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Der gewaltige Herr Natasian: Eine Burleske aus deutscher Wendezeit
Der gewaltige Herr Natasian: Eine Burleske aus deutscher Wendezeit
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Ebook377 pages5 hours

Der gewaltige Herr Natasian: Eine Burleske aus deutscher Wendezeit

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Sieben Jahre sind es her, seit Ralja am 11. September 2001 ein letztes Lebenszeichen nach Deutschland schickte. Es war eine Ansichtskarte vom World Trade Center. Die vereinbarte Zeit des Schweigens ist abgelaufen. Nun darf erzählt werden, wie ihre verhängnisvolle Geschichte an einem Juniabend 1989 im Club der Kulturschaffenden Berlin-Mitte begann, als sie sich mit Schriftstellerkollegen zum Stammtisch traf und die Kulturschaffenden in die Fänge des gewaltigen Herrn Natasian gerieten. Die Begegnung bleibt nicht ohne Folgen. Nicht für die Dreizehn und möglicherweise auch nicht für die inzwischen längst vergangene deutsche Kleinrepublik, die sich Sozialistische Räterepublik Nemezien nannte. Der Roman ist eine Verbeugung vor dem Dichter von "Meister und Margarita" Michail Bulgakow.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateFeb 19, 2014
ISBN9783847676140
Der gewaltige Herr Natasian: Eine Burleske aus deutscher Wendezeit

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    Book preview

    Der gewaltige Herr Natasian - Beate Morgenstern

    Einführung

    Erklärung: Sieben Jahre sind vergangen, seit mich Walja Kunze im Sommer 2001 aufsuchte und mir tage- und nächtelang ihre Geschichte erzählte und ich mir auf ihren ausdrücklichen Wunsch alles notierte. Ihr selbst, die das Schreiben als Beruf hatte wie ich, war es verwehrt, sich auf diesem Wege von ihrer Vergangenheit zu lösen. Oft habe sie versucht, aufzuschreiben, was ihr seit dem abendlichen Gang zum Club der Kulturschaffenden in Ostberlin im Juni 1989 widerfahren sei, sagte sie mir. Doch jedes Mal habe sie ihre Erinnerung so heftig überfallen, dass sie meinte, sich immer noch im Kreis der zwölf Kollegen im CdK zu befinden. Keine Hand habe sie rühren können, sobald sie dachte, ihre Erlebnisse niederzuschreiben, sagte sie. Dass Walja nach elf Jahren aus den Staaten nach Deutschland zurückkehrte, diente offenbar einzig und allein dem Zweck, ihre Geschichte loszuwerden. Wir jüngeren Autoren im Verband kannten uns alle irgendwie, wie überhaupt die Nemezen, ob turingischen, sächsischen, brandenburgischen oder mecklenburgischen Stammes. Warum Walja mich ausgesucht hatte, war mir zunächst nicht deutlich, da ich in Zeiten der SRR Nemezien jede ihrer Annäherungen unfreundlich und sehr bestimmt abgewehrt hatte. Die Antwort hat mit ihrer Geschichte zu tun, weshalb ich sie nicht vorwegnehmen möchte. Walja wirkte sehr gehetzt, angespannt. Ihr eigentlich rundes Gesicht noch abgezehrter als in jungen Jahren, sodass ich annahm, sie ernähre sich ausschließlich von Äpfeln und Brokkolis, womit ich nicht ganz falsch lag.

    Walja hat mir aufgetragen, erst dann ihren von mir verfassten Bericht der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, wenn ich nach Jahren immer noch keine neue Nachricht von ihr habe. Nach wie vielen Jahren genau?, fragte ich nach, um ja keinen Fehler zu begehen. Sieben, sagte sie. Sieben ist eine schöne Zahl. Das fand ich auch.

    Nun also ist es Zeit, einen Verlag zu suchen, der die Aufzeichnungen druckt. Ob ich ihn finde, liegt nicht in meiner Hand. In diesem Fall bin ich froh, dass ich alles Weitere dem Schicksal überlassen kann.

    Zu Beginn der Handlung befinden wir uns im Juni des Jahres 89 in der Sozialistischen Räterepublik Nemezien, die wir milde spottend Ständig Ratlose Republik Nemezien oder Siegreiche Rentner Regieren Nemezien oder auch bissig Sowjetrussisch Regiertes Nemezien nannten. Stärkere Spottnamen spare ich aus. Ich beteilige mich nicht an dem Spiel, das da heißt, tote Riesen oder Zwerge zu treten. Auch bestätigt uns westliche Geschichtsschreibung zur Genüge, dass wir in einem Satellitenstaat der inzwischen ebenfalls untergegangenen UdSSR lebten. Wir selbst haben immer versucht, uns vom großen Bruder abzugrenzen, und uns einfach als Nemezen gesehen, mit einem durch den Krieg bedingten Sonderschicksal bedachte ostdeutsche Stämme.

