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Keiner wird als Held geboren: Ein Lebensbild des Anton Saefkow
Keiner wird als Held geboren: Ein Lebensbild des Anton Saefkow
Keiner wird als Held geboren: Ein Lebensbild des Anton Saefkow
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Keiner wird als Held geboren: Ein Lebensbild des Anton Saefkow

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Warum fällt es Dagmar, der "Tochter aus besserem Hause", schwerer, zur illegalen KPD zu kommen, als Nitte, dem umhergestoßenen Arbeiterjungen? Was unterscheidet die Führer des proletarischen Widerstands von denen des bürgerlichen? Weshalb musste die Revolte des 20. Juli scheitern? Werden jene, die wir als Helden bezeichnen, mit übermenschlichen Eigenschaften geboren?
Mit solchen und ähnlichen Fragen setzt sich der Autor in diesem Buch auseinander. Auf dem Hintergrund der furchtbaren Zeit des zweiten Weltkriegs spielen sich Schicksale von Menschen ab, die täglich vor Entscheidungen gestellt sind. Wir erleben Kämpfer von unbeugsamer Entschlossenheit, aber auch vor der ständigen Todesgefahr Schwachgewordene. Episoden gelungener Aktionen wechseln mit solchen der unüberwindbaren Schwierigkeiten des Untergrundkampfes. Dass er nicht losgelöst gezeigt wird, sondern im Zusammenhang mit dem damaligen Alltag des deutschen Volkes, verleiht dem Buch seine besondere Note. Es ist ein literarisches Denkmal für Anton Saefkow und seine Mitkämpfer. Nachrichten von ihrem Leben ergaben den Stoff für eine erregende Gestaltung.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateSep 19, 2014
ISBN9783847613275
Keiner wird als Held geboren: Ein Lebensbild des Anton Saefkow

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    Keiner wird als Held geboren - E.R. Greulich

    DIE ZEIT VORHER

    Kein Mensch kann sich seines ersten Schreis erinnern. Doch was Eltern und Verwandte erzählen, prägt sich ihm ein, als hätte er es wissend erlebt.

    Wir schreiben das Jahr 1903. Geburt in nasser Kellerwohnung. Der Schwamm gedeiht, die Familie vegetiert. Der Erstgeborene kränkelt. Ein Jahr alt, packt ihn eine Lungenentzündung. Arzt, Medikamente, kräftige Nahrung? Nichts davon - entweder das Wurm des arbeitslosen Schneiders beißt sich durch, oder es stirbt. Klarer Fall im Kaiserreich. Es beißt sich durch, aber es kränkelt weiter. Mutterliebe der Arbeiterfrau gibt nicht auf. Sie bündelt den Knaben und fährt zur Schwester nach Ettersberg bei Weimar. Die gute Thüringer Luft muss helfen. Das ganze Dorf nimmt Anteil. Auch der Schmied. Lobend nickt er und brummt, man solle ihm die Krabbe bringen, da helfe nur die Schmiedekur. Hoffend, voller Lebenswillen für zwei, kommt die Mutter. Der Schmied lacht, krempelt sich die Ärmel höher, badet den Schreienden in einem Trog rostroten Eisenwassers. Dann legen sie ihn ins grüne Gras, dass er trockne. Am nächsten Tag wieder so, vierzehn Tage lang. Und dazwischen badet er in Sonne, isst Möhren, trinkt Milch. Die Mutter fährt mit einem braun gebrannten, gesunden Bengel nach Berlin zurück.

    Er wird ein kräftiger Bengel mit wachem Kopf. Der Kopf nimmt viel auf und vergisst wenig. Da sind erste eigene Erinnerungen. Wieder ein Keller. Aber er ist warm und hat keinen Schwamm. Die Mutter macht eine Plätterei auf, tritt dem häufigen Arbeitslossein des Vaters so resolut entgegen wie vorher der Krankheit des Sohnes. Der Sohn kommt heim aus der Spielschule, plappert das erste gelernte Gedicht. Leuchtende Augen der Mutter lesen das Verslein vom Munde des Kleinen. Erste Schultage. Fragen, eifriges Wissenwollen, kurze Mutlosigkeiten und wieder emsiges Lernen. Etwas später erster Verdienst: Frühstück austragen. Barfüßige Beine huschen Stiegen hoch, schliddern auf Linoleumpodesten, eilen über Marmortreppen. Dem Bäckermeister zum Gewinn blanke Silberstücke, dem Barfüßigen Kupferpfennige. Danach im Lederwarengeschäft als Laufjunge. Jeden Tag vier Stunden Pakete schleppen. Für drei Mark die Woche. Der Zehnjährige verdient Vater, Mutter, Schwester die Margarine aufs Brot, zu ihren Pellkartoffeln den Salzhering, Festbraten der Armen. Der kindliche Ausgebeutete wächst heran, arbeitet länger, schafft mehr. Zwölf Mark vom Dreizehnjährigen an jedem Wochenende der Mutter auf den Tisch. Aber was kann man im dritten Kriegsjahr noch dafür kaufen?

    Doch da gibt es auch Helles, Kindhaftes. Eines Tages steht der Lachende mit einer großen Kiste vor der Mutter. Was er damit anfangen wolle? Kaninchen halten. Zu einem Einzigen erschmeichelt er die Erlaubnis. In einem Jahr sind es zweiundzwanzig; Kellerzoo der Hinterhauskinder. Alle schaffen Futter heran, alle helfen Ställe zimmern, alle hegen und pflegen. Sie lieben die Tiere und mögen den Karnickeljungen, der hilft und gern schenkt, der gern Spaß macht, um ihnen Spaß zu machen.

    Am hellsten schimmern die Stunden mit Vater. Er erzählt, wie er als junger Schneidergeselle aus mecklenburgischer Dorfenge ausbrach, sich Erfahrungen erwanderte, wie er sein Wissen erlangte von der einzigen Kraft gegen die Ausbeutung. An die zehn Jahre ist er in der Partei und ebenso lange ein treuer Gewerkschafter, als der Sohn geboren wird. Vater scheut keine Parteiarbeit. Wird er auf einer Arbeitsstelle entlassen, so bleiben von ihm gewonnene Verbandskollegen zurück. Zwei flinke, stille Hände sind dem Vater eigen, die immer wissen, was zu tun ist. Sie verstehen, Dreiangel fast unsichtbar zu flicken, aus alten Sachen neue Kleider zu zaubern und nähen im Vorbeigehen einen Knopf an, hurtig, fast wie im Märchen.

