Berichte von der Reichstagstribüne: Aus einer vergessenen Publikation
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Berichte von der Reichstagstribüne - Helmut H. Schulz
Vorwort
Der Reichstag ist eine sehr alte deutsche ständische Einrichtung; ab dem 12. Jahrhundert beriefen die deutschen Könige und Kaiser die Stände ein, um Gesetze zu beraten; der Reichstag in Permanenz wird 1663 in Regensburg abgehalten, allerdings mit Gesandten, ohne Plenum. Der Reichstag besaß drei Kollegien; die hohen Fürsten, sieben davon Kurfürsten, die den Kaiser wählten, unter Vorsitz eines Reichskanzlers, die Bank des Adels, etwa 100 an der Zahl, die Geistlichkeit und der Stände. Der Reichstag erließ Gesetze, den sogenannten Reichsabschied.
Diese Institution blieb im Großen und Ganzen bis 1871, dem Gründungsdatum des neuen Reiches, erhalten, obschon die Reichsstände nicht mehr zusammentraten. Eine Reichverfassung trat in Kraft und zum ersten Mal hatte das Reich kein ständisches Parlament, sondern ein Parteienparlament, in das Abgeordneten in ihren Wahlkreisen nach einem komplizierten Wahlrecht hinein gewählt wurden, entsprechend den Parteien, die aus der Revolution 1848, den Reichseinigungskriegen und der Proklamation des Kaiserreiches, hervorgegangen waren, im Wesentlichen die Konservative und die Freisinnige Partei. Die Landtage existierten weiter. In den folgenden Jahrzehnten kam die Sozialdemokratische Partei hinzu und wuchs nach Aufhebung der Sozialistengesetze schnell zu einer parlamentarischen Kraft an. Ab jetzt schien den Sozialdemokraten der Weg zum Sozialismus geebnet, das Hineinwachsen auf gesetzlichem, rechtsstaatlichem Weg in den Sozialismus ersetzte die marxistische Lehre vom Klassenkampf.
Damit stand die Sozialdemokratie vor einem Dilemma; die proletarische Masse hielt an der Revolution fest; ihre Führer - nun die Rechten genannt - suchten Schluss zu den bürgerlichen Kräften, was 1918/1919 zur Großen Koalition führte. Zwar hatten die deutschen Führer der Sozialdemokratie sogar noch der III. Internationale Treue zugeschworen, aber 1914 den nationalen Schwenk vollzogen und den Kriegskrediten zugestimmt. Erst als der Krieg verloren war, spaltete sich die Linke als USPD von der SPD ab.
Das neue Parlament 1919, aus den Wahlen zur Nationalversammlung und der Weimarer Verfassung hervorgegangen, wurde nun auch anderen Parteien geöffnet. Es gab keine Sperrklausel; dem zufolge bot das Parlament von Weimar ein buntes Bild aus kleinen und kleinsten Parteien und den großen Mehrheitsparteien. Was der Berichterstatter oben so sehr beanstandet, den Mangel an Wissen und Takt im Umgang der Parlamentarier miteinander und mit der Regierung, das erklärt sich aus der Ursprünglichkeit der Zusammensetzung des Parlamentes. Der Reichstag von 1919 war ein Neuling und musste seine Spielregeln neu erfinden. Die Revolution, die in den alten deutschen Ländern verschiedene Kräfte und seltsame Koalitionen hervorgebracht hatte, brachte Frauen und Männer in den Reichstag, die in der Tat von ihren Fraktionsführern gelenkt wurden. Während das Parlament Gesetze beriet, stand zum Beispiel Mitteldeutschland in hellem Aufstand und der sozialdemokratische Reichswehrminister musste das Heer in die Aufstandsgebiet schicken; Freikorps und Rebellen lieferten sich Gefechte und gingen erbarmungslos mit ihren Gefangenen um.
Aber auch in den Folgejahren arbeitete der Reichstag nicht viel besser; die letzten Regierungen vor der Berufung Hitlers zum Reichskanzler waren Müller, Brüning, Papen, in letzter Stunde auch kurzfristig Kurt von Schleicher, der mit dem Ansinnen einen Staatsstreich zu inszenieren, um die Reichswehr gegen die Nazis einzusetzen, beim Reichspräsidenten abblitzte. Regiert wurde ohne Reichstag auf dem Wege der Notverordnung nach dem Artikel 48. Die legale, verfassungstreue Berufung Hitlers zum Reichskanzler war eine Folge des Versagens bürgerlicher Politiker, auch unter dem Druck der Siegermächte.
