Drei Musketiere - Eine verlorene Jugend im Krieg, Band 22
By Frank Hille
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Drei Musketiere - Eine verlorene Jugend im Krieg, Band 22 - Frank Hille
Günther Weber, 9. Februar 1945, Budapest
Am Tag der Bekanntgabe des Ausbruchsbefehls aus Budapest war für Günther Weber das lange Erwartete, und nun in paar dürre Anweisungen gekleidete Eingeständnis des drohenden Kollapses des Deutschen Reiches, Wahrheit geworden. Natürlich war das für ihn nicht überraschend gekommen, man hatte in der letzten Zeit einfach nur die Zeichen der Zeit richtig deuten müssen um zu begreifen, was die Stunde nun geschlagen hatte. Die Aussichten waren sehr bitter und es stand fest, dass Deutschland den zweiten großen Krieg des Jahrhunderts verlieren würde. Diesmal würden in der Endabrechnung Millionen Tote, ein vollkommen verwüstetes Land und eine verzweifelte und unterdrückte Bevölkerung stehen. All das war sicher irgendwann in Zahlen zu messen, aber das Land würde auf unabsehbare Zeit nicht mehr das alte sein, und auch nicht mehr sein können. Es würde viel geklärt werden müssen, und dazu würde auch die Rolle der Waffen-SS im Krieg gehören. Was Günther Weber befürchtete war aber, dass die triumphierende überlaute Stimme der Sieger dann jegliche Gegenrede übertönen würde. Was er persönlich im Krieg getan hatte könnte er erklären und auch vertreten. Höchstwahrscheinlich würde die gegnerische Seite seine Argumente nicht gelten lassen, aber das war momentan vollkommen unwichtig, noch hatte das Reich nicht kapituliert.
Weber glaubte nicht an Wunder, aber wer wusste schon, was der Zeitenlauf noch so alles mit sich bringen würde. 1941 hätte niemand mehr einen Pfennig auf das Überleben der Sowjetunion gesetzt, aber es war eben doch anders gekommen. Damals war es der vorzeitige Einbruch der Schlammperiode, aber auch die in den vorherigen Feldzügen arg strapazierte und dann zu schwache Wehrmacht gewesen, außerdem hatte Hitler die enorme Weite Russlands total unterschätzt. Letztlich hatte den Deutschen aber vor allem ihre immer wieder anzutreffende Arroganz gegenüber anderen Nationen das Genick gebrochen. Weber, der Mathematik hatte studieren wollen, waren Namen wie Pythagoras, Euklid, Bramaguptha, Descartes, Pascal, Kolmogorow, Weil und viele andere gut bekannt, Gelehrte von frühesten Zeiten bis zur Gegenwart hin, die allesamt ihre Beiträge für die Entwicklung dieser Wissenschaft geleistet hatten, denen oft Bahnbrechendes in den Erkenntnissen gelungen war. Besonders Kolmogorow hatte Weber immer wieder mit seinen Arbeiten zur Wahrscheinlichkeitstheorie in den Bann gezogen. Ihm war schon bewusst gewesen, dass er zu einer sehr kleinen Gesellschaftsgruppe der Hochintelligenten zählte, denen es möglich war, diesen Gedankengängen überhaupt folgen zu können, und die Formeln und Abstraktionen zu verstehen. Wissenschaft war für ihn damals international gewesen, und weder an eine Rasse noch ein Volk gebunden. Was auf der geistigen Ebene zutraf, konnte auf anderen auch nicht falsch sein. So war es für Weber selbstverständlich, dass russische, britische oder amerikanische Soldaten von Eliteeinheiten keinen Deut schlechter waren als Männer der Waffen-SS. Vielleicht machte eine gewisse Inszenierung der Leistungen der Kämpfer in den schwarzen Uniformen den Unterschied. Das hatte ihn schon immer gestört, dieses Marktschreierische, wenn es um die SS ging. Freilich hatte er erkannt, dass damit junge Männer für den Dienst in der Truppe besser gewonnen werden konnten, denn die Verluste waren ja extrem hoch und mussten ersetzt werden. In den ersten Kampfhandlungen waren die Soldaten sehr ungestüm, unüberlegt und vom Geist der Überlegenheit beseelt in die Gefechte gegangen, und hatten einen enormen Blutzoll zahlen müssen. Zu dieser Zeit hatte die Wehrmacht ziemlich mitleidig auf die militärischen Emporkömmlinge herabgeschaut, und tatsächlich waren die vielfach noch von Adligen aus alten Soldatendynastien geführten Verbände deutlich disziplinierter und erfolgreicher. Die SS allerdings lernte schnell, ohne dabei ihr Draufgängertum aufzugeben, und die siegreichen Feldzüge zu Beginn des Krieges hatten die Männer auch gegen Rückschläge geimpft und weitestgehend immunisiert. Diese Wirkung hatte aber im Verlauf der andauernden Niederlagen abgenommen und die Kampfmoral geschwächt. Was den hohen Widerstandswillen der SS-Männer aber weiterhin aufrechterhielt war die Aussicht auf dem Tod, wenn Deutschland unterliegen sollte. Es war tatsächlich so, dass die Soldaten eher im Kampf sterben wollten, als von den voraussichtlichen Siegern als Gefangene erschossen zu werden.
