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Die Träume von Macht: Roman nach Motiven der Theseus-Sage
Die Träume von Macht: Roman nach Motiven der Theseus-Sage
Die Träume von Macht: Roman nach Motiven der Theseus-Sage
Ebook281 pages4 hours

Die Träume von Macht: Roman nach Motiven der Theseus-Sage

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Es sind diese Träume von Macht, die Thessi, vaterlos und gehänselt, erst zum Herrn des Schulhofes aufsteigen lassen und dann zum cleveren Unternehmer. Ihnen fallen auch Perry zum Opfer, Tochter des verhaßten Lehrers, und später Ariane, die Thessi zum Sieg über ihren Vater verhilft, den scheinbar allgewaltigen Großreeder Minarchos. Perry wird vergessen, Ariane zurückgelassen auf der Flucht. Doch Macht ist kein Glück: Anja, die ebenbürtige Geliebte, erliegt dem Krebs; Phedra, die Ehefrau, treibt Anjas Sohn in den Tod. Zutiefst erschüttert, will Thessi allen Gewinn seiner Macht seinen Mitarbeitern zurückgeben. Doch da ist noch ein anderer, geboren von der längst vergessenen Perry....
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateSep 2, 2016
ISBN9783738083774
Die Träume von Macht: Roman nach Motiven der Theseus-Sage

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    Die Träume von Macht - Eckhard Lange

    Die Kindheit

    Eigentlich war er nicht dumm. Im Gegenteil: Später sollte man feststellen, daß er sogar hochbegabt war. Aber da war es fast schon zu spät. Er könnte das durchaus schaffen, sagte sein erster Klassenlehrer, aber er ist einfach zu faul und zu träge. Und so sorgte er dafür, daß er eine Klasse wiederholen mußte - mit eher gegenteiligem Erfolg.

    Er läßt sich ständig ablenken, er kann sich einfach nicht konzentrieren, sagte zwei Klassen und drei Jahre später eine selbstbewußt-ahnungslose und vor allem junge und attraktive Lehrerin und merkte nicht, daß er sie mit all seiner noch recht knabenhaften Fantasie begehrte und deshalb unfähig war, auf schlichte und sachliche Fragen ebenso schlicht und sachlich zu antworten, weil er auf die begierig begehrten Rundungen ihres engsitzenden Pullovers schaute statt auf ihren Mund.

    Sie sollten einen Facharzt aufsuchen, es gibt heute durchaus schon Behandlungsmethoden gegen dieses hyperaktive Verhalten, riet ein wohlmeinender Schulleiter seiner herbeizitierten Mutter. Aber die schämte sich, mit so etwas zum Arzt zu gehen. Außerdem hatte sie Angst, man könnte ihr den Jungen fortnehmen und in die Psychiatrie stecken - sie benutzte für sich allerdings einen etwas anderen Begriff dafür.

    Du träumst schon wieder, sagte sie oft, vorwurfsvoll und verzweifelt bemüht, wenn er wieder einmal vor seinen Büchern saß, ohne doch seinen Blick auf deren zweifellos wissensvermittelnde Zeilen zu richten. Und sie hatte recht, vielleicht mehr als all die Pädagogen. Ja, er träumte. Er durchwanderte ganze opulent angereicherte köstliche Welten, während jenes Buch vor seiner Nase nur trocken Brot versprach, wenig hilfreiche Alltagsfakten anbot. Als er noch jünger war, ließ er glänzend geharnischte Ritterheere sich zur Schlacht rüsten, ohne daß ein einziger Reitersmann sich in seinem spärlich ausgestatteten Spielzeugfundus befunden hätte. Aber er brauchte keine Zinnfiguren, um sie ihre Lanzen senken zu lassen, damit sie einander berannten. Er sah auch so, wie ihre Fähnlein in den Wind gehoben wurden, wie die Getroffenen vom Roß stürzten, wie die Sieger über die Verwundeten hinwegritten und mit lautem Schrei in die belagerte Stadt eindrangen. Und er befehligte das erfolgreiche Heer, ließ die feindlichen Anführer auf hohem Podest öffentlich hinrichten und zwang die Unterworfenen unter seine Gewalt. Später zwang er auch deren Töchter in die eroberten Betten, um sie lustvoll zu demütigen.

