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Mein kunterbuntes Leben: Geschichten von 0 - 80
Mein kunterbuntes Leben: Geschichten von 0 - 80
Mein kunterbuntes Leben: Geschichten von 0 - 80
Ebook428 pages6 hours

Mein kunterbuntes Leben: Geschichten von 0 - 80

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About this ebook

Mein Leben in einzelnen Geschichten von der Herkunft bis zum 80. Geburtstag. Ich habe in mehreren Jahren diese Geschichten aufgeschrieben und auf meinem PC gesammelt. Da ich keineswegs ein konventionelles Leben geführt habe, glaube ich, es könnte für andere Menschen eventuell interessant sein, diese Geschichten aus einem eher ungewöhnlichen Frauenleben zu lesen.
LanguageDeutsch
Publisherepubli
Release dateJul 22, 2020
ISBN9783752978933
Mein kunterbuntes Leben: Geschichten von 0 - 80

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    Mein kunterbuntes Leben - Ursula Tiefensee

    cover.jpg

    Mein kunterbuntes Leben

    Geschichten von 0 - 80

    Ursula Tiefensee

    Texte: Copyright by Ursula Tiefensee

    Umschlaggestaltung: Copyright by Ursula Tiefensee

    Verlag:

    Sergej Orlow

    Neustädter Str. 68

    90431 Nürnberg

    lilofee.75gmail.com

    Hersteller: epubli

    Ursula Tiefensee

    Herkunft und Ursprung

    Mein Großonkel Ernst schrieb als deutscher Dichter unter dem Pseudonym Georg Stammler. Er lebte von 1872 bis 1948. Er war der Bruder meines Großvaters Paul.

    Lieber Onkel Ernst!

    Heute will ich es wagen, Dir zu schreiben. Ich werde die Scheu überwinden und meinen ganzen Mut zusammen nehmen dafür. Diesen Mut brauche ich, weil ich Dich nie persönlich kennen gelernt habe und viel zu wenig von Dir weiß. Und ich fürchte Deinen Zorn, wenn ich Dich falsch interpretieren sollte. Vielleicht weißt Du es ja bereits, dass Du seit vielen Jahren mein großes Vorbild bist. Denn in der Anderwelt, in der Du jetzt lebst, kannst Du ja herabschauen auf Deine Großnichte, die seit langem versucht, in Deine Fußstapfen zu treten.

    Wenn ich in Deinen Gedichten lese, spüre ich ähnliche Zweifel an den Menschen und Dir selbst, wie sie auch mich oft heimsuchen. Auch die leichte Ironie in Deinen Versen scheint in der Familie zu liegen. Auch ich erlebe oft, dass so mancher Hintersinn von den Freunden nicht ganz verstanden wird. Ich kann nicht all Deine Gedichte verstehen, doch einige sind mir seltsam vertraut.

    Ich muss Dich, lieber Onkel Ernst, um Vergebung bitten, weil ich Dich lange Zeit verleugnet habe. In den Stolz, einen Dichteronkel zu haben, mischte sich auch immer ein wenig Scham, weil Du gar so schwärmerisch von Deutschland geschrieben hast in Deinen Gedichten. Das war zwar vor der Zeit des Nationalsozialismus, doch ich konnte leider nicht herausfinden, wie Deine Einstellung dazu war. Wahrscheinlich warst Du einfach ein glühender Patriot, der glücklich war, in Deutschland leben zu dürfen. Ich weiß nicht, ob Du auch Soldat warst. Mutter hat mit leider nur wenig von Dir erzählt.

    Ich glaube, Du warst schon ein Pascha, denn einige Deiner Gedichte klingen nicht gerade frauenfreundlich. Doch zu Deinen Lebzeiten gab es zwar schon Anfänge einer Frauenbewegung, doch im Allgemeinen wart Ihr Männer noch die unangefochtene Elite der Menschheit.

    Leider habe ich nur zwei kleine Bände Deiner Bücher geerbt. Doch ich habe mir einige andere aus einem Antiquariat besorgt. Den Band Komm Feuer hast Du im Jahr 1922 meinen späteren Großeltern Paul und Gretchen gewidmet und persönlich signiert. Schon deshalb ist und bleibt es ein kostbares Andenken für mich. Das Buch ist geprägt von leidenschaftlicher Liebe zu Deinem/unseren Land und seinen Menschen. Und auch Dein tiefer Glaube an die Unsterblichkeit unser aller Seelen erschließt sich mir darin. Schon deshalb will auch ich glauben, dass Dich dieser Brief irgendwo und irgendwann erreicht!

    Es grüßt Dich Deine Großnichte Ursula

    Das Feuer spricht: Ich glühe nur im Lufthauch,

    wenn der Wind ruht, fall ich zusammen.

    Ach, ruhe nicht, Wind!

    Meine Seele glüht so gerne,

    meine zuckende Seele sehnt sich noch so, zu leben.

    Der Wind ruft: Komm, Feuer!

    Nur mit Dir ist Wehen Freude!

