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Ich bin Anna
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Ebook479 pages7 hours

Ich bin Anna

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Anna ist professionelle Fettnäpfchen-Jägerin und überzeugt, dass sich die Erklärung in ihren Genen findet. Als sie am Tag ihrer Sponsion vor zehn Jahren durch einen unglücklichen Zufall in den Armen ihres damaligen On-Off-Boyfriends Michael landete, schenkte ihr dieser zum Trost und Abschied ihre erste Tochter Leandra und Annas Leben nahm einen komplett anderen Verlauf, als sie ihn sich für ihre Zukunft erträumt hatte. Seitdem nimmt sie jeden Tag so, wie er ihr serviert wird.

Anders Caro. Sie ist der Inbegriff menschlicher Selbstbestimmung und weiß genau, was sie vom Leben will. 11 Prozent Fettgehalt, Maximalkraft steigern und nach den eigenen Maßstäben leben sind die Werte, die sie verfolgt.
Die Tatsache, dass Caros Körper dem von Sylvester Stallone ähnelt und ihre Brüste denen von Pamela Anderson gleichen, bringt die beiden Frauen nicht näher.

Doch der Umstand, dass Anna in dem winzigen Nest Kleinberg gefangen ist, lässt sie nicht wählerisch sein. Außerdem spricht Caro Annas Sprache, in vielerlei Hinsicht. Die beiderseits fehlende Leidenschaft für Aprés-Ski-Hüttenschlager, ihre Eigenschaft, die Dinge beim Namen zu nennen und derselbe bissige Humor schweißen die beiden zusammen. Als Caro Anna bei ihrem Kennenlernen anbietet ihre silikongefüllten Brüste anzufassen, ist es für Anna besiegelt: diese Frau ist verrückt genug, um ihre Freundin zu sein.

Doch Caro wäre nicht die ehrgeizige Fitnesstrainerin die sie ist, wenn sie nicht auch mit Anna kurzen Prozess machte. Ende mit Jammern – rein ins Handeln. Anfangs widerwillig doch mit der Zeit immer begeisterter, beginnt Anna ihr Glück Stück für Stück zurückzuerobern und erlebt sich als Gestalter ihres eigenen Schicksals. Wird sie es schaffen ihr Leben bis zu ihrem 10-jährigen Sponsionstreffen umzukrempeln? Und welche Rolle bleibt für Alexander, Annas Ehemann, übrig, wenn er sie nicht mehr ständig vor sich selbst retten muss?

Und wo, verdammt noch mal, steckt Annas Vater, der nicht ihr Papa ist?
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateDec 6, 2015
ISBN9783738050172
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    Book preview

    Ich bin Anna - Caro Dabadt

    Eine Freundin zum Anfassen

    Ich brauche meine Grenzen nicht auszutesten, um zu wissen, dass sie existieren."

    „Sag Anna, kann ich dich mal was Persönliches fragen?"

    Etwas unsicher sah ich Caro mir gegenüber an. Ich konnte mich nicht erinnern, dass wir jemals unpersönliche Informationen miteinander ausgetauscht hatten. Es war spät und ich war müde. Bevor ich ihr eine Antwort gab, sah ich verstohlen auf die Uhr. Es war bereits drei Minuten nach elf. In spätestens siebenundzwanzig Minuten würde ich einschlafen. Time-out. Mein Körper würde in sich zusammensacken und mein Kopf müsste ungebremst auf den Bartresen knallen, wenn Caro nicht Barmherzigkeit zeigte und mich in exakt fünfzehn Minuten entließ. In mein gemütliches, heimeliges Leben, das mich seit einiger Zeit teilweise selbst irrsinnig langweilte.

    Meinem Körper und Gehirn waren zu diesem Zeitpunkt nämlich egal, dass wir an diesem Freitagabend in einer mittelmäßig gefüllten Bar abhingen, die sich durch einen DJ mit gewöhnungsbedürftigem Musikgeschmack kennzeichnete. Wir befanden uns in einer Après-Ski Bar – weitere Fragen?

    Wir wussten, dass es Freitag in den Bars und Lokalen ruhig wäre, weil ja Urlauberwechsel war. Das heißt am nächsten Tag würden die Gäste, die seit einer oder zwei Wochen in Kleinberg oder Wagenham residiert hatten, nach Hause fahren. Und das war meist weit weg. In unserer Gegend urlauben nämlich viele Deutsche. Die aus dem Norden. Wo es selten Schnee und viel seltener – meist nie – Berge gibt. Außer Müllberge – die hat ja jeder, oder? Und für eine zehn- bis dreizehnstündige Autofahrt nach sieben oder vierzehn Tagen Skifahren und/oder Wet-T-Shirt Partys, mussten sogar die leistungsfähigsten Deutschen noch etwas Schlaf und Kraft tanken. Die Duracel-getunten Hochmotivierten allerdings, die waren wahrscheinlich um diese Zeit schon bei München vorbei und Richtung Heimat unterwegs.

    Warum in Après-Ski Bars immer schlechte Musik gespielt wird? Ich denke, das liegt zuerst mal daran, dass die Besitzer von Skihütten und derartigen Vergnügungs-Musik-und-Getränke-Schenken aus dem Ort sind. Das heißt sie kommen aus dem Tal oder vom Berg – in jedem Fall vom Land und nicht weit her. Ich habe beobachtet, dass die meisten Landmenschen ihre nächste Umgebung und die Natur lieben. Was ja an sich in Ordnung ist. Deswegen – so vermute ich – zieht es sie nicht unbedingt in die große weite Welt. Was bedingt, dass sie aus ihrem Tal, von ihrem Berggipfel oder der ländlichen Gegend, in die sie hineingeboren wurden – wahrscheinlich mittels Hausgeburt, oh Schreck! - selten bis nie rauskommen.