    Hier nun, was ich nach Waljas Erzählungen niederschrieb:

    1

    Blitze, Fieberkurven zu kurz, das Auge zu blenden, durchzuckten den schwarzblauen Stadthimmel, von fernem Donner gefolgt. Über Irminhilds finsteres Gesicht glitt ein Lächeln. Er muss zeigen, dass er der Allergrößte ist. Glauben wir es ihm, Walja. Oder? Ihre Stimme dunkel, grollend. Der Anflug eines herben Chemnitzer Sächsisch tat das Seine dazu.

    Und ich hab keinen Schirm mit!, piepste Walja in einem Sächsisch aus lieblicherer Gegend. Bei besserer Stimmausstattung wäre ein Singen herausgekommen. Die beiden in Berlin-Mitte, was eigentlich Berlin-Ende hätte heißen müssen, denn an der Grenze des Stadtbezirks begann die Selbständige Einheit Westberlin, die - je nach Standpunkt - nicht oder doch zu Deutschland gehörte.

    Sie waren von der Friedrichstraße in die nach Otto Nitschke umbenannte Straße abgebogen, vorher und nachher Jägerstraße. (Otto Nitschke Mitbegründer der Berliner Christdemokratischen Partei und nach Ausrufung der nemezischen Republik stellvertretender Ministerpräsident.) Die Straße kurz, dafür unverhältnismäßig breit, stieß bald auf die mächtige Mauerstraße, die wie ein vorweggenommenes antifaschistisches Bollwerk auch einige andere Querstraßen in Richtung Brandenburger Tor abschnitt. In dieser Gegend graue ineinandergeschobene Steinmassive. Natur kommt nur bei Gewitter, niederstürzendem Regen oder Schneestürmen vor, welche in manchen Menschen ein gewisses Wohlgefühl verursachen. Von eben jenem Wohlgefühl befallen, schritt Irminhild in einem langen indischen Gewand auf der Otto-Nitschke-Straße. Wenn sich kein anderer Blick als der von Walja an ihre hohe, schlanke Gestalt heftete, an ihr finster-rätselhaftes Gesicht, umgeben von einer kleinlockigen schwarzen, bis zu den Schultern reichenden Haarpracht, die ihr Haupt an breitester Stelle verdreifachte, so nur deshalb, weil sich zu der Zeit keine weitere Menschenseele auf der Straße aufhielt. Neben ihr hüpfte die blonde, kleinere Walja. Deren Blick nun allerdings atemlos auf Irminhild gerichtet, als könnte ihr etwas entgehen, geriete ihr die eine Sekunde aus den Augen.

    Irminhild eine internationale Größe in der Literarturlandschaft.

    Wochen verbrachte sie bei italienischen Freunden. In diesen Ländern, auch im benachbarten Deutschland, geliebt, verehrt. Während sie im eigenen Land, in der SRR Nemezien, um Anerkennung ringen musste. Mit ihren schwergewichtigen Wälzern über Windeln, Hexen und Walpurgisnächte, über weibliche Emanzipation, stellte sie eine Herausforderung an das Fassungsvermögen unserer Menschen dar und an die Toleranz ihres Verlegers, eines gewissen Kaspar Borz, der sonst immer auf der Seite der schreibenden Zunft stand. Vielleicht ertrug er literarische Großmacht in Paarung mit weiblicher Schönheit nicht. Die alte Dame der Literatur, schon lange auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof ruhend, hatte Borz jedoch verehrt wie fast alle seiner Generation, die das Gewerbe betrieben. Der nemezischen Enkelgeneration war die alte Dame leider durch schulische Pflichtlektüre verleidet. Wie sich Kaspar Borz gegenüber Christa T., der anderen weiblichen Großmacht verhielt, die nicht nur im Ausland, sondern auch in Nemezien selbst geliebt und hochverehrt wurde, ist mir nicht bekannt, ebenso wenig, wie das Verhältnis von Irminhild zu Christa T. war. Ich nehme an, ihre Bahnen berührten sich nicht. Objekt von Anbetung beide. Die Schar um Christa T. dauerhaft und groß. Anders verhielt es sich bei Irminhild. Möglicherweise ließ sie Nähe nur zeitweise zu.