    (Gedicht aus dem Buch Komm Feuer! von Georg Stammler, erschienen im Urquell-Verlag Mühlhausen 1922)

    Gedanken einer Großmutter

    Wir schreiben den 6. Februar 1940, draußen liegt tiefer Schnee. Paul und ich, Margarete, sitzen zusammen mit Trude, unserer Tochter in der Wohnküche. Ich habe den Kohleherd kräftig eingeheizt, damit es das Kleine schön warm hat. Im Waschkorb auf der Küchenbank liegt ein winziges Mädchen und schläft. Ursula wog bei ihrer Geburt nur fünf Pfund, weshalb der Arzt meinte, sie sei wohl zu früh geboren. Doch Trude bestreitet das, denn nach ihrer Berechnung wurde die Kleine genau neun Monate nach ihrer Zeugung am zweiundzwanzigsten Januar geboren. Ursula hat einen dicken Schopf dunkler Haare, die wohl von ihrem Vater stammen, denn in unserer Familie sind alle blond. Auch ihre Augen sind braun, doch es ist ein sehr helles, durchscheinendes Braun. Mit Trude kann ich keine Ähnlichkeit bei ihrem Kind entdecken. Nun bin ich also Großmutter eines kleinen Mädchens!

    Die zwei Buben meiner Ältesten sehe ich ja nur selten. Ich fühle mich innerlich hin- und her gerissen.

    Einerseits grolle ich meiner Tochter, weil sie keinen Vater für ihr Kind hat. Sie kennt ihn zwar, doch er steht nicht zu seiner Vaterschaft. Das heißt, dass Trude nicht mal Alimente für das Kind bekommen wird. Nun muss sie wohl noch mehr arbeiten, um uns alle zu versorgen. Natürlich tut mir meine Tochter auch leid. Und auch das kleine Mädchen, das in dem viel zu großen Waschkorb liegt, den Trude eigens für sie hergerichtet hat. Es ist ja nur, dass ich mich vor den Leuten schäme, wenn es herauskommt. Natürlich könnte ich auch eine Geschichte erfinden, doch das kommt nicht infrage! Als gläubige Christin achte ich darauf, niemals zu lügen. Meinen Glauben will ich auch meinen Enkeln weitergeben. Wenn die Kleine schon keinen Vater hat, so soll sie zumindest gottesfürchtig erzogen werden. Und ich werde auch darauf achten, dass sie brav und anständig wird, damit ihr später nicht dasselbe passiert wie ihrer Mutter.

    Nun möchte ich mich erst mal vorstellen: ich heiße Margarete und komme ursprünglich aus Rothenburg ob der Tauber. Als ich Paul, meinen Mann heiratete, der aus Württemberg stammt, zog ich mit ihm nach Bad Soden im Taunus, wo er eine eigene Gärtnerei betrieb. Wir bekamen drei Kinder: Hedwig, Gertrud und unseren einzigen Sohn Alfred. Alfred ist leider gemütskrank und lebt seit Jahren in der Nervenheilanstalt.

    Hedwig, die Älteste, hat es gut getroffen. Sie konnte dank der Hilfe von Pauls reicher Verwandtschaft studieren und wurde Lehrerin. Sie heiratete einen Ingenieur aus Stuttgart und bekam nacheinander fünf Söhne, von denen allerdings nur zwei überlebten.

    Unsere zweite Tochter Trude ging gleich nach der Schule ein paar Jahre zu Pauls Verwandten nach Tübingen als Haustochter. Da lernte sie das nötige Rüstzeug für ihren Beruf als Hausangestellte. Sie arbeitete eine Zeit lang in der Schweiz, später in Heilbronn am Neckar bei einer wohlhabenden Familie.

    Leider musste Paul seine Gärtnerei schon vor Jahren aufgeben, weil er zwar ein guter Gärtner, aber ein schlechter Geschäftsmann war. Da mein Bruder Jakob in Nürnberg wohnte und in Mögeldorf einen Garten hatte, beschlossen wir, nach dort umzusiedeln. Paul hat sich von seiner Niederlage nie wirklich erholt. Er bekommt nur eine kleine Rente, weil er als Selbständiger nur wenige Versicherungsmarken kleben konnte. Wir kommen zu zweit gerade so recht und schlecht über die Runden, denn die Miete in der Kirschgartenstraße ist nicht hoch.

    Dass Trude ihre Stellung aufgeben musste, hängt mit der Schande zusammen, die sie über unsere Familie gebracht hat. Eigentlich dachte ich, dass Trude inzwischen erfahrener und vorsichtiger geworden wäre. Immerhin war sie bereits sechsunddreißig, als sie schwanger wurde. Noch dazu ist der Vater des Kindes verheiratet!  Trude hat zwar beteuert, das nicht gewusst zu haben. Aber sie hätte sich ja erkundigen können, bevor sie sich mit dem Kerl einließ. So viel Leichtsinn ist mir schlichtweg unverständlich.

    Früher war Trude immer mein Liebling, weil sie die bravste meiner drei Kinder war.

    Aber es ist nun mal geschehen, da kann man nichts mehr ändern. Trude hat ja Glück, dass ich zuhause bin und auf die Kleine aufpassen kann. Denn so bald als möglich muss sie sich hier eine Arbeit suchen, um Geld zu verdienen. Außerdem hat letztes Jahr der Krieg begonnen und niemand weiß, was noch werden wird. Und irgendwie bin ich deshalb doch froh, Trude hier bei uns zu haben. Vielleicht kann sie uns ja auch später helfen, wenn wir alt und gebrechlich werden.