Günther Webers Bataillon war in den vergangenen Tagen so dezimiert worden, dass nur noch knapp 90 Männer kampffähig waren. Das war ein Zehntel der strukturellen Sollstärke. Dieser Aderlass, und Webers relativ kleiner Verband war ja nur ein kaum beachtenswertes Rädchen im Getriebe des Krieges, betraf alle deutschen Teilstreitkräfte. Jetzt zeigten zwar Albert Speers Maßnahmen der Umstellung der Industrie auf die totale Kriegswirtschaft für die Versorgung der Truppe mit Waffen und Munition Erfolge, aber gut ausgebildete Soldaten kamen eben nicht aus Fabriken. Das Schlimme war, dass viele der erfahrenen Veteranen gefallen waren, und der Ersatz erstens kaum in Gefechten gestanden hatte, und die jungen Männer zweitens mit einem vollkommen falschen Bild vom Krieg zu den Einheiten gekommen waren. Die meisten waren noch der Meinung, dass alles ein großes Abenteuer wäre, in dem es gefährliche Situationen geben würde, aber man diese mit Glück und Geschick umgehen könnte. Die Wahrheit war leider sehr grausam, denn der Großteil der jungen Soldaten überlebte nicht lange. Weber dachte kaum an sich und sein Schicksal, aber er sah sein Vaterland nach dem Krieg gedanklich vor sich und was er erblickte war ein besetztes Land, in den eine oder gar zwei Generationen von Männern fehlten. Diese gefallenen Männer waren anfangs mit militärischem Pomp beigesetzt worden, aber jetzt blieb nur noch das Massengrab für die geschundenen Menschen übrig. In Webers Bataillon diente der Sturmscharführer Wilhelm Franke. Der 28jährige Mann war am gestrigen Tag durch einen Schuss in den Oberkörper verwundet und in ein Behelfslazarett gebracht worden.
Der Gestank aus dem Keller des halb eingestürzten Hauses war ekelerregend. Das Gebäude lag ungefähr 400 Meter von der aktuellen Verteidigungslinie der deutschen und ungarischen Truppen entfernt, und kaum noch mehr als 800 Meter vom östlichen Flussufer Budapests entfernt. Der Eingang war von zwei Wehrmachtssoldaten mit den üblichen 98k-Karabinern gesichert. Die Männer machten auf Weber keinen guten Eindruck und er vermutete, dass sie sicher bald türmen würden. Über zwei Treppen stieg er nach unten und betrat dann einen von Kerzen kaum erhellten Raum von etwa 30 Quadratmetern Größe. Er sah nur leblose Gestalten dort auf dem Boden liegen, alles Tote, die man wohl aus Platzmangel bereits übereinandergeschichtet hatte. Er ging weiter und war in einem längeren Gang angekommen, in dem Verwundete auf dem blanken und kalten Boden lagen. Nach einigen Metern kam er in einen Raum, der wohl das Behandlungs- und Operationszimmer war. Dieser Bereich war etwas breiter als der Gang und schätzungsweise acht Meter lang. Die Decke bestand aus einem gemauerten Rundbogen und Weber war erstaunt, wie frisch diese Konstruktion aussah. Eigentlich hätte der dumpfe und von unter her aufsteigende und feuchte Brodem alles längst mit irgendwelchem Gewächs schon überwuchern lassen müssen, aber dann sah er nach oben schauend, dass aller paar Schritte kreisrunde Öffnungen in der Decke angebracht waren: Lüftungslöcher. Deren Funktion war sicherlich durch die Zerstörungen an der Oberwelt weitestgehend außer Betrieb gesetzt worden, aber man würde alles nach dem Wegräumen des Schutts wieder in Gang bringen können.
