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Wicherns Genossen der Barmherzigkeit – Diakone des Rauhen Hauses: Band 11 in der gelben Reihe "Zeitzeugen des Alltags" bei Jürgen Ruszkowski
Wicherns Genossen der Barmherzigkeit – Diakone des Rauhen Hauses: Band 11 in der gelben Reihe "Zeitzeugen des Alltags" bei Jürgen Ruszkowski
Wicherns Genossen der Barmherzigkeit – Diakone des Rauhen Hauses: Band 11 in der gelben Reihe "Zeitzeugen des Alltags" bei Jürgen Ruszkowski
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Wicherns Genossen der Barmherzigkeit – Diakone des Rauhen Hauses: Band 11 in der gelben Reihe "Zeitzeugen des Alltags" bei Jürgen Ruszkowski

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Aus seinen 'Gehilfen', die Johann Hinrich Wichern aus ganz Deutschland in das von ihm 1833 gegründete Rauhe Haus rief, damit sie ihn bei seiner Erziehungsarbeit unterstützten und die von den Jungen in den Erziehungsfamilien 'Brüder' genannt wurden, baute er den hauptberuflichen Mitarbeiterstab seiner Inneren Mission auf, die 'Berufsarbeiter', die als 'Hausväter' in 'Rettungshäusern' und ähnlichen Einrichtungen, als Strafvollzugsbetreuer oder als 'Stadtmissionare' in ganz Deutschland und im Ausland bis hin nach Übersee tätig wurden. Aus diesen Gehilfen entwickelte sich später der Beruf Diakon / Diakonin und Sozialpädagoge / Sozialpädagogin. Zehn dieser Brüder des Rauhen Hauses aus Wicherns Zeit bis in unsere Tage werden in diesem Buch in kurzen Lebensportraits oder längeren Selbstzeugnissen vorgestellt. Diese 'Genossen der Barmherzigkeit' und christlichen Botschafter unter dem einfachen Volk geben mit ihrem teilweise aufopferungsvollen Leben Zeugnis von der Liebe, die sie durch Jesus Christus erfahren haben. Als Zeugen des Alltags ihrer Zeit gestatten sie uns einen guten Einblick in die Geschichte des Rauhen Hauses, der Inneren Mission, der Diakonie der Evangelischen Kirche, der Wohlfahrtspflege in deutschen Landen, aber auch ganz allgemein in das Alltagsleben früherer Generationen.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateSep 11, 2015
ISBN9783738039672
Wicherns Genossen der Barmherzigkeit – Diakone des Rauhen Hauses: Band 11 in der gelben Reihe "Zeitzeugen des Alltags" bei Jürgen Ruszkowski

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    Book preview

    Wicherns Genossen der Barmherzigkeit – Diakone des Rauhen Hauses - Karlheinz Franke

    Vorwort des Herausgebers

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    Johann Hinrich Wichern, geboren am 21. April 1808, hatte als junger Mann im Hamburger St. Georg seiner Tage das Elend der verarmten Massen in einer wachsenden Großstadt kennen gelernt, insbesondere das Kinderelend.

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    Laut Theodor Heus hatte er als junger Kandidat der Theologie „keine Zeit", sein zweites theologisches Examen zu machen, sondern startete 1833 mit Hilfe einflussreicher Hamburger Bürger in dem Dorf Horn vor den Toren Hamburgs aus kleinsten Anfängen das Rauhe Haus, die „Brunnenstube der Inneren Mission als „Rettungshaus für gefährdete Kinder und Jugendliche. Als Wichern auf dem Kirchentag 1848 in Wittenberg in der Schlosskirche seine Stegreifrede hielt und zur inneren Mission in Deutschland aufrief, wurde etwa zur gleichen Zeit von Karl Marx und Friedrich Engels das „Manifest der Kommunistischen Partei veröffentlicht. Wichern rief zur Barmherzigkeit auf, Marx und Engels forderten statt Barmherzigkeit Gerechtigkeit und zu ihrer Verwirklichung den „gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung (siehe auch Band 65 in dieser gelben Buchreihe über Wichern und die Geschichte des Rauhen Hauses). Die Geschichte hat gezeigt, dass das kommunistische Programm am menschlichen Unvermögen scheiterte, weil es unter den Gleichen immer Gleichere gab, die in der Diktatur des Proletariats ihre Position für sich persönlich zu nutzen wussten. Auch Wichern verzweifelte letztlich, dass sein Entwurf eines Programms zur Überwindung der sozialen Probleme nicht nach seinen Wünschen durchzusetzen war. Aber die vielen Menschen, die er zur Mithilfe in dem von ihm angestoßenen Werk der Barmherzigkeit rief, hinterließen Spuren, die trotz aller Schwächen menschlicher Unzulänglichkeit bis heute wirken. Wie aus Wicherns „Gehilfen und „Berufsarbeitern diakonisch-missionarische Mitarbeiter der Kirche wurden, wie sich daraus die Berufe Sozialpädagogin/Sozialpädagoge und Diakon/Diakonin entwickelten, ist in dem nachfolgend abgedruckten Beitrag von Dietrich Sattler ausführlich beschrieben.