    Sechs Wochen vor ihrer Niederkunft ging Trude nach Erlangen in die Universitätsklinik, wo sie bis zur Geburt in der Krankenhausküche arbeitete. Dadurch musste sie nichts für die Entbindung bezahlen. Anscheinend hatte ihre Herrschaft in Heilbronn sie nicht krankenversichert.

    Schon zwei Wochen nach Ursulas Geburt kamen die beiden hier in der Kirschgartenstraße an. Wenn ich das kleine Wesen im Waschkorb so anschaue, rührt es doch an mein Herz. Hoffentlich wird sie nicht oft krank. Die meiste Arbeit mit der Kleinen bleibt ja wohl an mir hängen. Wenn Trude zur Arbeit muss, muss sie ihr Kind eben nachts stillen. Ob ich die kleine Ursula lieb haben kann, weiß ich noch nicht so genau. Doch auf jeden Fall werde ich mich in christlicher Nächstenliebe üben, denn Gott hat mir schließlich diese Aufgabe gestellt.

    Onkel Alfred

    Ich hab ihn nie kennen gelernt, meinen Onkel Alfred. Er war Mutters Bruder, der jüngste in ihrer Familie. Sein Schicksal hing wie eine dunkle Wolke über unserer kleinen Familie, damals während des zweiten Weltkriegs. Hätte Mutter mir nicht die Fotos gezeigt; und hätte sie mir nicht von ihrem kleinen Bruder erzählt, wüsste ich nichts über ihn. Seine Eltern, also mein Opa und meine Oma, haben nie von ihm gesprochen. Deshalb lasse ich Alfred Theodor, meinen früh verstorbenen Onkel, seine eigene Geschichte erzählen.

    Alfred erzählt:

    "Ich wurde am 29. März 1904 geboren als jüngstes Kind von Paul und Margarete. Meine beiden älteren Schwestern Hedwig und Gertrud liebten mich sehr. Auch mein Vater war stolz auf seinen einzigen Sohn. Nur meine Mutter erschien mir zeitlebens eher kritisch und irgendwie distanziert. Ich glaube, ihr fehlte einfach die Herzenswärme. Doch von meinem Vater und auch meinen beiden Schwestern bekam ich viel Liebe und Wärme. Zudem hatte ich eine robuste Natur mitbekommen, was mir vieles leichter machte. So wuchs ich unauffällig und wenig beachtet auf. Ich besuchte die Volksschule von der ersten bis zur achten Klasse als mittelmäßiger Schüler, unauffällig eben. Lediglich im Sport war ich recht gut und mutig war ich schon immer. Als mich im Alter von zehn Jahren ein paar ältere Buben in die Pegnitz schubsten, lernte ich zwangsläufig sofort schwimmen. Die großen Buben staunten nicht schlecht - und von da an ließen sie mich in Ruhe. Ich hatte mir Respekt verschafft.

    Als ich die Schule beendet hatte, fand ich mit Hilfe meines Vaters eine Lehrstelle als Schlosser. Die handwerkliche Arbeit gefiel mir gut und ich bestand die Gesellenprüfung im praktischen Bereich mit sehr gut, im theoretischen nur mit befriedigend. Doch mein Meister war zufrieden mit mir, da ich fleißig und geschickt war und gerne arbeitete. So blieb ich auch nach Abschluss meiner Lehre bei ihm.

    Ich war eher schüchtern und unbeholfen im Umgang mit Mädchen. Meine Kumpels nannten mich einen Spätentwickler. Erst mit dreißig Jahren lernte ich ein Mädchen kennen, das mir gut gefiel. Erika hatte allerdings einen Beruf, den meine Mutter sicher nicht gutheißen würde. Sie arbeitete nämlich in einer Wirtschaft als Bedienung. Dabei war sie trotzdem anständig und wehrte allzu zudringliche Gäste energisch ab, wenn sie ihr an den Hintern griffen. Ich war zum ersten Mal richtig verliebt. Meinen Eltern wollte ich es erst sagen, wenn ich sie noch ein wenig besser kennen gelernt hätte. Doch ich war sicher, dass ich Erika später einmal heiraten würde.

