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Dämonentreue: Skatarhaks Erben
Dämonentreue: Skatarhaks Erben
Dämonentreue: Skatarhaks Erben
Ebook471 pages6 hours

Dämonentreue: Skatarhaks Erben

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Elf Jahre ist es her, dass Cridan seine Heimat verlassen musste. Seitdem lebt er, verbannt von seinem eigenen König, im Verborgenen. Eine Rückkehr scheint unmöglich - bis eines Tages ein Bote erscheint. Sein Angebot ist riskant, aber verlockend, und so macht sich Cridan gemeinsam mit seinem Freund Tiko auf die gefährliche Reise zurück nach Gantuigh.
Doch es ist nicht leicht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen: Cridan steht einmal mehr an einem Scheideweg und muss sich entscheiden, wer er sein will.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateDec 28, 2018
ISBN9783742709899
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    Dämonentreue - Dagny Kraas

    1. Kapitel – Neue Hoffnung

    Dämonentreue -

    Skatarhaks Erben

    Für meinen Meister –

    der mich lehrt, was es wirklich heißt,

    ein Krieger zu sein.

    Cridan erhob sich aus seiner kauernden Position, streckte die Arme und lockerte seine vom langen Hocken verkrampften Beine. Dann wischte er sich in einem hoffnungslosen Versuch, den Schlamm loszuwerden, mit der Hand über die Schuppen, griff nach seinem Bogen und machte sich im Licht der untergehenden Sonne auf den langen Heimweg.

    Trotz der späten Stunde herrschte noch immer eine feuchte Hitze. Schweißperlen liefen über seine Haut und hinterließen glänzend goldene Bahnen im Schmutz, während er vorsichtig dem schmalen, kaum erkennbaren Pfad durch den Sumpf folgte, immer wieder innehaltend und den Boden prüfend. Er fluchte leise, als er mit dem rechten Fuß in einem Schlammloch landete und das braune, lauwarme Wasser im Nu seinen Stiefel füllte.

    Bald elf Jahre lebten sie jetzt hier, und er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt.

    In der Anfangszeit hatte er jede Nacht von seinem König Skatarhak, vom Meer und von Gantuighs Bergen geträumt. Das war zum Glück vorbei – jetzt kamen diese Träume nur noch selten, aber dennoch war der Ort, den Tiko für sie gefunden hatte, alles andere als eine Heimat für ihn:

    Er hasste den Geruch des Sumpfes, das ewig brackige Wasser, die schwüle Wärme im Sommer, die feuchten Herbstnebel und die klamme Kälte des Winters. Er würde sich hier nie wohl fühlen, und die wenigen angenehmen Tage, die es im Frühling gab, machten es nicht erträglicher für ihn.

    Zu Beginn hatte er noch gehofft, Skatarhak würde sie zurückholen nach Gantuigh, zurück auf die Insel, die ihre Heimat war. Tiko hatte ein ums andere Mal Nachricht an den König der T'han T'hau geschickt, wo sie zu finden waren, doch nie eine Antwort erhalten, und über die Jahre hatte Cridan es schließlich aufgegeben, auf ein Wunder zu warten.

    Er hatte nicht nur seinen König und sein früheres Leben verloren, sondern auch seine Heimat. Alles, was ihm blieb, war der Kampf ums Überleben – auch wenn Cridan nicht wusste, wofür er überleben sollte. Das Leben, das sie führten, hielt nichts für ihn bereit, was er ernsthaft vermissen würde, sah man einmal von Tiko ab.

    Ratiko'khar, kurz Tiko, Anführer ihrer Gruppe und Cridans Ziehbruder sowie zugleich als Erbe des Königs Cridans Schutzbefohlener, war gerade fünfundzwanzig Jahre alt gewesen, als sie Gantuigh hatten verlassen müssen. Jetzt war er ein gereifter Mann und respektiertes Oberhaupt, und er führte seine Gruppe mit Klugheit und Umsicht. Es ging ihnen nicht schlecht, und insbesondere die jüngeren T'han T'hau schienen sich mit dem Leben im Sumpf zufrieden zu geben.

    Nicht so Cridan. Ihn quälte die tägliche Langeweile beinahe noch mehr als die stete Frage, ob sie genug zu essen haben würden. Er war ein Krieger! Er war ein ficha'thar! Er hatte Skatarhaks Urteile vollstreckt und war der engste Vertraute des Königs gewesen. Einst war er nach dem König Skatarhak der mächtigste T'han T'hau auf Gantuigh gewesen, ein ficha'thar, dessen Name bekannt war, und den man ebenso geachtet wie gefürchtet hatte.

    Jetzt war Skatarhak entweder tot oder Herrscher über die Insel und hatte sie verstoßen. Beides lief auf das gleiche hinaus: Nach Gantuigh würden sie nie mehr zurückkehren können.

    Frustriert schlug er mit der geballten Faust auf seinen Oberschenkel. Bei allen Göttern, er war geboren, um zu kämpfen, und nicht, um in einem öden Sumpf wie diesem zu krepieren!

    Manchmal bedauerte er, nicht doch bei Skatarhak geblieben zu sein. Ja, sein König hatte ihn hintergangen und ihn aufs Tiefste enttäuscht, indem er ohne sein Wissen einen Krieg angezettelt hatte, und dennoch… Es hätte vielleicht seinen Tod bedeutet, aber immerhin einen Tod auf dem Schlachtfeld, mit dem Schwert in der Hand!