    1839 ermächtigte der Verwaltungsrat des Rauhen Hauses Wichern, der Ausbildung von Gehilfen im Rauhen Haus „die größtmögliche Veröffentlichung zu geben. Wichern ließ deshalb von 1843 an über die Gehilfen, schon damals „Brüder genannt, eigene Jahresberichte erscheinen. Auf ihre theologische Ausbildung in seinem „Gehilfeninstitut verwandte er große Sorgfalt.  Aus seinen „Gehilfen, die Wichern aus ganz Deutschland rief und die ihn bei seiner Erziehungsarbeit im Rauhen Haus unterstützten und von den Jungen der Erziehungsfamilien „Brüder genannt wurden, baute er den hauptberuflichen Mitarbeiterstab der Inneren Mission auf, die „Berufsarbeiter, die als „Hausväter in „Rettungshäusern und ähnlichen Einrichtungen, als Strafvollzugsbetreuer oder als „Stadtmissionare" in ganz Deutschland und im Ausland bis hin nach Übersee tätig wurden.

    Erst Jahrzehnte später nannte man diese Gehilfen entgegen Wicherns ursprünglichen Vorstellungen Diakone (siehe D. Sattler).

    Bis in die 1970er Jahre sprach man von der männlichen Diakonie.  Daneben gab es den Beruf der Diakonisse.  Danach wurden Ausbildung und Beruf im Rahmen der allgemein sich durchsetzenden Emanzipation auch für Frauen geöffnet.  Aus der Brüderschaft wurde die Brüder- und Schwesternschaft des Rauhen Hauses.  Heute bildet die Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg Frauen und Männer zu Diplom-Sozialpädagog(inn)en und Diakon(inn)en aus.

    Einige dieser Brüder des Rauhen Hauses aus Wicherns Zeit bis in unsere Tage sollen in diesem Buch in kurzen Lebensportraits oder längeren Selbstzeugnissen vorgestellt werden. Diese ‚Genossen der Barmherzigkeit’ und christlichen Botschafter unter dem einfachen Volk geben mit ihrem teilweise aufopferungsvollen Leben Zeugnis von der Liebe, die sie durch Jesus Christus erfahren haben. Als Zeugen des Alltags ihrer Zeit gestatten sie uns einen guten Einblick in die Geschichte des Rauhen Hauses, der Inneren Mission, der Diakonie der Evangelischen Kirche, der Wohlfahrtspflege und Sozialarbeit in deutschen Landen, aber auch ganz allgemein in das Alltagsleben früherer Generationen.

    Es können in diesem Band nur einige wenige zufällig ausgewählte Brüder des Rauhen Hauses vorgestellt werden, von denen mir Lebensdaten oder Selbstzeugnisse in die Hände fielen. Viele andere Schwestern und Brüder des Rauhen Hauses oder auch anderer Diakoniegemeinschaften hätten es verdient, dass aus ihrem Leben und von ihrem Dienst berichtet würde.

