Es war einmal ...
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Es war einmal ... - Dietrich Novak
Prolog
Märchen: das uns unmögliche Begebenheiten unter möglichen oder unmöglichen Bedingungen als möglich darstellt.
Roman: der uns mögliche Begebenheiten unter unmöglichen oder beinahe unmöglichen Bedingungen als wirklich darstellt.
Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832)
Die Obdachlosen Kalle und Otto waren in dieser Nacht auf der Suche nach einem Schlafplatz, von dem man sie nicht gleich wieder vertreiben würde und wo es relativ ungefährlich war, denn auch sie hatten von Übergriffen auf ihre Leidensgenossen gelesen. Das Brachgelände war nicht einfach zu betreten, weil es inzwischen gänzlich eingezäunt und die Eingänge mit Ketten gesichert waren. Doch Kalle wusste von einem Schlupfloch. Über das Buschallee Stadion kam man noch hinein. Ein Stück Zaun war durch einen umgestürzten Baum heruntergedrückt worden. Teile des Stacheldrahts, der ungebetene Gäste abhalten sollte, war bereits wieder entfernt worden, sodass man über den Baumstamm relativ bequem auf das Gelände gelangen konnte.
»Dit sind ja nur noch ausjebrannte Ruinen«, beschwerte sich Otto. »Und dit soll mal `ne schlossähnliche Vorzeigeklinik jewesen sein? Da feift ja überall der Wind durch. Da können wa ooch gleich im Freien übernachten.«
»Quatsch nich’«, sagte Kalle. »Ick hab det allet jenau ausjekundschaftet. Zwar sind die meisten Jebäude total entkernt, aber et jibt ooch windjeschützte Ecken wie kleene Kammern. Außerdem haste doch dein Schlafsack. Hier lässt sich selten eener blicken. Seitdem nen paar Decken einjestürzt sind, kommen die Kampierer nich’ mehr. Die vielen leeren Pullen zeujen noch von ihre Anwesenheit. Ooch die Urban Explorer, wie et neudeutsch heißt, ham’s wohl uffjejeben, nachdem die Anlage in diversen Berichten über „Lost Places" schon ufftaucht. Früher kamen se jerne mit ihre Kameras in de Nacht. Ebenso unerjiebig is et für die Graffiti-Sprüher, weil schon fast alle Wände volljekleistert sind. Da jibt et Räume, da sind die Decke und de Wände komplett mit Bananen, Mohrüben Tannenbäume oder Wolken besprüht.«
»Wat? Ham die sonst nischt zu tun? So ville Uffwand für nen Kunstwerk, wat kaum eener zu sehen kricht?«
»Frach mich ma wat Leichteret. Mensch komm von det Fenster da wech. Nich dass de ooch in de untere Etage fällst …«
»Lass ma. Ick hab da grade wat Interessantet jesehen. Nen Typ mit nem Parka mit Tarnmuster is mit nem schwarzen Müllsack über de Schulter übert Jelände jeschlichen. Soviel dazu, dat hier keener mehr herkommt.«
»Vielleicht entsorgter nen bisken Müll.«
»Nee, dit sah mir wie’n Körper aus. Wir warten jetzt, bis er zurückkommt, und denn jeh’n wa ma nachkieken.«
»Neujierich biste jar nich’, oder?«, fragte Kalle. »Mensch, wenn dit wirklich `ne Leiche is, wat soll’n wa denn machen? De Polizei rufen? Die fragen doch als Erstet, wat wa hier zu suchen ha’m.«
»Man kann ooch anonym anrufen. Wenn det hier `ne Ablage für Leichen is’, denn will ick ooch nich’ hierbleib’n.«
»Jetzt wart erst ma ab. Vielleicht is et doch bloß Müll.«
Otto starrte gebannt auf das Gelände. Durch die Dunkelheit waren nur Schemen zu erkennen, doch die weißen Sneakers des Fremden leuchteten wie Signale.
»Da isser wieder«, sagte Otto. »Die Müllsäcke scheinter zusammenjefaltet unter’m Arm zu haben. Seltsam, oder? Müll schüttet man doch nich’ aus. Komm, wir seh’n uns dit aus der Nähe an.«
Kalle und Otto liefen über das stark überwucherte Gelände und kämpften sich durch Sträucher und Dornengestrüpp. Bis Otto plötzlich anhielt und auf eine Stelle deutete.
»Mensch, dit is ja nen Meechen«, rief Kalle erstaunt aus. »Erinnert nen bisken an Dornröschen, wie se da so mang de Dornen liecht.«
»Ja, nur dass se sich nich’ an `ne Spindel jestochen hat, sondern `ne Spritze im Arm hat. Dit is nen Junkie.«
»Mag ja sein, aber die Spritze wär doch beim Transport abjefallen. Für mich sieht det so aus, als hätt der Kerl se ihr jesetzt. Aber darüber soll’n die Bullen sich den Kopp zerbrechen. Los, lass uns abhauen und de nächste Telefonzelle suchen. Falls et sowat hier überhaupt noch jibt.«
1. Kapitel
Eine Telefonzelle hatten Kalle und Otto auf der Hansastraße nicht gefunden, aber eine Tankstelle. Die Dame an der Kasse rümpfte die Nase, als Kalle nach einem Telefon fragte.
»Wir sind hier keine Telefonzelle«, sagte sie spitz. »Besitzen Sie kein Handy?«
»Nee, seh’ ick so aus? Dit is’n Notfall. Wir müssen wat den Bullen melden.«
»Ach so, das ist etwas anderes. Bitte schön!«
Kalle nahm das Telefon entgegen und wählte 110. Damit landete er in der Direktion 1, Abschnitt 14, in der Berliner Allee. Als er seine Beobachtung schilderte, hieß es, er solle zurück zum Fundort gehen und dort auf die Polizei warten.
