Appeasement und Überwachung: Neue Formen der Kriminalitätsbekämpfung
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Appeasement und Überwachung - Shimona Löwenstein
Vorwort
Das Thema dieses Buches heißt „ Neue Formen der Kriminalitätsbekämpfung, die bewußt polemisch als „Appeasement
und „Überwachung" bezeichnet und entsprechend kritisiert werden. Das mag ungerecht oder zumindest in den dargestellten Zusammenhängen überzogen erschienen. Nur geht es hier weniger um die vielen besonderen Situationen und Probleme und ihre jeweils umstrittenen Lösungen, sondern vielmehr um eine bestimmte Denkweise, die den kontrovers diskutierten Bekämpfungsmaßnahmen gegen Gewalttätigkeit, Kriminalität und Terror zugrunde liegt. Warum man diese oft mit guten Absichten verbundenen Ansätze für nicht immer sinnvoll oder sogar kontraproduktiv hält, ist aber nicht sofort ersichtlich und kann leicht mißverstanden werden. Um zu erklären, worauf man hinaus will, ist es daher vielleicht besser, mit einer Geschichte oder einer Vorstellung zu beginnen, zum Beispiel über die Zukunft von armen Kindern in der Dritten Welt, die das Magazin der SOS-Kinderdörfer weltweit (Ausgabe 3/2014, S. 4) vermitteln will:
Es geht darum, allen diesen Kindern den Zugang zur Schulbildung zu ermöglichen, um ihnen zu besseren Lebenschancen zu verhelfen. Kaum jemand könnte bezweifeln, daß dieses Anliegen sinnvoll ist. Nun wird dies folgendermaßen begründet: Man soll sich zwei Slumkinder vorstellen, das eine geht zur Schule und lernt dort Toleranz und friedlichen Umgang mit kontroversen Meinungen, während das andere seine Tage allein verbringt, weil seine Eltern versuchen, Geld zu verdienen. „Das ist gefährlich, denn auf den Straßen warten Jugendgangs und Verbrecher. Und während das Schulkind lernt, dass es ein Recht auf körperliche Unversehrtheit hat, wird das andere leicht zum Opfer und ahnt nicht einmal, dass ihm Unrecht geschieht." Sicher, dem Schulkind geht es besser. Aber fällt niemandem an der Argumentationsweise, warum dem so ist, etwas auf? Wieso sollte es? Bildung ist doch gut, friedlicher Umgang mit kontroversen Meinungen ebenfalls. Was sollte daran falsch sein? Vielleicht der Versuch der Eltern, Geld zu verdienen, statt sich um das Kind zu kümmern? Das kann aber auch nicht falsch sein, denn sie sollen schließlich neben ihrem Lebensunterhalt auch das Schulgeld aufbringen... Nein, darum geht es hier nicht. Und auch nicht darum, daß hier als völlig selbstverständlich vorausgesetzt wird, daß das Kind in der Schule Toleranz und friedlichen Umgang mit kontroversen Meinungen lernt. Und wenn nicht? Vielleicht lernt es dort im Gegenteil allerlei Unsinn, Lügen, Intoleranz und Haß? Das ist durchaus möglich und bekanntlich in manchen Ländern auch der Fall. Nur gehen wir erst einmal davon aus, daß dies hier nicht der Fall ist, und versuchen, die fiktive Geschichte dieses Kindes weiterzuspinnen:
Man stelle sich vor, das Kind werde eines Tages auf dem Schulweg von einer der erwähnten Jugendgangs überfallen. Wie läuft es weiter? Das Kind hat doch in der Schule gelernt, wie man friedlich mit kontroversen Meinungen umzugehen hat, und sagt freundlich zu der Bande: „Ihr dürft mir nichts antun, denn ich habe das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das leuchtet den Gewalttätern sofort ein, und sie lassen es laufen. Und die Moral der Geschichte? Zitat: „Bildung entscheidet oft über Alles oder Nichts.