    Ein Nachfahre des Christoph Friedrich Götzky, nämlich sein Urenkel Christoph Bretschneider, stellte mir die von ihm aus einem Briefwechsel Götzkys mit Wichern recherchierten Fakten über diesen Zeitgenossen Wicherns zur Verfügung. Auch von Christoph Bretschneiders Vater Otto, der eine Enkelin Christoph Friedrich Götzkys geheiratet hatte, liegt ein von ihm selber verfasster aufschlussreicher Lebensbericht vor. Die Aufzeichnungen des Philipp Schmidt und Otto Bretschneider stellte Karlheinz Franke vor einigen Jahren sicher, als er beim Aufräumen im Keller des Diakonischen Werkes in Bremen auf diese interessanten Texte stieß. Die kurzen Portraits der Brüder August Füßinger, Paul Hatje und Gerhard Niemer, die ich noch persönlich erlebt habe, konnte ich zum Teil der 1981/88 erschienenen Studie ‚Brüderschaft und 3. Reich’ entnehmen. Der umfangreichste dieser Beiträge stammt aus der Feder des mit einem großen Charisma für Jugendarbeit gesegneten und für seinen Herrn Jesus Christus sehr engagierten Hugo Wietholz. Seine Witwe Lisa, die mir die Überarbeitung und Auswertung seiner für die eigene Familie konzipierten Lebenserinnerungen gestattete, war an der Erarbeitung dieses Textes maßgeblich beteiligt. Es können in diesem Sammelband nur Auszüge daraus veröffentlicht werden. Da Hugo Wietholz’ Aufzeichnungen jedoch zeitgeschichtlich sehr aufschlussreich sind, ist ein umfangreicherer Text in einem Extraband – 13 in dieser gelben Buchreihe erschienen.

    Der einzige hier vorgestellte, bei Veröffentlichung dieses Buches noch lebende Bruder Karlheinz Franke schrieb seine bewegte Lebensgeschichte auf meine Anregung für dieses Buchprojekt. Die Vorgeschichte der Brüder in Kindheit und Jugend und die familiären Details wurden nur unwesentlich gekürzt, weil sie einen sehr guten Einblick in die Zeitgeschichte geben und unbedingt mit zum jeweiligen Persönlichkeitsbild beitragen. Diese Abschnitte wurden größtenteils in kleinere Schrift gesetzt.

    Es gab und gibt im Raum christlicher Caritas und Diakonie sicher Persönlichkeiten, die in ihrem Leben die Barmherzigkeit noch stärker zum Ausdruck brachten, als sie Brüdern und heute auch Schwestern des Rauhen Hauses eigen ist, etwa die in der Pflege an Schwerstbehinderten tätigen Schwestern und Brüder in Bethel. Hier stand ein von Wichern geprägter Terminus Pate für diesen Buchtitel (siehe nachfolgender Beitrag von Dietrich Sattler).

    Ein besonderer Dank gilt Frau Lisa Wietholz und Herrn Egbert Kaschner (†) für die Unterstützung und das Korrekturlesen.

    Hamburg, 2002 / 2014 Jürgen Ruszkowski

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    Dietrich Sattler: Genossen der Barmherzigkeit

    Die Brüder des Rauhen Hauses und der Diakonat

    Die Frage nach Herkunft und Identität des Diakonenamtes, auch nach dem Selbstverständnis der Brüder- und Schwesternschaft des Rauhen Hauses führt weit in das 19.Jahrhundert und in die Anfänge des Rauhen Hauses zurück. Dabei stoßen wir auf den begabtesten Kirchenvater der neuzeitlichen Diakonie, auf Johann Hinrich Wichern, den Gründer des Rauhen Hauses und Initiator einer Brüderschaft, die in der Diakonenbewegung Schule gemacht hat. 1833 gründete er mit befreundeten Hamburger Bürgern in einer Ruges Hus genannten Bauernkate in Horn bei Hamburg eine Rettungsanstalt für verwahrloste Kinder.

    Die ersten Gehilfen

    Anfangs betreute Wichern die Kinder allein. Im ersten Jahr ging ihm noch seine Mutter zur Hand. Aber es kamen immer mehr Jugendliche ins Rauhe Haus. Wichern hielt nach Gehilfen Ausschau und fand sie in christlichen Handwerkerkreisen. Der erste Gehilfe hieß Josef Baumgärtner und kam aus der Schweiz. Vier Jahre später waren es schon neun. Da die Gehilfen pädagogisch nicht vorgebildet waren, richtet Wichern bereits 1835 einen Lehrkurs ein. Aus ihm wurde in Laufe der Zeit die Brüderanstalt, zeitweise auch Gehilfen-Institut und später Brüderhaus genannt.

