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Das schmutzige Mädchen: Thriller
Das schmutzige Mädchen: Thriller
Das schmutzige Mädchen: Thriller
Ebook657 pages9 hours

Das schmutzige Mädchen: Thriller

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About this ebook

Christine Mertens ist kein Mensch von Recht und Ordnung.
Sie nimmt gerne Drogen, macht lange Finger im Supermarkt und wird des Nachts in der Stadt volltrunken von der Polizei aufgegriffen. Ihre kleinkriminellen Aktionen und nymphomanen Tendenzen bringen ihr immer wieder Ärger ein.
Ausgerechnet diese junge Frau braucht Polizeischutz, deshalb hat sie mit dem Personenschutzbeauftragten Dieter Koffner zu tun.
Als sie erkannt hat, dass ihr Leben in höchster Gefahr ist, verlässt sie sich schließlich voll und ganz auf ihn. Doch bald wird ihr klar, dass sie Koffner nicht trauen kann, dass sie niemandem mehr trauen kann.
Christine wird zum Spielball in einem Krieg, dessen Sinn sie nicht kennt. In ihrem verzweifelten Kampf um Leben und Tod begeht sie einen schrecklichen Fehler; einen Fehler, der ihr einen Lebensweg pflastert, der aus Gefangenschaft, Folter und Erniedrigung besteht.
So sehr Koffner für ihre ganze Misere verantwortlich zu sein scheint, so stellt er doch die einzige Komponente im Puzzle ihres Daseins dar, die ihr Hoffnung vermittelt.
Dieter Koffner ist der Mann, den es im Grunde gar nicht gibt, dennoch ist er so real wie sonst nichts um sie herum.
Nach zwei Jahren schwerster Gefangenschaft, sieht Christine einen Weg in die Freiheit, doch der führt sie über Koffners Tod auf direktem Wege ins Rotlichtmilieu. Aus Christine Mertens wird Sandra Meier, sie verliert ihre Identität. Sie ist aber lieber Sandra Meier als der Mensch, der hinter ihr liegt, denn Christine Mertens ist ein Mörder, während Sandra Meier nur ein schmutziges Mädchen ist.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateJun 22, 2014
ISBN9783847691358
Das schmutzige Mädchen: Thriller

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    Das schmutzige Mädchen - Anita Egger

    Der Täter

    Drei Monate später hatte ich Koffner längst vergessen. Er war ein übereifriger Bulle, der mir ein Geständnis entlocken wollte, das es gar nicht gab, das war alles. Wenn er ein nur halb so schlauer Kriminologe war, wie er von sich glaubte zu sein, dann hätte er sicher gewusst, dass ich keine weiteren Fakten kannte, als jene, die ich gesagt hatte. Durch meine anfängliche Verschwiegenheit bezüglich des Täters hatte ich mich unglaubwürdig gemacht. Vielleicht hätte ich doch von Anfang an die Wahrheit sagen sollen, in diesem Fall wäre es einfacher gewesen.

    Meistens ist es aber nicht einfacher. Typen wie ich machen eben immer etwas falsch. Bei allem was ich sage und tue ist mindestens eine Komponente dabei, die polizeilich oder auch nur gesellschaftlich verboten ist.

    Gott sei Dank aber hatte Koffner gelogen, als er davon sprach, ich würde überwacht werden. Denn sonst hätten die Bullen wieder jede Menge Gründe gehabt, mir das Leben schwer zu machen. Sie hätten gesehen, wie ich jeden Abend meinen Joint rauche, mein Diebesgut aus den Innenfächern der Jackentasche im Kühlschrank verstaute, wie ich mir am Computer Sex-Filme auf meine Festplatte lud und mit einer Geldwäsche-Firma Geschäfte tätigte. Und dann hätten sie noch Dinge gesehen, die sie überhaupt nichts angehen, meine Masturbationen, die ich bei meinen Ein-Mann-Partys exzessiv durchlebte, meine Schmerzgrenze-Erfahrungen und meine Versuche, junge Mädchen in die Wohnung zu locken, um meine homosexuellen Tendenzen zu testen.

    Ja sie hätten viel in der Hand gegen mich, sollten in meiner Wohnung irgendwo Überwachungskameras versteckt sein. Sogar die mangelnde Hygiene nur, wäre schon ein Grund, mir Ärger machen zu können.

    Ich bin die Frau mit dem Dreck am Stecken, werde ich auch immer sein. Dass die Polizei mich seit dem Überfall mit Samthandschuhen anfasste, kam mir sehr unwirklich vor. Der Einzige, der auf Angriff ging, war Koffner. Und auch der war noch harmlos. Schließlich wurde ich auch schon geschlagen von Polizisten, als sie mich des Nachts volltrunken in den Straßen der Stadt aufgriffen.

    Wenn ich es mir so recht überlege aber, kam ich im Grunde besser zurecht mit den bösen Bullen als mit den guten. Das Schlimme an den guten Bullen ist, dass sie lügen. Sie schleichen um dich herum, versuchen dich zu verstehen, zeigen Mitgefühl, welches sie nicht haben, nur um dir ein paar Worte zu entlocken, die sie dir dann zum Fallstrick machen können. Also mal ehrlich! Ist da eine gesunde Ohrfeige nicht einfach nur besser?

    Koffner war ein Bullen-Schwein von der übelsten Sorte, machte auf cool, versuchte sich so zu geben als wäre er mir ähnlich, damit ich ihm etwas anvertraue, das ich seinen Kollegen nicht sagen wollte. Sicherlich haben sie Konkurrenz-Denken untereinander. Der Kriminalist, der dem Verbrecher ein Geständnis entlockt hat, ist der beste.

    Die beiden Beamten, die mit dem Bild des Täters aus meiner Wohnung zurück ins Präsidium kamen, hatten sich wohl auch eine Beförderung verdient oder zumindest eine Prämie.

    Je länger dass ich darüber nachdachte, desto mehr hätte ich mich ohrfeigen können, dass ich dieses verdammte Bild gezeichnet habe, denn es hat mir nur Ärger eingebracht.

    Christian war anderer Ansicht. Egal wo das Bild nun war, es hatte seinen Sinn erfüllt, meinte er. Ich hatte meinem Feind ins Gesicht gesehen und ihm somit die Macht über mich genommen. Vielleicht sollte ich anfangen, Bullen zu malen. Doch vor denen hatte ich ja keine Angst, ich hasste sie nur.

    Ich ging um zehn Uhr abends von der Kneipe nach Hause, es war der 16. April 2010. Dieser Abend war lau wie im Hochsommer. Viel zu warm, ich war kühle Nächte gewohnt. Doch nun wusste ich ja, dass Winter und Kälte auch nicht schützten vor den sexuellen Belästigungen der Männer in der Nacht. Ich war oft unterwegs in der Nacht in den Kneipen. Betrunkene Männer pöbelten mich laufend an. In der Regel aber wusste ich mich zu wehren, in der Regel aber kennen die Männer ihre Grenzen. Wenn sie abblitzen, dann gehen sie.

    In der Nacht des 16. April war nichts Dergleichen vorgefallen. Ich war ganz allein auf meinem Weg nach Hause. Diese Straßen waren wie ausgestorben. Das fahle Mondlicht zeigte eine Welt, die zu schlafen schien. Es war Sonntagabend, morgen muss jeder in die Arbeit, wahrscheinlich deshalb. Wer ist schon gleich am Montag gerne unausgeschlafen? So auch ich wollte heute früh ins Bett. Ich hatte einen neuen Job in einer Gärtnerei. Auch wenn es nicht gerade mein Traum-Beruf war, so wollte ich ihn aber nicht gleich wieder loshaben. Ich wollte mich ausnahmsweise mal zusammenreißen, etwas auf die Reihe bringen, keine Lebensmittel mehr klauen müssen, sondern funktionieren wie all die anderen Leute auch. Ich wurde älter und hatte meinen Eltern bei meinem Besuch zu Weihnachten versprochen, mich zu bemühen.