    Noch später wandelten sich seine Träume, fanden sich Akteure und Bühne in der Gegenwart, und als auch sexuelle Fantasien ihm nicht mehr genügend Macht verschafften, verwandelten sich die Heere in Konzerne, weltweit agierend, Millionen, ja Milliarden anhäufend, die Konkurrenten zur Aufgabe zwingend oder sie sich einverleibend. Und er stürzte aus der Chefetage heraus Regierungen und trieb ganze Staaten in den Konkurs. Ja, er träumte - böse, lustvolle, machtbesessene Träume. Er träumte schon in seinen ersten Schultagen, während er auf dem Schulhof seine Mütze aus den Pfützen sammeln und auf der Straße sein Taschengeld abliefern mußte. Doch wo die Gleichaltrigen durch die Wirklichkeit gingen und ihre kleinen, aber sehr realen Erfolge genossen, waren die seinen irreal, dafür aber gewaltig und maßlos.

    Später hieß es, ihm hätte der Vater gefehlt in den prägenden Jahren seines Heranwachsens, ihm hätte ein Vorbild gefehlt, das Erfolg an tatkräftiges Handeln knüpfte. Ihm hätte auch jemand gefehlt, der Lebensziele mit Verantwortung und Anstand verband. Später weiß man es immer besser. Aber was sollte die Mutter tun, die den Vater nicht einmal mit Namen kannte, weil er zu schnell wieder aus ihren Augen verschwand, die jung und in solchen Dingen unerfahren betrogen wurde um die schönsten Jahre ihres Lebens und die so schmerzlich kurz hervorgebrochene Liebe nun einem Säugling zuwenden mußte, der alle Zuwendung verlangte und bald anzeigte, daß er keinen neben sich duldete, schon gar keinen Mann an der Seite der Mutter.

    So blieb sie einsam, und nur das Getuschel der Nachbarn machte sie glauben, der Samenspender sei von achtens- wertem Rang, von großem, geldwerten Einfluß gewesen und auch ausgezeichnet durch hohe Intelligenz. Sie wußte es nicht, hätte es wohl auch kaum bemerkt in der hitzigen Begegnung jener einen Nacht, als wenig geredet, sondern eilfertig-brünstig zur Sache geschritten wurde. Sie wußte nicht einmal zu sagen, ob der Sohn etwa dem Vater ähnlich sei, denn dessen Gesicht war ihr nicht mehr erinnerlich.

    Daß er indes seinerseits Mutter und Kind nicht aus dem Auge verlor, auch wenn er keinerlei Beitrag leistete zur Erziehung und nicht einmal zum Unterhalt der beiden, auch das wußte sie nicht und hat es nie erfahren.

    So blieb er ohne Vorbild und auch ohne Moral - außer den täglich und kläglich gescheiterten kleinbürgerlichen Ermahnungen seiner Mutter. So suchte er sich selbst seine Vorbilder und errichtete sich Verordnungen einer eigenen Moral, und die hatte nur ihn selbst zum Ziel und zur Norm. Doch das alles blieb allen verborgen - der Mutter, den Lehrern. Nur die Kinder auf dem Schulhof und auf der Straße begannen langsam zu spüren, daß er nicht Opfer war wie anfangs, sondern Täter wurde, wenn auch auf seine Weise, und die war schmerzhafter und gefährlicher als das, wozu sie fähig waren. Dahin war für ihn vielleicht ein weiter, aber ein erfolgreicher Weg. Und irgendwann waren sie ihm untertan, anerkannten seine Macht und gehorchten seinen Befehlen, ohne daß er selbst Hand anlegen mußte.