    Das heißt sie kennen nur ihr Umfeld und die Einflüsse, die es über den Berg oder eine natürliche Talsperre mit engen Kurven, unübersichtlichen Engpässen und einem unerwarteten Almabtrieb, der die gesamte Straße für mindestens zwanzig Minuten blockiert, geschafft haben. Und die Brieftaube bringt ja nicht das neueste Album von Mary J. Blidge. Ich weiß, das ist jetzt etwas übertrieben, denn selbst die Kleinberger kennen Internet und W-LAN und die Straßen sind gut geräumt und befahrbar. Auch, nein besonders im Winter. Aber trotzdem.

    Aber trotzdem ist es wahr, dass die Gebirgs-und Talmenschen ihre eigene Musik haben. Wahrscheinlich durch die Natur inspiriert. Ihre Instrumente sind die Harfe, das Hackbrett, die Zitter und natürlich die Quetschen, wie man hierzulande sagt. Die Ziehharmonika also. Ein schwieriges Instrument! Von den unterschiedlichsten Musikkapelleparaden im Ort kenne ich also den Rhythmus. Hum-ta-ta nennen wir das. Und wenn man mal ganz genau hinhört, findet sich dieser simple, marschierende Rhythmus sehr oft in den österreichischen/deutschen Après-Ski-Party-Songs. Die kann man kaufen. In gewöhnlichen Geschäften, die bei Tageslicht geöffnet haben. Völlig legal. Ganze Alben voller Wahnsinn! Ob sie in den französischen Alpen genauso grässliche Hüttenschlager spielen? Ich weiß es nicht und will es nie erfahren.

    Es gibt natürlich Ausnahmen. „Hey Baby" vom österreichischen Star-Winterspass-DJ folgt da eher dem Bierzelt Groove, wo sich alle umarmen und miteinander schunkeln – sich wiegen -, damit sie nicht von den rutschigen, bierdurchnässten Tischen fallen, um schlussendlich doch kopfüber und alle zusammen in der feuchten Erde, dem sogenannten Gatsch zu landen, weil es wieder Mal tagelang geregnet hat und sich der hartgesottene Bierzelt-Fan dadurch sicher nicht vom Feiern abhalten lässt.

    Ich denke, das alles ist ein Irrtum. Nicht alle Österreicher finden DJ Ötzi gut – so wie ich hoffe, dass auch nicht alle Deutschen Helene Fischer lieben. Ja, Helene Fischer ist wirklich hübsch und echt heiß. Scharfe Braut – keine Frage. Und sie hat eine schöne Stimme! Warum wurde sie nicht Kindergartentante? Die singen auch den halben Tag und haben jobmäßig gute Laune. Kinder würden Helene Fischer mit ihrem wunderschönen Lächeln und den herrlichen blonden Haaren lieben. Sie ist die perfekte Prinzessin! Aber als Kinderfachkraft verdient man natürlich so gut wie gar nichts. Anders Helene Fischer und DJ Ötzi. Die füllen Hallen. Da rollt der Rubel. Davon lässt sich’s natürlich gut leben. Verstehe ich eh. Aber ehrlich: die Musik, die Melodie, die Texte…. Brrh! Komm, das kann nicht euer Ernst sein!

    Und was dann noch dazu kommt: die DJs in solchen Kneipen verdienen sicher nicht bombig. Sprich: wie in allen wirtschaftlichen Bereichen, findet man für Hungerlöhne nicht die Begabtesten und die Motiviertesten. Und wenn der Boss des besagten Lokals schon keinen besonders guten Musikgeschmack hat, weil ihm schlichtweg die Kenntnis guter Housemusik fehlt, wie soll er dann einen guten von einem schlechten Song-Zusammen-Steller unterscheiden? Das ist die Lösung.

    Denn ich denke, es war genauso: irgendwann als die ersten deutschen Winterurlauber zu uns nach Österreich kamen, war da mal ein DJ, ganz tief drinnen im Wald hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen. Er spielte die Musik, die ihm gefiel. Sie war grässlich, aber ländlich und das war ihm vertraut und deswegen sehr angenehm. Die Urlauber aber, die wollten ihren Spaß haben. Sie arbeiteten das ganze Jahr hart für diese eine oder gar zwei Entspannungs- und Erlebniswochen. Sollten sie sich also von diesem Musikgestalter die Laune verderben lassen? Natürlich nicht. Und mit der Zeit passierte es so, wie alle NLP Spezialisten prophezeien. Der Anker war gesetzt. Das wohlige, entspannte Gefühl, verursacht durch die frische Luft und die Bewegung, deftiges Essen wie z.B. warmer Leberkäse mit Pommes und Germknödel (lecker!), heiße Urlaubsflirts, lange Nächte voller Alkohol und Sex waren untrennbar mit dieser Musik verbunden.

    Wenn sich der Deutsche nun an den – ach so herrlichen – Winterurlaub in Österreich erinnern möchte, tut er was? Er hört Skihütten-Songs! Wie sonst ist zu erklären, dass es diese primitiven Lieder bis in die Clubs in Hamburg geschafft haben. Es kann keine andere Erklärung geben.

    In dem Moment, als ich über Caros nahende Frage sinnierte, spielte der Musikexperte hinter seinem Pult, welches ihm mitunter als Schutz dienen könnte, eine Nummer von Udo Jürgens. Wieder so ein Irrsinn! An Tanzen war bei diesen Klängen ernsthaft nicht zu denken! Und dabei hätte ich meinen Körper gerne mal wieder zu mich ergreifender Musik gewiegt. Vor Jahren noch – zehn um genauer zu sein – konnte ich „abshaken" (früher nannte man das so) solange ich wollte. Stimmte die Mucke, war ich nicht zu bremsen. Wollte ich tanzen, tanzte ich ohne Ende. Stundenlang. Bis ins Morgenrot.

    Heute ist mein Körper da etwas unbarmherziger. Jetzt macht er mit mir, was er will und nicht umgekehrt. Wille hin oder her. Ab dreiundzwanzig Uhr fahren bei mir sämtliche Wachzustand-erhaltenden Körperfunktionen runter und um 23.30 ist Sperrstunde. Mein Augenlieder klappen zu, der Kopf fällt in den Nacken oder nach vorne, je nachdem welche Neigung er im Moment vor dem Sekundenschlaf hatte, mein Mund öffnet sich und ich beginne zu schnarchen. Sagt zumindest meine bessere Hälfte. Ob ich ihm glauben soll?

