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Fordern, Fördern, Freilassen.: Leitfaden für ein runderneuertes Bildungssystem.
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Ebook259 pages3 hours

Fordern, Fördern, Freilassen.: Leitfaden für ein runderneuertes Bildungssystem.

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About this ebook

Bildungsmisere – dieser Begriff findet so häufig und so emotional Eingang in die öffentliche Diskussion, dass man eigentlich nur zu dem Schluss kommen kann: Ja, sie existiert wirklich, diese Misere. In ihrem Schatten verzetteln sich die Bildungsexperten im immerwährenden Methodenstreit, zerbrechen Koalitionen an der Frage "G8, G9 oder doch lieber G9¾?", brüten Statistiker über der Relevanz von PISA- und Hattie-Studie, schwadronieren Bildungspolitiker wie Stammtischbrüder wahlweise über die soziale Segregation oder die schleichende Aushöhlung des Leistungsprinzips an unseren Schulen.

Dabei kennt eigentlich jeder, der zumindest die erste Klasse Grundschule bereits absolviert hat, insgeheim die wahren Gründe: Die Bildungsmisere rührt daher, dass Schüler und Lehrer zur falschen Zeit, am falschen Ort, in der falschen Konstellation, in der falschen Stimmung und unter den falschen Vorgaben aufeinander losgelassen werden. Doch dieses Wissen schlummert zu tief und zu ungeordnet im Unterbewusstsein von zigmillionen Bürgern, als dass daraus auch nur ein einziger vernünftiger Lösungsansatz hervorgegangen wäre. Stattdessen hakt man sich bei den systemtreuen Experten oder besserwissenden Krachmachern unter, beziehungsweise flüchtet sich achselzuckend in die fatalistische Erkenntnis: Es ist, wie es ist, und ändern lässt sich sowieso nichts...

Dieses Buch setzt sich das ehrgeizige Ziel, das teils schlummernde, teils offenkundige Wissen über die wahren Unzulänglichkeiten des Bildungswesens nicht nur hervorzukramen und zu sortieren, sondern auch einen gangbaren Weg aus der Bildungsmisere aufzuzeigen. Dabei wagt es den Spagat zwischen augenzwinkernder Unterhaltung, die sich primär aus subjektiv Erlebtem speist, eher distanzierter Analyse des Ist-Zustands, und schließlich der ernst gemeinten Schritt-für-Schritt-Entwicklung eines neuartigen Bildungskonzepts, bei dessen Umsetzung sich die aktuellen Probleme über kurz oder lang in Wohlgefallen auflösen dürften.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateDec 2, 2014
ISBN9783738000368
Fordern, Fördern, Freilassen.: Leitfaden für ein runderneuertes Bildungssystem.

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    Book preview

    Fordern, Fördern, Freilassen. - Albrecht Muscholl-Silberhorn

    Vorab

    Um von vornherein allen Zweifeln entgegenzutreten: Mir ist es mit meinem Anliegen sehr ernst! Dieser Anspruch könnte beim Lesen des ersten Teils, aber stellenweise auch später, leicht aus den Augen verloren werden. Die Quasi-Autobiographie am Anfang hat zugegebenermaßen eine eher kabarettistische Anmutung, was einerseits dem Wunsch geschuldet ist, den Leser nicht zu langweilen, andererseits den Blick öffnen soll für die zahllosen Unmöglichkeiten, die unser Schul- und Gesellschaftssystem einem Lehrer zumutet, der nicht unter die Kategorie „Von Gottes Gnaden" fällt. Aber auch die Leidenswege und Verfehlungen der anderen Mitakteure im Bildungssystem werden karikiert. Ich möchte es aber nicht mit einem humoristischen Rundumschlag bewenden lassen. Es gibt schließlich schon viele lesenswerte Bücher, die den Schulalltag mit spitzbübischem Augenzwinkern oder zynischem Spott durch den Kakao ziehen.

    Mein Anliegen ist aber eigentlich ein ganz anderes: Da es offensichtlich Unzulänglichkeiten im deutschen wie internationalen Bildungswesen gibt, müssen diese nicht nur benannt werden – was einerseits aus den unterschiedlichsten Perspektiven häufiger geschieht als es uns lieb sein kann, andererseits in vielen Aspekten fast komplett unter den Tisch fällt –, es muss auch konkret gesagt werden, was sich daran ändern lässt. Nun, auch an dieser Aufgabe hat sich schon so mancher abgearbeitet, mit eher mäßigem Erfolg, wie die Persistenz der Misere nahelegt.