    Der höchste Feiertag der Familie ist der 1. Mai. Geschenk des Vaters: Der Sohn darf zum ersten Mal mit demonstrieren. Krönung des Geschenks: ein Paar neue Schuhe. Zu ihrem Festtag sparte Vater sich die große Ausgabe vom Mund ab. Hand in Hand gehen sie. Die Straßen sind lang, der Tag ist heiß, ungewohnt den Füßen das harte Leder. Blasen, Schmerzen, verstohlene Tränen. Der Kleine mag den Großen nicht enttäuschen. Bis der es merkt, sich lächelnd niederbeugt und die Schuhe ausziehen hilft. Die Schuhe über der Schulter, kommt der Sohn mit dem Vater nach Hause, verstaubt, müde, glücklich. Von Vaters Schultern hat er über ein Meer von Köpfen geblickt, in Gesichter, alle ähnlich dem des Vaters. Und weil Vater gut ist, ist das Meer gut, und es macht stark, wenn man darüber hinschaut, wie es wogt und sich in eine Richtung vorwärts bewegt.

    Schulentlassung. Auf drei Mark ist die wöchentliche Arbeitskraft eines Lehrlings veranschlagt, vom Lehrherrn und vom Gesetz. Erstes Lehrjahr, viertes Jahr des Kriegs der großen Räuber gegen die großen Räuber. Auf Verordnung werden den Lehrlingen vom Almosenlohn Zwangsspargelder einbehalten, erpresste Kriegsanleihe von den Kleinsten der Kleinen. Der Eisengebadete muckt auf, höhnt vor den Mitgenarrten über das Zerrbild Vaterland, senkt den Keim der Unbotmäßigkeit in ihre Herzen. Der Lehrherr ermahnt, verwarnt. Umsonst. Hinauswurf aus der Schlosserlehre. Wochenlang läuft der Vater um eine neue Lehrstelle. Der Sohn soll ein ordentlicher Schlossergeselle werden; wer sein Fach beherrscht, steht besser seinen Mann im Klassenkampf. Zweite Lehrstelle, mit etwas milderen Bedingungen. Das Jahr achtzehn bricht an. Erdbeben der Oktoberrevolution rollt um die Welt. Warnung für die Herren Deutschlands: die großen Januarstreiks. Der Reifende saugt die Lungen voll von der Luft, in der Funken kommender Entladungen knistern.

    Erlebnis der Novembertage. Nieder der Krieg, nieder der Kaiser - Frieden, Freiheit, Brot! Der Geprügelte, der Gehetzte, der Hungernde schreit es heraus mit Tausenden andern Drangsalierten. Er demonstriert, er denkt und fragt. Der Vater ist an seiner Seite. Klasseninstinkt wächst zum Klassenbewusstsein. Verrat sozialdemokratischer Demagogen macht ihn nicht irre, vertieft seinen Klassenhass. Schreien ist nicht viel, handeln ist mehr. Er tritt in Karl Liebknechts Freie Sozialistische Jugend ein. Je stärker die Linke, desto schwieriger der Verrat für die Rechten. Der Sozialismus marschiert! schreiben die an die Litfaßsäulen, aber auf den Straßen lassen sie die Generalssöldner gegen die Revolution marschieren. Freie Bahn dem Tüchtigen! sagen sie in den Arbeiterversammlungen, doch in der Wirtschaft verschaffen sie den alten Räubern freie Bahn zu neuer Ausbeutung. Hellwach sieht es der Sechzehnjährige, sieht, wie die Gestrigen wiederkommen, wie die alten Demagogen mit neuer Macht die Feuer der Revolution umzingeln, sie zu ersticken und auszutreten versuchen.

    Die Reaktion erhebt überall ihr Haupt. Auch im Fortbildungsschulwesen. Noch immer Unterricht außerhalb der Arbeitszeit, noch immer die alten Lehrer des alten Systems mit den alten Methoden. Chauvinistische Bürgerkunde, vaterländische Lieder, monarchistische Geschichtsklitterei. Was hat die Kriegsmacher in die Knie gezwungen? fragen die Genossen der Freien Sozialistischen Jugend. Also Streik gegen die kaisertreuen Pauker, gegen jugendfeindliche Schulmethoden. Das ist die Waffe. Man muss sie aufheben, damit zuschlagen. Der Sechzehnjährige, einziger Jungkommunist in der Klasse, glüht vor Begeisterung, begeistert seine Klassenkameraden. Sie helfen ihm die Flugblätter vor der Schule verteilen, tragen das Wort Streik in alle Klassenzimmer. Es summt und brodelt in den Schulräumen. In der Pause diskutierende Gruppen, Ansammlungen, Zusammenrottungen. Los, Anton, du musst sprechen! Er klettert auf einen Sandhaufen, sieht von oben ihre entschlossenen Gesichter. Lehrer Musiol, Monarchist und übelster Pauker, kommt schnaufend.

    Was wollen Sie da oben, Söhnchen?

    Beklemmende Stille, erwartungsvolle Sekunde. Zu meinen Schulkameraden sprechen, Vaterken! Tosender Beifall, Johlen, Pfeifen. Das verknöcherte Herz voller Panik, flüchtet Musiol ins Lehrerzimmer. Beratung des verstörten Kollegiums. Bevor der junge Streikführer zu reden beginnt, schickt er Musiol einen Vertrauten nach. Der dreht zweimal leise den Schlüssel im Türschloss des Lehrerzimmers, bringt ihn triumphierend dem Sprechenden. Dessen flammende Worte reißen auch die Lauen mit, lassen sie den Forderungen der Freien Sozialistischen Jugend zustimmen. Nieder die Lehrlingsdressur und -ausbeutung, hoch die neue Zeit und ihre Arbeiterrevolution! Erlöst quellen sie auf die Straße, jubeln, als der Schlüssel in hohem Bogen ins Wasser des Engelbeckens fliegt, formieren sich zur Demonstration. In den Andreas-Sälen stoßen sie zu den streikenden Lehrlingen anderer Berliner Fortbildungsschulen.

    Den Eltern flattern Strafmandate ins Haus. Auf den Scheiterhaufen mit den papiernen Einschüchterungsversuchen! Die Schulreaktion wird kleinlaut, lenkt ein. Wichtige Forderungen werden anerkannt. Die Rädelsführer dürfen nicht bestraft werden. Der Junge aus der Kellerwohnung hat das Fegefeuer des Klassenkampfes bestanden. Andere mit ihm. Neueintritte in die Freie Sozialistische Jugend. Die Revolution ist nicht tot, sie organisiert sich. Sie wird noch viele Stationen bis zum Sieg durchlaufen müssen.