    Die Grundidee war einfach und effektiv zugleich: Die Gehilfen arbeiteten in den Kindergruppen gegen ein Taschengeld, dafür erhielten sie freie Kost und Logis sowie kostenlos Unterricht, der sie befähigte, künftig für einen menschenfreundlichen Zweck zu wirken (Die Begründung der Brüderanstalt im Rauhen Haus (1839): Johann Hinrich Wichern, Sämtliche Werke, Hg. Peter Meinhold, Hamburg 1958 ff., SW 4/I S. 198). Nach ihrer Ausbildung blieben sie entweder im Rauhen Haus oder wurden in anderen Einrichtungen der Inneren Mission oder der Armenpflege tätig.

    1843 beschrieb Wichern den Zweck des Gehilfen-Instituts so: „Arbeiter zu gewinnen und zu bilden für solche Gebiete des christlichen Lebens, die bis jetzt verhältnismäßig wenig angebaut sind, namentlich zunächst denjenigen christlichen Vereinen unserer Zeit, denen es bei ihren Bemühungen für die kirchliche Versorgung der jährlich sich mehrenden Auswanderer, für die Rettung der verwildernden und verwilderten Jugend, bei der Fürsorge für Gefangene so vielfach an Arbeitern gebricht, eine gewünschte Hilfe zu verschaffen (Nachricht über das Gehilfen-Institut, 1843; SW 4/I S. 202)."

    Ausbildung für einen menschenfreundlichen Zweck

    Zwei Kurse richtete Wichern ein: einen vierjährigen für Hausväter und Vorsteher von Rettungsanstalten sowie für Kolonistenprediger, einen eineinhalb- bis zweijährigen Kurs für Arbeitsgehilfen in Rettungsanstalten und für Gefängnisaufseher (Vgl. zum folgenden Nachricht über das Gehilfen-Institut (1843); SW 4/I S.210 ff.). Der Unterricht umfasste u.a: Deutsch, Geographie und Geschichte, Einleitung in das Alte und Neue Testament, Exegese, Kirchengeschichte, Dogmatik, Erziehungslehre. Die Fächer im kleinen Kurs beschränkten sich auf das „Elementarische und das nötige Verständnis über die heilige Schrift und spezielle Anleitung für den seelsorgerischen Umgang mit Kindern und Gefangenen (SW 4/I S. 214)."

    Allergrößten Wert legte Wichern auf die Praxis. Parallel zum Unterricht arbeiteten die Gehilfen als Erzieher und erprobten sich in der Seelsorge, in handwerklichen Tätigkeiten, in der Arbeitsanleitung, in der Krankenpflege, auch in der Aufsicht über die ökonomischen Zweige des Rauhen Hauses sowie in Besorgungen und Besprechungen im Dienste der Anstalt.

    Voraussetzung für Mitarbeit und Ausbildung im Rauhen Haus waren u.a. (SW 4/I S. 220)

    - eine wahrhaft christliche Gesinnung,

    - der Besitz einiger Schulkenntnisse oder doch die Fähigkeit, dieselben leicht nachzuholen,

    - die Fertigkeit in irgend einem Handwerk oder im Landbau oder doch die Bereitwilligkeit, solche Fertigkeiten sich hier anzueignen,

    - eine kräftige Gesundheit.

    Die Ausbildung wurde aus Spenden oder aus Pensionen finanziert, die verschiedene Vereine oder Institutionen für einzelne Gehilfen bezahlten.

    Eine Lebens-, Arbeits- und Glaubensgemeinschaft

    Kinderanstalt und Gehilfen-Institut sah Wichern als eine Einheit an. Das Rauhe Haus war keine diakonische Institution mit angeschlossener Ausbildungsstätte, sondern eine Lebens-, Arbeits- und Glaubensgemeinschaft. Nicht nur die Kinder zählte Wichern zur Hausgemeinde des Rauhen Hauses sondern auch die Gehilfen samt denen, die nach ihrer Ausbildung außerhalb des Rauhen Hauses tätig waren.