    Dennoch möchte auch ich mich an dieser Aufgabe abarbeiten, und dabei sehr konkrete, detaillierte und praktisch realisierbare Reformvorschläge präsentieren. Sie enthalten sowohl Zumutungen als auch Lockangebote für alle ideologischen und politischen Lager. Dabei sind viele, wenn nicht die meisten, der Vorschläge bereits von diversen Bildungsexperten angedacht worden. Was bisher fehlte, ist meines Erachtens ein scheuklappenfreies Zuendedenken und Zusammenführen aller erfolgsversprechenden Ansätze zu einem Gesamtkonzept, also einem wirklichen Systemwechsel. Der ideologiefreie Grundansatz und die große Flexibilität in der Umsetzung haben meines Erachtens ausreichend Charme, um eine breite gesellschaftliche Akzeptanz zu gewährleisten (und – bei einer Umsetzung – einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen), ohne dass Abstriche am Bildungsanspruch zu befürchten wären.

    Sollten die Leser nicht in dem von mir gewünschten Umfang diesem Charme erliegen, so hoffe ich doch für anregenden Diskussionsstoff gesorgt zu haben, der den Tunnelblick aller Protagonisten ein wenig weiten und den Bildungsdschungel ein wenig lichten könnte. In diesem Sinne wünsche ich eine unterhaltsame und anregende Lektüre!

    TEIL 1: BILDUNGSMISERE ALS NABELSCHAU

    Nabelschau 1 (Autobiographisches)

    Eigentlich wollte ich ja nicht von mir reden. Persönlich gefärbte Anekdoten vermitteln den Eindruck eines eingeschränkten Blickwinkels und verschleiern den ganz großen revolutionären, über jede Kritik erhabenen Wurf, den man zum Wohle der Menschheit oder zumindest deren Bildung soeben gelandet hat. Andererseits liest sich eine Ich-Erzählung flüssiger als eine mit Passivkonstruktionen überfrachtete wissenschaftliche Abhandlung. Und irgendwie liegt der Schlüssel zu den vorzustellenden Thesen und praktischen Vorschlägen genau in diesen persönlichen Eindrücken und Erfahrungen. Und vor allem: Der Leser möchte nun einmal wissen, ob er es mit einem Bildungsexperten oder Scharlatan zu tun hat.

    Und da beginnt schon das erste Problem: Ich weiß es selbst nicht so ganz genau. Zwar bin ich seit einigen Jahren als Lehrer tätig, allerdings als Vertreter der zwielichtigen Spezies des Quereinsteigers. Quereinsteiger sind Leute, die eigentlich nicht Lehrer werden wollten, sondern zunächst einen anständigen Beruf erlernt haben, dann aber auf der anvisierten Karriereleiter irgendwie ins Straucheln geraten sind. In meinem Fall stürzte ich mich als promovierter Mikrobiologe in eine universitäre Forscherkarriere, scheiterte dann aber nach über einem Jahrzehnt entbehrungsreicher Arbeit im Forschungslabor und kurz vor der Habilitation – sei es nun an eigenem Unvermögen oder an Intrigen innerhalb der Professorenschaft (in dieser am Ego kratzenden Frage habe ich noch keine abschließende Antwort gefunden). Als Ausweg ergab sich der Wechsel in ein innovatives Start-up-Unternehmen in einer fernen Stadt, das sich mit hochtrabendem Konzept nach nur drei Jahren in die Insolvenz verabschiedete (nicht ohne zuvor an die 17 Millionen Euro Investoren- und Fördergelder versenkt zu haben). Es folgte ein Jahr Arbeitslosigkeit, der ich nach unzähligen erfolglosen Bewerbungen und kurz vor dem Absturz ins Hartz IV-Präkariat mit einer befristeten Anstellung in einem Forschungsinstitut entfliehen konnte. Da war ich bereits jenseits der Vierzig und hatte Verantwortung für eine vierköpfige Familie.