    Das ist der Grund, warum ich Silvester seit mehr als vier Jahren verpasse. Nicht mal die Knallerei um Mitternacht weckt mich mehr auf. Ich schlafe wie eine Tote, sagt Alexander. Wahrscheinlich hat er Recht. Aber darüber bin ich froh. Gibt ja auch nichts zu verpassen in der Nacht. Außer der Dunkelheit und meinen Kindern, die entweder schlecht träumten oder einfach nur zum zehnten Mal aufs Klo müssen. Beides keine Highlights in meinem Leben.

    Außerdem muss man bei uns vor 23.30 Uhr im Bett sein, denn um diese Zeit setzt meist die große Nachtwanderung ein. Zwei kleine Trippel-Trappel-Füße marschieren in unser Schlafzimmer und Schwupp – ins Bett. Wenige Minuten später wieder Trippel-Trappel. Nochmal ein Paar kleine Kinderfüße und Hopp – auch im Bett. Wenn dann Nummer drei im Anflug ist, muss einer von uns raus. So viel Gekuschel wird mir echt zu viel und mehr als vier Menschen haben in einem gewöhnlich dimensionierten Ehebett, das ja grundsätzlich nur für zwei normal beleibte Erwachsene gemacht ist, einfach nicht Platz. Auch wenn zwei davon gerade mal über und unter einem Meter hoch sind.

    Früher machte ich hin und wieder den Fehler bis spätabends zu bügeln – bin ich irre? – und siehe da – das Bett war voll. Käse!

    Den Letzten beißen die Hunde – oder besser gesagt: der Letzte schläft auf der Couch.

    Mit den Jahren wurde ich klüger und habe das Bügeln, soweit es mir irgend möglich ist, eingestellt.

    Caro und ich hatten uns an diesem Abend entschlossen wieder mal „rauszukommen. Der Ausdruck „rauskommen war aber wirklich hoch gegriffen, hatten wir uns doch nur für zehn Minuten in mein Auto gesetzt und waren geradewegs in die nächste Ortschaft gefahren. Die Richtung war klar, denn es gibt nur eine. Kleinberg liegt am Ende des Kleinbergtales und hinter der Ortschaft befindet sich nur mehr ein kleiner, hübscher See und viele steile Wände, die zu ziemlich hohen Bergen gehören.

    Einstweilen bin ich sicher, dass man als Bewohner von Kleinberg tatsächlich hier geboren sein muss, um das alles zu lieben. In den ersten Wochen nach meiner Ankunft konnte ich meine Gefühle nicht ganz eindeutig benennen, doch mit der Zeit wurde mir immer klarer, was mich emotional einengte. Egal wohin man sieht, nach spätestens einigen Hundert Metern ist Schluss mit freier Sicht und man muss den Kopf weit in den Nacken legen, um zu sehen, wo die Luft zum Atmen bleibt. Da ich niemals zuvor in einem so kleinen Nest gelebt hatte, konnte ich natürlich nicht ahnen, dass mir so ein liebliches, idyllisches Örtchen ziemlich bald auf den Wecker fallen würde.

    Ich tappe in meinem Leben ja regelmäßig im Dunkeln, doch seit gut fünfzehn Jahren ist mir klar: worauf ich mich immer wieder verlassen kann, ist meine Naivität. Als Alexander mir sagte, wir würden nach Kleinberg ziehen, war ich nicht aus dem Häuschen, aber niemals ahnte ich, dass ich geradewegs in mein Unglück ritt.

    Alexander ist mein Mann und der größte Goldschatz aller Zeiten. Er ist ein positiver Mensch und schafft es immer mich mit seiner Begeisterung anzustecken. Da uns außerdem gar nichts anderes übrig blieb, als nach Kleinberg zu ziehen, gab er sich die größte Mühe mir seine „alte" Heimat schmackhaft zu machen. Er erzählte mir immer wieder lustige Geschichten aus seiner Kindheit und wie toll es für die Kinder werden würde, hier aufzuwachsen. Die Natur, die Berge. Ja, die Berge! Oftmals habe ich das Gefühl, irgendwer steht hinter mir und rückt mir unangenehm auf die Pelle, doch wenn ich mich umdrehe, um ihm zu sagen, er soll gefälligst die Fliege machen, ist es wieder nur so ein Berg, der seit Ewigkeiten dasteht und mir die Sonne nimmt, genau wenn ich mich in den Liegestuhl lege um mir eine großzügige und ungesunde Portion UV-Strahlen zu gönnen.

    Nein. Heute nach zwei Jahren bin ich schlauer. Ich bin kein Gebirgsmensch und kein Kleinberger. Zumindest etwas, das ich weiß. Und was mir, wie so manche Weisheit, die ich schon besitze, wenig bringt. Denn wir müssen bleiben. Alexanders Vater ist nämlich krank. Er hat seit gut zwei Jahren Alzheimer. Und weil Alexanders Eltern hier im Dorf eine Ferienappartementvermietung und den örtlichen Supermarkt besitzen, ereilte meinen Mann vor exakt siebenundzwanzig Monaten die Bitte seiner Mutter, sie doch „wenn du so lieb wärst" zu unterstützen. Und Alexander wäre nicht mein Alexander, wenn er nicht völlig selbstverständlich mit mir, seiner Frau und unseren drei etwas zu lebendig geratenen Kindern mit Sack und Pack zum ehestmöglichen Zeitpunkt übersiedelt wäre.