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    Alle im Rauhen Haus Tätigen und hier Ausgebildeten verstand Wichern als eine Genossenschaft – als eine „Verbrüderung gläubiger Männer zu einem gemeinsamen Wirken für das Reich Gottes unter Kindern oder Erwachsenen, unter Armen, Elenden, Verlassenen, Verirrten oder Verlorenen. Er nannte sie eine Familie, die aus dem Geiste der evangelischen Kirche geboren, in ihr und in ihrem Geiste und für sie in Werken der Barmherzigkeit ihren Beruf und ihre Arbeit in Gottes Namen zu erfüllen trachtet (Die Brüder des Rauhen Hauses (1856); SW 4/II S. 200)."

    Die Brüder des Rauhen Hauses waren die erste, aber nicht die einzige Diakonengemeinschaft des frühen 19.Jahrhunderts. Brüderhäuser gab es u. a. in Beugen (Baden), Lichtenstern (Württemberg), Duisburg, Düsselthal, Neinstedt (Sachsen-Anhalt) und Zülchow bei Stettin. Einige nannten sich Diakonenanstalten - wie z. B. Düsselthal. Wichern lehnte diese wie auch die Bezeichnung Diakonissenanstalt für die sich damals parallel bildenden Schwesterngemeinschaften ab. Er sprach lieber von Brüder- und Schwesternhäusern. Denn die Gemeinschaften sind nicht, wie vielfach angenommen wird, auf die schon der apostolischen Kirche angehörige Institution der Diakonen und Diakonissen zurück zu führen. „Vielmehr hat in ihnen die evangelische Kirche in ganz neuer, rein evangelischer Art den zur Zeit der Reformation abgerissenen Faden der kirchlichen Korporationen, Orden und Stifte für praktische Liebeszwecke zum Besten von Kinder, Armen, Kranken, Verlassenen, Gefangenen usw. wieder aufgenommen (Diakonen- und Diakonissenhäuser (1855) SW 3/I S. 76)."

    Diakonie: Freiwilliger Liebesdienst

    Wichern sprach damit einen aus der Sicht eines erwecklichen Theologen wunden Punkt der Reformation an. Sie hat Orden und Klöster aufgelöst, aber den freiwillig ausgeübten Liebesdienst der Mönche und Nonnen nicht fortgesetzt. An die Stelle frommer Stifte und Einrichtungen traten städtische, weithin bürgerliche Kollegien. Die meisten im Zuge der Reformation entstandenen Kirchenordnungen machten das Armenwesen zu einer öffentlichen Aufgabe. Wichern nennt das einen geschichtlichen Zufall und kritisiert: „Die bloß bürgerliche Berufung und bloß bürgerlich festgestellte Befähigung aber zu Diensten, die wesentlich der freiwilligen Aufopferung angehören, enthält keine Garantie für die Geltendmachung oder Wahrheit der religiösen Gesinnung (Diakonen- und Diakonissenhäuser; SW 3/I S. 77)."

    Dieses Zitat enthält zwei Schlüsselgedankens Wicherns: Die Armenpflege ist nicht allein eine öffentliche Aufgabe, sondern auch ein, im Glauben freiwillig erbrachter Liebesdienst. Dieser wiederum gibt Zeugnis vom Glauben. Entsprechend sind Freiwilligkeit und Glaubenszeugnis konstitutiv für alle, den abgeschnittenen Faden der Reformation wieder aufnehmenden kirchliche Verbrüderungen zu praktischen Zwecken. Brüderhäuser, definiert Wichern, „sind keine christlichen Bildungsanstalten in dem Sinne, als ob darin junge Leute erst zum Christentum erzogen werden sollen, sondern der Eintritt setzt diese lebendige Glaubensgesinnung voraus und baut auf diesem Grunde weiter durch Vertiefung des Glaubenslebens und Erweiterung der theoretischen und praktischen Tüchtigkeit. Die „zur Arbeit, Vorbereitung und Entsendung rezipierten Jünglinge nennen sich Brüder, weil ihre Gemeinschaft „in der Gemeinschaft des lebendigen Glaubens an Christum beruht und in der „Gleichheit und Einheit brüderlicher Liebe wurzelt (Diakonen- und Diakonissenhäuser; SW 3/I S. 85).