    Thessi

    In Wahrheit heiße ich Theodor Sieghart Ath. Ein unmöglicher Name, ich habe ihn nie gemocht, weiß der Teufel, wer ihn meiner Mutter aufgeschwatzt hat. Theodor und Sieghart sollen die Namen der beiden Brüder von Mama gewesen sein. Vielleicht waren sie ja meine Taufpaten, doch ich habe sie nie kennengelernt: Eine unverheiratete Mutter paßte nicht in die Vorstellungswelt der Familie, so hielt man Distanz, was nicht schwerfiel, denn beide lebten weit entfernt irgendwo im Süden Deutschlands. Als ich denken oder fragen konnte, war der Kontakt längst abgerissen.

    Mama rief mich übrigens nur Tessi - oder sollte ich lieber Thessi schreiben? Es war wohl eine Kurzfassung, zusammengezogen aus beiden Namen. Alle nannten mich nur Thessi, selbst die Pädagogen in den Lehranstalten, die ich zwangsweise absolvierte.

    Es stimmt: Ich habe die Schule nie gemocht, und sie hat meine Abneigung herzlichst erwidert. Was gab es denn da schon zu lernen? Was nach meiner Auffassung wirklich wichtig war fürs Leben - und dafür lernen wir ja angeblich - das kannte ich längst, ehe irgendein Pauker sich bemühte, es umständlich zu erklären. Warum sollte ich da noch hinhören? Ein Blick in meine Bücher, und ich wußte Bescheid. Und meist war mein Wissen umfangreicher als das der Lehrenden. Aber damit war weder mir noch ihnen geholfen. So verweigerte ich mich, baute mir meine eigene Schule mit selbstbestimmtem Lehrplan. Und mit Fantasie. Sie war für mich das, was die Pädagogen Vertiefung nannten: Was ich bei mir selbst gelernt hatte, das nahm in meiner Fantasie Gestalt an, wurde Wirklichkeit - virtuelle Wirklichkeit, um genauer zu sein und im Sprachgebrauch dieses Zeitalters zu bleiben. Es gab nur weniges, was mich mit der Schule verband. Sport etwa, denn ich lernte rasch, daß nur ein trainierter Körper in der Lage war, den Demütigungen entgegenzutreten, denen ich in den ersten Jahren der Schulzeit noch ausgesetzt war. Wie ich bald feststellte, gab es zwei Typen, die für die Masse der anderen zur Zielscheibe wurden: die besonders Schlauen und die besonders Dummen. Und ich gebe es zu: Ich war beides - das eine für mich selbst, das andere in ihren Augen, weil sie mich mit den Augen des Lehrkörpers betrachteten. Doch das sollte sich in gleichem Maße ändern, wie ich ihnen körperlich überlegen wurde.

    Ja, Schule war mir gleichgültig, auch wenn es mich einige Wiederholungen von Klassenstufen kostete. Aber da ich wenig Freunde hatte, traf mich das kaum. Mochte neben mir sitzen, wer wollte - oder wer mußte. Nur einmal habe ich bedauert, daß ich nicht versetzt wurde. Da war Frau Kauffmann unsere Klassenlehrerin, und die habe ich dadurch verloren. Gerade, als ich ernsthaft überlegte, ob ich mich ihr auch privat nähern sollte. Nicht, daß ich ihren Unterricht besonders schätzte. Ich schätzte ihren Körper. Schließlich war ich damals dreizehn, und meine Fantasie war noch einige Jahre älter. Sie trug ständig enganliegende Pullover oder Shirts, die ihre Brüste hervortreten ließen wie eingearbeitete Pampelmusen. Oft hatte sie dazu noch Miniröcke an, die wunderbar lange schlanke Beine freigaben. Ich habe sie fast jede Stunde ausgezogen - ganz langsam, obwohl ich gierig und aufgeheizt war. Aber ich hatte ja 45 Minuten Zeit, bis sie nackt dastand. In meiner Fantasie, wie sonst! Aber der Wunsch wurde immer stärker, aus der virtuellen in die reale Welt zu wechseln.