    Jetzt war das Höchste, was er mit dem Schwert tat, wenn er nicht gerade Scheinkämpfe gegen Unsichtbare ausfocht, einem erlegten Tier die Hufe abzutrennen. Und obwohl die Waffe unpraktisch war für die Jagd im Sumpf, legte er sie nicht ab wie so viele der anderen Männer.

    Tiko zog ihn manches Mal damit auf, doch Cridan ließ den gutmütigen Spott stoisch über sich ergehen. Seine Waffe abzulegen hätte für ihn bedeutet, sich selbst aufzugeben. Und das würde er nicht tun, auch nicht, wenn sein gesamtes Dasein nur noch um die öde, niemals enden wollende Aufgabe kreiste, Nahrung herbeizuschaffen oder die Zeit totzuschlagen.

    Cridan wusste nicht, ob er noch am Leben wäre, wenn es Tiko nicht gäbe. Er hatte mehr als nur einmal vor einem der tiefen Wasserlöcher gestanden und darüber nachgedacht, einfach allem ein Ende zu setzen. Aber so feige wollte er nicht sein. Er war noch nie vor etwas davongelaufen, und außerdem hatte er etwas versprochen:

    Er hatte Khal'atra, Skatarhaks Mutter und Ratiko'khars Großmutter, geschworen, Tiko zu beschützen, den Erben der Königslinie, und er hielt sein Versprechen. Es war ihn teuer genug zu stehen gekommen.

    Tiko bedauerte regelmäßig, dass Cridan keine Kinder mehr zeugen konnte, doch Cridan war es inzwischen ganz recht so. Er hatte nie viel Wert auf Nachwuchs gelegt, und wenn er sich vorstellte, seine Kinder in der Trostlosigkeit der Sümpfe großzuziehen, mit keinem rechten Ziel vor Augen, packte ihn das kalte Grausen.

    Nein – vielleicht hatte Skatarhak ihm sogar einen Gefallen getan, als er Cridan für seinen Verrat bestraft hatte.

    Und tatsächlich war Skatarhak gnädiger gewesen als erwartet. Cridan hatte zwar seitdem mehr Platz in seinen Hosen, aber der König der T'han T'hau hatte sich auf die Hoden beschränkt und ihm das Glied gelassen. Und das tat seinen Dienst zu Cridans Befriedigung tadellos, wenn auch viel zu selten für seinen Geschmack.

    Formal war er zwar immer noch ficha'thar, nun von Ratiko'khar, und früher wäre es fast die gleiche Ehre gewesen, ihm eine Gefährtin zu überlassen wie sie dem König anzubieten, doch in ihrer Gruppe waren sie schlicht zu wenige, um ihm die Frauen für den reinen Spaß zu überlassen – ohne Hoffnung auf ein Kind, das seine Stärke erben konnte.

    Und es gab keine Frau, die nicht einen oder auch gleich mehrere Gefährten gehabt hätte. Es wurde zwar recht freimütig geteilt, wenn es darum ging, für Nachwuchs zu sorgen, wenn allerdings nicht einmal die Möglichkeit dazu bestand, wurde es nicht gern gesehen. Dafür waren sie einfach nicht genug T'han T'hau, und die Männer wachten eifersüchtig über ihre Frauen, in der Angst, das Privileg einer Gefährtin zu verlieren – etwas, das früher undenkbar gewesen wäre, wenn Cridan sich zurück erinnerte. Aber hier war es eben so, und er akzeptierte es.

    Mehr denn je zählte für einen Mann, wie viele Kinder er sein eigen nennen konnte, und je mehr Söhne und Töchter ein T'han T'hau hier hatte, umso höher war sein Ansehen in ihrer Gruppe. Tiko allein war im letzten Jahrzehnt mehr als zwei Dutzend Mal Vater geworden.

    Cridan hatte viel verloren, als Skatarhak ihm die Möglichkeit genommen hatte, Kinder zu zeugen, und nur seine Stärke, seine besonnene Klugheit und sein eiserner Wille hatten ihm den Platz gesichert, den er bis heute innehatte. Vor allen Dingen seinen gewaltigen Körperkräften war es zu verdanken, dass ihm niemand mehr sein Recht als ficha'thar streitig machte.

    Sie respektierten den Krieger und Mann, der er war, und ließen ihn, nachdem er in den ersten Jahren mehrfach unter Beweis hatte stellen müssen, dass seine Kraft – und vor allem seine rücksichtslose Entschlossenheit – größer war als die aller seiner Herausforderer, in Ruhe.

    Dennoch… Mehr als das konnte er nicht erwarten.

    Es war zum Verzweifeln, wenn man länger darüber nachdachte, und genau deshalb vermied Cridan es, sich zu viele Gedanken zu machen.

    Ein leises Knistern im Schilf weckte seine Aufmerksamkeit.

    Sollte er doch noch Glück haben heute?

    Lautlos hob er den Bogen, legte einen Pfeil auf die Sehne und pirschte sich geduckt voran.

    Es raschelte erneut, und als die Schilfente aus ihrem Versteck flatterte, riss Cridan den Bogen hoch und ließ den Pfeil fliegen.