    Ich habe darüber nachgedacht, warum Irminhild sich Walja nicht vom Leibe hielt, sondern zeitweise mit ihr befreundet war, sie sogar in ihre große Neubauwohnung am Tierpark einlud, wo Irminhild mit ihrem inzwischen schon flügge werdenden Sohn lebte. Ich vermute, das Mädchen brachte in ihrer naiven sprudelnd munteren Lebendigkeit ein wenig Licht in Irminhilds düsteres Gemüt, von dem ich eine Anschauung habe. Ich kann nicht sagen, wie lange Irminhilds Depression schon währte, ob sie zu ihrem Wesen gehörte oder sich mit der Erkenntnis des unaufhörlichen Niedergangs der nemezischen Kleinrepublik einstellte. Ich lernte Irminhild erst Anfang der 80er Jahre besser kennen, hatte sie allerdings bis dahin schon öfter bei den Donnerstagclubabenden des Verlags gesehen, die regelmäßig im Winter stattfanden, zu denen schon genannter Kaspar Borz einlud. Auch sie kannte mich von Gesicht und Namen her, sonst hätte sie mich bei den Kulturtagen 1980 in Prag, damals CSSR, nicht angesprochen, wo sie mir wohlwollend gegenübertrat, mich zu meiner Überraschung duzte, wie dies später auch Christa T. ohne Weiteres tat. Die vertraute Anrede untereinander war vielleicht einer Tradition des in den zwanziger oder dreißiger Jahren gegründeten Bundes Proletarischer Schriftsteller geschuldet. Irminhild fand damals in Prag meine Unterbringung in einem Dreibettzimmer völlig indiskutabel. Es sei bekannt, dass Schriftsteller unter Schlafstörungen litten. Zwei Jahre später überfielen sie mich. Ich wurde sie nie wieder los. Wenn ich heute zu den vergessenen Autoren des untergegangenen Landes zähle, die nicht mehr veröffentlichen, dennoch weiter schreiben, so könnte ich auf diese Schlafstörung als Beleg für meine Professionalität verweisen.

    So geschädigt bin ich allerdings noch nicht.

    Walja ein Küken. Geschoren ihr hellblondes Haar, kurze Schnabelnase. Von fieberhafter Neugier getrieben, sprang sie durch diese und jene Betten und allem und jedem hinterher mit wasserblauen weit aufgerissenen Augen und kleinem, ebenfalls aufgerissenem Mund, ihre Kollegen gegebenenfalls bis auf die Herrentoilette verfolgend.

    Ihr voller Name lautete Walentina. Ihre Mutter hatte sie nach der ersten Kosmonautin Walentina Wladimirowa Tereschkowa benannt, die vom 16. bis 19. Juni 1963 in der Wostok 6 die Erde umkreiste. (Eigentlich war der Name Yvonne vorgesehen.) Walja hatte ein paar hübsche Gedichte verfasst und eine ordentliche literarische Reportage über das Kombinat Schwarze Pumpe in der Lausitz, wobei die Sage ging, sie habe ihre Recherchen sehr gründlich betrieben und das Intimleben einzelner Arbeiterpersönlichkeiten nicht geschont. Walja literarischer Nachwuchs, eine der jüngsten unter den zahlreichen jungen und noch jungen Frauen, die Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ihren Ingenieur- oder sonst einen Beruf an den Nagel hängten und zur Feder griffen nach dem Motto Greif zur Feder, Kumpeline!.

    Irminhild und Walja waren zum Stammtisch unterwegs. Fast am Ende der Otto-Nitschke-Straße machten sie vor einem Gebäude Halt, das gegenüber den anderen durch seine bombastische Neubarockfassade auffiel. Da eben kündigte sich nach vorausgegangener großer Stille das Gewitter an.

    Der Stammtisch eine lose Runde um Paule Berlin und Karlheinz Karge, die im Club der Kulturschaffenden, dem früheren Herrenclub, ihre Tage verbrachten. Ab dem frühen Mittag traf man mindestens auf einen der beiden Herren im Restaurant des Hauses am Ende der Straße und, wie mir schien, am Ende der Welt. Selbst wenn sich zu Lesungen, Ausstellungen einmal eine große Gesellschaft von Leuten im Haus aufhielten, stellte sich bei mir ein Gefühl von Leere ein. Hatte es mit der Höhe der Wände zu tun, mit der Breite der Treppen, auf denen man bequem zu sechst hätte nebeneinander herlaufen können, mit der Dunkelheit, die in diesem Haus auch wegen der Holzpaneele herrschte? Oder war es das Bewusstsein der unmittelbaren Nachbarschaft zur Mauer, die uns vor Gefahren schützte, die wir nicht kannten. Ich jedenfalls hatte kaum eine Ahnung, was sich hinter der Mauer verbarg, sodass ich mir eine weite, wüste Fläche vorstellte. Selbst das die Mauer überragende Springer-Hochhaus und die mir bekannte Tatsache, dass in der Besonderen Einheit Millionen Menschen und einige davon sogar in größtem Luxus lebten, konnte mir diese Vorstellung nicht nehmen. Unter den älteren Kollegen gab es genug, die mit einem ständigen Passierschein versehen waren oder mit einem österreichischen Pass oder gar mit einem aus Exilzeiten stammenden australischen oder vorzogen, staatenlos zu bleiben. Denen war die Mauer durchlässig. Doch sie erwähnten höchstens einmal, sie hätten in einer Bibliothek der Besonderen Einheit ein paar Tage verbracht. Paule Berlin allerdings hüllte sich selbst darüber in Schweigen. Er liebte es, im Stillen zu wirken.