    Aus Spartakus und anderen linken Gruppen bildet sich in den letzten Tagen des Jahres achtzehn die Kommunistische Partei. Etwas später entwickelt sich ihre Jugendorganisation. Aus der Freien Sozialistischen Jugend geht der Kommunistische Jugendverband hervor. Organisator der Gruppe Südwest ist der Schlosserlehrling Anton. In der Alten Jakobstraße hat die Jugend sich ein Heim ertrotzt. Keine Gardinen, keine Teppiche, keine Sessel - ungehobelte Bänke, rohe Tische, aus Kisten gezimmerte Hocker. Zwei wurmstichige Schränke voller Bücher, herübergerettet aus einem sanft entschlafenen sozialdemokratischen Bildungsverein. Deutsche Klassiker der Poesie und Prosa. Klassiker des Marxismus. Sich die Welt erobern helfen durch das gedruckte Wort. Und bei alledem fröhlich sein, singen, spielen, musizieren. Die Gruppe wächst, erscheint auf Diskussionsabenden der Sozialistischen Arbeiterjugend, des Christlichen Vereins junger Männer, zieht dort die Besten an sich. Unvergessliche Fahrten voller Ausgelassenheit - oder mit zielstrebiger Agitation auf dem Dorf. Es gibt nichts, um das nicht gekämpft werden muss, es gibt nichts, um das nicht mit Elan gekämpft wird: um Herzen und Hirne der arbeitenden Jugend, um das Verständnis der Landbevölkerung, um das Recht auf Versammlung und Redefreiheit, um das Recht auf die Straße zu gehen. Nach allen größeren Veranstaltungen heranpreschende Überfallwagen, blitzende Tschakos, dreschende Gummiknüppel. Fahne vor, Achterreihe, unterfassen! Wenn die erste Reihe steht, steht der Demonstrationszug. Anton ist immer in der ersten Reihe, kennt bald viele Polizeireviere Berlins von innen.

    Der Schlosserlehrling lernt aus, der Schlossergeselle ist arbeitslos. Trotzdem sind die Tage nicht lang genug, die Nächte zu kurz. Er stürzt sich auf die Bücher, arbeitet unermüdlich für die Organisation. Er weiß um das Geheimnis des Antäus, wünscht sich stark zu sein wie Herakles und klug wie Odysseus. Dieser Listenreiche scheint unsichtbarer Pate des Arbeiterjungen mit dem verschmitzten Mutterwitz und einem heiteren Gemüt. Tag um Tag im Dienst der Arbeitersache, scheint er alles spielend zu bewältigen, seien es Schwierigkeiten der Organisation, einzelner Jugendfreunde oder die eigenen Sorgen.

    Oh, ihr Erinnerungen an die unbekümmerten Streiche! Ob Knubbel noch daran denkt, wie sie im Kopfsprung vom Geländer der Waisenbrücke in die Spree sprangen, hart an der Gefahr vorbei, sich das Rückgrat zu brechen, nur um den Haufen zeternder Zuschauer aufzuregen? Wie sie beide auf dem dünnen Eis der Spree tanzten, zum Gaudium der Freunde und zum Ärger der Polizisten, bis Knubbel einbrach, von Anton ans Ufer gezerrt und dann ins Kino gelotst wurde, damit er dort trockne und die Eltern nichts merkten? Oder die stillen Sonnenstunden auf dem flachen Dach ihrer Mietskaserne, wo sie eifrig das Kommunistische Manifest studierten. Wie viel Sommerabende der Gruppe im Köllnischen Park, mit Liedern, Musik und Hunderten Zuhörern, denen der Unermüdliche stets eine politische Rede aus dem Stegreif obendrauf gibt, bis ein Warnpfiff die nahende Polizei angekündigt. Herrlich, im Lunapark die überschüssige Kraft am Haut-den-Lukas auszutoben, kreischend die Wasserrutschbahn hinabzuscbießen, im bayerischen Bierzelt zu jodeln und zu schuhplatteln, wie er es auf der Walze gelernt hat. Oder die Winterabende auf dem Weihnachtsmarkt. Reizen Raritätenkabinett und Zerrspiegel nicht, Allotria zu treiben? Wo ein leerer Stand ist, stellt sich der Spaßvogel hinter den Ladentisch, bringt wie ein Ausrufer in witzigen Sätzen die Politik der Partei an den Mann. Sein lachendes Publikum bedauert es nur, wenn dem Pseudoausrufer die Puste ausgeht. Ja, so war es, und es ist gut, dass es so war. Lachend kämpft es sich besser, und die Jugend mag jene Grämlichen nicht, die ihre Last sichtbar vor sich hertragen mit der Miene des Märtyrers. Das Leben ist Kampf, das des erwachten Proletariers Klassenkampf. Lebt man ihn vor, überzeugt man; lebt man ihn heiter vor, reißt man mit. Wie kann einer traurig sein, wenn er weiß, dass die Arbeiter siegen! Niemand kämpft, wenn er nicht an den Sieg glaubt, am allerwenigsten die Jugend. Wer ihr das rechte Verhältnis bietet zwischen Lehre und Tat, der ist ihrer Taten sicher, der ist ihrer Treue auch in Niederlagen gewiss. Ja, sie haben manche Schlappe in jenen Tagen eingesteckt, aber gegen jeden Misserfolg stand auch ein Sieg. Nie wird der Besitzer der Oranien-Lichtspiele die Aktion der Arbeiterjugend gegen einen antisowjetischen Film vergessen, die Antons Gruppe organisiert hat. Es wimmelt an diesem Abend in der Flimmerbude von farbenfrohen Mädchenkleidern, von Windjacken und Manchesterhosen und - von Uniformen. Die Polizei hat Wind bekommen. Die Sipos stehen mit heruntergelassenem Sturmriemen vor dem Eingang, am Durchlass und in den Kinogängen. Reklame, Kulturfilm, Wochenschau. Harmlos beginnt das Machwerk, plötzlich kommen die Krallen aus den Sammetpfötchen, unverhohlene Tendenz gegen die Sowjetunion, gegen alles Fortschrittliche. Die ersten Protestrufe, Warnungspfiffe der Polizisten, Gummiknüppelklatschen. Im Kino wird es hell. Die Polizei drischt, eingekeilte Besucher protestieren, Tschakos poltern zu Boden, die Jugend ruft in Sprechchören, die Jugend singt! Auf der Straße Fortsetzung. Jugendliche werden auf die Flitzer gestoßen. Der Haupttrupp marschiert, mehrmals auseinandergeschlagen, mit Gesang über den Oranienplatz; zum Heim in der Alten Jakobstraße. Manch einer hat von den Gummiknüppelhieben Striemen auf Schultern und Rücken, aber alle haben blitzende Augen: So müssen wir es immer machen!

    Ja, singend widerstehen. Wer vorn geht, muss singen können, und wer immer vorn ist, wird bald bekannt: Anton wird in die Bezirksleitung des Jugendverbandes gewählt.