    Genossenschaft der Liebe

    Wicherns Konzeption eines Diakonenhauses als einer dezidiert christlichen, dem Liebesdienst verpflichteten Genossenschaft reanimiert also die in der Reformation abgebrochene korporative Übung christlicher Liebeswerke (Diakonen- und Diakonissenhäuser; SW 3/I S. 91). In der Brüderanstalt sah er den eigentlichen Nerv des Rauhen Hauses (Die Begründung der Brüderanstalt im Rauhen Hause, 1839; SW 4/I S.197. Zu Wicherns Zeiten waren im Rauhen Haus auch Frauen tätig, die die Mädchen betreuten. Diese Gehilfinnen wurden selbstverständlich Schwestern, SW 4/II S.186, genannt, kamen freilich nie zu derselben Bedeutung wie die Brüder. 1886 wurde die Mädchenarbeit nach Eppendorf auf die Anscharhöhe verlagert.). In ihr fallen die Rettungsarbeit der Stiftung und der freiwillige Liebesdienst von Christen in der Form des Lebensberufs zusammen: „Der Bruder kommt ins Brüderhaus, um sein Leben und sein Lieben im Bunde mit Brüdern für das Reich Gottes einzusetzen, hier zunächst unter Kindern, deren das Reich Gottes ist, und später an denjenigen Arbeitsstellen, in die er gerufen und entsandt werden wird. In diesem Geiste tritt der Aufgenommene nach bestandener Prüfungszeit in die Gemeinschaft der Brüder als deren Genosse ein (Die Brüder des Rauhen Hauses (1856); SW 4/II 201)."

    Der Genossenschaft konnten nicht nur ausgebildete Gehilfen sondern auch Privatleute angehören, die persönlich und lebenslang den Armen in kirchlichem Geist mit der Liebe Christi dienen wollten. Man nannte sie Freibrüder, weil sie dem Sendungsprinzip des Brüderhauses nicht unterworfen waren. Unter den Freibrüdern der Wichernzeit finden wir z.B. ehemalige Zöglinge, im Rauhen Haus zeitweise als Oberhelfer beschäftigte Theologen, sonstige Mitarbeiter oder Freunde des Rauhen Hauses. Insofern kann man bei der Bruderschaft des Rauhen Haus der Wichernzeit (noch) nicht von einer Diakonengemeinschaft, geschweige von einem berufsverbandsähnlichen Zusammenschluß sprechen. Wichern spricht lieber von einer Genossenschaft, häufiger noch von einer um das Rauhe Haus als ihren Mittelpunkt, in brüderlicher Gemeinschaft gesammelten Familie. In der Ordnung der Brüderschaft von 1858 heißt es: Sinn und Zweck dieser Familie ist es, „dem Herrn in seiner evangelischen Kirche...zu dienen, damit auch durch ihren Dienst innerer Mission das Reich Gottes in unserem Volke gebaut werde in Kraft seines heiligen Wortes und in Erweisung der barmherzigen Liebe, die aus dem Glauben stammt, und an welcher der Herr einst (Matth. 25,40) die Seinen erkennen wird (Die Ordnungen der Brüderschaft des Rauhen Hauses von 1858; SW 4/II S. 225)."

    Wicherns Konzeption weist auf die Klöster- und Ordensgemeinschaften sowie geistlichen Kooperationen des Mittelalters zurück, die sich oft einer bestimmten kirchlichen Aufgabe gewidmet haben und daraus u.a. auch ihr spirituelles Profil bezogen. So gab es Krankenpflegekommunitäten, Schul- oder Predigerorden. In diesem Kontext ist auch das Selbstverständnis der Rauhäusler Brüder als Dienstleute der inneren Mission und als Anwälte der Armen zu verstehen.