    Paule übrigens war es, der Walja am Stammtisch eingeführt hatte, wo sie Irminhild näher kennenlernte. Paule Berlin ging mit seinem reichen Talent extrem sparsam um. Manche sagten, er vergeude es. Sparsamkeit eben nicht immer eine Tugend. Einige schmale Gedichtbändchen machten sein ganzes Lebenswerk aus. Das sei mein Vermächtnis ein scharfes Gedächtnis ... ,die Gedichtzeile ist mir in Erinnerung. Durch das Salär, das ihm als Mitglied der Akademie der Künste zustand, hatte er sein Auskommen. Paule ein zierlicher Mann mit reichlichem, schmutzig-grauem Haar. Sah er jemanden an, geriet schnell ein listiges Funkeln in seine grauen kleinen Augen, ein Zwinkern. Die Brille saß weit vorn auf der leicht gebogenen, schmalen Nase und hatte keine weitere Bedeutung für ihn. Las er, meist hatte er eine in- oder ausländische Zeitung vor sich auf dem Tisch, dann mit zusammengekniffenen Augen und unter Zuhilfenahme einer Lupe. Er mochte keinen Augenarzt konsultieren, ebenso wenig einen Zahnarzt, wahrscheinlich überhaupt keinen Arzt, was besagen könnte, dass Paule im Grunde ein misstrauischer Mensch war. Vom Argwohn gegen Zahnärzte zeugten seine Zähne, Stummel nur noch, braun vom Zigarillorauchen. Hatte Paule mal keine Zeitung vor sich, legte er Patiencen. An Stätten, wo ihm das aus Platzmangel versagt blieb, vertrieb er sich die Zeit des Zuhörens mit ornamentalen mehrfarbigen Filzstiftzeichnungen. Labyrinthische, nicht enden wollende Schlangenlinien zierten am Ende das Papier. Obwohl von geringem künstlerischem Wert erlangten sie im Kollegenkreis und unter den uns betreuenden Personen des Verbandes Berühmtheit. Paule war auf Vorgänge, Ausgänge aus, mischte sich - immer hinter den Kulissen - kräftig ein, denn Paule war eine Spielernatur. Und als solche hatte er auch einen Nerv für das Übersinnliche, veranstaltete mit denen, die er dazu verführen konnte, kleine Spiele, die vorgebliche Geheimnisse offenbar werden ließen, las aus der Hand, aus Karten, nickte bedeutsam, wenn sich dieses und jenes fügte. Ich glaube, er selbst nahm das, was er trieb, nicht ernst. Oder doch? War er nicht im Club oder nicht zwischen Schriftstellerverband und dem Zentralkomitee der Einheitspartei oder sonst wohin unterwegs, um etwas zu regeln, in Gang zu setzen, saß er am Radio, hörte ausländische Sender, selbstverständlich bundesrepublikanisch deutsche, aber auch französische, englische. Das Französische ihm so geläufig wie das in Nemezien gesprochene Deutsch. Englisch beherrschte er, deucht mich, weniger gut. Paule von Nachrichten besessen. Höhepunkte für ihn internationale Tagungen, wo man ihn aber keinesfalls in der nemezischen Delegation fand, die eher ängstlich beieinanderblieb. Paule tauchte weg und erst am Flughafen wieder auf. Er hatte Freunde weltweit. Dass er sich ausgerechnet in Nemezien aufhielt, war sein freier Entschluss, Aus der offiziellen politischen Arbeit hatte er sich zurückgezogen. Doch ließ er sich sowieso in keinem Gremium denken, zumindest in keinem, in dem Arbeit zur Pflicht gemacht wurde, Paule Berlin tat, was ihm einfiel, aber niemals, wozu er angehalten wurde.

    Übrigens, der kleine Paule und Irminhild, schön, geheimnisvoll, von hohem Wuchs und zudem viel jünger, waren einmal ein Paar gewesen! Dass Irminhild und Paule nach der Trennung den Stammtisch nicht mieden, erstaunte und bewies die Hochherzigkeit beider Naturen.