    Vielleicht war es gut, daß ich dann sitzenblieb. Schließlich wuchs der Samenerguß langsam über bloßes Tröpfeln hinaus. Und eine nasse Hose hätte mich wohl alles Ansehen gekostet, das ich mir dank meiner körperlichen Überlegenheit bei den Mitschülern erworben hatte. Aber bis heute bilde ich mir ein, daß sie sich damals allein für mich so aufreizend gab - und nicht für den jungen Kollegen, den sie tatsächlich später geheiratet hat. Immerhin war ich zu jener Zeit als einziger zwei Jahre älter als die anderen Schüler in ihrer Klasse, und damit ein geeignetes Objekt für heimliches Begehren einer jungen Frau.

    Ach, meine Schulzeit! Ich habe wenig gelernt, das sagte ich schon. Aber ich habe viel gelernt über mich selbst. Ich wußte nun, daß es mir leichtfallen würde, komplizierte Aufgaben, die das Leben stellen könnte, zu lösen - auch ohne entsprechende Noten. Ich wußte auch, wie man mit unlösbaren Problemen so umgeht, daß sie einem nicht den Weg verstellen: Manche kann man ignorieren, andere umgehen, man kann sie anderen zuschieben, die dann daran scheitern, man kann auch Scheinlösungen anbieten, die sich erst viel später als Trugschluß erweisen, wenn du längst darüber hinausgewachsen bist.

    Und auch das habe ich über mich gelernt: Daß Träume wichtig sind, daß sie - scheinbar irreal - Realität verändern, ja schaffen können. Große Erfinder wissen das. Ich habe zwar nichts erfunden, jedenfalls keine Geräte oder Maschinen, keine Zugänge zu neuen Erkenntnissen. Aber ich habe anderes erfunden: Wie ich mir Einfluß verschaffe, möglichst mühelos und ohne Kosten zu verursachen; wie ich Macht aufbaue, ohne allzu große Opfer dafür zu bringen; wie ich andere einbinden kann in ein Netzwerk, das nur mir dienlich ist, ohne daß sie es überhaupt bemerken. Das sind komplexe Fähigkeiten, und nicht jeder, der sie besitzt, kann damit auch umgehen - so umgehen, daß sie stets auf ein Ziel hinauslaufen, das du selber setzt.

    Ich habe das schon früh erprobt, im Kleinen, im Kreis der anderen Schüler meiner Klasse. Dort konnte ich gefahrlos üben. Erst war es meist körperliche Überlegenheit, die ich einsetzte: Was mir angetan wurde, das konnte ich nun anderen antun. Oft reichte Drohung, um mich in den Besitz fremden Eigentums zu setzen - sei es Taschengeld, seien es irgendwelche Klamotten. Dabei habe ich nicht wahllos abgezogen, sondern habe Nehmen mit Geben verbunden: Dem einen wurde erobertes Gut zum Geschenk gemacht und verpflichtete so zur Heerfolge. Und zur Verschwiegenheit des Mitwissers. Dem andern gab ich großzügig zurück, was ich zuvor bei ihm erbeutet hatte, und ließ ihn im Glauben, es sei doch nur Scherz gewesen - aber das Erschrecken, das Gefühl der Ohnmacht, die Angst vor Wiederholung blieb, und damit eine doppelte Abhängigkeit. Und wieder andere ließ ich hinter mich treten, teilnehmen an der Tat, die sie doch ohne mich nicht gewagt hätten. Und sie wurden zu Schuldigen, die meines Schutzes bedurften, um nicht bestraft zu werden.