Dass der Parlamentarismus in Deutschland keine Probleme lösen konnte, gehört zu den Erfahrungen des Wählers jener Zeit, der alle Augenblicke an die Wahlurne getrieben wurde. England, das große Beispiel aller gläubigen Parlamentarier, hatte seine bürgerliche Revolution dreihundert Jahre früher abgemacht, davor besaß es schon ein beinahe modernes Parlament, allerdings auch ein ständisches. König Karl I. hatte die Versammlung ausgesetzt, als sie ihm lästig wurde, schließlich das Parlament doch einberufen, aber die Parlamentarier rückten kein Geld heraus, sie verlangten die Bestrafung der Ratgeber des Monarchen, die sie für alle Missstände im Lande verantwortlich machten. Der Stuart Karl I. schickte sein Parlament wieder nach Hause. Darauf kam es in London zum Aufstand des Handelsbürgertums. Nach der Auflösung dieses sogenannten kurzen Parlamentes gingen auch die Schotten zum Angriff über; darauf wurde das Parlament ein weiteres Mal einberufen; das sogenannte lange Parlament tagte von 1640 bis 1653 und bildete den Sammelpunkt der Opposition gegen das Stuart-Regime. Der »neue Adel« gab den Ton an. In der Folgezeit bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges behauptete sich das Parlament, baute seinen Einfluss aus; der Monarchie wurde Stück für Stück Macht abgerungen. Kurz, ab 1640 besaß England einen beispiellosen wirtschaftlichen Vorsprung und eine große politische Reife der Stände, das House of Lords blieb der Monarchie ergeben und das Unterhaus Gesetzgeber. Der Bundestag ist ein Abklatsch und Fortsetzung des bürgerlichen Parlamentes der Weimarer Republik mit allen negativen Erscheinungen, die der Berichterstatter von 1922 feststellte. Korruption, Heuchelei, Habsucht und Verlogenheit der Amtsträger scheinen dem Parlamentarismus eigen; Feigheit und Dummheit zeichnen Kanzler und Minister aus, von Mal zu Mal scheinen sich Regierungen und Parlamentarier zu verschlechtern. Heute wie damals ist aus der Enttäuschung der Wähler die Abkehr oder Abscheu von den Parteien festzustellen, was irreführend als Politikverdrossenheit bezeichnet wird. Die Verfasser des Grundgesetzes nach 1945 standen in der Weimarer Republik als Politiker meist dem Zentrum nahe, und sie arbeiteten überdies unter Aufsicht der Besatzungsmächte, die ein ihnen genehmes Regime in Deutschland wünschten. Der Notverordnungsparagraf wurde gestrichen; um der Präsidialdiktatur den Weg zu versperren statteten sie das Amt des Präsidenten so schwach aus, dass ihm kaum mehr bleibt, als durch seine Unterschrift Gesetze zu bestätigen und öffentliche Reden zu halten. Ein im Bundestag gelesenes und beschlossenes Gesetz kann er nicht verhindern.