    So oder so ähnlich sieht die Vorgeschichte eines Quereinsteigers aus, wenn er einen Wechsel in den Schuldienst ins Auge fasst. Mit angekratztem Selbstbewusstsein, aber in der Überzeugung, es auch nicht schlechter zu können als die vielen unvermögenden Lehrer, die einen in der Jugend gequält haben, nimmt er Kontakt zu Kultusministerien oder Bildungseinrichtungen in freier Trägerschaft auf. Hat man nicht schon erfolgreich Studenten durchs Praktikum begleitet, in Vertretung des Professors Vorlesungen oder auf Fachtagungen Vorträge gehalten? Und ist man nicht aufgrund seiner tadellosen Qualifikation mit 1,0-Diplom und fast zwei Jahrzehnten fachspezifischer Arbeit über jeden fachlichen Zweifel erhaben? Das wird auch in den freundlichen Antwortschreiben, die man auf seine einschlägigen Bewerbungen (gelegentlich) erhält, durchaus anerkannt. Nur: Mit offenen Armen wird man deswegen keineswegs aufgenommen. Wer es dann irgendwie in den Schuldienst schafft, hat es alleine einer Tatsache zu verdanken: Dass man als schlechteste aller denkbaren Notlösungen für ein ansonsten unlösbares Problem herangezogen wird. Will heißen, dass man als Lückenbüßer eine Komplettversorgung der Schüler mit Fachlehrern vorzugaukeln hilft. Ein notdürftiger Wundverschluss in Krisenzeiten…

    So tritt man – hoch motiviert, aber für seine fehlende Qualifikation eigentlich überbezahlt – seine Stelle als promovierter Hilfsarbeiter im Schuldienst an. Da Not am Mann ist, darf man auf keine Schonzeit hoffen: Bei vollem Stundendeputat hat man von der ersten Minute an die ganze Palette an Pflichten eines ausgebildeten Lehrers zu erfüllen. In meinem Fall hieß das, Biologie beziehungsweise Natur&Technik sowie Chemie in vier verschiedenen Jahrgangsstufen an einem Privat-Gymnasium zu unterrichten. Gleichzeitig bekleidete ich die vakante Stelle eines stellvertretenden Stunden- und Vertretungsplaners, die kein erfahrener Alteingesessener freiwillig übernehmen würde. Und schließlich halste ich mir zur Befriedigung einer persönlichen Neigung die Leitung einer Schultheatergruppe auf.

    Dass das kein Spaziergang würde, war mir trotz meines naiven Überschwanges natürlich klar; das Ausmaß der Belastung habe ich aber massiv unterschätzt. Alleine die gleichzeitige de-novo-Ausarbeitung so vieler Unterrichtskonzepte nebeneinander lässt sich nicht bewerkstelligen, ohne Abstriche an der selbst verordneten Perfektion vorzunehmen. Zumal einen zunehmend eine tiefe Unsicherheit beschleicht, woran dieser Perfektionsanspruch denn nun festgemacht werden könnte. Die diversen Mitakteure im bunten Schulalltag geben einem jedenfalls keine Hilfestellungen.

    Nabelschau 2 (Kollegen)

    Da wären zunächst natürlich die Kollegen. Vordergründig freundlich aufgenommen, hat man das Gefühl ständig misstrauisch beäugt zu werden. Und irgendwie kann man das auch nachvollziehen: Da hat einer jahrelang Lehramt studiert und sich der Ochsentour des Referendariats mit oftmals sadistischen Seminarlehrern und praxisfernen Lehrproben ausgesetzt, mit (je nach Fachrichtung) oft sehr geringen Hoffnungen auf eine Festanstellung – und da kommt dann ein offenbar anderswo gescheiterter Dr. Sowieso, der mit frischem Schwung den Beweis antreten möchte, dass es auch „ohne" geht. Lehrproben muss er nicht über sich ergehen lassen, drei mehr oder weniger unangesagte Besuche eines Ministerialbeauftragten tun es auch. Und das Schlimme ist: Irgendwie scheint er es auch zu packen – die Probleme und Konflikte, die er durchzustehen hat, unterscheiden sich ja nicht so massiv von den eigenen, in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden. Überhaupt: Wie weit her ist es mit der eigenen pädagogischen Ausbildung? Und dann bringt der auch noch einen halbwegs interessanten Lebenslauf mit, der ihn aus dem grauen Einerlei des Lehrkörpers heraushebt…

    So könnte es im Kopf eines alteingesessenen Kollegen aussehen; eine indirekte Bestätigung erhielt ich, als ich inkognito das Gespräch einiger Lehrer einer anderen Schule mithören durfte, die sich über das Scheitern eines anderweitig hoch qualifizierten Quereinsteigers mokierten. Der spöttische Abgesang endete mit der erleichtert klingenden Bemerkung eines der Belauschten: „So ganz umsonst war unsere Lehrerausbildung offenbar doch nicht!"