    So stieg ich zum Herrscher auf, ohne doch allzu verhaßt zu sein. Leutseligkeit ist ein probates Mittel der Fürsten, ihre tatsächliche Macht dem Ohnmächtigen nicht bewußt werden zu lassen. Weil es ihnen vorgaukelt, irgendwie doch ein wenig Anteil zu haben an jener Macht. So sammelte ich immer mehr Anhänger hinter mir, teils in den Dienst gezwungen, teils auch freiwillig zur Huldigung bereit. Doch je mehr die Schar der Hörigen wuchs, desto größer wurde meine Pflicht, ihnen Schützer zu sein - oder auch Rächer.

    Das alles jedoch war mir letztlich zu primitiv. Wirkliche Macht mußte subtiler sein. Nicht Fäuste, Gedanken sind die Waffen, die Unterwerfung erzwingen. Nicht der rohe Verstoß gegen geltendes Recht sichert dir dauerhaften Einfluß, du mußt selber das Recht setzen, Gesetze formulieren, die von nun an zu befolgen sind. Und dazu bedarf es nicht körperlicher Kraft, sondern eines wachen, erfindungsreichen Geistes. Nicht Krieger allein gilt es um dich zu sammeln, sondern gläubige Jünger. Die kriegerische Tat schafft stets Unterworfene, die von Freiheit träumen. Der Jünger aber zieht aus, um die Schar der Überzeugten zu mehren. Auch sie träumen, aber sie träumen sich nicht zurück, sondern hin auf ein Ziel. Und dieses Ziel hast du ihnen gesetzt - nein, dieses Ziel bist du selbst.

    So begann ich, Eingeweihte zu schaffen, die Geheimnisse mit mir teilten, ihre eigene Sprache, eigene Regeln, eine eigene Hierarchie, ja auch eigene Strafen besaßen. Mag das alles noch sehr jungenhaft gewesen sein - ein wenig Wandervogel, ein wenig Robin Hood, auch ein wenig Okkultismus vielleicht - es war Übungsfeld für spätere Jahre. Und es gab der Fantasie freien Raum, denn Herr aller Fantasie war und blieb allein ich. - In der Tat, ich habe viel gelernt in meiner Schulzeit.

    Später - ich war schon fünfzehn und mein Verbleiben auf dem Gymnasium war in höchstem Maße fraglich geworden - hat mich eine in jeder Hinsicht höchst einfühlsame Psychologin davon überzeugt, daß allein meine exorbitante Intelligenz das Hindernis auf meinem Weg zu schulischen Erfolgen sei. So beschloß ich, mich soweit am Unterricht zu beteiligen, daß ich die Klassenziele erreichte, auch wenn es schwerfiel, mich auf dieses Niveau herabzulassen. Immerhin aber schien es doch vorteilhaft, mir einen Schulabschluß bestätigen zu lassen. Also lernte ich zwar auch nichts von Bedeutung in den kommenden Jahren, aber ich bemühte mich, um der Zensuren willen dem Ehrgeiz meiner Pädagogen entgegenzukommen. Und wenn es sich um Pädagoginnen handelte, fiel mir das auch nicht sonderlich schwer. Schließlich hatte mir meine Mutter eine schlanke, aber dennoch muskulöse Gestalt, ein feingeschnittenes Gesicht mit lockigem dunklem Haar und vor allem zart- gliedrige Hände vererbt, die sich vielseitig einsetzen ließen.