    Es war ein hervorragender Schuss – wie mit jeder Waffe fiel ihm auch der Umgang mit Pfeil und Bogen leicht. Die Ente fiel wie ein Stein vom Himmel und landete mit einem Klatschen im Moor.

    Er verzog angewidert das Gesicht, als er durch einen schlammigen Tümpel waten musste, um den Vogel aufzusammeln, doch der Anblick der Ente stimmte ihn besser: Es war ein Erpel, die Federn dicht und glänzend, die Fettschicht darunter dick.

    Cridan band den Vogel an den Gürtel, stapfte zurück und setzte seinen Weg fort.

    Er war weit gegangen auf seiner Suche nach Jagdbeute, und es war, als wollte ihn das Schicksal für einen Tag erfolgloser Warterei im Morast entschädigen: Als im schwindenden Licht der Sonne die Hütten ihrer Siedlung in Sicht kamen, hingen neben der Ente noch ein Waschbär und ein Hase an seinem Gürtel. Letzterer war ein wenig mager, aber immerhin.

    Er ging quer durch das kleine Dorf, warf seine Beute achtlos einer T'han T'hau zu, die zusammen mit einigen Kindern die Töpfe über dem Feuer bewachte, und betrat dann seine eigene Hütte.

    Er war sich ziemlich sicher, heute morgen ein beträchtliches Durcheinander hinterlassen zu haben bei seinem Aufbruch zur Jagd, doch jetzt war alles aufgeräumt und sauber: Die Decken waren auf dem Bett gefaltet, der Boden mit frischen Binsen ausgelegt und das Geschirr war gespült. Auf dem Tisch stand ein Topf, der eine dicke Fleischsuppe enthielt, wie Cridan nach einem Blick feststellte, daneben lag ein halber Laib Brot.

    Das war einer der Vorteile, den er als Tikos ficha'thar und allein lebender Mann hatte: Er hatte keine Gefährtin oder Familie, und was er von seinen Streifzügen durchs Moor an Beute mitbrachte, behielt er nie für sich. Da er nahezu den ganzen Tag im Sumpf verbrachte – alles war besser als im Dorf herumzuhocken und auf etwas zu warten, das doch nie geschehen würde – war sein Anteil an den erlegten Tieren auch dank seines Geschickes auf der Jagd recht hoch.

    Als Ausgleich dafür musste er sich um nichts anderes kümmern: Seine Hütte war stets sauber, er fand Essen auf dem Tisch, seine Kleider waren gewaschen, und selten, aber doch von Zeit zu Zeit wartete eine Bettgefährtin auf ihn, um ihn wenigstens für eine Nacht auf andere Gedanken zu bringen.

    Es hätte ein geruhsames Leben sein können, doch Cridan war rastlos und unstet. Er fühlte sich in der Enge der Hütten, in der Siedlung und ihrer Gemeinschaft gefangen. Nur wenn er alleine durchs Moor wanderte, die Geräusche des Sumpfs als seine einzigen Gefährten, dann wich dieses Gefühl für eine Weile von ihm.

    Das war der Grund, weshalb er manchmal tagelang fort blieb: So sehr er den Sumpf auch verabscheute, war es doch der einzige Ort, an dem er sich etwas freier fühlte. Die Gemeinschaft der anderen, die sich in ihrem Leben im Moor eingerichtet hatten, ertrug er nur selten. Insbesondere dann, wenn sie sich abends um die Feuer zusammenfanden, gemütlich aßen und tranken und mit allem zufrieden schienen, war es ihm zuwider, sich dazuzugesellen. Das waren die Nächte, in denen er einsam wie ein getriebenes Wild durch das Moor streifte, zu viel trank und im matten Licht der Sterne mit dem Schwert auf die Gespenster seiner Vergangenheit losging.

    Und Gespenster waren es, die ihn heimsuchten: Erinnerungen an die Jahre an Skatarhaks Seite, als er den Respekt und die Anerkennung seines Königs genossen hatte; Jahre, in denen seine Macht an die des Königs herangereicht und jeder mit dieser unvergesslichen Mischung aus Ehrerbietung und Furcht zu ihm aufgesehen hatte; Jahre, in denen ihm in der Gesellschaft der T'han T'hau alle Türen und Betten offengestanden hatten, in denen sein Wort Gewicht gehabt hatte.

    Ja, Tikos Leute respektierten ihn zwar und niemand wagte mehr, ihn heraus­zufordern, aber es war nicht das gleiche.

    Sicher waren auch Erinnerungen darunter, die ihn schaudern ließen – Erinnerungen daran, wie sich Skatarhak verändert hatte, wie aus seinem Freund und Ziehvater ein grausamer, machtgieriger und unberechenbarer Gewaltherrscher geworden war, vor dessen Rachsucht und Jähzorn selbst Cridan nicht sicher gewesen war – doch er hatte all das in Kauf genommen für ein Leben mit einer Berufung und einem Sinn.

    Und so wanderte er in diesen Nächten selbst wie ein Geist durch das Moor, getrieben und gequält von längst vergangenen Tagen, die er mal verabscheute und mal herbeisehnte und die ihm keine Ruhe ließen.

    Erst im Morgengrauen kehrte er dann zurück, die Kleider durchnässt und voller Schlamm, den Kopf schwer vom Alkohol und seine Gedanken trübe und finster.