    Dann kam der Tag, der mein Leben entscheidend verändern sollte. Meine Mutter war vereist, sie war zu meiner ältesten Schwester nach Stuttgart gefahren. Hedwig war zu der Zeit bereits verheiratet und hatte ihren ersten Sohn bekommen. Mein Vater half seinem Schwager Jakob im Garten und meine Schwester Gertrud war in Heilbronn als Dienstmädchen tätig. Das schien mir die Gelegenheit, Erika zum ersten Mal mit nach Hause zu nehmen. Ja, ich wollte sie verführen, wollte mit ihr schlafen. Meine Sehnsucht und mein Verlangen waren riesengroß und ich hoffte, ihr ginge es ähnlich. So überredete ich mein Mädchen, zu mir nach Hause zu kommen unter dem Vorwand, dass meine Eltern sie gerne kennen lernen würden. Das war gelogen - und ich schämte mich, als sie es herausfand. Und doch ließ Erika sich bewegen, mit in mein Zimmer zu gehen. Wir waren ja beide noch unerfahren und überhaupt nicht aufgeklärt. So waren meine Verführungskünste mit Sicherheit ziemlich ungeschickt. Doch Erika machte es mir nicht allzu schwer. Auch sie sehnte sich nach Liebe und Zärtlichkeit. Dieses erste Mal war aufregend und überwältigend für uns beide. Gerade, als wir entspannt und glücklich miteinander schmusten, klopfte es plötzlich an der Türe. Geistesgegenwärtig sprang ich aus dem Bett und drehte rasch den Schlüssel, um abzuschließen. Keine Sekunde zu früh, denn schon drückte jemand den Türdrücker herunter. Die Stimme meiner Mutter rief von draußen: Alfred, bist du da?  Ich verstand nicht, warum sie schon zurück war, denn eigentlich sollte sie erst in zwei Tagen kommen. Doch nun  war guter Rat teuer. Ich legte den Finger auf den Mund und bedeutete Erika, sich mucksmäuschenstill zu verhalten. doch dann passierte mir ein Missgeschick: ich stieß mit dem Fuß an den Nachttopf, der  ein wenig unter dem Bett hervorlugte. Es gab ein schepperndes Geräusch, das mich verriet. Meine Mutter wirkte schon recht ungehalten und schrie: Alfred, mach sofort auf! Erika saß zitternd auf dem Bett, sie hatte große Angst, kompromittiert zu werden. Und ich wollte mein Mädchen beschützen, hatte wohl auch selber Angst vor der Blamage. Gleichzeitig fühlte ich mich total ohnmächtig und hilflos. Was sollte ich nur tun? Meine Hoffnung ging dahin, dass Mutter aufgeben würde, dass sie mich einfach in Ruhe lassen würde, wenn ich mich weigerte, die Tür zu öffnen.

    Leider war diese Hoffnung vergebens. Nach hartnäckigem Klopfen und Rufen drohte Mutter schließlich, die Polizei zu holen. Zuerst dachte ich, sie wolle mir nur Angst machen. Doch wie erschrak ich, als tatsächlich kurz darauf eine Männerstimme drohend rief: Aufmachen - Polizei!  Erika saß zur Salzsäule erstarrt noch immer aufrecht im Bett. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Doch nicht nur Angst war es, die mein Blut heiß aufwallen ließ. Ich empfand auf einmal einen Zorn, der immer größer und mächtiger wurde. Dann ging alles ganz schnell: Einer der Polizisten brach die Tür auf und stand mitten in meinem Zimmer. Ich war wie von Sinnen, ohnmächtige Gefühle in einer Mischung aus Angst, Wut und Scham überfluteten mich. Meine Mutter schrie: Schande, du bringst Schande in mein Haus! Da sah ich plötzlich nur noch rot. Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, machte ich einen Schritt auf meine Mutter zu und ging ihr an die Gurgel. Ich wollte sie nicht töten, ich wollte nur, dass sie endlich still sein sollte. Die Polizisten rissen mich weg von meiner Mutter und hielten mich fest. Dann fesselten sie mich mit Handschellen und gingen mit mir zur Polizeiwache. Ich war nur halb angezogen und so durcheinander, wie in meinem ganzen bisherigen Leben nicht. Auf die Fragen der Beamten wusste ich nichts Vernünftiges zu erwidern. Es kam nur ein Gestammel aus mir heraus.

    So landete ich noch am selben Tag im Irrenhaus in Erlangen. Obwohl ich ganz sicher nicht verrückt war, das wusste ich ganz bestimmt. Doch wie sollte ich das beweisen? Ich war wohl durcheinander und ich konnte mich auch nicht gut ausdrücken. Ich war ja nur ein einfacher Handwerker und hatte nie gelernt, wohlgesetzte Worte zu verwenden. Natürlich wusste ich, dass es ein Unrecht war, sich an seiner eigenen Mutter zu vergreifen. Doch in meiner Not wusste ich in diesem Augenblick nicht mehr, was ich tat.

    In den ersten Wochen in der Anstalt hoffte ich, dass alles ein Irrtum sei und ich bald wieder nach Hause könnte. Doch nichts dergleichen geschah. Um mich herum lebten viele Männer, die offensichtlich nicht ganz richtig im Kopf waren. Manche schrieen den ganzen Tag, andere erzählten wirre Geschichten. Einmal besuchte mich meine Schwester Gertrud, das gab mir wieder etwas Hoffnung. Da ich schon immer sehr sportlich war, bezwang ich eines Nachts die hohe Mauer, die um die Anstalt gebaut war. Ich lief und rannte den ganzen Weg von Erlangen nach Nürnberg in die Kirschgartenstraße. Doch als ich dort ankam, rief meine Mutter gleich wieder die Polizei, sie hatte kein Erbarmen! Die Beamten brachten mich zurück nach Erlangen.

    Allmählich passte ich mich meiner Umgebung an. Wahrscheinlich wurde ich nun doch langsam verrückt. Es war die einzige Abwechslung für mich, in fremde Rollen zu schlüpfen wie viele der anderen auch. So erzählte ich einmal, ich wäre der Papst, ein anderes Mal wollte ich lieber Napoleon sein. Irgendwann gewöhnte ich mich an das alles, ich wurde immer apathischer und vegetierte nur noch vor mich hin. So vergingen die Jahre, der zweite Weltkrieg begann. Wenigstens musste ich nicht an die Front, dachte ich in meinen lichten Momenten. Doch da hätte ich wenigstens eine Überlebenschance gehabt."