    Arbeitererhebung, Mitteldeutschland zusammengeschossen, Hamburger Aufstand niedergeschlagen. Düstere Zeit der Illegalität. Partei verboten, Jugendverband verboten, Zentralorgan verboten. Die Rote Fahne erscheint trotzdem. Der auf Herz und Nieren Geprüfte ist einer von denen, die es möglich machen. Vor der Parteidruckerei stehen die Sipos. Nachts transportiert Anton mit andern Draufgängern die Zeitungspacken über die Dächer. Die Sipo besetzt die Maschinenräume. Druck in einer befreundeten Druckerei. Wie die Stereos aus der Parteidruckerei dort hinbringen? Alle aus- und einfahrenden Gefährte werden kontrolliert. Die Verwegenen binden sich die Platten über den Leib, verlassen das Haus als harmlose Besucher. Auch diese List wird eines Tages entdeckt. In kleinerem Format erscheint das Zentralorgan dennoch. Diesmal hilft der verbotenen Partei ein sympathisierender Druckereibesitzer. Er weiß von nichts, falls die Sache platzt, überlässt er den Eingeweihten einen zweiten Schlüssel seiner kleinen Quetsche auf dem Hinterhof in der Gitschiner Straße. Spätabends huschen dort Schatten durch die Toreinfahrt, die illegale Schicht beginnt. Die kleine Presse spuckt Bogen auf Bogen aus mit einem Inhalt, der sich verteufelt anders liest als der, den sie brav des Tages von sich gibt. Der an Eisen Gewöhnte ist schnell heimisch im Reich der Bleibuchstaben. Sein Wissen um diese Dinge wird ihm noch öfter zustattenkommen. Sechsundzwanzig Zeichen, harmlos und winzig, bergen revolutionäre Sprengkraft - wenn man sie zu den richtigen Sätzen zusammenfügt. Er hilft, wo flinke Hände gebraucht werden: beim Bogenfangen, Abzählen, Abpacken. Vor Morgengrauen erscheinen neue Schatten, lautlos, auf die Sekunde. Kuriere der einzelnen Unterbezirke holen die fertigen Packen. Die Rote Fahne erscheint, die Partei lebt!

    Eines Nachts ist die Polizei da. Hände hoch! Bullen umringen die kleine Schar. Handschellen klicken. Abführen! Der Trupp wird über den Hof gejagt, auf den vorfahrenden Flitzer gestoßen. Einer fehlt. Anton ist ein paar Minuten später gekommen und entgeht der Verhaftung. Er alarmiert die Partei, der illegale Apparat kann gesichert werden.

    Das ZK des Jugendverbandes weiß, dass Anton gefährdet ist. Er muss weg vom heißen Berliner Pflaster, wird als Kurier nach Bayern geschickt, um gerissene Fäden zu knüpfen. Nach einigen Tagen haben ihn die Häscher. Zufall, Verrat? In Nürnberg bekommt er drei Monate aufgebrummt wegen Weiterführung einer verbotenen Organisation. Mit zwanzig Jahren ist er Strafgefangener, Verurteilter jenes Klassenstaates, der sich Weimarer Republik nennt. Nach der Entlassung erfragt Anton beim Jugendverband die Berliner Situation. Besser noch fortbleiben, lautet die Antwort, und so geht er mit einem Jugendgenossen auf die Walze durch Bayern und Württemberg.

    Endlich kehrt er zurück in die Heimatstadt. Die Gruppe empfängt ihn mit Liedern, Blumen, Musik; die Familie strahlt. Partei und Jugendverband sind noch immer verboten, doch es gibt legale und halblegale Möglichkeiten. Da ist das proletarische Jugendkartell mit seinen Wander- und Sportorganisationen. Ein weites Feld, ein gutes Feld, wenn recht geackert wird. Die Besten sind nicht nur bereit, den Marxismus zu studieren, sie lernen auch begierig das Abc des bewaffneten Aufstands. Es wird wieder eine revolutionäre Situation geben, man muss vorbereitet sein.

    Am 21. Januar 1924 stirbt Lenin. Tiefe Trauer in allen Arbeiterherzen. Schmerz wird Ansporn und Tat. Wenn der Größte fällt, müssen tausend andere in die Bresche springen.

    Die Sowjetmacht ist in sicheren Händen, das Vaterland aller Werktätigen festigt sich. Noch im Jahre einundzwanzig hat Anton mitgeholfen bei Solidaritätsaktionen für das vom Interventions- und Bürgerkrieg geschüttelte Land. Jene überfüllte Kundgebung im Sportpalast: Hände weg von Sowjetrussland! - Helft den Sowjetmenschen!, war auch sein Werk. Jetzt wird er eingeladen, ist einer der Delegierten des Jugendverbandes zum V. Weltkongress in Moskau. Voll unvergesslicher Erlebnisse kehrt der junge Delegierte zurück. Er wurde Ehrensoldat eines Schützenregiments. Von nun an betrachtet er sich für immer als Soldat der Roten Armee.

    Bald darauf heiratet Anton. Er war ein Arbeiter, und sie hatte auch nichts, umreißt proletarischer Galgenhumor solche Ehestandsgründungen. Aber was tut' s? Gemeinsam kämpft es sich besser. Er wird in die Partei aufgenommen, und an die Stelle des Wirkens unter der Jugend tritt jetzt Gewerkschaftsarbeit und füllt das Leben des Berufsrevolutionärs aus.

    Am 1. März 1924 war das Verbot der Partei aufgehoben worden. Die Bourgeoisie fühlt sich stark. Die Beendigung der Inflation ist der Auftakt zur Epoche der relativen Stabilisierung, wie die Partei es einschätzt. Mit dem Dawesplan fließt amerikanisches Kapital nach Deutschland. Die Betriebe werden rationalisiert, die Ausbeutung wird verschärft. Aber die Reformisten faseln vom Silberstreifen am Horizont, wollen Arzt am Krankenbett des Kapitalismus sein. Anton, einer der jüngsten Kollegen im Deutschen Metallarbeiterverband, enthüllt unermüdlich den Verrat der Bonzen, zerstört die Illusionen vom friedlichen Hineinwachsen in den Sozialismus. Das Vertrauen der Kollegen entsendet ihn als Delegierten zum Verbandstag. In Bremen, der Stadt stählerner Schiffsleiber, ragender Kräne und rußiger Werftschmieden, hämmert er seine Sätze in den Saal, spricht die Sprache der Männer vom Eisen. Jetzt schlagen die Gewerkschaftsbürokraten zu. Statuten, Mehrheitsbeschluss, parlamentarische Spielregeln? Naives Geschwätz. Demokratie ist, was uns nützt. Diese Demokratie ist für uns und für unsere Partner, die Herren des Stahls. Anton wird gleich vielen Aufrüttlern aus der Gewerkschaft ausgeschlossen. Keine leichte Situation für die Partei. Was soll mit den Ausgeschlossenen geschehen? Man muss sie zusammenfassen für einen neuen Kampfabschnitt, so entsteht die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO). Anton wird im Ruhrgebiet einer ihrer leitenden Funktionäre. Der Talmiglanz des Silberstreifens verblasst. Geschürftes Eisenerz rostet, gehobene Kohle türmt sich zum Albdruck eines miserablen Systems. Die all den Überfluss schaffen, der ihr Elend gebiert, murren. Sie murren in den Schächten, vor den Hochöfen, auf den Stempelstellen. Das Murren wird deutlicher, wird Sprache. Wo sie gesprochen wird, spricht die Partei, bekommt sie die Gewalt schlagender Wetter. Diese Sprache heißt passive Resistenz, Massenstreik, Hungermarsch, Verbrüderung mit belgischen und französischen Kumpeln. Ernst Thälmann sagt: Der Schwarze Freitag an der New Yorker Börse, der die Weltwirtschaftskrise einleitet, ist das Menetekel der kapitalistischen Welt. Die Stimme der Partei ist nicht mehr zu überhören.