Also auch über Gewaltausübung, Kriminalität und Terror. Das Patentrezept für deren Bekämpfung liegt vor: Schickt nur eure Kinder zur Schule und alles wird gut. Getrübt wird diese Vorstellung nur durch die Berichte über Kriege, Bürgerkriege und Verbrechen jeder nur erdenklichen Art aus der ganzen Welt. Zum Beispiel auch über Angriffe selbst auf die friedlichsten und humansten Einrichtungen, die es in der Welt gibt, wie die SOS-Kinderdörfer. Oder auf Schulmädchen, die unterwegs zur Schule überfallen, mißhandelt, vergewaltigt oder getötet wurden – als Strafe für ihre Freveltat, etwas lernen zu wollen. Ist es jetzt vielleicht etwas deutlicher, was an der Argumentation für die an sich sinnvolle Schulbildung nicht stimmt? Möglicherweise wurde da etwas verwechselt oder zumindest durcheinadergebracht, zum Beispiel Bildung und Kriminalitätsbekämpfung, oder Täter und Opfer?
Nun würde der Verfasser des Textes mit Recht einwenden, daß dies gar nicht so gemeint war. Natürlich bietet die Schulbildung selbst oder deren Inhalte, etwa der friedliche Umgang mit kontroversen Meinungen oder das Wissen über das eigene Recht auf körperliche Unversehrtheit, keinen Schutz gegen Überfälle und sonstige Verbrechen. Es gehe um die Bildung im allgemeinen. In Ländern mit einem hohen Bildungsniveau gibt ist in der Regel weit weniger Kriminalität und kriegerische Auseinandersetzungen als in armen Ländern mit wenig oder keiner Bildung für den Großteil der Bevölkerung. Das ist zwar richtig, aber nicht hinreichend, da hier auch eine ganze Reihe weiterer Faktoren (etwa wirtschaftlicher oder ideologischer Art) eine Rolle spielen, die damit zusammenhängen. Es läßt sich jedenfalls nicht zu einer Behauptung verallgemeinern, daß gute Bildung die Menschen vor politischer oder moralischer Verblendung schützt und sie zur Friedfertigkeit und Toleranz veranlaßt. Man denke etwa an die Ideen von 1914 – einer Erklärung von hochgebildeten Persönlichkeiten für den deutschen Kriegseinsatz, oder an den Verrat vieler Intellektuellen an der Vernunft und humanistischen Idealen zugunsten verbrecherischer Ideologien des 20. Jahrhunderts.
Nein, das war auch nicht gemeint, zumindest nicht in erster Reihe. Das eigentliche Anliegen des Textes war viel einfacher und ganz konkret: „Schafft die Kinder von der Straße!" Nichts weiter. Und das ist insofern auch völlig richtig. Sie sollen lieber in der Schule sein und etwas Sinnvolles lernen, statt sich auf der Straße herumzutreiben, wo sie weit mehr von Kriminellen gefährdet sind oder selbst kriminell werden. Darum ging es.
Warum hat man es nicht gleich so gesagt? Warum diese seltsame Erklärung, daß das eine Kind über seine Rechte bescheid weiß, während das andere nicht weiß, daß ihm Unrecht geschieht? Niemand bezweifelt die guten Absichten der SOS-Kinderdörfer oder anderer Menschen, die sich dafür einsetzen, daß möglichst viele Kinder in der Dritten Welt zur Schule gehen können. Wozu also das ganze Gerede, in dem Schulbildung zu einer Art Schutz vor Kriminalität stilisiert wird? Sollen hier vielleicht einfache Sachverhalte umgedeutet, Kinderrechte oder die Kinder selbst für etwas anderes instrumentalisiert werden? In diesem Fall gewiß nicht. Man will ihnen nur helfen. Doch gibt es andere Zusammenhänge, wo man sich ähnlicher Argumentationsmuster bedient, obwohl der Sachverhalt ganz anderer Art ist. Warum das geschieht, bzw. was damit bezweckt wird, soll hier nicht weiterverfolgt werden.
Was in diesem Gedankenexperiment gezeigt werden sollte, war zunächst nur der Hinweis darauf, daß man trotz berechtigten Anliegens zu verkehrten oder absurden Schlußfolgerungen gelangen kann, wenn man aus Angst, die Sache beim Namen zu nennen, oder aus welchen Gründen auch immer, nicht klarstellt, was tatsächlich der Fall ist oder worum es geht, unsauber oder verdeckt argumentiert. Daraus ergeben sich oft irrtümliche Annahmen, die zu falschen Maßnahmen verleiten, die wiederum kontraproduktive Folgen und manchmal auch destruktive Nebenfolgen haben können. Welche und warum, soll später an bestimmten Beispielen erklärt werden.