    Karlheinz Karge war derjenige, der fast so oft wie Paule im Club anzutreffen war. An ihm belächelte vor allem Berta Watersloh, die Älteste in der Stammtischrunde, seine Jeanskluft, die damals nur bei Jugendlichen üblich war. Karge ein in die Jahre gekommener jungenhafter Typ. Bitternis hatte tiefe Furchen in sein rechteckiges Gesicht gegraben, in der eine auffallende ebenfalls rechteckige Brille mit schwarzem Gestell saß. Seine kräftigen Haare immer noch dunkel, kurz gehalten, gescheitelt. Berta Watersloh spottete über Karge in der Meinung, er hinge einem Jugendwahn an, was man nicht von der Hand weisen konnte. Denn sein Erfolgsstück hatte er blutjung in den Fünfzigern oder frühen Sechzigern geschrieben. So mochte er seiner Jugendzeit nachtrauern, in der er erfolgreich gewesen war. Bis zum Ende Nemeziens war das Stück bekannt und mit seinem Namen verbunden. Ob es zu der Zeit allerdings auch gespielt wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Karges weiteren Stücken hingegen war der Erfolg oder die Billigung durch die Oberen versagt. Karge ernährte sich hauptsächlich von Theaterkritiken für die Zeitung Das Neue Nemezien. In den Nächten schrieb er bisweilen wie im Fieberwahn viele Seiten an Romanen, Stücken, die er meist tags darauf zerriss. Seine Lieblingsbeschäftigung außerdem, so verriet er Walja: Im Grünauer Strandbad einen Kahn mieten und sich in der Sonne stundenlang auf dem Wasser treiben lassen. Seine Haut vertrage es, hatte er dem verwunderten Blondchen versichert.

    Mit Karge innig befreundet war Gunter Scherzer. Auch er ein häufiger Stammtischbesucher. Scherzer besaß eine durch nichts zu erschütternde sonnige Gemütslage. Diese, kombiniert mit Fleiß bei einer Leichtigkeit des Schreibens und Einfällen im Überfluss, bescherten ihm eine Villa am See mit zwanzig Zimmern oder knapp darunter. Ich weiß nicht, was er mir erzählte. Er gab das Geld mit beiden Händen aus, und es wuchs ihm im gleichen Maß nach. Sein Reichtum, so schwärmten die Damen, sagenhaft.

    Scherzer begann sein Tagwerk früh um vier und beendete es mittags. Wenn dieses oder jenes Stück oder ein Fernsehspiel von ihm verboten wurde, so litt er wie jeder Autor, hatte aber noch Dutzende Weitere, die gespielt wurden. Übrigens nicht nur in Nemezien, auch in Deutschland, was ihn in den Besitz von Devisen brachte und zudem Ansehen bescherte. Denn nichts galt den Nemezen mehr als ein Kulturschaffender, der eine Bühne, einen Verlag in der Bundesrepublik Deutschland gefunden hatte. Sicher wurden Scherzers Stücke auch in der UdSSR, in Bulgarien oder Ungarn gespielt. Scherzer hatte eine intensive Neigung zur Arbeit und nicht minder intensive zu Frauen. Es gäbe keine, die ihm widerstanden hätte, hieß es. Und gab es doch eine, so bewahrte er Stillschweigen darüber, um seinen Ruf als Schürzenjäger nicht aufs Spiel zu setzen. (So wurde lange angenommen, wir hätten ein Verhältnis. Ich hatte mich hofieren lassen, war aber bis über beide Ohren in einen anderen verschossen.) Liebenswürdig verwies er auf einen Kollegen, einen überaus begabten Filmautor der Nefa in Babelsberg, der noch mehr Erfolge als Frauenheld aufzuweisen habe, von dem dies aber kaum einer wisse, denn der gehe seiner Leidenschaft in aller Stille nach. Im Übrigen war Gunter Scherzer seiner Frau, einem schönen Geschöpf, freundlich und klug, zutiefst zugetan, führte ihren Namen oft im Munde. Ellie hat dieses gesagt, Ellie hat jenes getan ... ! Seine beiden Söhne, der eine bald nach der Heirat geboren, der andere ein Nachkömmling, betete er an. Sie sind das Beste, was ich je gemacht habe, sagte er bescheiden. Scherzer setzte weder den Wert von sich selbst noch den seiner Werke, noch seinen Erfolg besonders hoch an, begeisterte sich hingegen an der Literatur anderer, meist Jüngerer, sprach enthusiastisch von dieser, die so viel besser sei als das, was er schrieb, setzte sich mit Vehemenz für ein Talent ein, das er entdeckt hatte. Dem Romane und Erzählungen verfassenden Verbandsvorsitzenden, der nach der großen alten Dame ans Ruder kam, war er in inniger Freundschaft verbunden: Hörmann, Hörmann!, sagte er schwärmerisch, wenn er Hermann meinte, der heute, soviel ich weiß, verlassen von Welt, Geld, Weib und Kind in nordischer Einöde haust. Allergrößte Bewunderung hegte er noch für einen anderen Stückeschreiber, der auf die Antike gekommen war, nachdem sich die Gegenwart als ein so schwieriges Geschäft erwiesen hatte. Über den wohl größten, wenn auch schwer erschließbaren Dramatiker deutscher Zunge, Reinhard Mühe, der noch heute in aller Munde ist, sagte er allerdings nichts. Sie lebten in zu verschiedenen Welten. Ansonsten besaß Scherzer, ich sagte es schon, die ausgezeichnete Gabe, sich immer zu freuen, begeistern zu können und sich von Misslichem nicht dauerhaft die Laune verderben zu lassen. Auf seinen breiten Lippen stets ein Lächeln. Seine braunen Augen blickten treu und tief ins Herz. Vielleicht waren es nicht nur sein Name und sein Geld, was die Frauen hinsinken ließ, sondern dieser tief treue Hundeblick und seine eben durch nichts zu bezwingende sonnige Gemütslage.