    Sie hören gut, die Herren von Kohle und Erz. Ihr Gehör ist so empfindlich, wie ihr Gewissen robust ist. Vom Elend der Millionen ungerührt, rührt sie das Elend ihrer Krise ungeheuer. Diesem Elend zu steuern, opfern sie gern fünf Pfennig pro verkaufte Tonne Kohle dem, der raffinierter schwätzt als die alten Quacksalber. Ein Dutzend Jahre auf sein Stichwort wartend, hat Hitler aus allen Zauberkästen der Welt das Schillernde stibitzt, braut benebelnden Weihrauch der Phrasen. Wer aber kommt und ihm nicht glaubt, für den hält er harte Tatsachen bereit: die Stahlrute über den Schädel!

    Deutschlands Arbeiterklasse wehrt sich gegen den Würgegriff der unheiligen Dreieinigkeit, gegen die Fürsten der Monopole, ihren braunen Reklame- und Prätorianerchef und dessen abservierte Vorgänger beim Volksbetrug, die, unbelehrbar, noch immer nur eines hassen: die Arbeitereinheit. Anton, der junge Gewerkschaftsfunktionär, einer der zähesten Gegner der Braunen, schenkt sich keine Ruhe, und die Braunen schenken ihm ihren Hass. An manchen Tagen spricht er auf zwei Naziversammlungen als Diskussionsredner. Ihr Geschwafel zu widerlegen, ist nicht schwer, aber sie stellen Bedingungen, befristen die Redezeit, und immer liegt der Totschläger bereit. Dagegen helfen nur antifaschistische Solidarität und Kaltblütigkeit. Die bewahren Anton vor mancher Wunde, verderben ihnen manche Versammlung. So auch im Saalbau Essen. Wie üblich, haben die Braunen für das eingeladene Volk nur die Saalmitte freigegeben, die Seiten sind von SA besetzt, die noch auf Verstärkung wartet. Diesmal misslingt diese Taktik. Der Saalbau ist von der Antifa abgeriegelt worden. Anrückender SA-Nachschub verzettelt sich beim Kleinkrieg in den Arbeiterstraßen. Die Saalmitte erzwingt eine halbe Stunde Redezeit für ihren Diskussionsredner. Überlegen zertrümmert Anton die Demagogie des Referenten, des Herrn Nazigauleiters Kaufmann. Eine halbe Stunde ist wenig Zeit, grundsätzlich abzurechnen. Trotzdem zwingt sich Anton, ruhig und klar zu sprechen. Langsam sickern SA-Verstärkungen in den Saal, die Ersten, die sich durchschlagen konnten. Der junge Kommunist sieht auf die Uhr. Er schenkt ihnen zwei Minuten und stiehlt ihnen den Triumph. Seine Schlussworte lassen nichts anderes zu, als dass alle in der Saalmitte aufstehen und die Internationale anstimmen. Singend verlassen sie den Saal, decken sich gegen die andringende SA durch Stühle und Tische.

    Goebbels kauft sich Herrn Kaufmann, kanzelt ihn ab. Ein fünfzehn Jahre jüngerer Kommunist hat ihm eine Niederlage bereitet! Der Herr Gauleiter vergisst es nie. Zwei Jahre später wird er persönlich Rache nehmen.

    Solche Erfolge sind bestes Bindemittel der Einheitsfront, die sich von unten anbahnt. Die SPD-Arbeiter hegen manchen Vorbehalt gegen die Kommunisten. Trotzdem, es muss gelingen, Arbeitereinheit heißt Arbeitersieg. Nicht jeder Antifaschist vermag seine Gefühle zu meistern. Die Partei weiß um terroristische und sektiererische Strömungen. Sie verstärkt die ideologische Offensive. Anton liest, studiert, wann er kann, wo er kann. Er ist kein Wunderkind, dem alles zufliegt, er leidet unter dem Zeitmangel und kann nicht ahnen, dass ihm der Gegner bald viel Zeit zudiktieren wird, theoretische Lehrstunden nachzuholen. Zeit ist so knapp, weil die Zeit so viel fordert. Individualisten sagen: die Partei. Verlangt eine gute Mutter nicht das Meiste von ihren besten Söhnen?

    Selbstloser Einsatz bringt höhere Verantwortung. Anton wird Organisationsleiter des Bezirks Wasserkante der KPD, arbeitet nun in Hamburg, der Heimatstadt Thälmanns, mit bewährten Genossen wie Edgar Andre, Fiete Schulze, Franz Jacob und Bernhard Bästlein zusammen. Das Meerwasser ist bitter an der Pforte zum Ozean. Verrostende Schiffe, stillliegende Werften, unbewegliche Kräne: Weltkrise des Kapitalismus!

    Auch die nicht hören wollen, können die Mahnung der Partei an Bretterwänden und Häusermauern lesen: Hitler heißt Krieg! Anton setzt sich ein bis an die Grenzen seiner Kraft, und mit ihm Tausende Genossen. Dennoch, die stickigen Bodennebel der braunen Nacht wälzen sich bereits über Deutschland. Brüning-Notverordnungen sind durch Papen-Notverordnungen übertrumpft; der forsche Herrenreiter wird vom Kanzler-General Schleicher aus dem Sattel gehoben. Dessen Traum, militärischer Ständestaat mit den Gewerkschaften, zaubert die Tatsache nicht hinweg: Nazis bei den Novemberwahlen 1932 an die 500000 Stimmen verloren, Kommunisten etwa die gleiche Anzahl gewonnen! Jetzt hilft den Herren kein sozial mümmelnder General mehr, jetzt hilft nur noch Hitler. Schacher hinter den Kulissen. Auf den Straßen die Stimme der Partei: Generalstreik - Einheitsfront! Da gibt Hindenburg, der Kommisskopf auf dem Präsidentenstuhl, dem schwärzesten Tag der neuen deutschen Geschichte seinen Segen.