    Und welche Ansprüche hätte ich stellen können? Ihm verbieten seiner Familie zu helfen? So irre bin ja nicht einmal ich. Ich verdanke Alexander viel und da ich mich zum damaligen Zeitpunkt wieder oder besser gesagt noch immer in Karenz befand, gab es keinen plausiblen, von erwachsenen Menschen als akzeptabel anzusehenden Grund Wien nicht verlassen zu können. Natürlich waren da meine Freunde und ja, es ist die Großstadt, wo ich bis jetzt am liebsten zu Hause war, aber Alexander ist mein Leben und meine Liebe. Er ist derjenige, der mir eine Familie bot, als ich sie am dringendsten benötigte. Wie hätte ich jemals auch nur einen Zweifel daran äußern dürfen der Familie – dem obersten Gut überhaupt – eine Bitte abzuschlagen?

    Auch Alexanders Vater kann man keinen Vorwurf machen – er selbst hasst seine Krankheit am allermeisten. Er tut mir leid und trotzdem kann niemand etwas für ihn tun. Verglichen mit ihm, habe ich es natürlich gut erwischt. Auf der anderen Seite: ich bin ja auch erst dreiunddreißig. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie es um mich steht, wenn ich mal so alt bin wie er.

    Genau betrachtet ist er sogar der Kleinberger, der mir am sympathischsten ist – nach meinem Mann natürlich. Erstens ist er mein Schwiegervater und ein wirklich netter Mensch. Und zweitens ist er der Einzige, der auch mal schräge und einmalige Aktionen liefert, wie zum Beispiel erst vor wenigen Wochen, als er mitten im Januar begann den Swimming Pool mit Wasser zu füllen. Leider aber darf ich mich öffentlich nicht über ihn amüsieren; nicht erst einmal hat mich meine Schwiegermutter mit ihrem eisigen Blick gestraft, als ich lauthals lachte, weil er zum wiederholten Mal ohne Hose auf die Straße ging.

    Ganz ehrlich: ich verstehe das wirklich nicht ganz. Wir alle wissen, dass seine Krankheit sich ab jetzt nur mehr verschlechtert und es keine Heilung gibt. Das ist an sich ja wirklich traurig und bedrückend. Aber warum darf man dann nicht mal lachen, wenn es was zu lachen gibt? Ich kenne die Antwort: meine Schwiegermutter denkt, dass wenn ich lache, ich seine Krankheit nicht ernst nehme. Aber das stimmt nicht. Ich nehme sie ernst, immerhin bin ich ja mit drei kleinen Kindern und all unseren Habseligkeiten in dieses Megakaff gezogen, damit mein Mann sie alle unterstützen kann. Und beschwere ich mich? Zumindest nicht öffentlich. Nur bei Caro. Meiner neuen Verbündeten.

    Uns verbindet ein großer Makel: sie ist Deutsche und ich höre mich wie eine an. Wir sind Außenseiter und das hat sie mir auf Anhieb irrsinnig sympathisch gemacht. Sie war die Erste, die mich nicht nach meinen ersten zwei Sätzen fragte: „Du kommst aus Deutschland?"

    Man muss wissen: das ist kein Kompliment in Österreich. Natürlich ist es auch keine Beleidigung. Wir Österreicher wissen alle über die wirtschaftliche und auch sprachliche Überlegenheit unserer Lieblingsnachbarn und unsere eigene Abhängigkeit von ihnen. Wir brauchen sie und unser Überleben hängt von ihnen ab. Ganz besonders bei denen, die im Tourismus arbeiten. Denn: die Deutschen sind unsere wichtigsten Gäste. Seit Jahren sind sie uns treu und kommen vollzählig und ganz sicher pünktlich, wenn sich der erste Schnee ankündigt oder die Bergrosen blühen.

    Außerdem: Man kann sich echt nicht beschweren über sie. Sie sind nicht so verklemmt wie die Amerikaner, rülpsen nicht wie die Asiaten und fluchen nicht wie die Russen. Sie sind halt gescheit – und das mag nicht jeder. Aber: wenn du sie gut behandelst und freundlich zu ihnen bist, kommen sie garantiert im nächsten Jahr wieder – und das wünscht sich jeder Kleinberger. Eingeschlossen mir. Denn sie behandeln mich auch gut. Für sie bin ich die Frau vom Chef – sowas wie die Hausherrin. Das ist immer nett. Und: sie halten mich für keine Deutsche. Da ich keine bin, möchte ich auch für keine gehalten werden. Einem solchen Irrtum unterliegen auch nur Österreicher!

    Wir Alpenrepublikaner haben natürlich große Komplexe. Wir fühlen uns etwas minderwertig (weil wir so wenige sind?) vor allem gegenüber den Deutschen (weil sie so viele sind?). Sie sind unsere Nachbarn, sprechen dieselbe Sprache, ähneln uns also in einiger Hinsicht und trotzdem wirken sie bei den meisten Dinge, die sie tun, professioneller. Außer beim Skifahren vielleicht – weswegen wir uns in diesem Bereich wahrscheinlich auch so viel Mühe geben.

    Aus diesem Grund schätze ich sind wir gerne ihre Gastgeber, denn da sind mal ausnahmsweise wir der Boss und lassen uns von ihnen danken. Wie befriedigend!

    Da ich mich für die Kleinberger wie eine Deutsche anhöre, kann ich keine von ihnen sein. Zu Beginn fragte mich die Eine oder Andere im Gespräch: „Vastesst du mi e? Was für eine Frage? Ich spreche Hochdeutsch, bin aber nicht taub. Nur weil jemand ein „ch, ein „e, ein „en oder überhaupt die letzten vier Buchstaben eines Wortes weglässt, heißt das noch nicht, dass ich nicht kapiere, was er mir sagen will.

    Ich bin oft erstaunt über die Distanz, die dieser kleine sprachliche Unterschied mit sich bringt. Dabei bin ich gerade mal sechzig Kilometer entfernt aufgewachsen. Sechzig Kilometer! Ein Katzensprung so zusagen. In der wunderschönen Mozartstadt Salzburg. Da spricht man schön. Dort ist es auch wirklich schön und vornehm. Da lernst du feine Manieren und einen guten Umgangston (wenn du auf die richtige Schule gehst). Und die Rest-Österreicher halten dich für überheblich. Na Dankeschön!