    Berta Watersloh ließ sich trotz ihres fortgeschrittenen Alters des Öfteren im Club sehen. Sie eine der drei mir bekannten Autoren, die noch dem Bund Proletarischer Schriftsteller angehört hatten. (Die letzte Überlebende, 98 Jahre alt, 110 möge sie werden!, besitzt auch heute noch ein kleines Auto, was sie hin und wieder fährt. So sagte sie mir jedenfalls. Hauptsächlich sei das Auto aber für ihren im Ausland lebenden Sohn da. Eine Urberlinerin mit ungeheurer Energie und Wachheit. Die zierliche schöne alte Dame zu erleben, ist immer wieder eine Freude. Als eine der letzten Zeitzeugen ist sie noch viel unterwegs und bewältigt erstaunliche Programme. Einen leicht erregbaren aus dem Böhmischen stammenden Herrn, ebenfalls Mitglied des Bundes Proletarischer Schriftsteller, auffallend wegen seines weißen langen Haars und des weißen Kinnbärtchens, traf ich immer und immer wieder in gleicher Gemütslage und geistiger wie körperlicher Verfassung, weshalb ich glaubte, dieses dritte überlebende Mitglied des Bundes Proletarischer Schriftsteller werde wohl nicht ewig, aber so fort und fort leben. Zu meinem Erstaunen segnete der sich zum Proletariat hingezogene Sohn eines Hotelbesitzers jedoch schon im Alter von 94 Jahren das Zeitliche.) Berta Watersloh hatte mit den Blaukarierten in der Nefa Filmgeschichte geschrieben.

    Des Weiteren gehörten zur Runde der kleinwüchsige Federico Grosse, die gerechtigkeits- und wahrheitsliebende Ottilie Ehrlicher, die scharfzüngige Iris Sawatzky, der eloquente Axel Harder, der Intendant Peter Heil, der vielversprechende Sebastian Schulz, Lyriker wie Satiriker, gerade eben eins sechzig groß, Randglatze, obwohl noch keine 30. Auch ihn hatte einst Paule Berlin eingeführt. Es erschien am Stammtisch des Öfteren, leicht euphorisch wie benebelt, der dünne, blonde Dichter Kerschbaumer, der sich eine Weile in einem der Sessel niederließ, mit überglänztem Gesicht lächelnd zuhörte oder so tat, und ab und zu seinen Flachmann ansetzte. Plötzlich stand er auf und verschwand wieder, wobei er höchstens zur Begrüßung zwei Worte wie: Grüß euch! genuschelt hatte und zum Abschied gar nichts mehr.