    Nein, er würde sich hier nie wohlfühlen. Nicht in diesem Sumpf und nicht in diesem Leben.

    Cridan hängte den Bogen und den Köcher mit den Pfeilen an ihren Platz an die Wand – so wenig er auch sonst auf Ordnung achtete, so wichtig war sie ihm bei seinen Waffen – und aß ein wenig von dem Eintopf, dann ließ er sich aufs Bett sinken, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sah durch die offene Tür nach draußen in die Dämmerung. Die Luft wurde allmählich kühler, und das feine Sirren der Mücken leiser. Wieder einmal war Cridan froh, dass die kleinen Stechtiere an T'han T'hau keinen Gefallen fanden.

    Er döste bereits ein, als sich rasche Schritte näherten und ihn aufschreckten. Einen Moment später betrat Tiko die Hütte. Sein Begleiter Dorach'tar, gleichermaßen formal Tikos Leibwächter wie Cridan dessen ficha'thar, obgleich ihr König keines von beidem brauchte, blieb vor der Tür stehen.

    Tiko war so groß, wie es sein Vater Skatarhak einst gewesen war, und ebenso breitschultrig. Die Schuppen auf seinem starken Körper hatten die Farbe von purem Gold und schimmerten selbst in diesem diffusen Licht noch.

    »Ach, verflucht, Cridan«, murmelte Tiko, »wieso lebst du schon wieder im Dunkeln?«

    »Damit ich das Elend nicht sehen muss«, gab Cridan nur halb scherzhaft zurück, erhob sich jedoch und grub in der Asche der Feuerschale, bis er den letzten Rest Glut fand und daran ein Talglicht entzündete.

    Tiko brummte unwillig.

    »Nimm eine richtige Kerze. Du wirst Licht brauchen.«

    Cridan hob fragend die Brauen, gehorchte jedoch schweigend.

    Tiko bedeutete ihm, sich zu setzen, nahm ihm gegenüber Platz und schob ihm über die Tischplatte ein gefaltetes Stück Papier zu. Cridan nahm es in die Hand und betrachtete es.

    Es war faltig und zerknittert, die Ränder angestoßen und schmutzig. Die Oberfläche war spröde, als wäre sie mit Wasser in Berührung gekommen.

    Er schnupperte daran. Ein feiner Geruch nach Moder, Salz und Meer haftete an dem Papier und rief Erinnerungen in ihm wach. Hastig legte er es wieder auf den Tisch.

    Tiko machte eine ungeduldige Geste: »Nun lies schon!«

    Cridan wusste selbst nicht, weshalb, aber er zögerte, das Papier zu entfalten. Nur langsam, Stück für Stück, öffnete er es.

    Es war eine Nachricht. Die Schrift war steil, die Buchstaben sorgfältig, ein Siegel zierte die untere rechte Ecke.

    Und dann traf es Cridan wie ein Schlag: Die Worte waren in der Sprache der T'han T'hau! In Alt-Gantuigh!

    Er hielt die Botschaft näher an die zuckende Kerzenflamme und begann zu lesen.

    Er las es einmal, zweimal, dreimal. Dann legte er das Papier hin, stand auf, holte aus einer Kiste unter dem Bett einen irdenen Krug hervor, der mit einem Holzstopfen verschlossen war, und öffnete ihn.

    Er setzte den Krug an die Lippen und trank einen großen Schluck.

    Beinahe sofort spürte er die Wirkung – und das war auch dringend notwendig: Das erste Mal in seinem Leben zitterten seine Hände.

    »Ist das echt?« fragte er schließlich. Das Sprechen bereitete ihm Mühe.

    Tiko hob die Schultern.

    »Das frage ich dich.«

    Cridan stellte den Krug auf den Tisch, setzte sich wieder und nahm das Papier erneut in die Hand, um es genauer zu betrachten. Er kannte weder die Schrift noch das Siegel, und auch der noch in Spuren vorhandene Geruch unterschiedlicher Personen, der daran haftete, war ihm unbekannt.

    »Woher hast du das?«

    Tiko lächelte. »Du wirst es mir kaum glauben, aber ein Bote hat diesen Brief gebracht.«

    Cridan starrte ihn an. Er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen.

    »Ein Bote?«

    »Ein Bote«, nickte Tiko. »Er will, dass wir mit ihm gehen. Murth Gantor passt auf ihn auf. Er sitzt in meiner Hütte und wartet darauf, dass du mit ihm sprichst. Jedenfalls ging ich davon aus, dass du das willst.«

    »Worauf du Gift nehmen kannst«, murmelte Cridan.

    Er drehte das Papier in den Händen, besah es von allen Seiten und dachte dabei fieberhaft nach.

    »Warum sollte es nicht echt sein?« stellte er schließlich fest. »Ich kann es dir nicht beweisen, aber mein Gefühl sagt mir, es ist echt. So viele Kleinigkeiten, so viel, was man ohne deinen Brief damals nicht wissen könnte… und nicht zuletzt die Sprache! Ich bitte dich, Tiko, kennst du einen Menschen, der Alt-Gantuigh beherrscht?«

    Tiko hob den Kopf.

    »Vor einer halben Stunde habe ich den ersten kennengelernt.«

    Cridan blickte abwechselnd ihn und den Brief in seinen Händen an.

    »Ich will mit ihm sprechen«, verlangte er dann.

