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Eine Jugend im Osten des Dritten Reiches
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Eine Jugend im Osten des Dritten Reiches

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Der bekannte Religionswissenschaftler und Kirchenkritiker Hubertus Mynarek (Jahrgang 1929), der nach seiner 1958 erfolgten Ausreise aus dem inzwischen polnischen Schlesien eine fulminante Karriere in Westeuropa durchlief (u.a. Professuren an den Universitäten Bamberg und Wien, Dekan der katholisch-theologischen Fakultät dortselbst), legt mit diesem Buch eine hochinteressante Biografie seiner Jugend im Osten des Dritten Reiches vor. Anschaulicher, konkreter, farbiger und detaillierter, aber auch spannender und frappanter ist eine Schulzeit unter dem Nationalsozialismus kaum jemals geschildert worden. Das Gleiche gilt von den in seinem Buch plastisch zu Tage tretenden Erfahrungen und Erinnerungen des Oberjungzugführers Mynarek an die Hitlerjugend. Eine Milieustudie über die HJ, die in ihrer Menge unbekannter Details wohl ziemlich einzigartig dasteht.
Die Charaktere und Mentalitäten der Lehrer und Schüler in den Volksschulen und Oberschulen unter dem Hakenkreuz, ihre offiziellen und inoffiziellen Einstellungen und Meinungen, ihre Gruppenbildungen und ihre trotz der intensiv propagierten 'Volksgemeinschaft' sich herausbildenden Polaritäten sind eine Fundgrube für Chronisten und Historiografen des Dritten Reiches.
Der Autor präsentiert Hunderte von Alltagsfacetten des Lebens unter den Nazis, Blitzlichter, die aufschlussreicher und informativer sind als ganze Reihen wissenschaftlicher Sachbücher.
Mynarek schildert auch seinen Weg vom HJ-Führer zu einem der Wegbereiter der deutsch-polnischen Versöhnung, im Zusammenhang damit seine Kontakte zu bedeutenden Vertretern des polnischen Geisteslebens, Schriftstellern und Kirchenführern wie den Kardinälen Wyszyński und Kominek oder dem Leiter des oberschlesischen Priesterseminars, Dr. Jan Tomaszewski. Ein ganzes Kapitel unterschlagener bzw. unterdrückter deutsch-polnischer Geschichte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wird so in diesem Buch zu neuem Leben erweckt.
Wer dieses Buch gelesen hat, erhält einen tiefen Einblick in deutsch-polnische Grenzmentalität, kann berechtigterweise mitreden, wenn es um das schwierige Werk des Brückenbaus zwischen den komplizierten Seelenlagen und unterschiedlichen Kulturinteressen von Deutschen und Polen geht.
Mynareks autobiografischer Bericht ist nur ein Mosaikstein, aber ein wichtiger in der Erinnerungsliteratur jener zu Ende gehenden Generation, deren ganze Jugend noch in die Zeit des Dritten Reiches fiel.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateJan 12, 2019
ISBN9783742708069
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    Book preview

    Eine Jugend im Osten des Dritten Reiches - Hubertus Mynarek

    Einleitungskapitel

    Warum dieses Buch – warum dieses Thema?

    Eine Jugend im Osten des Dritten Reiches. Macht es überhaupt einen Sinn, solch ein Thema zu bearbeiten? Ja, wenn es sich um Berlin, Hamburg, Dresden oder München in der Zeit der Nazi-Herrschaft handelte, könnte man dem Thema vielleicht mehr Sinn abgewinnen, dürfte so mancher sagen. Aber Groß Strehlitz, eine Kreisstadt in Oberschlesien an der äußersten östlichen Grenze des Reiches, bevor Hitler seinen Überfall auf Polen inszenierte, wodurch diese Stadt ja nun plötzlich keine Grenzstadt mehr war, weil zum Dritten Reich jetzt auch das halbe Polen gehörte; bald sogar das ganze, als der Diktator den Hitler-Stalin-Pakt brach und in Sowjetrussland einmarschierte, nachdem er die Demarkationslinie, die mitten durch Polen verlief, mit seinen Armeen blitzkriegartig überschritten hatte – also dieses Groß Strehlitz erscheint ja auf den ersten Blick so unwichtig, dass eine Reportage irgendwelcher Art sich darüber gar nicht lohnt.