    Ich liebe sie, es tat mir immer schon weh, dass ich sie nur enttäuschte, mein Leben lang.

    Vier Wochen nach diesem Weihnachts-Versprechen passierte der Überfall. Hätte ich gleich wahr gemacht, was ich versprochen hatte, dann wäre ich gar nicht erst so spät unterwegs gewesen in der Stadt, dann wäre auch der Überfall nicht passiert. Ich hatte es mir also mal wieder selbst zuzuschreiben und machte meinen Eltern nur noch mehr Kummer.

    Ich hasste mich, von Zeit zu Zeit.

    Was seltsam war am 16. April 2010: Die Wohnung war so dunkel. Ich lasse immer Licht im Gang an, den ganzen Tag, egal zu welcher Zeit, immer. So sieht es aus als wäre jemand daheim und keiner meiner Freunde kommt auf die Idee, man könnte einbrechen. Schließlich wusste jeder, der mich näher kennt, dass ich Drogen daheim aufbewahre, illegale Filme und manchmal auch das Geldwäsche-Geld, wenn es zu gefährlich war, es gleich wieder weiterzuschicken. Das Licht sollte meine Freunde und Bekannte davon abhalten, sich während meiner Abwesenheit in meiner Bude einmal umzusehen.

    Doch am 16.4. war es ausgeschaltet als ich kam. Ich machte es an, das Leuchtmittel war in Ordnung. Hatte ich es tatsächlich aus Versehen ausgemacht?

    Etwas verwirrt, aber wenig besorgt, ging ich in Richtung Küche. Als ich die Wohnung heute Abend verließ, war ich ein wenig neben der Spur, ich hatte das Licht wohl ausgemacht ohne es zu merken.

    Doch auch in der Küche kam mir etwas seltsam vor: Hier stand eine leere Bierdose herum.

    Ich nahm die Dose in die Hand. Die war aus meinem Kühlschrank, doch ich hatte sie nicht getrunken, das war sicher. Ich hatte noch kein Bier getrunken, am Sonntag gab es keinen Alkohol für mich, das hatte ich mir auferlegt. Die Dose war nicht von mir, so daneben konnte ich gar nicht sein, um mich hier zu täuschen.

    Dennoch dachte ich noch immer nicht an große Gefahr, mir kam Michael in den Sinn, er hatte einen Wohnungsschlüssel. Er war nach Hamburg gezogen, doch er hatte den Schlüssel nicht mehr gefunden. Jetzt hat er ihn wohl doch gefunden, das war mein erster Gedanke.

    Etwas verunsichert ging ich ins Schlafzimmer, um zu sehen, ob der unerwartete Besucher vielleicht im Bett lag. Nichts! Ich rief seinen Namen, ging vorsichtig ins nächste Zimmer, das Bad, machte Licht, nichts!

    Plötzlich wurde ich von hinten gepackt, mir wurde mit dem Unterarm die Luft am Hals abgedrückt und der Mund zugehalten.

    Eine unbekannte Männerstimme sprach: „Ganz ruhig, dann geschieht dir nichts!"

    Ich aber versuchte mich zu wehren, mich loszureißen, dadurch wurde der Griff um meinen Hals immer enger, ich bekam keine Luft mehr.

    „Ich muss dich töten, wenn du nicht augenblicklich still hältst!", sagte der Mann.

    Also gab ich meine Gegenwehr auf.

    „Was soll das!", rief ich aus.

    Dann drückte der Arm wieder auf meine Gurgel. „Keinen Mucks, verstanden!"

    „Okay", hauchte ich kraftlos.

    Der Kerl stand noch immer hinter mir, ich sah ihn nicht, wusste nicht wer er war.

    „Jetzt hör gut zu, wenn du weiterleben willst!", sprach er während er mich wieder atmen ließ.

    Dann drehte er mich zu sich um, stieß mich ein wenig ab von sich, hatte ein langes, spitzes Messer in der Hand, mit dem er mich bedrohte. Ich sah zuerst dieses Messer aufblitzen, dann blickte ich in sein Gesicht und erstarrte: Er war es: Der Kerl auf dem Phantom-Bild.

    Meine Knie fingen zu zittern an, ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, fürchtete um mein Leben. Ein Albtraum wurde wahr.

    „Kennst du mich? Siehst du dieses Gesicht?", fragte er.

    Ich nickte.

    „Nein, tust du nicht! Wegen dir kann ich mich nirgendwo mehr blicken lassen, überall sucht man nach mir! Ich will, dass das aufhört. Du wirst morgen zur Polizei gehen und denen verdeutlichen, dass ich dir nichts getan habe, klar!", er hielt mir die Klinge seines Messers an den Hals, die Spitze verletzte meine Haut, es lief Blut daran herab. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Das Messer war extrem scharf geschliffen, es bedrohte mein Leben.

    Ich stimmte zaghaft zu.

    „Du wirst sagen, dass der Mann auf dem Bild mit dem Überfall nichts zu tun hatte, klar!"

    „Ja", wimmerte ich, denn ich konnte nicht mehr nicken, wenn ich verhindern wollte, dass der Kerl mich weiter verletzt mit dem Messer.

    „Du hast mein ganzes Leben ruiniert durch dieses verdammte Bild. Seither bin ich auf der Flucht. Ich hasse dich dafür! Ich sollte dich umbringen dafür!"

    Ich blickte erstarrt in seine blau-grauen Augen. Er sah genauso aus wie auf dem Bild. Doch langsam legte sich meine Angst ein wenig. Er würde mich jetzt nicht töten, denn er wollte, dass ich seine Weste reinwasche. Was er sich nur davon versprach? Wie sollte die Polizei mir dies jetzt glauben? Welchen Grund hätte ich, ihnen nicht von dieser Erpressung zu erzählen?

    Plötzlich klingelte es an der Tür.

    Wir erschraken beide. Ich hatte keine Ahnung wer das sein konnte, denn ich erwartete keinen Besuch.

    „Wer ist das?", fragte der Kerl.

    „Mein Freund", log ich.

    Der Mann mit dem Messer wurde nervös. Seine Klinge hatte mich wieder verletzt. Ich schwitzte, wimmerte: „Bitte!"

    Da bemerkte er erst, dass sein Zittern mich verletzt hatte, hielt das Messer etwas weiter fern.

    „Du bedeckst deinen Hals mit einem Tuch, gehst zur Tür und wimmelst ihn ab! Los! Sofort!"

    Er warf mir das Handtuch vom Waschbecken zu. Ich fing es und drückte es auf die Wunde.

    Dann ging ich in Richtung Tür. Sehr professionell handelte der Einbrecher nicht; wie wollte er jetzt verhindern, dass ich dem Besucher ein Zeichen gebe?

    Als es das zweite Mal klingelte, nahm er mich erneut in die Mangel, drückte meine Gurgel mit seiner Hand gewaltsam zu. „Keine Tricks, sonst erledigte ich euch beide augenblicklich. Ist das klar?", flüsterte er mir ins Ohr.

    „Klar", sagte ich als er mich wieder losgelassen hatte.

    Dann wickelte er mir das Handtuch um den Hals, schubste mich zur Tür. „Keine Tricks!", sprach er wieder, stupste mich mit dem Messer an, es schmerzte, das war ein kräftiger Stich in die Seite. Der Einbrecher verschwand im Hintergrund neben der Wohnzimmertür, damit man ihn vom Eingang aus nicht sehen kann.

    Als ich die Tür öffnete, musste ich meine Überraschung verbergen: Hier stand Koffner.

    „Warum dauert denn das so lange?", fragte er selbstverständlich mit einem Lächeln.