    Mag sein, dass es in einigen wenigen Kollegenköpfen tatsächlich so zugeht. Die Wahrheit ist in den meisten Fällen aber eher, dass sie sich überhaupt nicht viele Gedanken machen über neue Kollegen jedweder Couleur. Jeder hat seine eigene Last zu tragen und jeder muss seinen eigenen Weg im Bildungsdschungel finden; denn abgesehen von den paar erlernbaren Tricks geht der Alltag selten mit dem Erlernten konform.

    Und diese Vielzahl der Kollegen – ob altgedient oder quergeschlagen – lernt man sie im Laufe der Zeit überhaupt wirklich kennen? Als Außenstehender möchte man meinen, dies sei unabdingbar bei einem derartigen sozialen Beruf, in dem alle Akteure, ob Lehrer, Schüler oder Eltern, kompliziert vernetzt sind. In Wirklichkeit findet man sich eher in einer Einzelkämpfertruppe wieder. Die Gründe wurden teilweise soeben genannt, sind aber auch durch die individuellen Stundenpläne bedingt: Während man von einer Unterrichtsstunde zur anderen hetzt, begegnet man so manchem ebenfalls gehetzten Kollegen; und während man ihn im Vorbeieilen freundlich grüßt, denkt man sich: „Mit dem müsste ich mich über den Max aus der 7f austauschen! oder „Der hätte bestimmt ein paar Tipps zum aktuellen Thema auf Lager!

    Wenn man ihn dann in der nächsten Freistunde oder Pause im Lehrerzimmer sucht, ist er natürlich nicht da, weil er noch unterrichtet oder schon nach Hause gegangen ist oder Pausenaufsicht hat. In der Klassenkonferenz am Schuljahresende erinnert man sich dann wieder daran, dass man diesen oder jenen Kollegen doch eigentlich irgendetwas hätte fragen wollen – aber was? Viele erfahrene Lehrer lösen das Problem einfach dadurch, dass sie beim Stundenwechsel eben nicht aneinander vorbei hetzen, sondern sich eingehend austauschen. Sollten die traurig wartenden Schüler in der Zwischenzeit – wer will es ihnen verdenken – das Klassenzimmer in ein Schlachtfeld verwandeln, lässt sich das auch nicht ändern. Man kann schließlich nicht überall gleichzeitig sein.

    Glücklicherweise begegnet man so manchem Kollegen einfach gar nicht. Da sind manchmal auch die Kollegen der eigenen Fachschaft darunter. Hier sind zwar Meetings vorgeschrieben – in jedem Halbjahr eine – diese reichen aber gerade mal aus, sich die Vor- oder Nachnamen der Anwesenden aus dem Gedächtnis zu kramen, während der Fachschaftsleiter den neuesten überflüssigen Rundbrief aus dem Kultusministerium verliest. Als Stundenplaner hat man zumindest den Vorteil, dass man die Namenskürzel aus dem Ff kennt. Aber verbirgt sich dahinter ein Duz- oder Siez-Kollege? Von dieser Frage hängt es schließlich ab, ob man nach dem Vor- oder Nachnamen kramen muss. Aber nein – ich trage zu dick auf. In Wirklichkeit ist meine Fachschaft ein harmonischer Haufen freundlicher und realitätsnaher Zeitgenossen, die sich untereinander kennen. Seit Jahren versuchen wir, der Meeting-Kultur einen Anschub zu geben und eine gewisse ganzjährige Regelmäßigkeit zu verleihen, um auch mal relevante Dinge zu besprechen. Doch leider: der Stundenplan… (Wer macht den doch gleich wieder?)

    Nabelschau 3 (Persönlichkeit)

    Authentizität

    Noch weniger Hilfe beim Entwickeln der eigenen Professionalität erhält man natürlich von jenen Personen, für die – bzw. für die Füllung derer Köpfe – man eigentlich da ist: den Schülern. Das sind auch die Akteure, vor denen man sich eingedenk seiner eigenen Schülervergangenheit am meisten fürchtet. Diese Zwittergeschöpfe zwischen Kind und Mensch, die sich in ihrer Unfähigkeit, zwischen Wissbegier und Überdruss, zwischen Überheblichkeit und Minderwertigkeitskomplexen einen für ihre Mitmenschen auch nur halbwegs nachvollziehbaren Weg zu finden, den Lehrer als natürlichen Feind auserkoren haben. Die Tipps aus dem einschlägig vorbelasteten Bekanntenkreis, authentisch, ehrlich, humorvoll und konsequent aufzutreten, sind gewiss richtig und nett gemeint (ich würde diese Tipps auch selbst weitergeben) – als Heilsbringer erweisen sie sich nicht.