Zuerst sollte aber erst klargestellt werden, worum es in diesem Buch geht und was damit beabsichtigt wird. Also es geht hier nicht um Kriege, Bürgerkriege, Terror und sonstige Massenverbrechen in der ganzen Welt, über die in den Medien berichtet wird. Und auch nicht um Bekämpfung von Armut und Kriminalität in der Dritten Welt, die in der gerade erläuterten fiktiven Geschichte angesprochen wurde. Diese Darstellung bezieht sich nur auf unsere westliche demokratische Gesellschaft, speziell die deutsche, und zwar auch nur in bezug auf Innenpolitik, nicht etwa auf internationale Beziehungen oder militärische Auslandseinsätze. Das alles sind zwar damit auch zusammenhängende Themen, die aber anderswo behandelt werden.
Man könnte einwenden: Was gibt dann noch zu bemängeln? Deutschland ist doch im internationalen Vergleich ein durchaus friedliches Land mit immer noch relativ großem Wohlstand, sozialen Absicherungen und allgemeiner Schulpflicht, ein Rechtsstaat und stabile Demokratie. Das ist alles richtig – trotz heftiger Kritik an bestimmten Entwicklungstendenzen der letzten Jahrzehnte. Das heißt aber nicht unbedingt, daß es so bleiben muß. Außerdem ist in der letzten Zeit eine Art Brutalisierung der Gesellschaft in mehreren Hinsichten zu beobachten, die auf schlimmere Zustände in der Zukunft schließen läßt. Doch selbst wenn dies nicht der Fall wäre, schließlich geht es bei diesem Thema immer darum, wie bestimmte Formen der in der Gesellschaft real vorhandenen Gewalttätigkeit (menschenfeindliche Handlungen, Jugendgewalt, Mißhandlungen und Körperverletzung und andere kriminelle Taten, wie Erpressung, Einschüchterung usw., bis hin zu Morden und möglichen Terroranschlägen) sowie die ideologischen Motive, die zu solchen Taten verleiten (z.B. Rechtsradikalismus oder Islamismus) soweit wie möglich beseitigt werden können, damit ein friedliches und möglichst sicheres Zusammenleben in einer freiheitlich verfaßten Gesellschaft gewährleistet wird. Nur scheinen die heute vermehrt propagierten und bestehende rechtsstaatliche Strukturen beeinflussenden Methoden der scheinbar„präventiven Gewaltbekämpfung" nicht zu greifen, manchmal sogar die Ausbreitung der Gewalttaten eher zu begünstigen. Mit dieser Problematik, nämlich den theoretischen Annahmen bzw. ideologischen Hintergründen der friedlichen (Antigewalttraining, Konfliktmanagement) sowie auch der restriktiven (Überwachung, Zensur) Mittel der Kriminalitäts- und Gewaltbekämpfung und deren Versagen in der Praxis, setzt sich diese Darstellung an Beispielen aus drei gesellschaftlichen Bereichen auseinander. Es soll auf die Diskrepanz zwischen den Zielvorstellungen der theoretischen Lösungen und der gesellschaftlichen Realität sowie auf bestimmte Deformationen im Konzept des Rechtsstaats (in bezug auf Rechtssicherheit, Gleichbehandlung usw.) und der Gerechtigkeit (Perspektive der Opfer) und andere unerwünschte Nebenfolgen hingewiesen werden, die infolge dieses neuen Paradigmas im Umgang mit Kriminalität und Gewalt auftreten.
Was ist mit diesem neuen Paradigma gemeint? Es handelt sich um keine neue Vorstellung über Friedfertigkeit und Gewaltlosigkeit um jeden Preis, die mit dem Schlagwort „Gewalt ist keine Lösung zu einer kaum angefochtenen Handlungsmaxime der heutigen Gesellschaft geworden ist. Diese Einstellung ist durchaus begrüßenswert und richtig, sofern man sie als notwendige Voraussetzung und Bestandteil aller gesellschaftlichen Spielregeln auffaßt und diese von allen Teilnehmern gleichermaßen akzeptiert wird. Wenn es jedoch nicht der Fall ist, oder wenn es gerade darum geht, diesen Übergriffen Einhalt zu gebieten, versagt sie. Nur handelt es bei der Kriminalitäts- und Gewaltbekämpfung gerade um die Fälle des Bruchs mit den zivilisierten Regeln des Umgangs der Menschen miteinander, es geht hier nicht um friedliche Konfliktlösung durch Überzeugung und gegenseitigen Respekt, sondern um den Schutz der Menschen und der Regeln selbst, die diese Art von friedlichen Lösungen überhaupt ermöglichen. Das ist schließlich auch die Pointe einer möglichen Fehlinterpretation der vorigen fiktiven Geschichte des Schulkinds: Die gut gemeinte „präventive
Maßnahme trifft nicht die richtige Zielgruppe, d.h. diejenigen, die mit Rechten und Gesetzen nichts anzufangen wissen oder sie überhaupt ablehnen. Mit anderen Worten: Die eigene Friedfertigkeit nutzt nichts angesichts brutaler Gewalt. Das gilt nicht nur für den Einzelfall, sondern allgemein: Auch Resozialisierung und Dialog der Kulturen als Mittel gegen Gewalt können nur dann funktionieren, wenn sie auch von den Anderen akzeptiert werden. Allgemeine Überwachungs- oder Zensurmaßnahmen treffen ebenfalls am Ziel vorbei nicht die Gegner, sondern die Grundlagen der zivilisierten Gesellschaft selbst.