    Ich musste meine Rolle spielen, umarmte ihn kurz zu Begrüßung, sagte: „Tut mir leid, aber du musst wieder gehen. Ich fühle mich heute nicht so gut."

    Er schien genau zu wissen worum es ging, entgegnete: „Oh je! Was fehlt dir denn?"

    Doch dann passierten viele Dinge gleichzeitig: Er zog mich zu sich her und warf mich mit sich zusammen auf den Boden. Im Hintergrund hörte man Fensterscheiben zerspringen, Poltern, einen Schrei. Ich sah nicht was geschah in der Wohnung, denn ich lag mit dem Gesicht zu Boden, zur Tür hinaus. Seitlich über mir lag Koffner, einen Arm unter mir, einen darüber. Ich war weich gelandet, hatte nichts gespürt von dem Fall, der so schnell ging, dass ich mich nicht dagegen wehren hätte können.

    „Okay, wir haben ihn sicher!", rief uns ein Mann aus dem Wohnzimmer zu.

    „Alles in Ordnung, bist du verletzt?", fragte mich Koffner, doch ich antwortete nicht.

    „Ihr habt mich also doch überwacht.", entgegnete ich.

    „Nicht so wie wir hätten sollen, nein. Die Nachbarn haben uns alarmiert."

    Als er mir aufhalf, sah er das Blut am Boden. Das Handtuch um meinem Hals hatte sich gelöst.

    „Du bist ja doch verletzt! Schnittwunden! - Wir haben eine Verletze hier!", rief er in Richtung Wohnzimmer, wobei ein Mann in Schutzanzug herbeieilte.

    Während der Mann sich die Schnitte an meinem Hals und Rücken ansah, wurde der Täter abgeführt. Der Blick, den der Besiegte mir zuwarf, war seltsam, so als wollte er mir noch etwas sagen.

    Der Sanitäter desinfizierte meine Wunden, es brannte stark: „Ist ja schon gut jetzt, so schlimm ist es nicht!", schrie ich ihn an.

    „Wir bringen dich gleich in ein Krankenhaus, dann wird es besser gehen", meinte Koffner und legte fürsorglich den Arm um mich. Ich wehrte das ab. Dabei behinderte ich die Arbeit des Sanitäters.

    „Sie müssten bitte stillhalten.", ermahnte mich der Mann.

    „Nein!, rief ich aus, befreite mich von den Männern, sprang auf die Seite: „Lasst mich gefälligst in Ruhe jetzt! Müsst ihr mich alle immer anfassen?!, rief ich aus. Irgendwie war ich völlig am Ende.

    „Ruf den Wagen!", sagte Koffner zu seinem Kollegen.

    „Wir ziehen jetzt ab, es ist überstanden. Jetzt kann dir nichts mehr passieren, die Gefahr ist vorüber. Es gibt jetzt keine Bedrohung mehr für dich."

    Sogleich ging ein Mann nach dem anderen aus dem Zimmer heraus.

    „Wie viele seid ihr denn noch? Und das alles wegen mir?", fragte ich.

    „Wir sind eine Sondereinheit, sechs Mann. Zwei vor der Tür, zwei durchs Fenster, zwei vor den Fenstern. Es hat alles hervorragend geklappt. Vor allem auch weil du die Nerven behalten hast.", sagte er und zwinkerte mir zu.

    „Ich musste ja, der Kerl zwang mich dazu."

    „Das habe ich gehört. Wir hatten die Möglichkeit, euch zu hören. Der richtige Zeitpunkt ist entscheidend. Es ging sehr einfach. Der Kerl scheint zwar ein recht skrupelloser Mensch zu sein, doch er ist ein miserabler Einbrecher. Uns hatten gleich vier verschiedene Personen aus diesem Wohnhaus angerufen. Sein Einbruch erregte überall Aufsehen."

    „Ich hätte nicht gedacht, dass meine Nachbarn sich überhaupt um mich scheren", sagte ich nachdenklich.

    Dann kamen zwei Sanitäter durch die offene Wohnungstür hinein. Einige Türen im Haus gingen auf, die neugierigen Nachbarn schoben die Köpfe in den Gang. Meine Sanitäter kamen mit einer Bare, Koffner schloss die Tür hinter ihnen. Seine Kollegen waren alle weg. Er selbst war noch so lange bei mir geblieben bis der Krankenwagen hier war.

    „Auch wenn du dir 's nicht vorstellen kannst, die meisten Leute holen die Polizei, wenn sie eine Straftat beobachten. Sie fühlen sich in der Regel sogar ziemlich gut dabei. Und es war auch gut, oder? Stell' dir vor, wir wären nicht gekommen!"

    Die Sanitäter sahen sich meine Wunden am Hals an. Eine war schon verbunden, die andere noch nicht. Dann wollten sie, dass ich mich auf die Bare lege.

    „Nein!, sagte ich, „wieso denn?

    „Wir fahren Sie ins Krankenhaus.", bekam ich zur Antwort.

    „Aber mir fehlt doch gar nichts!"

    Der andere Sanitäter zog eine Spritze auf.

    „Gehen Sie jetzt bitte alle, ich möchte meine Ruhe haben!", rief ich aus und lief ins Wohnzimmer.

    Doch dann blieb ich erschrocken stehen: Hier war alles voller Glasscherben, ein Sessel war umgeworfen, der Couchtisch dadurch zerstört. Auf dem Boden waren Blut und Splitter zu sehen.

    Koffner packte meine Schultern von hinten: „Darum kümmern wir uns. Wir räumen das wieder auf und die Fenster werden ersetzt. Hier kannst du jetzt nicht bleiben. Lass dich mit ins Krankenhaus nehmen, die Sanitäter wollen dir nichts Schlechtes. Wenn du zurückkommst, ist die Wohnung wieder in Ordnung."

    Ich drehte ab, ging langsam rückwärts nach draußen, ließ mich an der Tür zu Boden sinken. Ich fühlte mich tatsächlich völlig außer Stande zu denken, zu handeln, zu fühlen. In mir war eine Leere wie schon lange nicht mehr. Ich wäre am liebsten einfach nur eingeschlafen jetzt.

    „Ich gehe jetzt, sagte Koffner, „alles Gute.

    Dann verschwand er aus der Tür. Ich blickte ihm nach. Klar ging er, seine Arbeit war getan.

    Jetzt durften die Sanitäter an mich heran. Ich legte mich sogar auf die Bare.

    Als ich mein Wohnzimmer nach dieser Verwüstung sah, da wollte ich weg von dort. Es war nicht nur das Schlachtfeld, welches mich in die Flucht trieb, ich fühlte mich so unfähig und schwach. Als ich in diese Situation geraten war, vor nicht einmal einer Stunde, da war es noch gar nicht so schlimm, meinem Widersacher gegenüber zu stehen. Als der erste Schrecken überwunden war, befand ich mich in dieser Situation wie in etwas gehüllt, das von selbst funktioniert. Ich wusste, der Mann wollte mich nicht töten, deshalb war er nicht gekommen. Also würde er auch wieder gehen, irgendwann. Es war also nur eine Frage der Zeit bis die Situation vorüber war.

    Koffner hatte Unrecht, wenn er der Ansicht war, er wäre meine Rettung gewesen. Meine Rettung vielleicht vor weiteren Besuchen solcher Art; meine Rettung vielleicht vor Qual und Schmerz, aber nicht die Rettung meines Lebens.

    Diese Situation war nicht halb so lebensbedrohlich, als jene bei der ich in den Fluss sprang.

    Aber jetzt, da alles vorüber war, ging es mir plötzlich wieder schlecht. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Das Atmen allein schon strengte mich an.

    „Bitte geben Sie mir etwas zur Beruhigung", sagte ich zu dem Sanitäter, der mir in die Augen leuchtete. Ich hasse das, deshalb zog ich ihn grob am Ärmel.