    Der Geheimbund

    Unser junger Held - nennen auch wir ihn Thessi - war auf der Suche nach Heldentaten. Das entsprach schließlich seinem Naturell - seinem Hang zur Fantasie ebenso wie seinem Streben nach Macht, danach, übermächtig zu sein. Gut - er war bald Anführer einer Kinderbande, oder sagen wir lieber: eines Geheimbundes. Die Jungen trafen sich, in regel- mäßigen Abständen oder wenn er es befahl, am Nachmittag in einer entlegenen Ecke des ziemlich verwilderten Parks, der in der Nähe der Schule in der sumpfigen Biegung eines wenig bedeutsamen Flusses lag. Sie hatten in die dichte Hecke aus Wacholderbüschen, die den äußersten Spazierweg gegen das Flußgebiet hin abschirmte, einen versteckten, gezackten Zugang gelegt, unsichtbar für den Uneingeweihten. Dahinter lag, umstellt von mannshohen wildgewachsenen Buchenschößlingen, eine freie, von spärlichem Gras bewachsene Fläche, geschaffen vom dauerhaften Schatten einer Buche, die sie zu ihrem Totem erhoben hatten und um die sie sich sammelten. Von dichtem Unterholz überwuchert, senkte sich der Boden danach langsam in Richtung Fluß, ging dann in eine amphibische Schilfzone über, durch die der Geheimbund einen Weg aus Trittsteinen gebahnt hatte, um so Zugang zum Wasser zu erhalten. Eine versteckte Stelle unter dem weitausladenden Ast einer Uferweide diente als Ankerplatz für einen schon recht morschen Kahn, den sie irgendwann nächtlich entführt hatten.

    Am Stamm des Totembaumes hatten sich an einer Seite einige Baumwurzeln so hoch aufgewölbt, daß sie einen passablen Sitz bildeten mit Andeutung von Armlehnen. Hier nahm Thessi Platz, der Anführer, Häuptling, König, Messias. Von hier aus legte er die Tagesordnung vor, leitete die Sitzung, gab neue Regeln aus, urteilte über Verstöße. Stets forderte er die Bundesmitglieder auf, Stellung zu nehmen, Vorschläge zu äußern, Anträge einzubringen. Aber letztlich entschied allein er über alles, ohne daß die meisten es überhaupt merkten. Und wer es merkte und auch noch aussprach, wurde mit Strafe belegt - oder anerkennend im Rang befördert und so hineingezogen in die Sphäre der Macht und damit mundtot gemacht. Gekonnt unterdrückte der Anführer damit jede weitere Kritik.

    Thessi hatte eine Geheimschrift entworfen, deren sich alle zu bedienen hatten, wenn wichtige Nachrichten zu übermitteln waren - sei es schlicht auf einer herausgerissenen Heftseite oder auch per Brief. Dazu konstruierte er einen Ring aus Pappe, auf dem drei Reihen des Alphabets saßen, die oberste festgeklebt, die beiden anderen als drehbare Ringe - einmal vorwärts, einmal rückwärts. Ein Code am Anfang der Nachricht gab jeweils an, um wieviel Buchstaben ein Ring zu verschieben war, um den Text vom ersten auf einen unteren Zeichen für Zeichen zu übertragen und so zu verschlüsseln. Natürlich wechselte der Befehl - manchmal von Satz zu Satz, manchmal sogar von Wort zu Wort oder auch unabhängig davon nach jeweils zehn Buchstaben. Diesen Code verschlüsselte und entschlüsselte ein vierter und letzter Ring, der Zahlen aufwies. Der Physiklehrer, dem einmal eine derartige geheime Nachricht in die Hände fiel und der zu Recht eine Verschlüsselung vermutete, hatte sich ein ganzes Wochenende bemüht, den Code zu knacken. Er scheiterte und war so ehrlich, es im Unterricht anerkennend zu erwähnen, was die Autorität Thessis in seiner Bande ungemein steigerte.

    Der Besitz eines solchen Ringes war Ausweis, daß die Novizenschaft im Geheimbund beendet und der neue Eigentümer als vollwertiges Mitglied anerkannt war. Sein Verlust war eine schwere Sünde, die kaum je zu sühnen war. Ihn andern zu zeigen war Verrat. Seine Folgen wurden so wollüstig-grausam ausgemalt, daß nie einer der Jungen es gewagt hat, einen Fremden in das Geheimnis des Ringes einzuweihen oder ihn auch nur betrachten zu lassen.

    Thessi versuchte sich auch an einer eigenen Sprache, zumindestens stellte er für zahlreiche Worte frei erfundene Silbenkombinationen als Synonyme auf, dem Nichteinge- weihten rätselhaft und abstrus, den Mitgliedern ein Code für bestimmte, ihnen wichtige Begriffe. Wurden auch sie zusätzlich mit dem Ring verschlüsselt, war das geheimste Geheimnis erschaffen.