    Authentisch und ehrlich aufzutreten heißt ja letztendlich auch, Schwäche zu zeigen. Und mag sein, dass das die Schüler durchaus zu schätzen wissen und vielleicht auch sympathisch finden – eine Beißhemmung löst es aber keineswegs aus. Vielmehr wird jede Blöße, die man sich beabsichtigt oder unbeabsichtigt gibt, gnadenlos ausgenützt, sei es, um einen im Unterricht auflaufen zu lassen und sich so bei den Mitschülern zu profilieren, sei es, um zu Hause schulische Misserfolge auf den Lehrer umzumünzen. Mit seinem Quereinsteigerstatus zu kokettieren ist jedenfalls keine gute Idee. Und bei einer abstrusen fachlichen Frage (oft nur mit entsprechender böser Absicht gestellt) zuzugeben, dass man es selbst nicht weiß, sei nur dem zu empfehlen, der höhnisches Schülergrinsen mit Gleichmut ertragen kann. Da beugt man dann schon mal seine eigenen moralischen Ansprüche und nimmt es mit Ehrlichkeit und Authentizität nicht mehr so genau. Sollten einem die Schüler dabei aber auf die Schliche kommen, fällt man natürlich umso tiefer.

    Humor (ist, wenn man trotzdem lacht)

    Und dann die Sache mit dem Humor – was ist das eigentlich? Da lässt man in seinen besten Momenten, so ganz nebenbei, ein hintergründiges Bonmot einfließen, macht dann die nötige Kunstpause, die ausreichen sollte, das verdiente Schmunzeln oder Gelächter auszulösen. Und dann blickt man nur in ratlose Gesichter und offene Münder, mitunter auch in genervt rollende Augen, und ist glücklich, wenn man danach ungestraft mit seinem Unterricht fortfahren kann. Doch meist gibt es den einen oder anderen Schüler, der eine Erklärung einfordert und nicht locker lässt, bis man eine allgemeinverständliche Umschreibung seines humoristischen Geistesblitzes herunterstammelt und dann auch noch die wenigen Schüler verliert, die zuvor offensichtlich amüsiert waren.

    Auf der anderen Seite fühlt man sich oft ausgeschlossen, wenn die Klasse in tumultartiges Gelächter ausbricht und man selbst nur ratlos dreinblickt, obwohl man den verbalen oder gestischen Auslöser sehr wohl mitbekommen hat. Die Schüler verinnerlichen dabei nachhaltig, dass sie es wieder einmal mit einem zutiefst humorlosen Lehrer zu tun haben. Wenn man den Grund für das Gelächter nicht mitbekommen hat, folgert man sowieso reflexartig, dass man gerade selbst eine lächerliche Figur abgegeben hat.

    Kritisch wird es bei eigenen Scherzen, die tatsächlich oder vermeintlich zu Lasten eines Schülers gehen. Eine sanft-ironische Bemerkung, die von dem einen Schüler noch nicht einmal als solche erkannt wird, löst bei einem anderen möglicherweise schon eine tiefe Kränkung aus. Dieser Schüler hat vielleicht zuvor selbst dem Lehrer eine beleidigende Bemerkung an den Kopf geworfen und dabei eigentlich einen harmlosen Gag machen wollen. Solche komplexen psychosozialen Verwicklungen erkläre man dann mal den Eltern oder der Schulleitung, die einen im Anschluss zur Rede stellen! Und gerade in Konfliktsituationen erweist sich Ironie als gefährlicher Bumerang: Zur Auflockerung gedachte Bemerkungen werden – aus dem Zusammenhang gerissen – zu monströsen Beweisen für die Lieb-, Respekt- und Niveaulosigkeit des Lehrers umgemünzt.