Was aus der Geschichte von Weimar zu lernen gewesen wäre, ist die Verhinderung der auf Machterhalt gerichteten Koalitionsregierungen, von den Parteiführern als Wählerwille umgedeutet. Mehrheiten sollten von Fall zu Fall im Parlament gesucht werden; die Praxis, Kabinette durch Absprachen mit dem politischen Gegner abzusichern, führte von Beginn an zu Koalitionen aus Parteien entgegengesetzter Richtungen. Das hat die Parteien so unglaubwürdig gemacht. Das Zentrum, heute die Christdemokraten, scheinen noch am stabilsten, wenn auch ihre Beliebtheit schwankt, die Sozialdemokratie, die im Glauben vieler ihrer Anhänger noch auf dem Boden der Bebelpartei steht, schwankt je nach Wetterlage bald mehr nach links – vor Wahlen – und nach rechts – in bürgerlichen Koalitionen, Verfassungstreue garantiert, aber ein so schwer traumatisiertes Volk kann auch einmal diese Treue aufkündigen. Der Bundestag darf sich auf die Nähe zum Reichstag der Weimarer Republik berufen, die Politiker aber sollten das System von Weimar nicht heiligsprechen. Geschichte ist Veränderung und neben den sogenannten Volksparteien halten sich schließlich noch die kleineren, ämtersüchtigen koalitionsbereiten Parteien. Verändern werden wir nichts; suchen wir Trost in dem alten Stormwort: »Der eine fragt, was kommt danach, der andere, was ist Recht, und darin unterscheidet sich der Freie von dem Knecht!«
Der Krieg hatte mir, solange er dauerte, selbst die Erinnerung an frühe Beobachtungen im Reichstage gelöscht, und während der Revolution stand ich weit in Feindesland an der Front. Ich geriet erst in der Weimarer Episode unserer neuen Geschichte wieder in die Heimat, machte die Tage der Nationalversammlung mit ihren ersten großen Redekämpfen über Monarchie oder Republik, über Annehmen oder Ablehnen der Versailler Ketten, mit der Auseinandersetzung zwischen Rot und Schwarzrotgelb, der Präsidentenwahl, der Verfassungsarbeit, mit. Es waren manchmal wirklich »große« Tage. Inzwischen haben die Kämpfe über Grundsätzliches ihr Ende gefunden, man glaubt nicht mehr recht daran, daß demokratische Republik und sozialistische Republik miteinander noch auf Tod und Leben ringen werden, alles ist in einen gewissen Beharrungszustand geraten und er heißt: Parlamentarismus. Auch das ist freilich, mit Jahrhundertmaß gemessen, wohl nur Episode, und ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß einst alle Völker - auch das deutsche - sich aufatmend von diesem System befreien werden... Es täuscht uns vor, daß das Volk regiere. Es regiert aber nicht einmal das Parlament, das vielmehr eine hin und her flutende Masse ist, die heute ja sagt und morgen nein, immer auf das Kommando einiger Weniger, denn in Wahrheit leben wir unter einer Oligarchie... Inzwischen ist das Parlamentariertum zu einer ganz nahrhaften Sache geworden. Man bekommt 10.000,- Mark monatlich, ferner eine durch Reichszuschüsse sehr verbilligte Verpflegung, darf überall im Reiche umsonst erster Klasse fahren, während früher der Kaiser jeden Kilometer auf Heller und Pfennig bezahlen mußte, und hat auch sonst gewichtige Vorteile. Oft genug ist man auch Parteisekretär oder Vertreter irgendeines Verbandes und bezieht sein Hauptgehalt von den Auftraggebern gerade für die Arbeit im Parlament. Und schließlich: unter dem parlamentarischen System ist man ohne Rücksicht auf Vorbildung doch Ministeranwärter und hat Aussicht auf einen Lohn von mehreren hunderttausend Mark jährlich nebst Teuerungs- und Kinderzulagen sowie entsprechende Pension ...
NB. ... bezieht sein Hauptgehalt von den Auftraggebern gerade für die Arbeit im Parlament; offenbar eine dem Parlamentarismus innewohnende Geschäftspraxis. Bis heute ist es keiner deutschen Regierung gelungen, den Missbrauch des Mandats zur persönlichen Bereicherung zu unterbinden. Groteskerweise werden kalt gestellte Minister Drahtzieher und Berater in gerade den Branchen, für die sie in der Regierung als verkappte Lobbyisten standen. Wie jüngst A. D. 2008 publik gemacht wurde, erstellten diese Berater sogar Referentenentwürfe für Minister, die diese nur noch als Gesetzentwürfe ins Parlament zur Lesung brachten. Immerhin aber wurde im Parlament von 1921 wenigstens das reale Einkommen des Abgeordneten offen gelegt, während sich die heutigen Abgeordneten mit Händen und Füßen sträuben, das Volk die Höhe ihrer Nebeneinkünfte wissen zu lassen. Und es sind Juristen wie Otto Schily, die sich auf den Schutz der Persönlichkeit berufen, wenn sie ihre Einkünfte verschleiern.
Im Preußischen Abgeordnetenhaus wird einem greisen Zentrumsabgeordneten ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet, dem Präsidenten die Glocke entrissen;