    Mit der Zeit fand ich außerdem heraus, dass mein Hochdeutsch und ihr Dialekt mich weniger störte, als die Kleinberger. Manche denken wohl, ich rede absichtlich so hochgestochen, weil ich besser sein will. Wieder so ein Irrtum über meine Person. Aber es ist nicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich missverstanden werde. Über die Jahre habe ich mich daran gewöhnt. Genauso wenig die Kleinberger Hochdeutsch sprechen können, kann ich einfach so in ihrem heimischen Dialekt losböllern. Es klänge dämlich und würde vor allem nicht stimmen. So habe ich mich nach einer gewissen Zeit damit abgefunden, dass ich hier im Ort keine wirklich gute Freundin finden würde.

    Die Touristenfrauen, die Deutschen, die mag ich meistens sehr gerne, aber die sind ja nach spätestens zwei Wochen wieder dahin und wo schon meine Long-Distance Beziehung zu Charles keine vier Wochen gehalten hat – was allerdings weniger an mir als an ihm und seiner „Neuen" lag - kann ich mir eine Long-Distance Freundschaft erst recht schenken. Charles hätte das zwar lockerer gesehen, aber Exklusivität ist dann doch etwas, das ich mir in einer Beziehung erwarte; Long-Distance hin oder her. Da bin selbst ich mal intolerant!

    Blieb also wieder nur – Alexander. Der Arme – wie Caro manchmal sagt. Sie meint er ist bemitleidenswert, weil ich so auf ihm drauf hänge. Obwohl so arm finde ich ihn auch wieder nicht. Erstens klebe ich nicht an ihm; das sieht nur Caro so – meine Ansicht. Das Wort Beziehung leitet sich ja von „beziehen" ab. Und ich beziehe mich auf Alexander. Mich und alles, was mich beschäftigt. Er ist mein Mittelpunkt. Für mich völlig normal.

    Caro ist da ein anderer Typ, würde ich sagen. Sie bezieht sich mal grundsätzlich auf sich selbst – was die Allgemeinheit gerne auch als Egoist bezeichnet. Da ihr Freund Ralf aber genauso tickt, ist das natürlich die perfekte Lebensform für die beiden. Zweisamkeit? Gemütlichkeit? Werte, die mir extrem wichtig sind. Für Caro und Ralf schätze ich rangieren die wahrscheinlich irgendwo auf Platz 10 oder 11 nach Perfektion, Erfolg, Gesundheit, Fitness, Selbstvertrauen, Power und weiteren „persönlichen Stärken", die ich mehr vom Hörensagen kenne.

    Wie gesagt: ich denke Alexander ist nicht arm oder gar bemitleidenswert.

    Alexander fühlt sich grundsätzlich wohl in Kleinberg – im Gegensatz zu mir. Er kommt aus diesem Kaff und hat hier eine Menge Freunde - im Gegensatz zu mir. Alexander meint noch immer, ich solle mir einfach mehr Mühe geben. Er sagt, die Kleinberger sind eher wie eine harte Nuss oder eine Zwiebel. Man muss erst mal die Schale knacken und sich dann Schicht für Schicht vorarbeiten, um sie richtig kennen zu lernen. Aber ganz ehrlich: das ist mir zu mühsam. Freundschaft als einen Lebensprozess zu sehen, scheint mir absurd. Damit du am Sterbebett stehst und sagst: weißt du, jetzt habe ich endlich begriffen, wer du bist. Nein Danke! Das dauert mir zu lange. Entweder du findest gleich einen Draht zueinander oder eben nicht.

    Ich bin da eher der Landminen-Typ. Trittst du auf mich drauf, gehe ich hoch. Sprichst du mich an, rede ich – meist Klartext. Vielleicht ist das etwas Städtisches. Ich vermute es zumindest. In der Stadt hast du nicht die Zeit dich allzu lange mit einem Einzelnen zu befassen. Du kommst schneller auf den Punkt. Denn du läufst dir ja nicht weiterhin zwanzig Mal täglich für die restlichen vierzig Jahre über den Weg. Vielleicht ist es also auch nicht unbedingt mein nicht vorhandener Berg-Dialekt, sondern mehr meine gesamte Art, die mich den Kleinbergern unsympathisch macht. Ich weiß, dass ich ziemlich schnell spreche. Was bei meiner einwandfreien Aussprache des Deutschen ja nicht unbedingt ein Problem sein sollte – es leider aber ist. Hin und wieder beobachtete ich Kleinberger, die während eines Gesprächs mit mir etwas gequält lächelten – so als hätten sie sich beim RTL (das ist nicht der Fernsehsender – das bedeutet Riesen-Tor-Lauf! – habe ich auch erst kürzlich erfahren) den sportlichen Kleinberger Skiknöchel verstaucht - und sich dann freundlich verabschiedeten. Dabei hatte ich doch eine Frage gestellt! Zu Beginn dachte ich, die sind unhöflich, aber Alexander gibt mir öfter den Rat hin und wieder zwischen den Wörtern zu atmen, damit den Zuhörern Zeit zum Denken bleibt. Ein interessanter Ansatz finde ich!

    Doch so viel Zeit habe ich einfach nicht.

    Bei Caro brauche ich all das nicht beherzigen. Sie versteht was ich sage. Immer. Manchmal sage ich auch nichts und sie versteht trotzdem, was ich sage! Endlich! So wie meine beste Freundin Biene, die ich sehr vermisse. Biene lebt in Wien und ist natürlich keine fliegende Biene, die summt. Obwohl es solche in Wien auch gibt. Manchmal summt sie, aber nur wenn sie Kartoffeln schält oder bügelt. Sie ist ein Mensch, eine Frau, um ganz genau zu sein, heißt Sabine Oberlerchner und war meine Obermieterin, bei der ich zur Untermiete eingezogen bin, nachdem ich die Wiener Fachhochschule für Tourismusmanagement mit einem Mag. (FH) abgeschlossen habe. Zur großen Erleichterung meiner Eltern. Besser gesagt meiner Mutter und ihres Mannes, der nicht mein Vater ist. Den ich allerdings selbst sechzehn Jahre für meinen Vater gehalten habe. Bis ich aufgrund einer blöden Spielerei im Biologie Unterricht in der Oberstufe errechnete, dass sich das mit den Blutgruppen in unserer Familie nicht ausgeht. Ich bin generell kein besonders wissbegieriger Mensch, zumindest was die Naturwissenschaften angeht. Beziehungsweise die Natur im Allgemeinen und Tiere im Speziellen – auch Bienen interessieren mich nicht, ausgenommen meine Biene. Doch Dinge, die mit Logik zu lösen sind, finde ich spannend. Genauso Mathematik und Rechnungswesen. Da gibt es klare Regeln, die funktionieren, wenn du sie alle beherzigst. Das tut gut. Ich denke für naive Menschen, wie mich, sind das wichtige Anhaltspunkte. Da kannst du nicht ständig daneben liegen.