    Im Sommer 1940, er war gerade siebenunddreißig Jahre alt, fiel Alfred Krauß Hitlers Euthanasiegesetz zum Opfer. Lebensunwertes Leben wurde gnadenlos ausgelöscht. Seine Eltern bekamen einen Arztbrief, in dem verzeichnet war, er sei an Lungenentzündung gestorben.

    Wie meine Eltern sich kennen lernten

    Heilbronn am Neckar, man schrieb das Jahr 1939. Gertrud, meine Mutter war damals sechsunddreißig und arbeitete seit einem Jahr als Hausangestellte bei einer wohlhabenden Familie mit zwei Kindern. Gertrud gefiel es in der großen alten Villa auf dem Hügel. Sie konnte weit über die kleine Stadt schauen, wenn sie eine Verschnaufpause bei der Hausarbeit einlegte. Früh am Morgen ging ihr erster Weg oft zu dem kleinen Erker im Arbeitszimmer des Hausherrn. Das Fenster dort ging nach Osten und sie sah so gerne die Sonne aufgehen. Bis nach Weinsberg konnte sie bei guter Sicht  schauen, leider nicht bis nach Wüstenrot, das war doch zu weit weg. Doch ihre Gedanken flogen genau dorthin.

    An ihrem ersten freien Tag im April war sie mit dem Bus nach Wüstenrot gefahren. Warum sie dazu ihre Laute mitgenommen hatte, wusste sie selbst nicht so genau. Es war mehr eine Eingebung. Sie wollte einfach raus in die Natur und vielleicht ein wenig zur Laute singen, wenn sie ein schönes Plätzchen gefunden hätte. Musik bedeutete für Gertrud pure Lebensfreude, sie sang auch oft  bei der Hausarbeit. Gerne wäre sie in jungen Jahren Sängerin geworden, doch das Geld für die Ausbildung reichte nicht.  So kaufte sie sich von ihrem mühsam ersparten Dienstmädchenlohn eine Laute und brachte sich in ihrer freien Zeit selbst das Notenlesen und Spielen bei. Sie kaufte sich dazu den „Zupfgeigenhansel", dessen Lieder sie mit der Zeit fast alle auswendig kannte.

    In dem Bus nach Wüstenrot saßen nur drei oder vier Leute. Gertrud saß ganz vorne, von wo aus sie den Busfahrer gut sehen konnte. Denn dieser Mann gefiel ihr ausnehmend gut. Gleich beim Einsteigen war er ihr aufgefallen, denn er sah genau so aus wie der Mann, von dem sie seit Jahren träumte, den sie jedoch noch nie wirklich getroffen hatte. Sollte ER am Ende derjenige sein, auf den sie schon so lange gewartet hatte? Während der gut halbstündigen Fahrt überlegte sie, wie sie es anstellen könnte, ihn anzusprechen. Doch erst beim Aussteigen fasste sie sich ein Herz und fragte ihn rundheraus, ob er gerne Musik höre. Überrascht sah er sie lange prüfend an. Endlich lächelte er und fragte Gertrud, ob sie heute Abend wieder mit ihm zurück nach Heilbronn fahren würde. Sie bejahte und sie verabredeten sich für den frühen Abend. August, so stellte sich der Busfahrer vor, hatte danach frei und wollte den Abend gerne mit Gertrud verbringen. Sie fanden ein lauschiges Plätzchen auf einer Bank am Waldrand und Gertrud spielte und sang zur Laute. August lauschte selbstvergessen und schien wie verzaubert. Später, als es zu dunkeln begann, fuhr er sie als einzigen Fahrgast mit seinem Bus nach Hause.

    Gertrud war mit ihren sechsunddreißig Jahren zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich verliebt. Bisher hatte sie an allen Männern, die sie kennen gelernt hatte, etwas auszusetzen gehabt. August war zwar nicht ihr erster Liebhaber, aber der erste Mann, den sie gerne heiraten wollte. Auch er war von Gertrud begeistert. Ihre fröhliche, unkomplizierte Art und auch ihre Musik hatten es ihm angetan und sie stimmten ihre freien Tage aufeinander ab, an denen sie sich trafen. August war etwa drei Jahre jünger als Gertrud, doch das war nicht wichtig, Er war groß und stattlich und sah gut aus mit seinen dunklen Haaren und braunen Augen, die einen aparten Kontrast zu ihrer blond- und blauäugigen Erscheinung bildeten. Gertrud störte sich nicht daran, dass August sie nie zu sich nach Hause einlud, denn auch sie konnte ihn ja nicht in ihr Dienstbotenzimmer mitnehmen. So verabredeten sie sich weiterhin draußen im Freien, zumal auf den April bald ein sonnenwarmer Mai folgte. Sie liebten sich auf einer Waldlichtung voller duftender Blumen und Bienengesumme und vergaßen die Welt um sich herum.

