanzenparadies, das sie noch mit Julius geplant und angelegt hatte.
Mitunter sah sie ihn wie aus dem Nichts neben den Rosensträucher stehen mit der Gartenschere in der Hand, sah wie er sich umdrehte. Hörte ihn rufen: „Lia. Soll ich noch mehr abschneiden oder ist es genug?" Und es war immer gut, egal was er tat. Manchmal kam er mit auf dem Rücken verschränkten Armen langsam auf sie zu, blieb nahe vor ihr stehen und zauberte dann eine einzelne besonders schöne Rose hervor. Für sie. Grinste bubenhaft. Charmant. Unwiderstehlich. Emilia musste immer lachen.
Auch jetzt noch. Nach so vielen Jahren ohne ihn. Und war glücklich. Glücklich, dass sie hier noch so lange Zeit hatten leben können. Zusammen.
Die Sehnsucht nach Meer, Stille und Abgeschiedenheit hatte sie hierhergezogen.
Allen Protesten zum Trotze hatten sie sich auf die Suche nach einem Haus gemacht und waren überraschend schnell fündig geworden. Das alte Haus hinter den Dünen stand schon lange zum Verkauf, niemand wollte es haben, da das Inventar mitveräußert werden sollte. So stand es im Testament des Eigentümers. Die Möbel waren altmodisch und voller Patina. Es gab viele merkwürdige aber auch schöne Sammlerstücke, die von den Seefahrten des alten Kapitäns stammten, der hier während seiner Landaufenthalte gewohnt hatte.
Emilia hatte sich sofort in das Haus verliebt und Julius liebte alles, was seine Frau liebte. Und so zogen sie hierher und genossen jede Minute in ihrem neuen Heim. In ihrem Paradies am Meer.
Fünfzehn Jahre war das jetzt schon her. Sie waren glücklich gewesen in der Zeit, in der es ihnen vergönnt war, gemeinsam Inselfrieden einzuatmen.
Dann wachte Julius eines Morgens nichts mehr auf. Er schien etwas Schönes im Traum gesehen zu haben, denn es lag noch ein Lächeln auf seinem Gesicht. Doch seine Augen öffneten sich nicht und die Hand, die beim Einschlafen die ihre gehalten hatte, war kalt. Emilia spürte noch die Liebe, die zu ihr geflossen war und nahm die Hand wärmend in die ihre, drückte sie an ihr Herz und gab dann den Mann, den sie noch immer so liebte wie am ersten Tag, an die Macht zurück, von der er einst auf die Welt geschickt worden war.
Das war vor vier Jahren gewesen. Und es verging kein Tag, an dem sie nicht an ihn dachte. Mit vollem, warmen Herzen ohne Trauer. Er war bei ihr, auch wenn er jetzt woanders war. Sie fühlte seine Nähe und Gegenwart deutlich und war nicht allein.
*
„Vermisst du ihn?" Marissa stand in der Tür des Schlafzimmers gelehnt und sah die Großmutter auf der leeren Bettseite sitzen, das Bild des Großvaters in der Hand.
„Ja . Emilia wandte ihren Blick nicht vom Bild. Wischte dann mit der Hand darüber. Eine liebevolle, streichelnde Geste, die Marissa unerwartet berührte. Dann stellte sie es auf das Tischchen neben dem Bett. „Komm setz dich.
Sie klopfte einladend auf den Platz neben sich. Marissa schmiegte sich eng an die Großmutter und ließ es zu, dass diese fest den Arm um sie schlang.
„Aber weißt du, er ist da, bei mir, sie legte die freie Hand auf ihr Herz. „Ich kann immer mit ihm reden und er redet mit mir.
Marissa schwieg. Beide schwiegen eine lange Weile, aneinander gelehnt wie um sich gegenseitig Halt und Schutz zu geben. Um sich zu trösten und Mut zu verleihen und sich der Gegenwart der anderen zu vergewissern.
Der Wecker an Emilias Bettseite tickte langsam und stetig vor sich hin, lullte die beiden in einen tranceartigen Traumzustand. Die Luft flirrte wie feine Schmetterlingsflügel. Draußen war es schon dunkel und der Wind ließ manchmal die Fensterläden unten am Haus klappern. Sonst war es still und die Zeit schien zu schlafen. Sie war müde. Müde wie die beiden da am Bettrand.
Und dann sagte die Jüngere so leise, dass es wie ein Flüstern eines Schmetterlings klang: „Ich wünschte, ich würde Sandrina spüren…"
Die Umarmung der Großmutter wurde enger und mit einem Mal sank die Enkelin mit ihrem Kopf auf den Schoß der Älteren und mit ihr die Tränen, die in ihr festgesteckt gewesen waren. Sie flossen einfach aus ihr heraus. Die alte Frau strich