Was bleibt denn übrig? Muß man denn, um Gewalt zu bekämpfen, selbst gewalttätig werden? In einem Rechtsstaat wäre dies eine falsche Folgerung. Die einzig legitimierte Gewalt bleibt allein dem Rechtsstaat vorbehalten. Und dieser besitzt auch seine Mittel zur Kriminalitätsbekämpfung, seine institutionellen Schranken, Justiz und Polizei, die dafür zuständig sind; deswegen spricht man auch vom „Gewaltmonopol" des Staates. Sie sollen nur auch konsequent angewendet werden. Problematisch wird die Sache, wenn seine Institutionen selbst angezweifelt oder unterwandert werden, oder wenn sie sich in etwas anderes verwandeln, das nicht mehr dessen allgemeinen Prinzipien entspricht, sondern nur dem Schutz bestimmter Gruppen, Klassen oder Meinungen dient. Wenn der Staat in seiner wichtigsten Aufgabe – dem Schutz von Recht und Freiheit in einer Gesellschaft – versagt, dann ist die erste Folgerung naheliegend: von Selbstjustiz bis hin zum Bürgerkrieg, mit den entsprechenden Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben. Wie unwahrscheinlich uns diese Möglichkeit heute noch erscheinen mag, sie ist real. Darum besteht der beste Schutz gegen Kriminalität, Gewalt und Terror nicht in irgendeinen Aktionen oder Initiativen, sondern in der Rechtsstaatlichkeit selbst.
Im Unterschied zu allen anderen Aufgaben und Zielen, die der Staat heute für sich beansprucht, darf dessen Schutzfunktion nicht an Private delegiert werden. Auch sollen die verfassungsmäßig garantierten Grundsätze und Rechte (Meinungsfreiheit, Gleichbehandlung usw.) nicht zur Debatte stehen und auch nicht durch Sonderrechte und postulierte Tabus außer Kraft gesetzt werden. Es wäre wichtig, die Bedeutung dieser Grundsätze im allgemeinen Bewußtsein zu verankern, statt sie der scheinbaren Friedfertigkeit willen durch falsche Sympathiebekündungen und Rechtfertigungen derjenigen, die sie verletzen oder mißachten, zu relativieren. Um gegen die tatsächliche in der Gesellschaft bestehende Kriminalität vorzugehen, bedarf es auch keines neuen Paradigmas, etwa im Sinne eines „integrativen Gewaltbegriffs". Dessen undifferenzierte Verwendung scheint im Gegenteil eher irreführend zu sein, weil sie wesentliche Unterschiede nicht nur in der Größenordnung (etwa zwischen einer Beleidigung und einem Terroranschlag) oder Art der Gewaltanwendung (z.B. zwischen psychischer oder körperlicher, direkter oder indirekter usw.), sondern auch ihrer grundsätzlichen Illegitimität oder Legitimität (z.B. zwischen Verbrechen und dessen gerichtlicher Verurteilung und Bestrafung) verwischt und nicht selten auch zur Verwechslung zwischen Ursache und Folge, Täter und Opfer verleitet. Was Gewalt ist, und welche Formen davon unbedingt abgelehnt und verfolgt werden müssen, kann nur in den jeweiligen Kontexten definiert und geklärt werden, da sonst wichtige Maßstäbe (zwischen Recht und Unrecht, Kritik und Verunglimpfung oder auch zwischen legitimem Konkurrenzkampf und nicht legitimierter Machtausübung, institutionellem Zwang und Willkür) oder auch der Anspruch des Staates auf Gewaltmonopol keinen Bestand mehr haben.