    So habe ich damals für dieses Rechenbeispiel einfach die Blutspende-Ausweise meiner Eltern in den Biologie-Unterricht mitgenommen. Ich weiß, dass meine Mutter sie nicht, wie die meisten Menschen im Geldtascherl herumträgt, sondern im Wohnzimmer bei den Dokumenten aufbewahrt. Gefragt habe ich sie damals nicht. Ich dachte ja nicht, dass es irgendwie von Bedeutung wäre.

    Ich erinnere mich heute noch an den verwirrten Blick meines Lehrers, als ich ihn fragte, warum sich das bei uns mit den Blutgruppen nicht „ausgeht". Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich wieder mal etwas falsch gemacht hatte – keine Besonderheit bei mir. Doch mein Biologie-Lehrer wurde immer ruhiger, sah sich die Blutspendeausweise meiner Eltern genau an, kontrollierte die Namen, drehte sie hin und her und nahm dann wieder meinen Impfpass in die Hand. Er schüttelte ein paar Mal den Kopf und wechselte das Thema. Nach dem Unterricht rief er mich dann zu sich, als er sah, dass die Anderen schon die Klasse verließen.

    Etwas dümmlich stand ich vor ihm und hatte keinen blassen Schimmer was los war. Er fragte mich noch einmal ganz ruhig, ob ich denn sicher sei, dass ich die richtigen Blutspendeausweise und meinen eigenen Impfpass mitgenommen hatte. Ich nickte. Konnte ich doch schon meinen eigenen Namen lesen. Was für eine dumme Frage! Und dann sagte er: „Vielleicht redest du mal in Ruhe mit deiner Mutter? Ich nickte. Ja, und? Er fuhr fort: „Es kann ja sein, dass hier irgendwas falsch vermerkt wurde. So was kann durchaus passieren. Er sah mich mitfühlend an. Und dann sagte er den Satz, den ich selten aus dem Munde einer meiner Lehrer hörte: „Du hast alles richtig gemacht. Die Rechnung ist korrekt. Wenn beide deine Eltern die Blutgruppe A haben, kannst du unmöglich AB haben." Stille. Und ich kapierte noch immer nichts.

    Er gab mir den Rat, mit meiner Mama alleine zu reden. Was ich tat. Denn ich vertraue oft darauf, dass es die Anderen besser wissen als ich. Schon als ich die Blutspendeausweise auf den Tisch legte, wurde meine Mutter nervös. Als ich dann noch meinen Impfausweis dazulegte, wurde sie still und schloss die Küchentüre. Was danach passierte, ist heute noch eine für mich sehr unangenehme Erinnerung, die ganz eigenartige Gefühle in mir weckt und ich aus diesem Grunde lieber verdränge. Meine Mutter offenbarte mir, dass ich ein Kuckuckskind bin.

    Natürlich verwendete sie diesen Ausdruck nicht. Den habe ich erst später im Internet gefunden. Ich bin ein Kuckucksei und wurde in ein fremdes Nest gelegt. Kein netter Gedanke. Ich bin das Ergebnis eines Seitensprungs und mein Papa ist nicht mein Vater. Zu Beginn begriff ich überhaupt nicht, was meine Mutter da schwafelte. Ich dachte einfach sie spinnt. Das konnte doch gar nicht wahr sein. Und das Schlimmste war: sie bat mich mit ihr zu lügen. Ich musste lügen über – mich! Mein Papa wusste damals nicht, dass ich ihm untergeschoben wurde. Und damit unsere Familie nicht zerbrechen würde, flehte meine Mutter mich an, nichts zu sagen. Wie ungeheuerlich! Sie versicherte mir, dass sie mich genauso liebte, wie meine Geschwister, obwohl ich daran nicht wirklich gezweifelt hatte. Ich war mehr darüber schockiert, dass ich mein bisheriges Leben lang angelogen wurde und mein Papa, der es plötzlich nicht mehr war, ebenso. Um sechzehn Uhr hatte ich noch einen Vater und fünf Minuten später war er weg! Wie konnte das nur sein?

    Seitdem weiß ich, dass es manchmal sehr schön sein kann, sich in Unwissenheit zu wiegen. Denn die Wahrheit kann unheimlich wehtun. Und deswegen schürfe ich manchmal auch nicht zu tief. Ich fiel in ein tiefes Loch. Ich war total verstört und musste so tun, als wäre alles in Ordnung. So gerne hätte ich darüber geredet und durfte es nicht. Meine Mutter steckte mir Geld zu und vereinbarte einen Termin bei einer Psychologin. Was auch nicht viel brachte. Denn diese bestätigte mir, dass dieses versteckte Geheimnis mich immer belasten würde. Dankeschön! Das hätte ich auch selbst herausgefunden. Die Psychologin rief nach der ersten Sitzung meine Mutter an, die meine nächste Sitzung stornierte, die eigentlich ihre eigene hätte sein sollen.