    „Wie fühlen Sie sich?", fragte er daraufhin.

    „Wie würden Sie sich fühlen mit einer aufgeschlitzten Kehle?", entgegnete ich.

    „Die Schnittwunden am Hals sind nicht so schlimm, keine Sorge., sagte er, „der Stich am Rücken ist um sehr viel tiefer, das muss genäht werden. Wir schaffen es kaum die Blutung zu stoppen. Deshalb müssen Sie sich bitte auf den Bauch legen, geht das?

    „Am Rücken?", fragte ich. Ja, ich fühlte es. Doch als es passierte, hatte ich es kaum registriert. Mein Widersacher stupste mich mit dem Messer an, als ich die Tür aufmachen ging, um meinen vermeintlichen Freund abzuwimmeln. Der Täter wollte mit diesem Stich klarmachen, wozu er fähig ist, wenn ich nicht tue was er sagt.

    „Haben Sie Schmerzen?", fragte der Sanitäter.

    „Ja, habe ich", erklärte ich.

    Im Grunde wollte ich nur, dass er mir etwas spritzt, egal was, Hauptsache eine Dröhnung.

    Ich sah zu, wie er die Spritze in die Vene stach, ich liebe es. Kurz darauf fühlt man sofort die Wirkung. Es war wohl ein Opiat, zumindest ein Teil davon. Psychopharmaka waren es jedenfalls nicht. Der Sanitäter hatte mich durchschaut. Er wollte mir keinen Kick verpassen, er wollte sich nur um meine Schmerzen kümmern.

    Die gingen auch weg dadurch, ich war froh darüber. Die Wunde am Rücken brannte wie Feuer. Plötzlich aber fing ich zu weinen an. Keine Ahnung weshalb. Es war seltsam, irgendwie wuchs mir alles über den Kopf. Wie sollte das nur weitergehen? Wie lange soll ich noch zu diesen Behandlungen beim Psychologen gehen? Meinen neuen Job bin ich nun auch wieder los, nachdem ich morgen wohl kaum in der Arbeit erscheinen kann. Ich war ein Betäubungsmittel-süchtiger Nichtsnutz! Nicht fähig zu leben, nicht fähig zu sterben. Ich hasste mich.

    Jetzt bekam ich noch eine Spritze und schlief sofort ein.

    Die Zeit im Krankenhaus wurde mir lang. Ich verließ das Haus drei Tage später auf eigene Verantwortung. Genaugenommen sollte ich in eine psychiatrische Klinik überführt werden. Doch ich wollte nicht mehr, wollte mich befreien von alle dem. Ich hatte genug von Tranquilizern und Glücklich-Machern. Sollte es da nicht auch noch irgendetwas in mir selbst geben, das mich am Leben hält? Gibt es denn nicht auch in meiner Physiologie irgendwo, zwar unterdrückt und versteckt, aber dennoch zwangsläufig vorhanden, diverse Drüsen, welche im Stande sind, selbst Glückshormone zu produzieren, ohne jegliche Hilfe von außen? Ohne chemische Hilfe, ohne Drogen, aber eine Art Glück, die mit dem Zusammentreffen auf andere Lebewesen zu tun hat oder wenigstens mit dem Umfeld, der Natur, Weihnachten, Liebe, was auch immer? Gibt es denn in dieser Welt nicht auch für mich etwas, das mir das Gefühl gibt, in diese Welt zu gehören? Schwierige Frage. Bisher haben sich die Dinge, welche den Menschen glücklich machen, jedenfalls stets schnellstens entfernt, wenn sie mich kommen sahen.

    Vielleicht aber hat nicht das Drumherum sich von mir entfernt, sondern ich mich von ihm. Gerade weil ich schon etwas anderes hatte, was ich in der Regel verwende, um glücklich zu werden: Alkohol, Drogen, Filme. Das Künstliche um mich herum war immer schon zu groß. Es ist wie ein böses Wesen, zu dem ich mich ausstrecke, es mir die Hand entgegenstreckt und ich sie nehme. Dann sind wir wieder zusammen selig, der Untergang und ich.

    Es war Müll, den ich mir immer und immer wieder einverleibte, um mich zu trennen vom Leben überhaupt. Jetzt endlich nach all diesen gewaltvollen Ereignissen in den letzten Monaten wurde mir endlich klar, dass ich mein Leben nicht lebte. Nein, ich schummelte mich daran vorbei. Was aber hatte ich zu verlieren, wenn ich mich, so wie all die anderen Menschen, dem Leben stelle? Nichts! Wäre ich gestorben nach dem Sprung ins Eiswasser, was ja nicht unwahrscheinlich gewesen wäre, dann hätte ich überhaupt nicht gelebt vorher. Dass dem wieder so sein könnte, das musste verhindert werden.

    Es war nun Ende April, das Wetter war traumhaft warm. Es wehte ein sanfter Wind, überall grünte es, ich ging durch den Wald. Man hörte die Vögel wie in einem Konzert von allen Ecken zwitschern. Der Bach plätscherte, die Geräusche des Wassers sind wie ein Glockenspiel. Hier roch es nach Holz, Wasser und Blumen. So nüchtern wie ich war, kam es mir vor, als hörte ich diese Dinge zum allerersten Mal. Vor mir, neben mir, über mir sprangen Eichhörnchen hin und her. Sie waren Menschen gewohnt, wollten mir Futter abbetteln. Doch ich hatte nichts bei mir, darauf war ich nicht vorbereitet. Es freute mich dennoch, dass sie hier waren. Abgesehen davon, dass sie extrem hübsch waren, fühlte ich mich nicht allein. Sie begleiteten mich auf meinem Weg.

    Ich ging weglos in den Wald hinein. Erst waren die Bäume groß, Buchen, Birken, Fichten. Später kam ein Stück mit kleinen Nadelbäumen, ein Kranz mit Brennnesseln und Himbeeren, danach wurde es dunkel. Hier war es nicht einfach zu gehen. Das Gehölz von dichten Nadelbäumen zwang mich zu ducken, mein Gesicht zu schützen.

    Etwas später aber kam ich wieder ins Freie, ich stand auf einer Anhöhe und blickte auf grüne Felder hinab. Hier war die Welt so weit, so frei, so freundlich wie niemals zuvor. Ich erkannte mehr denn je, dass ich dies alles verpasst hatte im Leben, dass ich diese Fülle, die es doch immer schon gab, einfach nicht gesehen hatte. Wie kann man das Glück übersehen?

    Mit diesem Reichtum an Leben konnte ich umdenken. Welch ein Segen war es doch, dass alles vorbei war: Keine Bedrohung mehr durch einen Mann, der in meiner Wohnung auf mich warten könnte, um Rache zu nehmen. Auch aber keine Bedrohung mehr durch mich selbst, durch meinen Drang der Welt zu entfliehen und dadurch mich selbst zu zerstören.

    Gerade wieder zu mir gefunden aber, schien mir mein neues Leben nicht vergönnt zu sein. Denn eines Abends klingelte es sehr unverhofft an meiner Haustür. Kaum eine Woche war es her, dass ich das Krankenhaus verlassen hatte, schon holten mich meine Feinde wieder ein.

    Als ich die Klingel hörte, dachte ich an einen Nachbarn, der neugierig war, wie die Geschichte mit meinem Einbrecher ausgegangen war. Doch nichts Dergleichen! Der Besuch war nicht halb so harmlos wie gedacht: Vor der Tür stand niemand anderer als Koffner.

    Groß und wuchtig stand er vor mir in seiner schwarzen Lederjacke mit dem Polizeiaufnäher. Dass er dieses Mal nicht in Zivil erschien, verwunderte mich. Wenn er in offizieller Sache hier war, dann ging es nun wohl um die Gerichtsverhandlung. Er wollte, dass ich meine Aussage mache. Gleich als ich ihn sah, beschloss ich, bei allem zuzustimmen, dennoch nicht bei Gericht zu erscheinen. Aus psychischen Gründen, das würde schon durchgehen. Aber wollte ich denn gerade dies nicht mehr tun?