    Vom Brüderhaus zur Diakonenanstalt: Die Diakonatsdiskussion

    Um 1850 gab es in Deutschland bereits sieben Brüderhäuser Wichern’scher Prägung. Weitere kamen im Laufe der Zeit hinzu. Parallel zu den Brüderhäusern entstanden Diakonissenanstalten mit einer ähnlichen Ausrichtung. Alle entstammten der privaten Initiative evangelischer Vereine oder Anstalten der inneren Mission. Auf ihre missionarischen und sozialen Aktivitäten geht zurück, dass man sich in den damaligen Landeskirchen nach und nach über die Erneuerung des altkirchlichen Diakonenamtes Gedanken machte. An vorderster Stelle stand dabei die preußische Kirchenregierung, die eine Denkschrift zu dem Thema veröffentlichte und Johann Hinrich Wichern um ein Gutachten dazu bat. In seinem Gutachten über die Diakonie und den Diakonat aus dem Jahre 1856 (SW 3/I S. 131-184) plädiert Wichern dafür, in der evangelischen Kirche das Diakonenamt über die reformierte Praxis ehrenamtlicher, Diakone genannte Kirchenpfleger hinaus, als einen hauptamtlichen Dienst einzuführen (Vgl. zum folgenden: Wilfried Brandt, Das Amt der Diakonin und des Diakons in der evangelischen Kirche; Referat vor der Synode des evangelischen Kirchenbezirks Waiblingen am 16.März 2001). Die Gemeinden sollten eine Doppelspitze haben: Das Predigtamt, das den Glauben weckt und stärkt, und das Diakonenamt, das der Liebestätigkeit der Gläubigen Gestalt gibt. Die Diakone sollten eine professionelle biblische und fachliche Ausbildung erhalten. Sie sollten den Gemeindegliedern nicht die Arbeit der Nächstenliebe abnehmen, sondern diese vielmehr anregen und die kirchliche Diakonie organisieren.

    Die Brüder und das Diakonenamt

    Wer sollte zum Diakon berufen (ordiniert) werden? Nach Wichern jeder, der charakterlich und fachlich geeignet sowie entsprechend ausgebildet ist. Das können Theologen, auch Handwerker, Juristen oder Ärzte, gegebenenfalls auch im Rauhen Haus ausgebildete Brüder sein. Diese gleichsam automatisch als Diakone anzusehen, weigerte sich Wichern jedoch beharrlich. Für ihn lag der springende Punkt beim Diakonenamt darin, dass es keine Privatangelegenheit eines diakonischen Vereins sondern eine Einrichtung der Kirche ist. Wen sie in das Diakonenamt beruft, ist genuin ihre Entscheidung und fällt nicht in die Kompetenz freier christlicher Assoziationen. Im übrigen sah Wichern den Aktionsradius des Diakonenamtes wesentlich auf die Kirche beschränkt. Die Brüder als karitative Genossenschaft dagegen sollten in der bürgerlichen (staatlichen), in der kirchlichen und in der freien Diakonie tätig sein. Und so war es auch (Vgl. Die Brüder des Rauhen Hauses (1856); SW 4/II S. 199): Von den 170 Brüdern waren im Jahre 1856 im Rauhen Haus 38 tätig, 57 in vergleichbaren Rettungshäusern, 27 als Aufseher in staatlichen Gefängnissen, 13 in öffentlichen Armenhäusern, 14 als Schullehrer, 9 in der Auswandererseelsorge sowie 8 in der Krankenpflege oder in Fabriken (als Sozialarbeiter).

    Wicherns Unterscheidung zwischen Brüdern und Diakonen hat sich nicht durchgesetzt. Zwar nahm das Diakonenamt in der evangelischen Kirche erst im 20.Jahrhundert, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, reale Formen an, doch nannte man schon zu Wicherns Zeiten hie und da die Absolventen der Brüderausbildung Diakone. Mehr und mehr setzten die Landeskirchen ausgebildete Brüder im kirchlichen Dienst ein, so dass eher schleichend als konzeptionell geplant aus Mitgliedern freier Diakonenanstalten Beauftragte der Kirche wurden. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben nahezu alle Landeskirchen den Dienst von Diakonen und Diakoninnen gesetzlich geregelt. Entsprechend wurde aus der Brüdergenossenschaft des Rauhen Hauses eine Diakonen- und Diakoninnengemeinschaft.