    Der braune Terror rast in den Arbeitervierteln. Die Partei winselt nicht. Verschleppen, schlagen, foltern. Die Partei widersteht. Regierungslügen, Zeitungslügen, Radiolügen. Die Partei ruft, mahnt, sammelt. Reichstagsbrand. Die Partei entlarvt. Terrorwahlen im März. Die Partei ringt um jede Stimme. Der Braunauer erreicht nicht die parlamentarische Mehrheit. Er kassiert die kommunistischen Mandate. Die bürgerlichen Parteien ermächtigen ihn, die Gewerkschaften werden gleichgeschaltet. Die KPD kapituliert nicht.

    Anton arbeitet illegal weiter. Ein Soldat der Revolution hebt nicht die Hände. Am Geburtstag Thälmanns, des kurz zuvor Verhafteten, teilt er dessen Geschick. An diesem 16. April übermittelt Anton fünfzig Mark Solidaritätsspende für Rosa Thälmann. Wenige Stunden später ist er von Gestapo-Bullen umringt. Die Hölle beginnt.

    DIE ENTLASSUNG

    Zuchthausdirektor Larsch hob den Kopf. Einen winzigen Augenblick war Unwillen in seinem glatten Gesicht. Oberkommissar Taege trat ein und sagte aufgeräumt: Mahlzeit!

    Larsch erhob sich und grüßte vorschriftsmäßig: Heil Hitler!

    Taege überhörte die Zurechtweisung und warf sich in den Sessel vor dem Schreibtisch.

    Umständlich nahm auch Larsch wieder Platz und dachte: Eigentlich hättest du genauso wiedergrüßen sollen. Zum Teufel mit der Korrektheit. Ohne die wärst du längst pensioniert.

    Aus den beinahe an Staatsgefährlichkeit grenzenden Gedanken riss ihn die selbstbewusste Stimme Taeges. Was macht der Vogel?

    Sie meinen Born? - Der rennt wie ein gefangener Wolf durch die Zelle. Grübelt, ob er entlassen wird oder nicht.

    Großartig. Wenn es nach mir ginge, könnte er noch Tage und Wochen grübeln.

    Immerhin hat er eine rechtskräftige Strafe abgebüßt, und wenn das Reichssicherheitshauptamt die Entlassung verfügt ...

    Immerhin, lieber Parteigenosse Larsch, immerhin, Taege wiederholte ironisch dieses von Larsch sachlich-beiläufig gedachte Wort, immerhin ist das eine Verfügung der höchsten zuständigen Stelle.

    Ich halte sie für klug und gerecht.

    So? höhnte Taege.

    Ja, sagte Larsch unbetont, voll inneren Ärgers. Dieser Mann hielt Zynismus für Witz. Dabei war er so witzlos, dass er jeden seine Macht fühlen ließ.

    Falls Sie meine Auffassung interessiert, Larsch: Diesen Akt unbegreiflicher Milde wird der Bursche schlecht lohnen.

    Larsch schob einen Hefter vom Rand des Schreibtischs in die Mitte. Ich habe seine Akten durchgesehen.

    Na und?

    Vorsichtig! warnte es in Larsch, doch sein Widerwille war stärker. Soweit ersichtlich, hat er sich während der letzten Strafhaft gut geführt.

    Weiter ist Ihnen nichts aufgefallen? Taege betrachtete den Direktor lauernd.

    Zum Beispiel?

    Dieser Born ist ein fanatischer Kommunist.

    Das hebt seine gute Führung nicht auf.

    Beweist aber seine Gerissenheit. Taege grinste schlau.

    Oder hat er eingesehen, dass es unsinnig ist, sich gegen den Nationalsozialismus zu stemmen?

    Schön geglaubt, aber nicht originell.

    Bei über sechs Jahren Haft?

    Reichlich milde für einen, der unter anderm im Zuchthaus Sammlungen für die mit lebenslänglich bestraften Herren Genossen organisiert hat.

    Ich hielte es für nützlich, solch einen Fanatismus umzuschmelzen für unsere Bewegung.

    Taege lachte amüsiert. Umschmelzen? - Der hasst uns wie die Pest. Bei der erstbesten Gelegenheit steht er gegen uns.

    Larsch zog zweifelnd den Kopf zwischen die Schultern.

    Möglich, dass er uns noch hasst. Aber nach einem Selbstmörder sieht er mir nicht aus. Der bildet sich nicht ein, mit dem Leben davonzukommen, falls er noch ein einziges Mal bei hochverräterischer Tätigkeit gefasst wird.

    Die Sorte hält sich für klüger; die denken, sie werden nicht gefasst.

    Seine bisherigen Erlebnisse müssten eigentlich dagegen sprechen. Er kann dir nichts, trotzte es in Larsch, da ist die Verfügung. Dennoch fragte er beherrscht: Und warum dann diese ?fast unbegreifliche Milde' des Reichssicherheitshauptamtes, wenn bei Born Hopfen und Malz verloren ist?

    Taege lächelte verletzend nachsichtig. Die alte Gefühlsduselei aus der Gymnasiastenzeit steckt Ihnen noch immer in den Knochen. Denen im RSHA glücklicherweise nicht. Umerziehung? Humanistischer Kohl.

    Dann wüsste ich wirklich nicht ... Der vorsichtige Beamte Larsch konnte nun doch eine leichte Erregung nicht verbergen und hielt ein wenig erschrocken im Satz inne.

    Ungeniert freute sich Taege seiner Überlegenheit. Versuchsballon. Unter diesem Gesichtswinkel sind solche probeweisen Entlassungen zu betrachten.

    Larsch legte sich nachdenklich in seinen Sessel zurück. Gewissermaßen ein Katze-und-Maus-Spiel?

    Gut kombiniert, spottete Taege.

    Dabei ist manchmal schon eine Maus entschlüpft.

    Wenn schon, Taege entfernte liebevoll die Bauchbinde von seiner teuren Zigarre, der Effekt ist immer für uns.

    Larsch unterdrückte den aufsteigenden Ekel und erwiderte höflich: Welche Gründe das RSHA auch haben mag, ich glaube nicht, dass der Born so unbesonnen sein wird, noch einmal gegen uns zu arbeiten.

    Glaub's der Deibel! polterte Taege, und sein Ärger war nicht gespielt. Leider kann ich ihm sein unverdientes Glück erst versalzen, wenn wir ihn wieder geschnappt haben.

    Das Telefon läutete. Larsch lauschte in den Hörer und fragte den Oberkommissar. Kann er kommen?