    „Wir müssen reden", sagte Koffner streng.

    „Aber nicht jetzt! Laden Sie mich vor und ich mache meine Aussage.", erklärte ich.

    „Nein. Wir müssen jetzt reden.", bestand er.

    „Dazu bin ich nicht verpflichtet", erklärte ich.

    Doch dann ging im Gang eine Wohnungstür auf, die Nachbarin grüßte mich. Sie tat so, als müsste sie den Abstreifer säubern, den Schmutz zusammenkehren, auch einen Lappen hatte sie schon in der Hand. Sie wollte wissen, was sich bei mir schon wieder für seltsame Dinge abspielen. Also ließ ich Koffner ein. Irgendwie wusste ich, dass er nicht aufgeben würde.

    „Aber nur kurz", sagte ich, er entgegnete nichts dazu.

    „Sagen Sie mir was Sie von mir wollen und dann gehen Sie wieder!", befahl ich ihm.

    „Alles wieder in Ordnung mit der Wohnung?", fragte er und ging ins Wohnzimmer.

    Er ging auf die Fenster zu, begutachtete die Arbeit des Glasers.

    „Danke, dass Sie das für mich in Ordnung gebracht haben. Ich war sehr froh darüber als ich aus dem Krankenhaus kam."

    „Sie waren so schnell wieder zurück, dass es der Glaser kaum rechtzeitig geschafft hat.", sagte er.

    „Sie? Heute gelingt es Ihnen sogar, die Form zu wahren."

    „Ja, sogar ein Scheiß-Bulle kann das", sagte er provokant.

    „Was wollen Sie?", fragte ich.

    „Darf ich mich setzen?", entgegnete er.

    „Wenn es sein muss", meinte ich.

    „Ich muss höflich sein, Sie aber nicht", sprach er und sah mich beleidigt an.

    „Weshalb sagen Sie verdammt nochmal nicht einfach was Sie von mir wollen? Soll ich aussagen vor Gericht? Von mir aus, mache ich! War 's das jetzt?", fragte ich.

    „Wenn es eine Gerichtsverhandlung gibt, dann eine, die um etwas ganz anderes geht, als Sie denken, Fräulein.", erklärte er sehr laut.

    Langsam fing ich an zu ahnen, dass sein Besuch Schwierigkeiten mit sich brachte, von denen ich nichts geahnt hatte.

    Er hatte sich auf meiner Couch niedergelassen und zog seine Jacke aus. Jetzt sah man seine Waffe. Plötzlich hatte ich Respekt vor ihm. Ich hatte immer Angst gehabt vor Polizisten, doch nicht vor ihm. Er hatte die Sache aus einer anderen Warte gesehen, der große Beschützer, daran aber könnte sich etwas geändert haben. Heute war er anders, ganz anders auf eine Weise; er ging auf Angriff.

    Etwas eingeschüchtert sagte ich: „Tut mir leid, ich hatte nicht mit Besuch gerechnet heute. Hätten Sie gerne etwas zu trinken?"

    „Setzen Sie sich", sagte er.

    Ich gehorchte, setzte mich gegenüber in den Sessel. Dann lehnte er sich vor zu mir, ich wich ein wenig zurück.

    „Das Bild von dem Verhafteten haben Sie selbst gemalt. Es ist sehr gut gelungen. Gerade so, als ob Sie professionell zeichnen könnten. Sicherlich haben Sie noch mehr Zeichnungen, die Sie selbst angefertigt haben, die würde ich gerne sehen.", erklärte er.

    „Nein!, sagte ich überrascht, „ich zeichne nicht. Was soll das?

    „Sie werden mir doch nicht erzählen, dass dies Ihre einzige Zeichnung ist!", meinte er.

    Ich wurde nervös. Was sollte das? Langsam begriff ich, dass ich verhört wurde. Nicht aber als Opfer, sondern als was?

    „Doch. Ich zeichne nicht. Das ist das einzige Bild dieser Art. Ich habe es angefertigt, weil mir mein Psychologe dazu geraten hat. Das wissen Sie von der Polizei doch alle!", sprach ich nervös.

    „Und warum wollte Ihr Psychologe, dass Sie das Bild malen?"

    „Seit dem ersten Übergriff auf mich habe ich immer das Gesicht meines Angreifers vor mir gesehen, es verfolgte mich Tag und Nacht. Immer sah ich sein Gesicht. Mein Psychologe war der Ansicht, es würde mir helfen, meinem Angreifer ins Gesicht zu sehen, er würde dadurch seinen Schrecken verlieren. Doch es war anders: Ich war froh als das Bild weg war, mich nicht immer anstarrte. Das machte mir nur noch mehr Angst, es gäbe eine weitere Begegnung mit meinem Widersacher.", sprach ich.

    „Und die gab es tatsächlich?", fragte er.

    „Sie waren dabei!", entgegnete ich.

    „Nun ja! Ich glaube Ihnen, dass Sie der Ansicht sind, das Bild zeigt den Mann, der Ihnen dies alles angetan hat. Ich denke nur, es könnte sein, dass es zwei Männer in Ihrem Leben gibt, die Ihnen Böses angetan haben.", sagte er.

    „Ich verstehe nicht. Was ist denn los? Wieso zwei?", fragte ich.

    „Das sage ich Ihnen: Der Mann, der Sie hier in Ihrer Wohnung bedroht hat, den wir verhaftet haben, dessen Gesicht Sie so genau zeichnen konnten, ist nicht derselbe Mann, der Sie damals im Winter überfallen hat. Er kann es nicht sein, denn er war definitiv nicht in Deutschland zu diesem Zeitpunkt."

    „Was?! Aber er ist es doch! Woher sollte ich sonst wissen wie er aussieht?", fragte ich völlig überrascht.

    „Christine! Ich weiß, dass ich nicht der Erste bin, der Sie dies fragt, aber bitte, in Ihrem eigenen Interesse, Sie müssen mir jetzt die Wahrheit sagen: Wann haben Sie den Mann auf dem Bild zum ersten Mal gesehen? Denken Sie nach! Es ist gut möglich, dass Ihnen die eigenen Sinne einen Streich spielen, überlegen Sie genau! Weshalb konnten Sie dieses Gesicht so haargenau zeichnen? Kannten Sie den Mann aus irgendeiner anderen Erinnerung in Ihrem Leben? Als Kind vielleicht?", fragte er eindringlich.

    „Nein", sagte ich. Dann dachte ich nach, versuchte zu verstehen, wonach er eigentlich fragte. Er war davon überzeugt, dass der Mann auf dem Bild bei dem Angriff im Winter nicht dabei war; also meinte er, dass ich es mir einbildete, das Gesicht eines Mannes gezeichnet hatte, den ich von früher her kannte. Doch das konnte nicht sein. Ich wusste ganz genau, dass er es war und kein anderer. Ich hatte das Bild nur aus diesem Grund, weil er es war, überhaupt erst zeichnen können. Der Kerl hatte die Polizei getäuscht, er hatte ein gut getäuschtes Alibi, falsche Zeugen bestochen, eine andere Identität angenommen, was auch immer. Koffner wurde getäuscht, die Polizei wurde getäuscht, doch sie glaubten dem Täter, nicht mir.

    „Was nein?", fühlte mir Koffner auf den Zahn.

    „Ich weiß todsicher, dass der Mann auf dem Bild der Kerl ist, der mich im Winter überfallen hat. Ich hätte das Bild sonst gar nicht zeichnen können. Dieses Gesicht habe ich noch nie zuvor gesehen, nicht vor jener Nacht. Warum sollte er denn in meine Wohnung eingebrochen sein? Haben Sie dafür eine Erklärung, wenn Sie mir schon nicht glauben?"