    Ihre Mitglieder sind in das kirchliche Diakonenamt eingesegnet (ordiniert). Gleichwohl lebt der Genossenschaftsgedanke fort. In der Alltagssprache nennt man sie Diakone/Diakoninnen des Rauhen Hauses. Strenggenommen sind sie das nicht, sondern Diakone der Kirche. Aber nach wie vor verstehen sie sich als eine freie, mit dem Rauhen Haus verbundene und dem diakonischen Auftrag der Kirche verpflichtete Gemeinschaft.

    Schlussbetrachtung

    Als Wichern mit Josef Baumgärtner den ersten Bruder ins Rauhe Haus rief, dachten weder er noch die vielen anderen, die Baumgärtner folgten, an ein Diakonenamt, wohl aber an einen gemeinschaftlichen Dienst der Liebe. Die Diakonie der Gründergeneration bestand wesentlich aus ihrer zum Glauben und Handeln erwachten Personalität. Wie von selbst führte sie zu einer geistlichen Genossenschaft. Nicht um ein Amt ging es ihnen, noch nicht einmal um einen neuen Beruf, sondern um das im Glauben wurzelnde Lebensexperiment in der Nachfolge Jesu. Ihr Beispiel macht bis heute Schule. Aus den diakonischen Gemeinschaften wurden geistliche Lebens-, Lern- und Arbeitsgemeinschaften. Im Meer volkskirchlicher Unverbindlichkeit bilden sie Inseln des Engagements und eines der Diakonie verpflichteten Lebens.

    Gottesfürchtige Männer wünschte sich Wichern als Brüder des Rauhen Hauses, so ernst als wahr, so klug als weise, in der Schrift bewandert, im Glauben begründet, voll Liebe zum armen Volke, geschickt zu solch einem Umgang, der Menschen fürs Himmelreich gewinnt. Wichern dachte an Menschen, die aus dem Wort Gottes leben, in verbindlicher Gemeinschaft ihren Glauben vertiefen und den diakonischen Auftrag der Kirche erfüllen wollen. Sich auf sein Erbe zu berufen, heißt für die Brüder- und Schwesternschaft des Rauhen Hauses, sich auf ihr glaubensstiftendes Charisma zu besinnen und es in Alltag und Beruf diakonisch zu leben.

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    Diakoninnen und Diakone der Brüder- und Schwesterschaft des Rauhen Hauses heute

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    Christoph Friedrich Götzky, ein Zeitgenosse Johann Hinrich Wicherns

    Christoph Friedrich Götzky – geboren am 6.1104.1822 – Einritt am 24.11.1845 – Einsegnung am 13.10.1847 – verstorben am28.03.1894

    Im Internet: http://rauhes-haus-diakon.npage.de/goetzky-christoph-friedrich.html

    https://sites.google.com/site/rauheshausdiakone/goetzky-christoph-friedrich

    http://rauheshausbruder.klack.org/seite8.html

    Diakon Christoph Bretschneider recherchierte aus dem Briefwechsel zwischen seinem Urgroßvater Christoph Friedrich Götzky und Johann Hinrich Wichern dieses Lebensportrait:

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    Christoph Friedrich Götzky wurde am 6. November 1822 in Braunschweig geboren und römisch-katholisch getauft. Er hatte den Beruf des Buchbinders erlernt. Seine Mutter hatte ihn vom Militärdienst freigekauft. Im Spätsommer 1844 begab er sich von Braunschweig aus auf eine Wanderschaft gen Norden. Sein Ziel war Schweden. Wohl, um seine Reisekasse aufzubessern, nahm er in Horn bei Hamburg eine Arbeit an. Der Buchbindermeister August Sandelmann im Rauhen Hause suchte gerade eine Hilfskraft. Druckerei und Buchbinderei des Rauhen Hauses verzeichneten seit der Herausgabe der „Fliegenden Blätter", dem Mitteilungsblatt des Rauhen Hauses, einen derartigen Aufschwung, dass im Sommer 1844 mit einem Neubau für die Erweiterung der Buchbinderei begonnen wurde. Das Richtfest am 22. August wird Christoph Friedrich Götzky nicht mitgefeiert haben, wohl aber die Fertigstellung des Neubaus.

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