    So blieb mir nur das Internet zum Reden. Da war ich anonym und fand viele Leidensgenossen. Es gibt einige Homepages über Kuckuckskinder und es tat gut sich so Einiges von der Seele zu schreiben. Viel besser wurde es nicht, aber es brachte mir zumindest eine gewisse Erleichterung. Auch das Verhältnis zu meinen Geschwistern verschlechterte sich. War ich doch keine mehr von ihnen. Sie wussten davon auch nichts und verstanden mein eigenartiges Verhalten nicht. Doch ihr Unverständnis war mein geringstes Problem. Meine Schulnoten litten mehr als sie es vorher taten und einzig der gequälte Blick meiner Mutter hielt mich zurück etwas zu sagen.

    War jetzt schon mein Leben zerstört, musste ich ja nicht ihres auch noch absichtlich kaputt machen. Oder? Alexander nimmt es meiner Mutter bis heute übel, dass sie mich da mit reingezogen hat. Als ich ihm meine Geschichte erzählte, war er einzig über die Entscheidung meiner Mutter entsetzt. Doch damals waren schon viele Jahre vergangen und zum damaligen Zeitpunkt wusste es sogar mein Vater schon. Wie er es herausgefunden hat, weiß ich bis heute nicht. Ich will es ehrlich gesagt auch nicht wissen.

    Den Zeitpunkt, die Bombe platzen zu lassen, hatte mein Papa etwas eigenartig gewählt. Ich nenne ihn lieber Papa, denn das war er ja immer für mich. Vater klingt eher biologisch und stimmt deswegen ja nicht mehr. Nachdem ich am Vormittag die offizielle Sponsion an meiner Fachhochschule hatte, zu der auch meine Eltern und meine jüngere Schwester mit ihrem Freund gekommen waren, aßen wir mit meinen Lieblingsverwandten, dem Cousin meines Papas und seiner Familie in einem schönen Restaurant zu Mittag. Es war herrliches Wetter und ich war richtig glücklich. Endlich hatte ich irgendwas geschafft und die Wünsche meiner Eltern, vor allem die meines unechten Vaters, erfüllt. Er ist Anwalt und träumte immer davon, dass wir alle Akademiker sein würden. Ein Mag. (FH) war immerhin ein guter Anfang. Von meiner Berufswahl war er zwar nie begeistert, aber zumindest war es eine Fachhochschule und damit noch eine höhere Bildung, die ich an das Gymnasium, das ich mit allergrößten Mühen beendet hatte, angeschlossen hatte.

    Es hätte ein wirklich schöner Tag sein sollen. Meine Mama hatte mir für dieses Datum eine ordentliche Stange Geld überwiesen und ich mir ein umwerfendes Kleid in einer exklusiven Boutique in Wien gekauft. Am Tag zuvor war ich beim Friseur gewesen und wenige Tage vorher frische Gelnägel machen lassen. Ich fühlte mich schön und ansatzweise klug – obwohl das nie mein höchster Anspruch an mich selbst gewesen war. Meine Schwester war da und freute sich mit mir. Sie kannte das Geheimnis um mich nicht, aber sie war erleichtert, dass das schwarze Schaf in der Familie – ich – es auch endlich zu etwas gebracht hatte. Nicht erst einmal war ich das Streitthema zwischen meinen Eltern gewesen.

    „Du verwöhnst sie zu sehr! hatte mein Papa oft wütend gerufen, wenn meine Mama zum wiederholten Male mein Scheitern auf verschiedenen Ebenen verteidigte. „Sie kann genauso viel leisten, wie die anderen! „Sie muss lernen, dass man sich eben mehr anstrengen muss." Ich wusste warum meine Mutter mich mit aller Kraft verteidigte und auch, warum mein Papa davon ausging, dass ich genauso viel Ehrgeiz besitzen musste, wie er. War ich doch sein Kind! Für ihn. Leider nicht mehr für mich.

    Ich bemerkte nicht, dass er sich seit der Ankunft in Wien eigenartig benahm und meine Mutter wirkte wie ein geprügelter Hund. Zu sehr war ich damit beschäftigt mich an den Gedanken zu gewöhnen, etwas Tolles geschafft und vier Jahre „Uni" hinter mich gebracht zu haben. Alle meine Kollegen und ich genossen das Gefühl die ewige Lernerei endlich an den Haken zu hängen und Pläne für die Zukunft schmieden zu können. Meine Vision war klar. Ich wollte weg. Ab ins Ausland. Die Welt erobern! In Gedanken formulierte ich Lebensläufe und ging Bewerbungsgespräche in meinem Kopf durch. Ich dachte über mögliche Outfits nach und womit ich meine zukünftigen Arbeitgeber beeindrucken konnte. Paris oder New York! Das war mein Traum! Großstadt, ich komme!

    Niemals hätte ich geahnt, dass sich noch am selben Abend eine kleine, übereifrige Sperma-Kaulquappe in meinen viel zu fruchtbaren Uterus einnisten würde. Das eine Disaster führte zum nächsten doch das darf ich laut Alexander nicht so sagen, denn an diesem Tag entstand meine Tochter Leandra.

    Meine Tochter, nicht Alexanders Tochter. Und trotzdem liebt er sie wie sein eigenes Kind und dafür liebe ich ihn. Eine einfache Logik, die vom ersten Moment an funktionierte.

    „Schläfst du etwa schon?" Caro sah mich ungläubig an.

    „Wie? Nein!" Ich schüttelte den Kopf. Caro wartete noch immer darauf, mir ihre Fragen stellen zu können. Seitdem ich Mutter bin und das bin ich immerhin seit fast neun Jahren, bin ich öfter etwas zerstreut. Früher wunderte ich mich immer darüber, warum meine Mutter die Hälfte vergaß und immer die letzte war, die ins Auto stieg und dann noch mal raus musste, um ihre Schlüssel zu holen und heute bin ich genauso. Hm, gewisse Dinge kann man wohl nicht vermeiden.

    „Frag schon!" Ich setzte mich gerade auf, um ihr zu signalisieren, dass ich mit meiner Aufmerksamkeit ganz bei ihr war. Caro schüttelte den Kopf und sprach:

    „Wie läuft es bei euch im Bett?"

    „Wie?" Dümmlich sah ich sie an.

    „Naja, ich meine, was läuft bei euch sexuell?"