    Koffner sah mich streng an. Er wusste nicht, ob er mir glauben sollte. Er war Polizist und wusste genau was für ein Typ Mensch ich bin. Meine kriminellen Elemente machen mich der Polizei gegenüber jedenfalls mehr zum Täter als zum Opfer. Doch der Einbrecher mit dem Gesicht des Mannes auf dem Bild war ebenfalls ein Krimineller. Koffner, als ein nicht unerfahrener Polizist, sah uns beide als Täter. Fragt sich nur, wer mehr Dreck am Stecken hat, wer schlimmer lügt, der Einbrecher oder ich.

    „Dafür hat er uns eine Erklärung abgegeben: Das Bild. Er war nicht der Mann, der dich im Winter überfallen hat, doch mit den Plakaten seines eigenen Gesichts als Steckbrief einer Groß-Fahndung konnte er sein Leben nicht weiterführen. Er wollte dich dazu bringen, dass du die Wahrheit sagst, eine ihn entlastende Wahrheit. Zum anderen aber hatte er auch gesagt, er wusste nicht, woher du sein Bild hast, er wäre dir niemals begegnet.

    Was habt ihr beide zu verbergen, du und er, Christine? Hat er dich als Kind missbraucht? Vielleicht weißt du das auch gar nicht mehr, deine Seele hat es verdrängt, doch dein Kopf hat sich das Bild gemerkt."

    „Nein! Ganz falsch! Ich habe ihn noch nie gesehen."

    „Er war es aber nicht, im Winter war er nachweislich in USA"

    „Wieso glauben Sie ihm das nur? Er kann doch zwischenzeitlich einfach einen Trip in die Heimat gemacht haben von dem niemand etwas weiß. Er lügt! Wieso sollte er es zugeben, wenn er doch so ein gutes Alibi hat, das ihm jedermann abnimmt?"

    „Carsten Fischer, so heißt der Mann, saß in dieser Nacht, sowie zwei Wochen zuvor und zwei Wochen danach, wegen Autodiebstahls in einem Vorort von New York im Gefängnis. Er konnte nicht weg von dort, wir haben das mehrmals überprüft."

    „Carsten Fischer", wiederholte ich nachdenklich.

    „Sagt dir der Name etwas?", fragte Koffner.

    „Nein", entgegnete ich, doch das war gelogen.

    Tatsächlich sagte mir der Name etwas, doch ich wusste absolut nicht was. Jedenfalls hatte es nichts mit den jüngsten Ereignissen zu tun.

    „Warum sind Sie hier, Herr Koffner?", wollte ich nun wissen.

    „Dieter. Du darfst Dieter sagen."

    „Dieter Koffner", sprach ich nachdenklich.

    „Und der Name? Sagt dir mein Name etwas?", fragte er mit einem sehr seltsamen Blick.

    „Nein", entgegnete ich. Auch das war gelogen. Der Name klang merkwürdig vertraut, so als kannte ich ihn. Aber auch diesen Namen konnte ich nicht einordnen.

    „Ich bin hier, weil meine Kollegen von der Kripo der Ansicht sind, du hättest dir das Bild von dem Mann nur ausgedacht, weil du ihn durch ein Ereignis kanntest, von dem du der Polizei partout nicht berichten willst, so etwas wie einen Drogendeal oder eine andere Straftat, in die du verwickelt warst. Wenn du mit Carsten Fischer gemeinsam etwas angestellt hast, dann hättest du Grund gehabt, ihn hinter Gitter wandern zu lassen, um dich selbst vor seinem Verrat zu schützen."

    „Ist klar, ihr wollt unbedingt, dass ich Schuld habe und sonst niemand.", meinte ich beinahe weinerlich.

    „Du bist von drei Männern gequält und geschlagen worden, sie wollten dich bei minus 15 Grad auf offener Straße vergewaltigen, bist gerade noch dem Tod entronnen. Dann wurdest du in deiner Wohnung von einem Mann mit dem Messer bedroht und verletzt. Dafür, dass du schuld an etwas sein solltest, ist dir selbst schon zu viel passiert.

    Die Kripo ist auf der Suche nach der Wahrheit und würde sehr gerne mit dir zusammenarbeiten. Wenn wir den falschen Mann haben, dann läuft der andere noch frei herum und stellt eine Gefahr für andere Frauen dar."

    „Die Kollegen von der Kripo. Und Sie sind nicht von der Kripo?"

    „Nein, sagte ich dir schon. Wenn ich du sage, dann darfst du das auch. Also: Ich bin von einem Sonderkommando, Personenschutz."

    „Personenschutz? Aber weshalb verhörst du mich dann? Warum ermittelst du in der Sache?", fragte ich.

    „Das gehört mit zum Job. Ich muss wissen in welcher Situation sich die zu schützende Person befindet, die Hintergründe und das Umfeld kennen."

    Ich blickte in seine Augen, versuchte schlau aus ihm zu werden. Er selbst glaubte wohl gar nicht, dass ich den Mann auf dem Bild schon früher kannte. Führte er das Gespräch nur, um mein Vertrauen zu gewinnen? Wollte er mich gar nur kennenlernen, weil er auf mich aufpassen muss?

    „Personenschutz bei mir? Du beschützt mich immer noch? Wovor denn?", wollte ich wissen.

    „Einiges ist mir noch unklar bei der ganzen Sache, aber was ich mittlerweile sicher weiß, ist dass der Kerl, der dich überfallen hat damals im Winter, noch eine Rechnung offen hat mit dir. Ich weiß nicht, ob du die Wahrheit sagst, der Kerl hat einen Doppelgänger, maskiert vielleicht, oder aber auch er sieht in Wirklichkeit ganz anders aus, egal! Ich will dir ja nicht unnötig Angst machen, aber ich kenne solche Situationen, du bist nicht außer Gefahr, absolut nicht.

    Wenn dir dein Leben lieb ist, die Unversehrtheit deines Körpers, dann solltest du mir spätestens jetzt alles sagen was du weißt, denn nur so bin ich schneller als der Täter. Anders haben wir wenige Chancen dich rechtzeitig zu bewahren. Ich bin mir nämlich sicher, der Kerl weiß sehr genau, dass du polizeilich geschützt wirst. Wenn er an dich ran will, wird er sich eine Situation aussuchen, in der er freies Feld hat."

    Ich dachte lange und besorgt über diese Worte nach, bis ich zu dem Schluss kam: Die Polizei stellt mir eine Falle. Sie wollen mir Angst machen, damit ich auspacke. Ich soll ihnen sagen, was Carsten Fischer wirklich mit mir gemeinsam an Verbrechen verübt hat, ein Geständnis ablegen, das ist ihr Ziel. Alles andere ist einfach zu abstrakt. Weshalb sollte, selbst wenn es stimmt was Koffner sagt, der Täter eine Rechnung mit mir offen haben? Außerdem ist es doch der Kerl, der jetzt hinter Gittern sitzt. Er hat die Polizei getäuscht. USA ist weit weg.

    Diese verdammte Polizei, ich hasste sie.

    Lächerlich, dieser Koffner mit seinen Tricks! Sonderkommando! Personenschutz! Das gibt es doch nur im Fernsehen. Er hat mir einen Bären aufgebunden, will sich irgendwelche Prämien verdienen, wenn er mich zum Reden bringt. Ich hasste ihn und seine Tricks!

    Vielleicht aber wollte Koffner doch etwas anderes von mir. Er wollte wissen, ob ich ihn kannte, dem Mann auf dem Bild. Es war ihm wichtig, ob ich ihm vor dem Überfall schon einmal begegnet war. Und er wollte noch etwas: Mir Angst machen. Er wollte, dass ich in Alarmbereitschaft bleibe. Warum ist das so wichtig für ihn, wenn er mich sowieso schützt? Was könnte ich schon ändern, wie könnte ich mich selbst verhalten, dass ich nicht mehr angegriffen werde?