    Kaum traf man auf mehr als sieben zur gleichen Zeit. Der eine kam, der andere ging. Wer sich an den Tisch setzen durfte, galt nicht gleich als zugehörig, konnte es aber durch häufigere Teilnahme an der Runde werden. Die Zugehörigkeit spielte im Übrigen keine Rolle außer für Ottilie Ehrlicher an einem Tag tiefen Nachdenkens. Manchmal sah man den Übersetzer von Der Meister und Margarita dort, der sich auf dem Weg von oder zu seinem Verlag für eine Stunde oder mehr im Club festsetzte. Oder den Kriminalautor Horst Ossietzky, nicht verwandt mit dem Carl von, sofort erkennbar durch sein dünnes weißes Pferdeschwänzchen, der neuerdings durch Berlin-Romane wie ne halbe Treppe tiefer von sich reden machte. Wegen seiner Rückenschmerzen holte er sich einen Stuhl heran. (An dem niedrigen langen Tisch reihten sich dem Raum entlang wie der Wand zu, Ledersofas ohne Seitenstützen, in denen man versank. Wollten diejenigen, die mit dem Rücken zum Raum hin saßen, am Geschehen in ihrem Rücken teilhaben, lümmelten sie einen Arm oder beide auf die Rückenlehnen. Eine kleine Drehung, kein Aufwand, und sie sahen in den Raum. In der Regel hatten sie keinen Anlass. Während der folgenden Begebenheiten aber des Öfteren. Ossietzky, der aus Gesundheitsgründen die Bequemlichkeit der Ledereinrichtung des CdK ablehnte, sah mit seinen überwachen Augen von fast stichig hellem Blau mal auf den, mal auf den, machte zwei drei Kalauer, die er selbst mit einem lauten Lachen quittierte, und empfahl sich bald. Selten ließ sich der im Volk vor allen anderen beliebte Dichter und Brechtschüler Bengt Auer sehen. (Eva Matterhorn wird bis auf den Tag ebenfalls und sicher noch mehr von allen Schichten unseres Volkes gelesen und verehrt, sitzt aber auf ihrem Bauerngehöft fest, da sie selbst leider nicht Auto fahren kann.) Bengt Auer hörte mit kleinen gütigen wie weisen Augen schweigend zu. Sein Gesicht gelbweiß, flach und glatt trotz seines Alters, was von der guten Unterfütterung herrührte, seine Haare weiß, sein herabhängender Oberlippenbart vom Tabak vergilbt. Mal warf er einen Brocken ein, der wegen seines besonderen Witzes und weil er sehr leise sprach, erst nach längerem Nachfragen verstanden wurde. Waren genug Willige um ihn versammelt, redete er auch am Stück, monoton, aber eindringlich mit angenehmer Stimme, aus der Weisheit seines Meisters, des Augsburgers, wie der eigenen schöpfend. Irgendwann klopfte er seine Pfeife aus, erhob sich mühevoll. Die tiefen Sitzmöbel ließen die Muskulatur erschlaffen. Zudem war ihm von Jugend an jede Bewegung lästig gewesen, sodass er sie auf ein Minimum reduziert hatte. Doch hatte Ossietzky, schmal, drahtig, ein Radfahrer, nicht mehr Mühe mit seinem Körper als Bengt Auer? Noch einmal lächelte er breit mit seinen Schlitzaugen in die Runde, was seinem Gesicht den Ausdruck eines asiatischen Weisen verlieh und mindestens auf die Frauen seine Wirkung nicht verfehlte. Er nickte und zog wieder von dannen.

    Im Club hatte man auch Kontakt zu anderen Kultur- und Kunstschaffenden, doch eher nebenher, es sei denn, Paule befand sich ganz allein am großen, niedrigen Tisch und ihm war nach Gesellschaft zumute. Dann machte er jemandem ein freundliches Zeichen mit der Hand, Platz zu nehmen. Sobald sich jedoch weitere Mitglieder der Stammtischrunde einfanden, ging die Unterhaltung an dem Eingeladenen vorbei, weshalb der sich bald mit schiefem Lächeln verabschiedete.

    Obwohl Irminhild zum inneren Kern des Stammtisches zählte, war sie höchst selten anwesend. Arbeitsrhythmus wie Gemütsdüsternis ließen nicht zu, dass sie aus dem Haus ging. Meist war sie angerufen worden und fest verabredet.