    Tiko nickte, stand auf und zögerte noch einmal. Er warf einen Blick auf den Krug und meinte: »Ich bin verwundert, dass dir ein Schluck gereicht hat. Ich habe einen halben Krug gebraucht.«

    »Eins sage ich dir«, brummte Cridan und trat an ihm vorbei ins Freie, wo Dorach'tar weiterhin auf sie wartete. »Wenn dieser Brief hier tatsächlich echt ist, wird es mehr als einen halben Krug brauchen.«

    Der Mann, der in Tikos Hütte saß, bewacht von Tikos zweitem Leibwächter Murth Gantor und dem Schmied Fejtar, machte einen unscheinbaren Eindruck: Seine dunklen, an den Schläfen schon ergrauten Haare waren im Nacken zusammen­gebunden, und sein Gesicht hätte das eines beliebigen Mannes auf der Straße sein können.

    Als Tiko und Cridan eintraten, erhob er sich und deutete eine Verneigung an.

    Cridan zog einen Stuhl heran, setzte sich und sah den Mann an. Ohne Umschweife begann er das Gespräch:

    »Wer seid Ihr, woher kommt Ihr, und weshalb bringt Ihr eine solche Botschaft?«

    Der Mann lächelte, nahm wieder Platz und antwortete in bestem Alt-Gantuigh: »Eure Fragen sind verständlich. Sureth meinte schon, dass Ihr misstrauisch sein würdet. Kein Wunder, wenn man es recht bedenkt. Euer Brief an Skatarhak muss einige Jahre alt sein.«

    »Der erste mehr als ein Jahrzehnt«, erwiderte Cridan beinahe mechanisch. »Beantwortet meine Fragen.«

    »Mein Name ist Mert«, antwortete der Mann bereitwillig. »Ich bin im Auftrag von Sureth hier, und der wiederum ist Euer Freund.«

    »Ich nenne keinen Mann meinen Freund, den ich nicht kenne«, bemerkte Cridan eisig.

    »Du nennst auch keinen Mann deinen Freund, den du kennst«, warf Tiko trocken ein. »Lassen wir das also beiseite. Mert, Ihr habt erst eine von drei Fragen beantwortet.«

    »Sureth schickt mich«, fuhr der Bote bereitwillig fort. »Er bittet Euch zurück­zukehren. Die Zeit ist gekommen, auf die Ihr gewartet habt.«

    Tiko wollte etwas entgegneten, doch Cridan kam ihm zuvor:

    »Was ist mit Skatarhak? Wo ist er? Wer ist Sureth, und wie kommt er an Tikos Nachricht? Für mich gibt es hier zu viele lose Enden und viel zu viele offene Fragen.«

    Mert lehnte sich zurück, sah ihn an und seufzte.

    »Ich sehe schon, ich muss weiter ausholen. Skatarhak ist tot. Er ist gefallen in dem Krieg, den er selbst begonnen hat. Ebenso tot wie jeder T'han T'hau, der noch auf Gantuigh lebte. Es gibt keine T'han T'hau mehr auf Gantuigh, seit Skatarhak den Krieg verlor! Mehr als zehn Jahre ist es her, dass der letzte von ihnen hingerichtet wurde, und niemand hätte geglaubt, dass es überhaupt noch T'han T'hau gibt! Die Erinnerungen an die Schrecken Eurer Taten verblassen allmählich. Und Sureth glaubt, die Zeit ist nun endlich reif für einen Neuanfang. Die Völker Gantuighs dürfen nicht länger getrennt sein, sagt er. Die T'han T'hau gehören nach Gantuigh.«

    Cridan hörte seine letzten Worte kaum. Was Mert gesagt hatte, traf ihn wie ein Schlag. Es war das, was er befürchtet hatte, seit er das erste Mal vergeblich auf Antwort aus Gantuigh gehofft hatte.

    Abrupt stand er auf und verließ die Hütte.

    Seine Schritte führten ihn bis zu der Stelle, wo die schwarzen Wasser des Sumpfes begannen. Dort blieb er stehen, legte den Kopf in den Nacken und sah in den Abendhimmel. Unzählige Sterne leuchteten über ihm; Sterne, die er seit seiner Kindheit kannte, und die hier doch anders aussahen als zu Hause.

    Konnte es wahr sein?

    Fast elf Jahre lang hatte er auf diesen Moment gewartet, hatte ihn herbeigesehnt, obwohl er sich selbst zu hoffen verboten hatte – und mit einem Mal hatte er Angst.

    Skatarhak ist tot, hallten die Worte in ihm wider. Ebenso tot wie jeder T'han T'hau, der noch auf Gantuigh lebte.

    Jeder T'han T'hau. Jeder, den er gekannt hatte, angefangen mit Skatarhak, aber auch Rothmar, seine eigenen Eltern Kakey und Anthro'kar, seine Familie… seine Ziehschwestern Inth Silia und Marud'shat, ihre Mutter Ruhara, die weise Großmutter Khal'atra, sein Bruder Guthrag…

    Sie alle waren tot.

    Und was, wenn es auf Gantuigh wirklich keine T'han T'hau mehr gab? Waren sie, hier in diesem trostlosen Moor, dann die letzten? Waren sie die Überbleibsel ihres stolzen Volkes?