    Ich verstand es nicht. Sein Besuch jetzt bei mir, was war so wichtig? Was wollte er von mir erfahren? Irgendwie hatte ich den Eindruck, er wollte mich eher informieren, als verhören.

    So sehr wie ich an einen Betrug durch die Polizei glaubte, so glaubte ich doch in selbem Maße daran, mein Verstand spielte mir einen Streich. Nehmen wir mal an, der Mann, der nun hinter Gittern saß, wäre wirklich nicht der Mann auf dem Bild: Nun ja, etwas war seltsam an der Begegnung mit ihm. Es gab so ein Gefühl, dass er mir nicht ernsthaft etwas Schlimmes antun würde. Dieses Gefühl gab es bei der ersten Begegnung im Winter nicht. Da fühlte ich, dass er vorhatte mich zu töten. Es hätte ihn in jeder Hinsicht befriedigt mich zu töten. Nicht nur deshalb, weil ich ihn dann nicht als Täter identifizieren hätte können, nein, nicht nur deshalb. Er hätte es gewollt, weil er es eben wollte. Der Mann in meiner Wohnung aber wollte mich nicht töten. Er hatte selbst Angst, ich fühlte, dass er sich in die Enge getrieben fühlte durch die Situation. Seine Hände waren schwitzig, seine Stimme zitterte. Er war nicht halb so selbstsicher wie der Mann im Winter. Und dann war da noch dieser Blick von ihm als er abgeführt wurde. Es war so, als bereute er es, nicht gesprochen zu haben mit mir. Er wusste, er hätte es anders angehen müssen mit mir.

    Gefühle! Es könnte auch sein, dass ich mir alles nur einbildete, doch dies ließe ebenfalls Fragen über Fragen offen.

    Am selben Abend noch googelte ich Carsten Fischer. Ich bekam heraus, dass er in München-Stadelheim in Untersuchungshaft saß. Also rief ich dort an und wollte einen Besuchstermin mit Fischer vereinbaren. Zunächst durchlief ich die ganz normale Bürokratie mit meiner Anfrage. Doch als die Dame am Telefon meinen Namen hörte, stockte sie erst, dann stellte sie mich zu einem Herrn von der Gefängnisleitung durch.

    Der vermutete erst, ich wolle mir einen Scherz erlauben oder wäre von der Presse. Er fragte mich nach dem Grund meines Besuchs. „Ich möchte Carsten Fischer etwas fragen", erklärte ich.

    „Sie sind es wirklich, oder?", stellte er fest.

    „Natürlich. Ist es jetzt möglich oder nicht?", fragte ich.

    „Kommen Sie vorbei, wir werden sehen. Der Gefangene kann Ihren Besuch auch ablehnen.", erklärte der Mann und schlug mir einen Termin vor.

    Als ich ankam, wurde ich ins Büro von Herrn Direktor Neumeier von der Gefängnisleitung gebracht. Es war der Mann am Telefon.

    „Der Gefangene hat Ihr Leben bedroht, weshalb wollen Sie ihn sprechen, kommen allein hierher?", fragte mich der Direktor.

    „Die Polizei ist der Ansicht, er wäre in Wahrheit nicht der Täter. Sie verdächtigen mich, Carsten Fischer schon länger zu kennen. Doch ich habe ihn nie zuvor gesehen. Ich verstehe das alles nicht. Ich hätte gerne gewusst, ob er es war oder nicht, der mich im Winter überfallen hat.", erklärte ich.

    „Möchten Sie denn die Recherchen nicht lieber der Polizei überlassen? Ein Gespräch mit diesem Mann versetzt Sie doch nur unnötig in Unruhe? Was soll das helfen?", entgegnete der Mann.

    „Sie haben mich kommen lassen, mir einen Termin gegeben, klappt es nun oder nicht?", fragte ich ungeduldig.

    „Ich bin mir nicht sicher, ob ich das zulassen soll, sagte er und musterte meine Reaktion, „haben Sie jemanden von der Polizei über Ihr Vorhaben informiert?

    „Nein. Muss ich das denn? Ich will nur einen Mann im Gefängnis besuchen, ist das so schwer?", fragte ich.

    „Also gut. Aber ich werde die für den Fall zuständige Kripo informieren müssen und Sie dürfen davon ausgehen, dass wir Ihr Gespräch mit dem Gefangenen bewachen und abhören werden.", erklärte Neumeier.

    „Wenn 's sein muss!", meinte ich unwillig.

    Nun lächelte der Mann ein wenig.

    „Was ist lustig?", fragte ich.

    „Sie sind es. Sagen wir mal so: Ich hätte mir bei Ihnen eine ganz andere Person vorgestellt."

    „Was für eine?", wollte ich wissen.

    „Das ist nicht wichtig. Was aber wichtig für Sie ist, wenn Sie mit dem Gefangenen sprechen werden, wird Ihnen gleich noch gesagt werden. Wir haben strenge Sicherheitsvorschriften hier. Ach übrigens: Der Gefangene hat zugestimmt mit Ihnen zu reden.", erklärte er sachlich und ging zur Tür.

    „Sie spricht mit Carsten Fischer, soll aber den Achter genauestens befolgen müssen, Sie kümmern sich persönlich darum, Karl?", fragte er einen Mann in Uniform.

    „Wird gemacht Herr Direktor", erklärte der Mann mit einer angedeuteten Verbeugung.

    Direktor Neumeier befahl mir, ihm zu folgen. Dann durchlief ich mehrere Sicherheits-Checks: Frauen tasteten mich ab, durchleuchteten alles was ich bei mir hatte, ich musste einige Formulare unterschreiben. Das Ganze dauerte eine knappe Stunde. Dann brachte mich der Schließer Karl Zimmermann nach weiteren drei Absperrungen in ein leeres Zimmer, stellte sich mit zwei Wachen hinter mich und funkte jemanden an.

    Mittlerweile war ich so tief in den Gefängnistrakt eingedrungen, hatte so viele Sperren und Sicherheitszonen durchlaufen, dass ich ernsthaft fürchtete, hier nicht mehr heraus zu kommen. Gut, dass immer Wachen bei mir waren. Die Beamten vermittelten in dieser fremden, bedrohlichen Umgebung, doch tatsächlich das Gefühl von Sicherheit. Immerhin stellten Sie meinen Rückweg dar.

    Nach dieser langen Wartezeit im Gefängnistrakt konnte ich es gar nicht mehr erwarten, den Mann, weswegen ich gekommen war, endlich zu Gesicht zu bekommen. Ich wurde ungeduldig, auch wenn ich nach wie vor Angst vor ihm hatte.

    Angst vor ihm? Lächerlich! Mit Handschellen gefesselt, einer blinkenden Klammer am Fuß, einer ganzen Armee von Wachpersonal wurde er mir vorgeführt. Wie hätte er mir etwas antun können? Als ich ihn sah, schämte ich mich für meine Freiheit ihm gegenüber.

    Seine Augen erschreckten mich ein wenig. Er war wütend, extrem geladen. Dennoch versuchte er sich zusammenzureißen. Sicherlich sah auch er in dem Gespräch mit mir eine Möglichkeit. Was auch immer sich daraus ergeben würde, er wusste nicht weshalb ich gekommen war. Zumindest dachte ich über ihn nach, anstelle mich nur als das Opfer zu sehen.

    Er wurde von seinen Wachleuten auf den Stuhl mir gegenüber, der Tisch stand zwischen uns, aufgefordert sich zu setzen. Er tat es mit einem Seufzer und hob mir mit einer Geste des Vorwurfs seine gefesselten Hände entgegen. Die Wachen rissen seine Arme grob zurück.