    Überhaupt sind authentische, offene und humorvolle Lehrer vor allem eines: anstrengend! Wenn man an seine Kindheit zurückdenkt: Waren diese seelen- und konturlosen Apparatschiks, als die man viele seiner eigenen Lehrer in Erinnerung zu haben glaubt, wirklich so unangenehm? Konnte man nicht vielmehr in deren Unterricht so herrlich seinen eigenen Gedanken und Träumen nachhängen, ohne ständig ein schlechtes Gewissen suggeriert zu bekommen, einen engagierten Unterricht zu behindern oder Gefühle zu verletzen, deren Besitz ein ach so menschlicher Lehrer da vorne für sich beansprucht?

    Mit so einem Apparatschik ist auch recht leicht ein Konsens zu finden. Man ist ja durchaus bereit, diese unverständlichen Tafelanschriften in sein Heft zu überführen und dann zu Hause erstmals anzusehen. Dieser Konsens beinhaltet auch, dass man die Noten, die die Effizienz dieser Vorgehensweise widerspiegeln, klaglos hinnimmt. Sind sie gut, wird man in Ruhe gelassen; sind sie schlecht, wird man auch in Ruhe gelassen. Zumindest von diesem Lehrer, der das Problem erst in der Notenkonferenz am Schuljahresende erkennt, falls nicht vorher andere Akteure – z.B. ein nervig engagierter Klassenleiter oder die noch nervigeren Eltern – zuvor einschreiten.

    Nabelschau 4 (Notengebung)

    Und dann die Forderung nach konsequentem Auftreten: Hier ist die richtige Rezeptur noch komplizierter zu finden. Natürlich ist es förderlich, wenn die Schüler in jeder Situation eine verlässliche Vorstellung davon haben, was auf sie zukommt. Aber die Grenzen zwischen möglichen, je nach Situation fein abgestuften Maßnahmen erweisen sich meist als so unscharf, dass sie nicht für die Praxis taugen. Das beginnt schon bei der Notengebung, deren klare Grundregeln z.B. besagen: Wer nichts gelernt hat und ausgefragt wird, bekommt eine schlechte Note – basta!

    Mündliche Leistungserhebung

    Wenn dann jedoch das piepsig-süße Mädchen aus der fünften Jahrgangsstufe bei der Abfrage vor versammelter Klasse in bittere Tränen ausbricht und vor lauter Schluchzen keinen Ton herausbringt, steht man vor dem Dilemma: Zieht man die Abfrage knallhart durch, hat man seinen Ruf als Lehrer Gnadenlos dauerhaft weg, lässt man jedoch Gnade walten, kann man sich sicher sein, dass der nächste blanke Kandidat mit spitzem Finger auf das nervenschwache Mädchen deuten wird, mit der gespielt entrüsteten Bemerkung: „Die hat aber auch nicht…"

    So versucht man sich in einem Mittelweg, der den gewichtigen Nachteil hat, dass es ihn nicht gibt. Um Zeit zu gewinnen, laviert man mit beruhigenden Worten ein wenig herum, fragt dann auf möglichst niedrigem Niveau mit viel zu guter Bewertung ein wenig aus, versucht die Zwischenrufe der Schüler abzublocken, denen die Vorgehensweise je nach Lagerzugehörigkeit entweder zu weich oder zu hart vorkommt, und bemüht sich dann zur Tagesordnung überzugehen. Statt Lehrer Gnadenlos ist man dann Lehrer Wachsweich, bis man zu einem vergleichbaren Anlass aus einer Laune heraus die knallharte Tour durchzieht. Dann mutiert man zu Lehrer Unberechenbar. Nun ja – damit wäre immerhin ein bisschen was gewonnen.

    Schriftliche Leistungserhebung

    Man möchte meinen, mit den schriftlichen Noten wäre es einfacher. Das stimmt insofern, als dass psychologische Komplikationen mit einer gewissen Verzögerung eintreten. Ich wurde vor meinen ersten Prüfungen gewarnt, die Fachkenntnisse meiner Schüler nicht zu überschätzen. Also ging ich die Sache äußerst vorsichtig an, formulierte die Fragen möglichst einfach und beschränkte mich auf das Basiswissen.

    Die Sache ging gründlich schief. Ich hätte es ja eigentlich ahnen müssen, als bereits nach dem Austeilen der Blätter die ersten Irritationen aufkamen, und sogleich meldete sich einer der Neuntklässler und fragte unter dem bestärkenden Nicken seiner Klassenkameraden: „Was bedeutet ‚definieren’?" Damit hatte

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