    Was würde geschehen, wenn sie Sureths Ruf folgten? Was würde geschehen, wenn sie es nicht taten? War es ihre Möglichkeit heimzukehren? War es eine Falle? Was würde sie auf Gantuigh erwarten?

    Leise Schritte näherten sich ihm, und dann trat Tiko neben ihn und sah wie er in den Himmel hinauf. Nach einer Weile lachte er halblaut.

    »Wenn mir heute morgen jemand gesagt hätte, dass mein ficha'thar vor ein paar geschriebenen Worten Angst hat, hätte ich ihn höhnisch ausgelacht. Aber hier stehe ich neben dem mächtigsten T'han T'hau aller Zeiten und spüre, wie er innerlich vor Furcht zittert. Was macht dir solche Angst?«

    Cridan antwortete nicht auf seine Frage.

    Statt dessen gab er zurück: »Und wenn es eine Falle ist?«

    Tiko wandte den Kopf und sah ihn scharf an.

    »Dann ist es eben eine Falle! Warum machst du dir darüber Sorgen? Wir haben doch nichts zu verlieren! Das hier«, er machte eine weit ausholende Geste, die ihre Siedlung und das Moor einschloss, »ist kein Leben für einen T'han T'hau! Unsere Kinder werden nicht mehr wissen, was es bedeutet, ein T'han T'hau zu sein! Dieses Leben besteht bloß aus Verstecken und dem verzweifelten Versuch, zu überleben. Das ist nicht das Leben eines T'han T'hau! Glaubst du, ich weiß nicht, wie dir zumute ist? Glaubst du, ich sehe es nicht?«

    Er stieß einen verächtlichen Laut aus. »Cridan, wir sind zusammen aufgewachsen! Du stehst mir näher als jeder andere, und das gewiss nicht nur, weil du mein verdammter ficha'thar bist! Jeden Tag lebe ich mit der Angst, dass du nicht mehr aus dem Sumpf zurückkommst. Nicht weil dir etwas passiert, sondern weil du es nicht mehr willst!«

    Cridan erwiderte seinen Blick.

    »Das würde ich nie tun«, entgegnete er. »Ich bin dein ficha'thar! Mehr noch, ich habe versprochen, dich zu beschützen. Was immer es mich auch kosten mag, ich bleibe an deiner Seite. Skatarhak ist tot. Du bist mein König, und ich folge dir, wohin du auch gehen magst. Mein Leben ist dein.«

    Tiko schüttelte verärgert den Kopf.

    »Nein, Cridan! Ich habe es dir schon so oft gesagt: Dein Leben gehört dir. Ich will es nicht! Du warst lange genug Sklave deines Eides, jetzt sollst du frei sein! Du bist nur deshalb mein ficha'thar, weil jeder König einen braucht.«

    »Und weil du mich brauchst«, stellte Cridan nicht ohne Genugtuung fest.

    »Und weil ich dich brauche«, nickte Tiko lächelnd. »Weshalb zögerst du dann noch? Folgen wir Sureths Einladung! Vielleicht ist es tatsächlich an der Zeit, dass die letzten T'han T'hau nach Gantuigh zurückkehren. Ganz sicher aber ist es Zeit, dass du nach Gantuigh zurückkehrst. Du wirst mich begleiten. Mert will zwar, dass wir alle mit ihm gehen, doch so dumm bin ich nicht. Wir werden erst sehen, ob Sureth die Wahrheit spricht. Wenn es so ist, wird der Rest uns mit der Wellenstolz und den anderen Schiffen folgen.«

    Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander. In Cridan stritten die Gefühle, doch schließlich gab er sich einen Ruck und nickte.

    »So sei es. Wir gehen nach Gantuigh.«

    In dieser Nacht fand Cridan keinen Schlaf.

    Irgendwann gab er es auf, sich im Bett herumzuwälzen, und stand auf. Leise stahl er sich aus der Siedlung und wanderte ziellos durch das dunkle Moor, bis er an den Ufern des Nebelwassers stand, das die Sümpfe nach Süden begrenzte. Irgendwo dort, hinter dem Nebel, lag der Rest des großen Kontinents, und noch viel, viel weiter dahinter war seine Heimat.

    Cridan sank auf die Knie nieder, ignorierte Schlamm und Wasser, die in seine Stiefel und Hosen drangen, zog sein Schwert und hielt es mit beiden Händen senkrecht vor die Brust. Das Sternenlicht funkelte auf der Klinge und ließ sie matt glänzen.

    Er legte die Stirn an das kühle Metall und schloss die Augen.

    Tief in sich spürte er noch immer die Angst, doch da war auch etwas Neues.

    Hoffnung.

    »Gantuigh«, flüsterte er leise.

    Und dann packte es ihn: Er sprang auf die Füße und riss das Schwert in die Höhe, während sich ein Brüllen aus seiner Kehle löste, das weit über das Moor hallte:

    »Gantuigh!«

    2. Kapitel – Aufbruch nach Gantuigh

    Ich kehre heim, hämmerte es unentwegt in seinem Kopf, als er mit seinem Bündel auf dem Rücken hinter Mert her ging, ebenso wie: Sie sind alle tot. Wir werden die einzigen T'han T'hau auf Gantuigh sein. Alle anderen sind tot.