    Er sagte nichts, starrte mich nur an, ich starrte zurück.

    „Gefällt es dir was du siehst?", fragte er schließlich.

    Ich dachte an das Gesicht als mein Peiniger den beiden Männern sagte: „Wir ziehen sie aus."

    Als ich mich wehrte, ohrfeigten sie mich. Sie gaben mir Schläge mit der flachen Hand ins Gesicht. Er aber, der Besitzer des Gesichtes vor mir, schlug mit der Faust auf mich ein. Der Schlag ins Gesicht ließ meine Wange aufplatzen, eine Narbe blieb zurück, die noch zu sehen war.

    Ich spürte diese Narbe als mir der Schlag ins Gesicht jetzt einfiel, es schmerzte, ich legte meine Hand darauf und starrte auf die Hände des Mannes vor mir. Meine rechte Hand lag auf meiner Wange.

    „Befriedige ich deine Rache?", fragte Carsten Fischer nahezu gleichgültig.

    „Nein", sagte ich.

    „Hast du Zigaretten?", fragte er.

    Es war seltsam, dass er danach fragte, es war so harmlos. Er empfing mich wohl nur deshalb: Jemand von draußen hat eventuell Dinge dabei, die man hier drinnen nicht bekommt.

    „Die wurden mir abgenommen", sagte ich.

    Die beiden Männer hielten mich fest während er, der Träger des Gesichts vor mir, an meinen Hosenbeinen zog. Er lachte dabei. Als ich mit den Beinen um mich schlug, rammte er mir seine Faust in den Magen.

    Nun, da ich diese Bilder vor mir sah, wurde mir wieder übel wegen des Schlags in den Bauch.

    „Ich brauche meine Zigaretten hier!", rief ich den Wachen zu.

    Karl Zimmermann gab einem der beiden Wachmänner ein Zeichen: „Sie hat das Recht dazu, dem Gefangenen Zigaretten mitzubringen.", sprach er.

    „Die liegen in der Kabine zwei Trakts weiter vorne", widersprach die Wache.

    „Ich brauche sie aber jetzt!", entgegnete ich, also ging der Mann aus dem Raum.

    „Wie edel, meinte der Gefangene. „Und was willst du sonst hier außer mir Zigaretten zu bringen?

    „In meiner Wohnung, was hättest du gemacht, wenn die Polizei nicht erschienen wäre?", fragte ich.

    „Verdammte Schlampe! Ich wäre gar nicht erst gekommen, oder? Ich kann vielleicht ganz gut Autos knacken, aber in solchen Sachen bin ich schlecht", sprach er.

    Dann kam der Mann mit den Zigaretten. Er warf missmutig die Packung auf den Tisch vor mir. Ich nahm die Packung in die Hand, klopfte eine Zigarette heraus und hielt sie Fischer hin. Seine rechte Hand griff nach der ganzen Packung und entriss sie mir.

    Ich starrte entsetzt auf die Hand, die nach den Zigaretten griff. Dann stand ich auf, ging auf meine Wachen zu und sagte, ich wolle gehen. Bevor ich den Raum verließ, drehte ich mich nach Fischer um, der sich von seiner Wache mit der Zigarette in der Hand helfen ließ.

    „Es tut mir leid", sagte ich zu Fischer als ich den Raum verließ.

    Was ich nun wusste, machte mir Angst.

    Ich sprach mit Christian darüber: „Der Mann im Gefängnis ist Rechtshänder, ich aber wurde von einem Linkshänder misshandelt."

    „Das sagt überhaupt nichts!", erklärte er.

    „Ich glaube jedenfalls, Koffner hat Recht: Der Mann im Gefängnis ist nicht der Kerl, der mich im Winter überfallen hat.", sprach ich.

    Der Psychologe legte die Stirn in Falten. „Man gewöhnt sich Dinge sehr leicht an, die einem eine Zeit begleiten im Leben, nicht wahr? Seit diese Männer wie eine unberechenbare Bedrohung in dein Leben gekommen waren, wusstest du nicht: Kommen sie wieder oder nicht? Die Polizei hat den Glauben an einen zweiten Übergriff nur noch geschürt. Du wusstest irgendwie: Es kommt der Tag, da sich dieses schreckliche Ereignis wiederholt. Dann war es plötzlich soweit und jetzt ist es vorbei. Einfach vorbei! All die Angst, die dich Tag für Tag durchs Leben begleitet hat, ist plötzlich weg. Und jetzt? Fast etwas leer das Leben ohne diese Angst, nicht wahr?"

    „Du denkst, es ist derselbe Mann?", fragte ich.

    „Natürlich ist er das! Es gibt keine Doppelgänger! Du hast das Bild gemalt bevor Carsten Fischer in deiner Wohnung aufgetaucht ist. Erkenne doch bitte, dass es nur der Mann sein kann!", meinte er eindringlich.

    „Er war zum fraglichen Zeitpunkt in New York im Knast", sprach ich.

    „Die Polizei in New York arbeitet ein wenig anders als die hiesige, Christine. Mit Geld lässt sich da drüben praktisch alles regeln. Fischer hat sich das Alibi erkauft. Es sitzt der richtige Mann hinter Gittern. Das heißt für dich: Es gibt keine Bedrohung mehr. Du solltest endlich anfangen, an das Happyend zu glauben, das dir hier beschert wird.", sagte er etwas ungeduldig.

    Er hatte Recht: Es war doch sehr unwahrscheinlich, dass es ein anderer Mann war. Ich wusste, dass meine Zeichnung echt war, wenn nicht ich, wer sonst?

    Warum glaubte ich mich immer noch nicht sicher vor dem Mann, obwohl er gefasst war? Antwort: Wegen Koffner. Mein Problem war: Ich hatte mich erwärmt für den Bullen, deshalb glaubte ich ihm. Die Frage war aber auch: Weshalb glaubte er, dass das Alibi Fischers nicht nur ein erkaufter Schwindel war? Wenn Christian das schon wusste, ein achtundzwanzig Jahre alter Psychologe, weshalb wusste es dieser Super-Cop vom Personenschutz nicht?

    Was weiß ich! Seit wann interessiert es mich, was ein Bulle denkt oder nicht? Ich musste Koffner unbedingt loswerden, besser heute als morgen.

    Er rief mich an: „Sag' mal, spinnst du?", fuhr er mich an.

    „Was denn?", fragte ich unschuldig, obwohl ich durchaus wusste worum es ging.

    „Warum besuchst du Carsten Fischer im Gefängnis? Weshalb hast du das getan?"

    „Wenn er wirklich unschuldig ist, dann habe ich ihm sehr viel unnötigen Ärger eingebracht", erklärte ich, obwohl ich nach diesem Gespräch mit Christoph ganz und gar nicht mehr daran glaubte, er wäre es nicht gewesen.

    „Würdest du vielleicht die Güte haben, mich über derartige Vorhaben rechtzeitig zu informieren?!", schrie er in den Hörer. Er war richtig wütend.

    Doch auch mich machte seine Reaktion wütend: „Ich kann tun und lassen was ich will!, entgegnete ich. „Weshalb sollte ich auch nur auf die Idee kommen, dich über meine Vorhaben zu informieren?

    „Wie soll ich dir Personenschutz gewähren, wenn ich nicht weiß, wo du bist?", konterte er.

    Ich lachte verächtlich auf. „Personenschutz! Wovor denn? Die Sache ist vorbei, ihr habt meinen Widersacher dingfest gemacht, also brauche ich keinen Schutz mehr. Würdest du jetzt einfach aus meinem Leben verschwinden, ja?"

    Dann sagte er nichts mehr, gar nichts. Ich hielt noch immer den Hörer ans Ohr. Nach einiger Zeit

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