    Im Grunde jedoch blieb das alles kindliche Spielerei, und er wurde ihrer zunehmend überdrüssig, auch wenn er an den Treffen festhielt und so nicht nur eine treu ergebene Schar von Anhängern um sich versammelte, sondern auch mit ihnen und durch sie Einfluß auf alles Geschehen während der Pausen und außerhalb des Schulhofes nahm. Selbst den Unterrichtenden blieb das nicht verborgen, und es geschah durchaus, daß sie den Anführer um Mithilfe baten, wenn ihnen eine Situation außer Kontrolle zu geraten schien. Thessi ließ sich dann huldvoll herab, einen Streit zu schlichten, einen Mitschüler in die Schranken zu weisen oder einen anderen zu schützen. Das verhalf nicht nur seinen Zeugnissen ungemein zu besseren Noten, es erfüllte ihm auch seine Träume vom edlen Ritter, der sich im Dienst an den Elenden verzehrte, auch wenn die Maßnahmen, die er ergriff oder doch anordnete, nicht immer als ritterlich oder gar edel bezeichnet werden konnten. Eher schon ließ sich sein Tun mit dem antiker Helden vergleichen, die so manchem Unhold sein bösartiges Handwerk legten, indem sie ihn mit seinen eigenen Untaten straften. Ja, diese Art zu vergelten machte sich Thessi immer stärker und immer häufiger zu eigen, denn in ihr vereinte sich alles, was ihn bewegte: rächende Gerechtigkeit, tapfere Heldentaten - und der Nachweis seiner Überlegenheit, seiner unbeschränkten Macht über andere.

    Die Rächer

    Es war an einem sonnigen Juninachmittag, als sich in der Stadt eine ungeheuerliche Neuigkeit herumsprach: Ein Fünftklässler war von zwei unbekannten älteren Jugendlichen auf dem Heimweg überfallen worden, der ihn durch einen knickgesäumten Hohlweg zum abgelegenen elterlichen Anwesen führte. Dort war er hinter die Wallhecke geschleppt und grausam mißhandelt worden. Obwohl er freiwillig erst sein Taschengeld, dann seine Jeansjacke und auf Befehl auch seine neuen Marken-Turnschuhe hergab, zogen sie ihm das T-Shirt über das Gesicht, stießen ihn zu Boden und wälzten ihn mit bloßem Oberkörper in einem brennessel- bestandenen Graben hin und her. Dann zündeten sie sich Zigaretten an, rauchten und drückten ihm die glühenden Enden mehrfach auf die nackte Haut, befahlen ihm endlich, nicht eher aufzustehen, als bis er laut bis hundert gezählt hätte, um sich derweil mit ihrer Beute aus dem Staube zu machen.

    Während Polizeibeamte das völlig verstörte Opfer ohne großen Erfolg befragten, andere ebenso erfolglos den Tatort nach Spuren absuchten oder die Akten nach vergleichbaren Fällen durchforsteten, erließ Thessi per Rundruf den Befehl zur sofortigen Versammlung. Die Jungen erschienen unter ihrem Totembaum, und Thessi hielt, wegen der besonderen Bedeutung der Zusammenkunft stehend, folgende Ansprache:

    "Was dort geschehen ist, ist keine bloße Abzocke, wie sie nach unseren Gesetzen in besonderen Fällen erlaubt wäre. Ebenso ist es kein gerechtfertigter Racheakt. Es ist ein gemeines Verbrechen. Auch wenn der Junge keiner von uns ist, es geht uns alle an. Wir dulden keine Verbrechen in unserem Gebiet, und wir werden alle bestrafen, die einen Schüler unserer Schule entführen und foltern. Dies ist eine Sache der Ehre, und eine Verpflichtung zur

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