    Unzählige Gefühle stritten in ihm, während er die starre, ausdruckslose Maske des ficha'thar aufgesetzt hatte. Da war immer noch ein Rest Furcht, dann Unsicherheit, aber auch Zorn über die vergangenen Jahre; Betroffenheit und eine dumpfe Trauer, wenn er an Skatarhak und das Schicksal der T'han T'hau dachte, die mit ihm in den Krieg gezogen waren; Entschlossenheit – er würde nach Gantuigh zurückkehren oder sterben, eine andere Wahl gab es für ihn nicht mehr; Sehnsucht und Hoffnung, die in der vergangenen Nacht immer größer geworden waren; und noch so viele andere, die er nicht benennen konnte.

    Die Finger seiner rechten Hand tasteten nach dem Schwertgriff und schlossen sich darum. Die Berührung des Metalls in seiner Handfläche beruhigte ihn sofort.

    Er war ein T'han T'hau – was hatte er zu fürchten?

    Der Tod schreckte ihn nicht. Er war seit je her sein Weggefährte, und er hatte ihm bereits zweimal geradewegs ins Auge geblickt: als er vor mehr als zwanzig Jahren in einen Hinterhalt getappt war, und bei ihrem Aufbruch aus Gantuigh, als das Wundfieber ihn fast umgebracht hätte.

    Sein Schwert, seinen Stolz und seine Würde – mehr brauchte er nicht, und wenn er in den vergangenen Jahren häufig genug das Gefühl gehabt hatte, letztgenannte verloren zu haben, so spürte er sie heute deutlicher denn je. Ungeachtet des Schlammes, der bizarre Muster auf seinem Schuppenkleid bildete, war er der gewaltigste T'han T'hau, den diese Welt je gesehen hatte.

    Tiko holte mit zwei raschen Schritten auf und ging neben ihm her.

    »Täusche ich mich oder bist du noch größer geworden?« fragte er mit einem Lächeln. »Manchmal vergesse ich, was für ein Gigant du bist. Und in Momenten wie diesen sehe ich dich an und weiß, dass noch jede Handbreit von dir mehr T'han T'hau enthält als so mancher ganze Mann.«

    Cridan sah auf seinen Freund hinunter und lächelte zurück.

    »Du hast Recht. Ich musste den T'han T'hau nur wiederfinden. Er hatte sich wohl im Moor verlaufen.«

    Tiko lachte.

    »Dann sieh zu, dass du ihn nicht noch einmal verlierst!«

    Sie überquerten die Nebelwasser auf einem Floß. Cridan stand aufrecht am Heck und stakte sie durch die unheimliche Landschaft, in der schwarze, kahle Bäume ihre dürren Zweige nach ihnen ausstreckten, als wären es gierige, verkrüppelte Finger.

    Kalte, graue Schwaden umhüllten sie, zogen wabernd vorbei und verwandelten alles um sie herum in undeutliche Schatten, um dann plötzlich aufzureißen und den Blick auf die wahre Gestalt der Dinge freizugeben.

    Cridan verließ sich ganz auf seinen Orientierungssinn und hin und wieder ein gemurmeltes Wort von Mert.

    »Woher kennt Ihr Euch hier so gut aus?« wollte Tiko von dem Boten wissen.

    Mert lachte freudlos.

    »Ich habe Wochen gebraucht, um Euch hier zu finden, und die meiste Zeit habe ich in diesem verfluchten Nebel verbracht. Zum Schluss war ich versucht, den Bäumen Namen zu geben, so oft, wie ich manche von ihnen gesehen habe.«

    Er seufzte.

    »Wir müssen dort entlang.« Er zeigte die Richtung.

    Endlich lichtete sich der Nebel, und das Wasser unter ihrem Floß wurde flacher, der Grund sandiger. Cridan sprang ab und watete die letzten Schritte ans Ufer, das Floß hinter sich her ziehend.

    »Ganz in der Nähe habe ich meinen Wagen untergestellt«, sagte Mert. »Ihr wartet besser hier. Man darf Euch nicht entdecken, sonst war alles umsonst.«

    Cridan war es unendlich Leid, sich zu verstecken. Nur zähneknirschend fügte er sich und blieb mit Tiko am Nebelwasser zurück, während Mert zwischen den niedrigen Bäumen, die auf dem kargen Boden wuchsen, verschwand.

    Tiko hatte sich ins Heidekraut gelegt, den Kopf auf seine verschränkten Arme gebettet, und sah in den grauen Himmel hinauf, während Cridan rastlos am Wasser entlangging. Eine quälende, kaum auszuhaltende Unruhe trieb ihn um – was war, wenn dies tatsächlich eine Falle war, und Mert mit einem Dutzend Männer zurückkam, die sie töten wollten? Oder, noch viel schlimmer: Was war, wenn Mert nicht wiederkam?

    Bei dem Gedanken, ins Moor zurückkehren zu müssen, graute es ihm.

    Nein, schwor er sich, was immer auch passiert, ich werde nicht zurückgehen! Lieber sterbe ich!

    Es war eine schier endlose, an den Nerven zerrende Warterei, doch Stunden später, als die Dämmerung schon hereingebrochen war, entdeckte er endlich ein Gefährt, das sich langsam seinen Weg durch das unwegsame Gelände bahnte.

    Zusammen mit Tiko kletterte er in den hohen, vierrädrigen Wagen, der durch eine Plane abgedeckt war.