    Taege nickte. Larsch sagte Ja und legte den Hörer auf. Um einen versöhnlichen Abschluss zu finden, wiederholte er: Ich denke, die sechs Jahre werden ihm eine Lehre sein.

    Gerade das reizte Taege, und er sagte mit drohendem Unterton: Ihr Optimismus grenzt an Defätismus.

    Ich bin Strafvollzugsbeamter. Schließlich hat unser Strafvollzug einen Sinn.

    Jawohl, triumphierte Taege, kuschen müssen sie lernen.

    Larsch flüchtete hinter den schützenden Schild der Verfügung. Ich verstehe unter der Anordnung, dem Bestraften eine letzte Gelegenheit zu geben, in der Freiheit seine Loyalität zu beweisen.

    Taege hielt dem Direktor die Hand hin. Wetten, dass wir dem noch den Kopf vor die Füße legen?

    Von Taeges plötzlicher Geste erschrocken, zuckte Larsch unwillkürlich zurück. Er hatte viel erlebt; im Dritten Reich viel zu viel. Aber irgendwie war es ihm stets gelungen, alles Unangenehme hinter einem Nebel zu halten. In diesem Augenblick trat ihm das Schreckliche nackt entgegen. Der da wettete um Menschenleben wie spielende Knaben um Murmeln. Larsch lachte hüstelnd. Sie haben - äh - wirklich - Humor.

    Im Genuss echter Vorfreude rieb sich Taege die fleischigen Hände. Und nun werden wir mal den Burschen ein bisschen zwiebeln. Die goldene Freiheit wird ihm nach 'nem Abschiedsfeuerwerk um so wertvoller sein. Er stand auf, reckte sich und zog die kneifende Hose nach unten.

    Larsch schaute von seinem Stuhl aus scheinbar gleichmütig aus dem Fenster. Hast du zu viel gesagt? grübelte er. Wenn es zur Pensionierung reichte, wäre es gut. Kommt es dicker, werde ich mich ducken müssen.

    Unfassbar, kaum vorstellbar wäre das. Wieder durch die Straßen gehen. Das Leben sehen, hören, riechen und fühlen. Die Welt, jetzt streng umgrenzte acht Quadratmeter, würde plötzlich weit, so weit sein.

    Der Gefangene von Zelle 4 im Block A stand unter dem Fenster und starrte in den Morgenhimmel. Durch das fünfzig Zentimeter hohe, etwa einen Meter breite Fenster sah er das Blau des Himmels. Fünf schwarze, senkrechte Eisenstäbe zerschnitten es in sechs gleichmäßige Felder.

    Tag der Entlassung. Nach sechs Jahren Marter, Hunger, Hohn. Würden sie ihn entlassen?

    Haben Sie uns etwas zu sagen? Nicht nur einmal war ihm die Frage gestellt worden, drohend gebrüllt, erpresserisch gezischt oder säuberlich zu Papier gebracht.

    Die Versuchung schlief nie, und Verrat war eine der Säulen dieses Staates. Schon deswegen musste die Antwort jedes Mal lauten: Nein. Und dafür Marter, Hunger, Hohn. Und deswegen würden sie ihn nicht entlassen.

    Er weiß genau, wie es kommen wird. An diesem Vormittag werden sie ihn nach vorn befehlen. Ordnungsgemäße Aushändigung seiner Habseligkeiten, ordnungsgemäßer Umtausch der Gefängniskluft gegen die eigene Kleidung, ordnungsgemäßes Unterschreiben der Entlassungspapiere, und dann - zwei Herren in Zivil werden auf ihn zutreten und sagen: Kommen Sie mit, Herr Born! Und alles wird wieder von vorn beginnen: Vernehmungen, Schläge, Brüllen, Foltern, Bunker, Einzelhaft, strenge Isolierung, neue Versuchung und, falls die wieder abgewehrt ist, das Ende: an einem Fleischerhaken aufgehängt, auf der Flucht erschossen oder einfach zu Tode geprügelt.

    Anton Born atmete mehrmals tief ein und aus. Diesmal nützte es nichts. Sein Körper kam ihm vor wie aus Glas mit zu hoher Spannung. Er begann seinen wohl zehntausendsten Rundgang. Sieben kleine Schritte hin, sieben kleine Schritte zurück. Es war ihm jetzt nicht möglich, Vokabeln zu pauken oder Stenografie zu üben.

    Wenn sie ihn nun doch freiließen? Rechtlich durften sie ihn nicht festhalten. Lächerlich, was bedeutete denen Recht und Gesetz. Sie pfiffen darauf, wenn es ihnen hinderlich war, sie machten es zum Fetisch, wenn es ihnen passte, das Volk damit zu blenden.

    Wenn es ihnen passte? Konnte dieser Glücksumstand nicht eintreten? Sie schienen auf der Höhe ihrer Macht zu sein, auf schwindelnder Höhe. Jedwede Arbeiterorganisation aufgelöst, zerschlagen, ihre Besten gefangen, umgebracht oder außer Landes. Das Volk draußen schien restlos befriedigt und befriedet. Jeder hatte seine Arbeit, war satt. Und noch mit fünfzig Pfennig Stundenlohn durfte er sich als Angehöriger einer siegreichen Nation fühlen, hatte es doch die englische Diplomatie dem Herrn Kanzler in München ausdrücklich bescheinigt. Österreich, Tschechoslowakei, jeder außenpolitische Coup war ihm bisher geglückt. Schließlich entscheidet der Erfolg, und der war bei den Fahnen des Führers. Wer wollte nicht auf der Seite des Erfolgs sein? Da sollten kleinliche Kritikaster lieber schweigen.

    Schwiegen alle? Das Weltgewissen schwieg nicht. Die Unbeirrbaren rüttelten es immer wieder wach. Das waren Wermutstropfen im Freudenbecher des Führers. Das kratzte ihm unentwegter in der Kehle als seine Heiserkeit vom Radiogebrüll. Um es nicht mehr zu spüren, war er bereit, dafür zu zahlen. Da ließ man reiche Juden über neutrale Konsulate sich vom KZ-Tod freikaufen, da gestattete man dem Internationalen Roten Kreuz Besuche von Zuchthäusern, ausländischen Journalisten Studienfahrten durch Konzentrationslager. Alles wurde akkurat vorbereitet, und es sah manchmal so aus, als ließe sich das Weltgewissen Sympathien abkaufen - bis dann wieder irgendeine Gräuelgeschichte die bieder gekochte Suppe verdarb. Trotzdem gab es der Hitler nicht auf. Seine Ausbaldowerer mussten andere Manöverchen ersinnen, mussten immer aufs neue versuchen, jenen Sand in die Augen zu streuen, die nicht blind zu machen waren, die sehr klar wussten: Ein grundsätzlich schlechtes System ist keiner grundsätzlich guten Tat fähig.