Webers erster Blick beim Betreten des Raumes war auf eine Art große Holzkiste gefallen. Der Deckel des Behältnisses stand offen und dann sah er, dass darin amputierte Gliedmaßen hineingelegt worden waren. Arme, Hände, Beine, Füße. Keine drei Schritte vor ihm war eine in einen schmutzigen und blutbefleckten Kittel gehüllte Gestalt gerade dabei, einem spedierten Mann den linken Arm knapp unterhalb des Schultergelenks abzusägen. Weber schaute und hörte hin. Die Knochensäge wurde von einer erfahrenen Hand benutzt, nach kurzer Zeit war der Arm abgetrennt worden, oberhalb des jetzigen Stumpfes war der verbleibende Rest kräftig abgebunden worden. Der Operateur trat ein Stück zur Seite, und ließ sich offensichtlich erschöpft auf einen alten Holzstuhl fallen. Weber sah, dass zwei andere Ärzte die Blutgefäße des Schwerverletzten versorgten, und nachdem dies mit großer Ruhe erfolgt war, einen Sanitäter heranwinkten, der dem Mann eine wahrscheinlich schon mehrfach verwendete Binde anlegte.
Sie müssn garni so heldenhaft guggn
sagte der Arzt in breitem Sächsisch zu Weber dor Gerl gan durchkommt, aber, was wees mer schon. Vielleischd schaffddors, is ja noch ä Bäbie. Ach, so een Scheiss och.
Der Mann rauchte, hielt die Zigarette, obwohl seine Hände voller Blut waren.
Ich suche einen Kameraden meiner Einheit
sagte Weber Sturmscharführer Franke. Ist der vielleicht bei Ihnen hier?
Der Arzt lachte, aber es war eine bösartige Lautäußerung.
Sturmscharführer .. was? Hammr ni, un kriegn mir ooch nimmer nein. Was ist n Sturmscharfürer? So was wie dor große Fürer, dor Adolf? Is ooch egal, hier wird ordnlisch abgegrazd, s is nisch ma ne Binde da, nüschd is mer da. Jedse is dor Ofn endgüldsch aus, das gönnse mir globn. Un n Fürer Frange geensch ni.
Die die Zigarette haltende Hand des Arztes zitterte.
Weber musste wieder daran denken, dass die Wehrmacht teils jahrelang Aufputschmittel an die Soldaten ausgegeben hatte. Ein Arzt musste noch schneller an solche Sache herankommen können. Dann schämte er sich aber für den Gedanken, dass dieser total erledigte Arzt eventuell ein Suchtprobleme haben könnte.
Er ging in den angrenzenden Raum, dort lagen noch einige lebende Soldaten. Ganz hinten in einer Ecke erkannte er Franke, er schien zu schlafen. Vorsichtig stieg Weber über die Verwundeten hinweg, dann hockte er sich vor seinem Spieß hin.
Willi
fragte er wie geht es dir?
Franke öffnete die Augen ein wenig, dann antwortete er mit schwacher Stimme:
"Nicht gut, Günther. Ich werde wohl in diesem dreckigen und stinkenden Loch hier den Löffel abgeben. Lass gut sein, ich hab´ genug gesehen, und bei mir ist die Kugel durchgegangen und ich weiß, wie groß die Austrittswunden sind. Die haben mir einfach eine schon benutzte Binde drumgewickelt und da muss man nicht viel drüber nachdenken was da an Keimen dran war. Die sind jetzt schon in mir drin, ich hab´ schon hohes Fieber. Das war's für