    Gertrud glaubte fest daran, dass August sie bald um ihre Hand bitten würde. Als sie Anfang Juli herausfand, dass sie schwanger war, sagte sie es August ohne Zögern. Dieser reagierte jedoch zutiefst erschrocken. Er wurde sehr blass und war an diesem Abend auffallend schweigsam. Als sie sich voneinander verabschiedeten, bekam Gertrud es mit der Angst. Auf einmal zweifelte sie an ihrer Überzeugung, dass August sie heiraten würde. Er hatte bisher auch nichts dergleichen gesagt, ihr nie etwas versprochen. Sie hatten überhaupt nicht über die Zukunft geredet, sondern die Zeit mit Lachen, Singen, einander Necken und Lieben verbracht.

    In den darauf folgenden Wochen sah Gertrud ihren August nicht. Ein anderer Fahrer hatte seine Tour übernommen. Gertrud schwante allmählich, dass er ihr aus dem Weg ging. In ihrer Not fragte sie eine Frau in Wüstenrot, die sie vom Sehen kannte, nach August. Die erklärte ihr bereitwillig, dass der längst verheiratet sei und zwei Töchter hatte. Ein drittes Kind sei unterwegs. Doch die Ehefrau sei unglücklich, weil August immer so lange weg von zu Hause blieb, auch in seiner Freizeit. Die Enttäuschung für Gertrud war groß. Von einem Tag zum anderen waren all ihre Träume zerplatzt. Sie machte sich natürlich Vorwürfe, weil sie so leichtgläubig gewesen war. Doch was sollte sie tun?

    Schließlich vertraute sie sich ihrer Chefin an. Diese war überraschend einfühlsam und bot Gertrud sogar an, ihr Kind zur Arbeit ins Haus mitzubringen und einen Wäschekorb für das Neugeborene in ihr Zimmer zu stellen. Doch Gertrud schämte sich für ihren Leichtsinn und beschloss daher, zu ihren Eltern nach Nürnberg zurück zukehren. Diese waren schon in Rente und könnten sich um das Kleine kümmern. Die Wohnung in Johannis bot Platz genug für sie und ihr Kind. Zudem deuteten alle Anzeichen auf den baldigen Kriegsbeginn hin und da wollte Gertrud doch lieber bei ihren Eltern sein. Also kündigte sie schweren Herzens ihre Stellung und zog mit Sack und Pack nach Nürnberg, ohne sich von August zu verabschieden.

    Der schien über diese Entwicklung eher froh zu sein, war doch Gertruds Schwangerschaft für ihn ein großes Problem. Denn seine Frau wusste bis dahin nichts von seinem Verhältnis und erwartete zudem ihr drittes Kind. Er hatte es sich wahrscheinlich zu einfach gemacht, hatte niemals vorgehabt, seine Ehe aufzugeben; und die Affäre mit Gertrud war für ihn nur eine schöne Episode gewesen.

    Mutter Gertrud erzählt

    Oh, wie ich sie beneide! Wann immer ich das Bild meiner Schwester mit ihren zwei Buben anschaue, wird mir schwer ums Herz. So gerne hätte ich auch einen Sohn gehabt, wenigstens einen! Stattdessen bekam ich nun eine Tochter, die so klein und zart war bei der Geburt, dass ich befürchtete, sie wäre zu schwach zum Leben. Eigentlich wollte ich ja überhaupt kein Kind und hatte auch nicht mehr damit gerechnet mit meinen siebenunddreißig Jahren! Und dazu noch unehelich! Meine Mutter wird mir das wohl nie verzeihen.

    Ja, wenn ich gewusst hätte, dass August bereits verheiratet war. Doch ehrlich gesagt, habe ich ihn auch nicht danach gefragt. Ich hatte mich einfach verliebt und gehofft, dass das was werden könnte mit uns beiden. Dass ich noch immer ledig bin, ist zum großen Teil meine eigene Schuld. Ich bin eben zu wählerisch. Der eine meiner Verehrer war drei Zentimeter kleiner als ich, der andere hatte Schweißfüße, irgendwas hat mich immer gestört. Nur bei August, dem Vater meiner Tochter, hatte ich nichts auszusetzen. Er war der Mann, von dem ich all die Jahre geträumt hatte.

    Als ich erfuhr, dass er bereits eine Familie hatte, schämte ich mich vor den Leuten, wollte mich am liebsten verkriechen. Die Frau, bei der ich in Stellung war, hatte mir sogar angeboten, mein Kind zur Arbeit mitzubringen. Ich dürfte in meinem Zimmer sogar ein Kinderbett aufstellen. Sie meinte es sicher gut, doch ich wollte nur noch weg, traute mich hier in Wüstenrot und Heilbronn nicht mehr unter die Leute ob der Schande, die mir passiert war.

    Und so packte ich, bevor man meine Schwangerschaft allzu deutlich sehen konnte, meine Koffer und fuhr zu meinen Eltern nach Nürnberg. Deren Wohnung in Johannis war zum Glück groß genug und so bezog ich das hintere Zimmer, dessen Fenster auf den Hof ging. Von meinem ersparten Geld kaufte ich mir eine rostrote Chaiselonge als kleinen Trost. Obwohl ich all die Jahre als Hausmädchen in Baden-Württemberg gearbeitet hatte, war ich nicht krankenversichert.