    Hier saßen sie zwischen Kisten und Bündeln und versuchten, es sich so gemütlich wie möglich zu machen, während der Wagen Richtung Küste schaukelte.

    Cridan lehnte sich rücklings gegen eine der Kisten, schob den Arm unter seinen Kopf und schloss die Augen. Die Unruhe war besser geworden, jetzt, da sie sich wieder bewegten. Daher konnte er die Zeit genauso gut dazu nutzen, sich ein wenig auszuruhen.

    Wenig später schreckte er aus dem Halbschlaf auf.

    Für einen Moment wusste er nicht, wo er sich befand: Dunkelheit herrschte um ihn herum, der Boden schwankte und rüttelte, und etwas drückte ihm hart in die Rippen. Dann erinnerte er sich wieder.

    Er zwängte sich in der Finsternis durch die unordentlich gestapelte Ladung nach vorne bis zum Kutschbock und ließ sich neben Mert auf die hölzerne Sitzbank gleiten. Das Pferd schnaubte nervös und peitschte mit dem Schweif, als es die Witterung des T'han T'hau in die Nüstern bekam.

    »Ho«, brummte Mert, »ruhig, mein Braver. Alles ist gut.«

    Er schenkte Cridan einen Seitenblick und murmelte: »Ihr habt es nicht so mit Pferden, was?«

    Cridan zuckte die Achseln.

    »Ist ein Geburtsfehler«, gab er zur Antwort.

    Mert lachte leise, ließ die Leinen auf die mondbeschienene Kruppe des Pferdes klatschen und schnalzte aufmunternd.

    »Wir werden nicht allzu lange brauchen«, sagte er. »Bis zur Küste sind es von hier vielleicht noch zwei Tage. Da wir überwiegend nachts fahren, wird es ein wenig länger dauern als auf dem Hinweg. Dann müssen wir uns nur etwas einfallen lassen, wie wir nach Gantuigh kommen. Ich war davon ausgegangen, dass wir mit Euren Schiffen reisen könnten, aber nun…« Er ließ den Satz unvollendet.

    Cridan hob die Schultern.

    »Ihr habt Ratiko'khars Entscheidung gehört. Macht Euch keine Gedanken über die Seereise. Wir werden einen Weg finden. Ein kleines Schiff, ein Boot – alles, was wir mit zwei Mann segeln können, wird passen.«

    »Mit zwei Mann?« Mert sah ihn entsetzt an. »Wie stellt Ihr Euch das vor?«

    »Von mir aus auch drei«, bemerkte Cridan mit einem spöttischen Lächeln, »vorausgesetzt, Ihr könnt segeln.«

    Mert lachte etwas abgehackt.

    »Leider nein. Ich kann rudern und ein Floß vorwärts bewegen, aber segeln geht über meinen Horizont – im wahrsten Sinne des Wortes. Und Ihr… Ihr habt allen Ernstes vor, mit einem Boot, das von nur zwei Mann gesegelt werden kann, das Meer zu überqueren?«

    Cridan hielt eine Antwort für überflüssig, und nach einer Weile seufzte Mert leise.

    »Ich gehe davon aus, dass es nicht Euer Ziel ist, auf der Reise zu ertrinken«, murmelte er resignierend. »Mir bleibt also kaum etwas anderes übrig, als Eurem Vorschlag zu folgen. Dann wäre nur noch die Frage zu beantworten, woher wir ein solches Schiff bekommen.«

    Cridan grinste.

    »Für gewöhnlich liegen Schiffe in einem Hafen«, erwiderte er. »Findet Ihr mir einen Hafen, ich finde Euch ein Boot.«

    Mert nickte langsam. »Einen Hafen finde ich für Euch. Mit dem Wagen wird es nicht allzu schwer sein, Euch in die Nähe der Schiffe zu bringen. Alles andere überlasse ich Euch.«

    Er zögerte kurz.

    »Darf ich Euch eine Frage stellen?«

    Cridan neigte zustimmend den Kopf, und Mert sprach weiter: »Wie lange wart Ihr fort? Ich meine, von Gantuigh.«

    Cridan schwieg einen Moment.

    »Fast elf Jahre«, erwiderte er dann bitter. »Elf lange, vergessene und verlorene Jahre. Elf Jahre, in denen Gantuighs Geschichte ohne uns geschrieben wurde. Skatarhak und alle, die uns kennen, sind tot, sagt Ihr. Es ist… eigenartig. Ich kann mir ein Gantuigh ohne T'han T'hau nicht vorstellen.«

    Mert lachte.

    »Ihr werdet es erleben, wenn Euer Plan aufgeht! Und es ist ein schönes Land! Es hat sich viel verändert, aber zum Guten. Gantuigh ist regelrecht aufgeblüht unter Mar'Tians Herrschaft!«

    Cridan traute seinen Ohren nicht.

    »Mar'Tian?« wiederholte er ungläubig.

    Mert nickte. »Ja. Wenn Ihr so wollt, ist er einer der neuen T'han T'hau. Wir…«

    Er hielt kurz inne, musterte Cridan nachdenklich und fuhr dann fort: »Wir nennen Euch nicht mehr die T'han T'hau. Das Wort hat seine ursprüngliche Bedeutung zurück erhalten. Zu den T'han T'hau zählen heute die besten Krieger.«

    »Und wie nennen sie uns?«

    »Von Euch spricht man nur noch in Geschichten

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