»Ja, machen wa. Ick leg jetzt uff«, sagte Kalle und zog Otto am Ärmel mit sich nach draußen. »Komm bloß. Wir soll’n da warten. Mensch, da kommt jrade die M4. Nimm de Beene in de Hand und denn nischt wie wech hier.«
Als am späten Abend im Ortteil Tiergarten das Telefon klingelte, meldete sich Hauptkommissar Hinnerk Lange. Er hörte eine Weile zu und sagte dann: »Verstanden, wir sind gleich da.«
Seine Kollegin und Ehefrau, Hauptkommissarin Valerie Voss, die er bereits zum zweiten Mal geheiratet hatte, sah ihn fragend an.
»In Weißensee, auf dem Brachgelände der ehemaligen Kinderklinik, ist eine weibliche Leiche gefunden worden. Der Anruf kam von einer Tankstelle in der Hansastraße. Wahrscheinlich ein Obdachloser, der einen Schlafplatz gesucht hat.«
»Und warum kümmern sich die Kollegen von der Direktion 1 nicht darum?«, fragte Valerie.
»Tun sie ja. Aber es gibt da wohl einige Besonderheiten, sodass sie meinen, wir vom LKA wären besser zuständig.«
»Hach, gerade wo ich langsam die nötige Bettschwere erreicht hatte«, maulte Valerie. »Und dann auch noch quer durch die Stadt, mitten in den tiefsten ehemaligen Osten.«
»Das ist nun mal unser Los. Durch die Wiedervereinigung sind wir jetzt auch für Gebiete zuständig, die wir früher nur von der Landkarte her kannten. Komm, Schatz, bürste noch mal dein Silberhaar, wirf dir eine Jacke über, und dann lass uns gehen!«
Hinnerk spielte auf Valeries weißblond aufgehellte Haare an, die ein echter Hingucker waren.
»Die Wiedervereinigung fand vor beinahe dreißig Jahren statt, wenn ich dich erinnern darf«, feixte sie. »Tu nicht so, als hättest du es jemals anders kennengelernt. Als Westberlin noch eine Insel war, sind wir beide noch Teenager gewesen und gingen der Kripo noch abhanden.«
»Man wird sich doch mal nach einem beschränkteren Arbeitsbereich sehnen dürfen. Oder meinst du, es macht mir Spaß, bis nach Köpenick oder Pankow zu fahren?«
»Aber du willst nicht wirklich die Mauer zurückhaben, oder?«
»Nicht wirklich. Ich genieße es, ungehindert ins Umland fahren zu können. Lieber privat als dienstlich. Doch das Inseldasein hatte schon so seine Vorteile. Der Flugverkehr wurde noch um die Stadt herumgeleitet, und die Düsenjets flogen nicht über Wohn- und Grünanlagen. Und telefonieren musste man von zu Hause oder aus der Zelle. Denn Sendemasten für den Funkverkehr waren ein No-Go unter den Alliierten. Da liefen noch nicht überall Smombies herum, die Gefahr laufen, überfahren zu werden.«
»Wer lief nicht herum?«
»Smombies. Das ist eine Wortschöpfung aus Smartphone und Zombie. Für diejenigen, die pausenlos auf ihr Handy starren. Und Fahrrad fuhr man noch auf dem Fahrdamm oder auf ausgewiesenen Radwegen und nicht wild auf dem Bürgersteig, wie heutzutage.«
Valerie lachte. »Ja, ich weiß, das ist ein Lieblingsreizthema von dir. Du wirst langsam alt, mein Guter. Bei älteren Leuten hört man oft, dass früher alles besser war.«
»Das will ich nicht behaupten. Und apropos, wer kennt sich besser aus mit den neuen Wortschöpfungen?«
»Eins zu null für dich. Auch wenn ich sie für etwas fragwürdig halte.«
Unterwegs nach Weißensee, das zum Bezirk Pankow gehört, hakte Valerie noch einmal nach, was es mit der ehemaligen Kinderklinik auf sich hatte.
»So viel ich weiß, ist da ein regelrechter Rechtsstreit entstanden. Das war mal das erste kommunal geführte Säuglings- und Kinderkrankenhaus Preußens. Im Jahr 1987 wurde es durch den Anbau eines Bettenhauses erweitert. Weitere zehn Jahre später erfolgte auf Beschluss des Senats 1996 die Schließung der traditionsreichen Einrichtung. Es verblieb lediglich als denkmalgeschützte Immobilie. Seit dem 1. Januar 1997 ist das ehemalige Säuglingskrankenhauses der Gemeinde Weißensee mit allen Wirtschaftsgebäuden ungenutzt und dem Verfall preisgegeben. 2005 wurde es an einen russischen Investor verkauft. Spätestens 2015 sollte auf dem Areal ein wissenschaftliches Zentrum für die Krebsforschung in Betrieb gehen. Doch bis heute geschah nichts. Daraufhin verlangte die Stadt Berlin das Gelände zurück und bekam vor dem Landgericht Recht, doch der Investor ging in Berufung. Die Gebäude verfallen weiter und sind ein Paradies für Kabeldiebe, Obdachlose sowie Graffiti-Schmierer. Das Haupthaus brannte bis Mitte Juni 2013 bereits elfmal.«
»Kommt mir irgendwie bekannt vor. Diese verlassenen Gebäude und Einrichtungen gibt es ja zuhauf in Berlin. Auch im ehemaligen