    Da erfuhr ich von einer Nachbarin, dass man in der Erlanger Uni-Klinik umsonst entbinden konnte, wenn man vorher sechs Wochen in der Küche mitarbeitete.  Das war die Lösung, denn ich fühlte mich gesund und kräftig und arbeitete gern. Zudem konnte ich so für eine Weile den alltäglichen Lamentos meiner Mutter entfliehen, die mir immer wieder vorjammerte, welch ein Unglück ich über die Familie gebracht hätte.

    Dabei hatten wir eigentlich ganz andere Sorgen. Es war Ende 1939 und der Krieg hatte begonnen. Mein Kind wurde dann im Januar 1940 geboren. Ich nannte das kleine dunkelhaarige Mädchen Ursula. Wenn es ein Bub geworden wäre, hätte er Peter geheißen. Meine Gefühle zu dem Baby waren zwiespältig. Schließlich hat Ursulas Geburt mein Leben radikal verändert. Und ihr Vater wollte zu allem Unglück nichts von ihr wissen, behauptete gar, sie sei nicht seine Tochter. Das empörte mich zutiefst, denn er war seit Jahren der einzige Mann, mit dem ich zusammen war.

    Mein Vater hielt Gott sei Dank zu mir und verteidigte mich oft bei Mutter. Er sagte zum Beispiel zu ihr, dass wir alle froh sein könnten, in diesen schweren Zeiten zusammen zu sein. Meine ältere Schwester lebte mit ihrer Familie in Stuttgart und mein jüngerer Bruder war zu dieser Zeit in einer psychiatrischen Klinik, worüber aber nur unter vorgehaltener Hand gesprochen wurde. Ich war die zweite Tochter und der Liebling meines Vaters. Als ich zwei Wochen nach der Geburt mit der Kleinen von der Klinik in Erlangen nach Hause kam, musste ich mir sofort Arbeit suchen. Mein Vater hatte nur eine kleine Rente, da er als selbständiger Gärtner nur wenig „geklebt" hatte. Damals bekam man vom Arbeitgeber Marken, die man in einen Rentenausweis klebte. Daraus wurde dann die Rente, die einem zustand, errechnet. Es war also klar, dass ich den Unterhalt für mich und meine Tochter selbst erwirtschaften musste. Ich fand dann bald eine Stelle in einer Munitionsfabrik. Dort musste ich allerdings die meiste Zeit in der Nachtschicht arbeiten. Die Fabrik war außerhalb von Feucht, ich musste mit der Bahn hinfahren. Wenn ich morgens todmüde von der Arbeit kam, drückte mir meine Mutter, sobald ich mich gewaschen und umgezogen hatte, mein Baby in den Arm. Ich hatte ja immer noch genügend Milch und konnte Ursula die ersten Monate stillen. Doch ich war oft so müde, dass ich darüber einschlief. Ursula schrie dann und verlangte ihr Recht. Ansonsten habe ich mich nicht viel mit der Kleinen beschäftigt. Ich wusste sie ja bei meinen Eltern gut aufgehoben. Meine Mutter lamentierte zwar immer noch und beklagte mein und ihr Schicksal, doch sie kümmerte sich gut um mein Baby. Und mein Vater war ganz vernarrt in die Kleine und lachte und scherzte mit ihr. Ursula gedieh gut und war leicht zufrieden zu stellen. Oft sah ich sie sinnend an und fand sie etwas fremdartig mit ihren dunklen Haaren in unserer blonden Familie. Sie kam wohl mehr nach  ihrem Vater, der mich so sehr enttäuscht hatte.

    Ich war beim Jugendamt gewesen, um Alimente von ihm zu bekommen. Doch er weigerte sich, zu zahlen und ich überlegte, ob ich ihn deshalb verklagen sollte. Einmal, als Ursula gerade drei Wochen alt war, kam er nach Nürnberg. Die Kleine war da noch sehr zart. Er sah sie lange an und sagte schließlich: „Vielleicht stirbt sie ja wieder!" Das wäre für ihn wohl die einfachste Lösung gewesen. Doch so leicht machten wir es ihm beide nicht.

    Es war halt eine schwere Zeit damals. Der Krieg ließ uns nicht zur Ruhe kommen. Ich musste schwer arbeiten und hatte kaum Kraft, mich um meine kleine Tochter zu kümmern. Mit der Zeit wuchs meine Liebe zu ihr, zumal sie meistens brav war und immer goldiger wurde. Meine Eltern wurden allmählich gebrechlicher. So wuchs ich mehr und mehr in die Rolle des Familienoberhauptes hinein.

    Den Vater von Ursula habe ich dann doch noch verklagt. Der Prozess zog sich über viele Jahre hin, doch ich gewann schließlich und August musste zahlen. Er hat nie mehr nach seiner Tochter gefragt und nach mir auch nicht

    Kindheitserinnerungen

    Mein Gitterbett in Mutters Zimmer

    Ich baue es zum Kaufladen um

    und verkaufe meine Schätze.

    Der Weg zum Kindergarten

    in der ledernen Umhängetasche

    die Tüte mit dem Butterbrot.

    Das Schaukelpferd dort

    hat Platz für zwei Kinder,

    für Gerhard und mich!

    Spielen im Schutt der Ruinen

    ist eigentlich verboten.

    Dort finden wir wundersames.