    Anton Born blieb stehen. Wenn sie nun auch an ihm ihr Betrugsmanöver ausprobierten? Wenn sie auch ihm gegenüber Gnade walten ließen? Durch die Kerkermauern waren Nachrichten gesickert, dass man langjährige Gefangene plötzlich entlassen hatte, einige ehemalige kommunistische und sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und bekannte Gewerkschafter. So wurde das Ausland geblufft und der deutschen Bevölkerung Großmut bewiesen.

    Wenn er nun einer jener Begnadigten wäre? Noch einmal dem Vater die Hand drücken können, die Familie wiedersehen? Dieses fast Unvorstellbare erzeugte eine taumlige Leere im Kopf.

    Er ließ leise das Gestell herab und setzte sich kopfschüttelnd auf den Rand des harten Bettes. Gefangen sein ist furchtbar, und wer fragt nach den Motiven, wenn einem der Todfeind freiwillig die Fesseln abnimmt? Frei sein, auch in einem Zuchthausstaat, heißt kämpfen können.

    Anton Born ertappte sich bei abermaligem Rundlauf, der beinah ein Dauerlauf war. Wenn sie doch schon kämen, wenn sie endlich kämen! Einmal noch den Vater wiedersehen, der ihn durch sein stilles, selbstloses Beispiel erzogen hatte. Nicht, dass Vater fehlerlos gewesen wäre, aber sein Leben war sauber. Und Tausende waren wie er. In tausend Jahren dieses Höllenreiches würden sie sich keinen i-Punkt ihrer Redlichkeit, ihrer sozialistischen Gesinnung abkaufen lassen.

    Anton Born warf einen Blick hinauf zu dem zerschnittenen Stück Himmel. Gleich musste die Morgengeschäftigkeit des Zuchthauses beginnen.

    Wie zur Bestätigung des hoch entwickelten Zeitgefühls eines Gefangenen liefen bald darauf Wachtmeister die Gänge entlang und schlossen die Türen auf. Leise stellten die Häftlinge die Kübel hinaus, zogen ihre Tür wieder bis an den Anschlag. Eilig trugen Kalfaktoren die grauen Gefäße in den Spülraum, ihre Lederpantoffeln klatschten auf den blanken Steinen. Eilig wie geholt, wurden die Kübel wieder neben die Zellentüren gesetzt. Lautlos nahmen die Häftlinge sie hinein. Als der Kalfaktor den Krug holen kam, zischte Anton durch den Türspalt: Wisst ihr etwas?

    Paul, ein Genosse, wusste, worauf sich die Frage bezog. Er sah sich sichernd um und erwiderte mit unbewegten Lippen wie ein geübter Bauchredner: Nischt, Anton. Aber es wird schon klappen. Lange genug bist du hier. Kann doch nicht ewig gehn.

    Die Kaffeebrühe und ein Stück Klitschbrot waren verteilt, die Zellen wieder verschlossen worden. Anton Born zwang sich zu essen. Ging es auf Transport, würde er lange ohne Nahrung sein.

    Ähnlich mochte Paul denken. Er hatte Oberwachtmeister Burkert Nachkost für Born abgehandelt, eine Morgenportion Brot, die angeblich zu viel geliefert, in Wirklichkeit von dem Genossen Küchenkalfaktor organisiert worden war. Burkert schloss die Tür auf und tat, als habe er einige Zellen weiter etwas zu regeln. Paul drückte Anton das Brot in die Hand und raunte: Beim Hausvater machen sie deine Sachen zurecht. Bis jetzt nichts Auffälliges.

    Die Bullen haben auch noch mindestens eine halbe Stunde Zeit.

    Nun spiel man nicht den Schwarzseher, knurrte Paul.

    Hast recht, Anton knuffte Paul freundschaftlich, wenn sie mir die Flossen in Eisen packen, ist immer noch Zeit, die Zähne zusammenzubeißen.

    Paul gab den Puff zurück. Na also, Anton. Warst doch nie ein Kind von Traurigkeit.

    Burkert kam zurück. Paul hob verstohlen die geballte Faust, wandte sich rasch um und drückte die Tür hinter sich zu. Alles in Ordnung, Oberwachtmeister!

    Anton Born lauschte den Schritten nach und spürte, wie ihm die Unruhe wieder ins Blut stieg. Wie jedem zur Entlassung kommenden Politischen würde man auch ihm den Revers zur Unterschrift vorlegen, dass er sich an keinerlei Aktion gegen das Dritte Reich beteiligen und jede ihm bekannt werdende antifaschistische Tätigkeit sofort der Gestapo melden werde. Die Unterschrift zu verweigern, hätte ein über sich selbst verhängtes Todesurteil bedeutet. Der unterschriebene Revers dagegen blieb die ständig geöffnete Schlinge über der Freiheit. Sollte man nicht lieber gleich untertauchen, völlig illegal leben?

    Anton trabte wieder, trabte und überlegte. Der Illegale ist ein Soldat mit Fesseln. Sein Dasein bindet die legal lebenden Genossen, besonders in ihren Kampfhandlungen. Es gab viel zu durchdenken, und endlich entschied er sich, ein scheinbar harmloses legales Leben mit Klauen und Zähnen zu verteidigen. Und wenn sie dann kamen und auf ihren Revers pochten? Sollte man nicht doch lieber die Unterschrift verweigern? Aber ich bin doch ein Mensch im besten Mannesalter, schrie es in ihm, ich muss wieder einmal in einem richtigen Federbett schlafen, über Felder gehen, Menschen lachen und Pferde wiehern hören. Ich muss wieder einmal Benzingestank schnuppern und Tannenduft atmen. Und ich muss noch viel mehr, dachte er und lächelte. Seine Disziplin, die ständigen Geistes- und Körperübungen, die Solidarität der Leidensgefährten hatten ihn die Hölle lebend überstehen lassen. Die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Elsbeth war wohl ein ebenso starker Halt gewesen. Er war nicht ganz schuldlos, dass sie nach seiner Scheidung nicht zusammengefunden hatten. Unter dieser Schuld hatte er genug gelitten und sich fest vorgenommen, Elsbeth zu suchen, falls er entlassen würde. Ein ferneres Leben ohne sie konnte er sich nicht vorstellen, und er hatte kaum je daran gezweifelt, dass sie genauso dachte. Seine Vorstellung von ihr verschmolz in ihm mit dem Symbol der Partei. Wenn er Elsbeth fand, hatte er die Partei gefunden.

    Wie immer spürte er, dass der Gedanke an sie ihn zuversichtlich stimmte. Bis dann die dunkle Drohung wieder da war: Aber sie werden dich nicht entlassen! Die ewig gleiche Gedankenkette der letzten Tage begann ihn abermals zu quälen. Da hörte er den Ruf des Verantwortlichen für

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