Es gilt, sich in Konfliktfällen (sofern es sich um solche handelt) zivilisierter Mittel und Umgangsformen zu bedienen, verfassungswidrige und kriminelle Handlungen dagegen auf keinen Fall zu dulden. Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit sollen die Intentionen für Verbesserungen der Gesellschaftsordnung sein. Eine allgemeine Predigt gewaltfreier Lösungen um jeden Preis ist dagegen nicht zielführend. Die davon abgeleiteten gar nicht mehr so friedlichen Maßnahmen erweisen sich auch meistens als Sackgassen oder Irrwege. Das ist die Hauptthese dieses Buchs, die in den folgenden Kapiteln erörtert wird.
Frieden jenseits von Gut und Böse?
Friedliche Lösungen für Konflikte zu suchen und zu etablieren ist eine Errungenschaft der zivilisierten Gesellschaft. Nichtsdestoweniger hat sich in der letzten Zeit eine Einstellung durchgesetzt, bei der es weniger um Lösungen konkreter Probleme, als um etwas anderes zu gehen scheint. „Gewalt" als Phänomen ist zum beliebten Thema wissenschaftlicher Diskussionen und Spekulationen in verschiedenen Bereichen geworden. Es werden ganze Konferenzen veranstaltet und Abhandlungen verfaßt, die nicht diese oder jene Form, sondern die Gewalt als solche zum Gegenstand haben. So hat beispielsweise Jan Philipp Reemtsma in seinem Buch Vertrauen und Gewalt einen Versuch unternommen, Gewalt möglichst weitgehend als körperliches Phänomen und ihre verschiedenen Arten zu analysieren und daraus Folgerungen für das Selbstverständnis der Moderne (Gewaltabneigung) und ihrer Schwachstellen sowie für die Phänomene der modernen totalitären Ideologien, des politischen Terrorismus und Antisemitismus (Relegitimierung von Gewalt) abzuleiten. [1] Ob oder inwiefern man all diese unterschiedlichen Erscheinungen auf einen Nenner bringen kann, bleibt dahingestellt. Das Modewort „Gewalt ist jedenfalls voll im Trend. Es ist sogar die Ansicht aufgetaucht, man brauche in dieser Hinsicht einen Paradigmenwechsel, einen „integrativen Gewaltbegriff
, der der „interdisziplinären Gewaltforschung einen einheitlichen Zugang zu allen ihren Formen ermöglicht. [2] Die Frage ist nun: Wofür? Geht es nur darum, sog. „Gewaltforschern
Beschäftigung und Ansehen zu verschaffen, oder sollen tatsächlich alle Formen der Gewalt – von der Ohrfeige oder Beleidigung, der psychologischen oder politischen Druckausübung bis hin zu Krieg, Völkermord und Terror – nach dem gleichen Muster behandelt werden?
Anscheinend. Und nicht nur das: Nicht zufällig findet man die gleichen Axiome der „alternativen, „nichtautoritären
Reformpädagogik, nämlich das Absehen von Zwang und Tadel, die für den Niedergang der Bildung mitverantwortlich sind, auch im heute verbreiteten Gebot in bezug auf den Umgang mit Gewalt wieder: im Verzicht auf Strafen als der einzig „richtigen" Erziehung und der milden Behandlung jugendlicher Straftäter. Der Zusammenhang zwischen der Zunahme friedlicher alternativer oder antiautoritärer Erziehungs- und Strafmethoden und der Gewaltbereitschaft selbst wird verdrängt, weil er einen Tabubruch darstellt. Stattdessen wird auch im Umgang mit der Gewalt in ihren verschiedenen Spielarten auf das gleiche Sündenbockschema zurückgegriffen, mit zum Teil sogar denselben Zielgruppen, wie im Versagen der allgemeinen Bildung. Die Patentlösungen bestehen dann in zweierlei Alternativen, die auch dort angewandt werden: entweder einem Hurra-Aktionismus, der aus lauter wirkungslosen Scheinmaßnahmen besteht, dafür aber viele Profilierungs- und Verdienstmöglichkeiten bietet, oder dem Rückgriff auf restriktive Mittel, wie gesetzliche Regelungen, Verbote und Zensur, die jedoch weder die Ursachen bekämpfen noch die tatsächlichen Täter treffen, sondern gegen ganz andere Zielgruppen gerichtet sind.