    Mein eiserner Schlitten

    mit Segeltuch bespannt

    ist etwas ganz Besonderes.

    In Mutters Spielwarenfabrik

    gibt es viele Russen

    Sie scherzen oft mit mir.

    Die Amerikaner in Uniform

    schwarze und weiße

    schenken uns Schokolade.

    Kriegskind

    Als ich klein war, erzählte mir meine Mutter, ich sei aus einem Schneeball entstanden, der den Berg herab auf sie zugerollt kam. Durch das Rollen im Schnee sei dieser größer und größer geworden. Als er etwa die Größe eines Babys hatte, nahm Mutter ihn auf und wärmte ihn an ihrem Herzen. So wurde aus dem Schneeball ein lebendiges Kind. Dieses Kind nannte sie Ursula. Da ich im Januar geboren bin, erschien mir die Geschichte mit dem Schneeball recht einleuchtend und ich glaubte sie viele Jahre lang. Die anderen Kinder erzählten, sie wären vom Storch gebracht worden, weil ihre Eltern oder Geschwister Zuckerstücke aufs Fensterbrett gelegt hätten. So hatte ich von Anfang an das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

    Dass in dieser Zeit Krieg herrschte, war mir als kleines Kind nicht wirklich bewusst. Ich hörte zwar die Erwachsenen öfters darüber reden, doch konnte ich mit dem Begriff Krieg nicht viel anfangen. Man muss bedenken, dass ich ja keine Vergleichsmöglichkeit hatte, denn von meiner Geburt bis zu meinem fünften Lebensjahr war mein Alltag vom Krieg geprägt. Ich erinnere mich an die Sirenen, die einen schauderhaften Lärm verursachten. Doch Mutter erklärte mir, dass sie notwendig seien, damit die Menschen rechtzeitig in die Luftschutzkeller gingen und dort geschützt waren. So war es für mich bald zur Gewohnheit geworden, öfters abends in den Luftschutzkeller gebracht zu werden. Häufig trug Mutter mich huckepack hinunter, wenn ich schon geschlafen hatte und gar nicht richtig wach wurde. Der Keller hatte keine Schrecken für mich, denn Mutter war ja immer dabei. Ich kann mich nicht erinnern, ob auch meine Großeltern mit im Keller waren. Ich glaube, mein Großvater weigerte sich des Öfteren, er blieb in seinem Zimmer trotz Bombenalarm. Glücklicherweise wurde unser Haus nicht direkt getroffen, auch wenn es so manche Erschütterung gab und ab und zu ein Fenster barst.

    Woran ich mich noch schemenhaft erinnere, ist diese dumpf brütende Stimmung unter den Erwachsenen. Meist wurde wenig gesprochen im Keller, doch es roch förmlich nach Angst und manchmal auch Wut.

    An eine Begebenheit erinnere ich mich jedoch deutlich. Ich war etwa vier Jahre alt, als wir abends mal wieder in den Keller hinab stiegen. In dem Raum, in dem wir uns normalerweise aufhielten, gab es ein Stockbett. Meistens hob meine Mutter mich auf das obere Bett, denn es gab keine Leiter. Doch an diesem einen Abend legte sie mich kurzerhand auf dem unteren Bett ab. Auf mein Gequengel hin antwortete sie, sie sei zu müde, um mich noch hochzuheben. Kurz darauf gab es ein polterndes Geräusch und ein Balken fiel von der Decke direkt auf das obere Bett. Auch ich mit meinen vier Jahren begriff in diesem Moment, dass ich da oben von dem Balken hätte erschlagen werden können. Mein Schutzengel hatte also aufgepasst und mir das Leben gerettet. Und ich blieb an dem weiteren Abend mucksmäuschenstill.

    Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Geburtstag jemals gefeiert wurde. Es gab zwar kleine, meist praktische Geschenke, doch damit war es dann erledigt. In dieser schweren Zeit hatten die Menschen auch andere Sorgen als Kindergeburtstage zu feiern. Doch an ein Geschenk erinnere ich mich lebhaft, da es mir so gut gefiel. Es war eine Gamaschenhose in der Farbe roter Bete. Mutter nannte sie die Rot-Rüben-Hose. Zu dieser Zeit trugen kleine Mädchen sowieso nur Kleider oder Röcke, doch im Winter waren die wollenen Strümpfe manchmal nicht warm genug. So zog Mutter mir, wenn es sehr kalt war, darüber noch eine Gamaschenhose, die unten ein Gummiband hatte und so eng war wie die heutigen Leggins. Mir gefiel vor allem die Farbe, da ich ansonsten fast nur graue oder dunkelblaue Sachen hatte. Wo meine Mutter diese Hose herhatte, habe ich nie erfahren. Doch sie bewirkte, dass ich mein kleines Leben plötzlich nicht mehr ganz so grau und trist empfand. Und sie zog die Blicke meiner Spielkameraden auf sich, was mich froh und stolz machte. Außerdem glaubte ich durch dieses Geschenk, dass ich für meine Mutter etwas Besonderes war. Ein Kind, auf das sie stolz war und gerne herzeigte. Das wiederum nahm ich als eindeutigen Liebesbeweis.

    Mitten auf unserer Straße gab es einen großen Schutthaufen, in dem wir Kinder

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