    „Wie kommst du denn jetzt da drauf?" Die Direktheit ihrer Frage wunderte mich nicht, war ich es gewohnt Klartext mit ihr zu sprechen. Aber bis vor wenigen Sekunden war das Sportprogramm von Alexander unser Gesprächsthema gewesen.

    „Naja, du hast mir doch letztens erzählt, dass ihr abends meist fernseht und eure Kinder bei euch im Bett schlafen und da habe ich mich gefragt, wann ihr dann eigentlich Sex habt. Und wo?"

    „Darüber denkst du nach?"

    „Ja"

    „Wozu?" Caros Logik leuchtete nicht mal mir ein und dabei war ich der Spezialist für verworrene Gedankengänge.

    „Weil es oftmals sexuell unausgelastete Männer zum Sport zieht. Kraftsport zum Beispiel baut viele Aggressionen ab, eine Wirkung, die auch Sex hat."

    „Aggressionen abbauen? Welche Art von Sex meinst denn du bitte? Schlägst du Ralf?" In meinem Geiste tauchte unweigerlich ein Bild meiner neuen und überaus muskulösen Freundin auf, wie sie ihren Freund auf ihrem Bett gefesselt auspeitschte.

    „Natürlich nicht. Es geht mir nur darum herauszufinden, ob es nicht noch andere Motive für Alexander gibt sich körperlich so auszupowern. Manchmal ist es eine gewisse Unzufriedenheit oder auch das Verlangen nach den durch die physische Belastung produzierten Glücksgefühle, die den Mensch dazu treibt Sport zu machen." Etwas verständnislos sah ich sie an.

    „Das heißt, du meinst, ich mache Alexander nicht glücklich, weil er jetzt fünf Mal die Woche Gewichte stemmt und stundenlang auf seinem Rennrad sitzt?" Caro wusste, dass ich nicht beleidigt und meine Frage aufrichtig war.

    „Nein. Das glaube ich nicht. Er liebt dich abgöttisch. Hat er nicht erst einmal gesagt." Gespielt verdrehte sie die Augen.

    „Und du liebst ihn auch. Hast du mir ja auch schon tausend Mal gesagt. Aber ich frage mich, ob in eurer Beziehung wirklich alles in Ordnung ist."

    „Warum?"

    „Weil du unzufrieden bist. Und unzufriedene Menschen können andere Menschen nicht glücklich machen." Hm. Ich dachte über das Gesagte nach. Das klang logisch.

    „Aber Alexander kennt mich so. Ich war immer schon so."

    „Wie?"

    „Naja, so eine Jammersuse. Ich beschwere mich immer über irgendetwas."

    „Und? Bringt dir das was?"

    „Ich weiß nicht. Was meinst du?"

    „Weißt du, Anna. Du bist ein eigenartiger Mensch. Irgendwie bist du klug und dann wieder gar nicht. Oft bist du so lustig, positiv und fröhlich, aber wenn du mal richtig ins Reden kommst, erkennt man erst, wie negativ du bist. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass das für Alexander so leicht ist, das auszuhalten." Ich nickte. Caro nickte. Irgendwie hatte sie Recht.

    „Aber Alexander ist doch fröhlich für uns beide. War schon immer so. Ich habe die Vermutung, dass die hier in Kleinberg den kleinen Babys direkt nach der Geburt was in die Muttermilch mischen, irgendein Glücksgift, eine Art Impfung aufs Fröhlichsein." Caro nickte und weitete ihre Augen.

    „Interessante Theorie."

    „Nicht wahr?" Ich war stolz, dass ich Caro immer wieder Insider-Wissen über meine unfreiwillige Wahl-Heimat mitgeben konnte.

    „Und was haben sie dir in die Muttermilch gemischt?"

    „Hm. Nichts schätze ich. Ich komme aus der Stadt. Da wird kein großes Aufheben darum gemacht, wenn ein Baby geboren wird. Niemand stellt in Salzburg Stadt einen Storch vor die Türe, damit die halbe Stadt gratulieren kommt." Caro war meiner Meinung.

    „Aber Anna. Jetzt mal im Ernst. Ist dir klar, dass man Menschen mit diesem Gejammer auch runterziehen kann?"

    „Ja, schon."

    „Dann hör auf damit!"

    „Wozu?"

    „Weil ich nicht glaube, dass es Alexander egal ist. Nur weil er dich nicht anders kennt, heißt das noch lange nicht, dass er dich nicht lieber positiver erleben würde. Wenn ich mir das manchmal so anhöre, wie ihr lebt, finde ich das schon ziemlich – verzeih den Ausdruck – öde."

    „Naja. Wir haben drei Kinder."

    „Nimm deine Kinder nicht immer als Ausrede."

    „Ich verwende sie nicht als Ausrede. Sie sind der Grund."

    „Wofür?"

    „Dass ich jammere."

    „Pfff. Caro blies hörbar durch ihre Zähne. „Das ist echter Blödsinn. Wenn du dich mal selbst reden hören könntest. Ich hoffe du sagst das nicht deinen Kindern.

    „Selten aber doch." Caro schüttelte resignierend ihren Kopf.

    „Weißt du Anna, ich finde die Kleinberger gar nicht so verkehrt. In Wahrheit sind die total nett und bemüht. Die Portion Fröhlichkeit, die sie alle versprühen, da könntest echt du dir mal ein Stück davon abschneiden. Sie machte eine kurze Pause. „Ich liebe deine Ehrlichkeit, das weißt du. Ich finde auch deine direkte Art super. Aber manchmal verstehe ich schon, dass nicht jeder so viel Wahrheit verträgt. Deine zumindest. Sie dachte kurz nach und während ich noch grübelte, welche passende Antwort sie jetzt von mir erwartete, sprach sie schon: „Du könntest dir doch einfach mal überlegen, nur mehr deine Meinung kund zu tun, wenn sie nett ist."

    „Na, da habe ich dann aber vielleicht nichts mehr zu sagen."

    Caro warf ihre Hände in die Höhe. „Das ist genau das, was ich meine! Du musst echt deine

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