    Diesen Abend gab es einen Anlass, weshalb sich Irminhild mit Walja auf den Weg gemacht hatte: Peter Heil, der Intendant, war 65 geworden. Ehrungen durch seine Mitarbeiter hatte er sich entzogen, der Ehrung durch höchste Instanz hätte er sich zwar nicht entziehen können, doch es war ihm keine in Aussicht gestellt. Verdienstvollen Schriftstellern wurde zu solchen Anlässen mitunter im Verband ein kleiner Empfang bereitet, zu dem sich mindestens bei der Alten Dame, deren Zweitadresse nun der Dorotheenstädtische Friedhof war, Genosse Nager vom Politbüro eingefunden hatte. (Ihre Adlershofer Wohnung wird noch heute von der Akademie der Künste erhalten.) Peter Heil hatte sich zum Geburtstag nach Schierke im Harz verzogen. Doch Ottilie Ehrlicher, unter anderem mit einem starken Empfinden für Geburts- und Ehrentage begabt, hatte darauf gedrungen, dass man sich nach seiner Rückkunft um ihn versammelte. Und was Ottilie in die Hand nahm, erledigte sie gewissenhaft und gründlich. Sie hatte, wie gesagt, mit sich gerungen, ob sie den Übersetzer von Meister und Margarita einladen solle, ob er zum inneren Kreis gehöre, sich dann aber entschieden, dass sie es nicht tun werde. Eine Rolle mochte spielen, dass der Übersetzer, seitdem beim großen Bruder die Ära Glasnost und Perestroika eingeläutet war, seine Gesprächspartner mit laut ratternden Schimpfkanonaden über nemezische Verhältnisse überschüttete und seinem jeweiligen Gegenüber bloß noch ein beifälliges Nicken zugestand. Mit einem Wort, der so namhafte Übersetzer lief Amok, weshalb er sich wenig für eine Geburtstagsrunde eignete. Für eine Einladung des Dichters Kerschbaumer hatte sich Ottilie nach einigem Abwägen entschieden in der Meinung, schaden könne er nicht. Vielleicht hatte sie sich auch dankbar seiner frühen Gedichte erinnert, die für sie Anfang der 60er Jahre die Andeutung eines Aufbruchs der jungen Generation gewesen waren. Oberschüler wie ich hatten seine Gedichte verschlungen wie auch die seiner inzwischen nach Deutschland ausgewanderten und um vieles bekannteren Frau, die sich leider höchst ungern ihrer nemezischen Wurzeln und Vergangenheit erinnert. Bei Bengt Auer und Horst Ossietzky hingegen hatte Ottilie empfunden, dass sie eigentlich doch nicht dazugehörten. Zu selten ließen sie sich sehen. Da hätte es dann auch noch andere gegeben, die sie hätte bedenken müssen. Doch ab einer gewissen Größe wurde eine Gesellschaft unübersichtlich. Dass sie Auer und Ossietzky weniger schätzte als Kerschbaumer, tat nichts zur Sache. Ottilie, vom Gerechtigkeitsgefühl durchdrungen, versuchte sich bei solchen Dingen nicht von persönlichen Empfindungen leiten zu lassen. Sie hatte nach Absprache mit allen Beteiligten den Termin festgelegt und zwei Tage vorher jeden noch einmal angerufen, denn sie kannte ihre Pappenheimer. Schriftsteller eben, sagte sie mit kurzem heftigem Kopfschütteln, als sei sie nicht selbst Autorin.

    Irminhild und Walja standen auf der Höhe des Clubs der Kulturschaffenden am Ende der Straße. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde es so hell, dass sie ihre Augen schlossen. Ein Donner ließ ihre Ohren ertauben. Als die beiden zu sich kamen, lagen sie auf dem Boden, obwohl sie sich gar nicht erinnerten, gefallen zu sein. Sie rappelten sich.

    Um ein Haar!, sagte Irminhild. Hier muss irgendwo der Blitz eingeschlagen sein.

    Ogottogott!, jammerte Walja. Jede sagte, was sie sagte. Doch die andere hörte es nicht. Ihre Ohren vom Donner noch unfähig, Geräusche wahrzunehmen.

    Irminhild sah prüfend, ob irgendwo zwischen den Steinen massiver Rauch aufstieg. Walja zog sie zur Eingangstür des Clubs. Dann öffnete der Himmel auch schon seine Schleusen. Das Wasser schüttete auf Dächer wie Straßen, die bald die Mengen nicht mehr fassen würden. Neugierig betrachtete Irminhild das Naturschauspiel. Walja öffnete die Tür und drängte Irminhild, ihr in den Club zu folgen. Die beiden gingen an der kleinen Garderobe, die zu der Jahreszeit nicht benötigt wurde, vorbei, an den ausliegenden Büchern der Buchhandlung, an der Bibliothek. Der Bibliothekar mal pünktlich nach Hause gegangen. Ein Enthusiast, der nichts weiter im Sinne hatte, als der Literatur zu dienen, und dem es höchstes Vergnügen bereitete, Lesungen im Foyer des Clubs zu veranstalten. Je deutlicher sich ein Name im Gedächtnis der Nemezen eingeprägt hatte, um so hingebungsvoller sein Gruß, wenn auch nie servil. Immer noch behielt er als Bibliothekar einen Begriff von seiner eigenen Würde. Also ungegrüßt vom guten Geist des Hauses stiegen sie die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sich das Restaurant befand. Am Stammtisch trafen sie als Letzte ein. Natürlich. Irminhilds Erscheinen war der erste Höhepunkt des Abends, und alle waren dem

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