    Nein, diese Stadt kann sich größenmäßig und im Hinblick auf seine Kulturgüter wirklich nicht mit Großstädten messen – und dennoch passierte hier ein gar nicht so unbedeutender Teil der Geschichte des Dritten Reiches. Ja, auch schon vorher zog diese Stadt die Blicke der Politik auf sich. Gehört doch zu ihr der nur etwa 10 km entfernte Annaberg, der heilige Berg Oberschlesiens, der bedeutendste Wallfahrtsort Schlesiens, der Mutter der Gottesmutter Maria gewidmet. Bis heute überschreitet die Zahl der zu diesem Berg pilgernden Katholiken nicht selten die magische Grenze von 100.000 Wallfahrern.

    Mit dem Annaberg als dem höchsten, etwa 600 Meter über dem Meeresspiegel liegenden Berg Oberschlesiens ist deutsche wie polnische, tschechische, habsburgische wie preußische, politische wie kirchliche Geschichte eng verbunden. Um ihn als Wahrzeichen Oberschlesiens tobten die Kämpfe des deutschen Freikorps mit den polnischen Insurgenten in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Hier errichteten später die Nazis eine kitschig-monumentale Gedenkstätte und ein gewaltiges Amphitheater, das die oberschlesischen Massen anziehen und von den Wallfahrten zur heiligen Mutter Anna, der der Berg gewidmet ist, abziehen sollte. Als Verwalter des heiligen Berges fühlen sich bis heute die Mönche des Franziskus von Assisi, deren wuchtiges Kloster, fast genau an der höchsten Stelle des Berges errichtet, die Täler ringsum beherrscht. Während des Zweiten Weltkriegs mussten die Mönche das Kloster verlassen, die SS quartierte sich ein.

    Groß Strehlitz lag seit dem Altertum (archäologische Untersuchungen bezeugen eine Besiedlung des Groß Strehlitzer Raums schon seit der Bronzezeit) an wirtschaftlich bedeutenden Handelsrouten; im Altertum an der berühmten Salz- und Bernsteinstraße, im Mittelalter an der von Hamburg nach Kiew führenden Handelsstraße der Hanse, weswegen Strzelce Opolskie, so der heutige Name der Stadt, auch 1998 in das Städtebündnis der Neuen Hanse aufgenommen wurde.

    Wegen dieser bevorzugten Lage wälzten sich im Spätsommer 1939 durch die Hauptverkehrsstraße der Stadt die siegesgewissen deutschen Truppen in Richtung Polen, und – dramatische oder je nach Sichtweise tragische Umkehrung der Geschichte – im Januar 1945 die geschlagene deutsche Armee und die Trecks der Flüchtlinge in genau umgekehrter Richtung, nämlich nach Westen ins Altreich, das kein Großdeutschland mehr war. Als Zehnjähriger erlebte ich mit eigenen Augen diesen gewaltigen Marsch gen Osten, als knapp 16jähriger empfand ich noch massiver und intensiver das Zurückfluten der sich auflösenden Bestandteile der deutschen Armee durch Groß Strehlitz in Richtung Oder, um dort eine letzte Widerstandsfront gegen den „bolschewistischen Erzfeind" zu organisieren.

    Wir Kinder winkten eifrig und freudig der deutschen Armee des Jahres 1939 zu. Aber es war ganz seltsam, denn so ganz ungehemmt konnte ich meiner Begeisterung keinen freien Lauf lassen, weil ich spürte, dass die Erwachsenen rings um mich eher bedrückt waren. Eine bleierne, düstere Schwere schien auf ihnen zu lasten. Zu Hause fragte ich deswegen meinen Vater. Der ließ sich mit der Antwort Zeit. Er wusste ja, dass Kinder alles ausplaudern, was man ihm als Wehrkraftzersetzung hätte ankreiden können: „Weißt du, sagte er dann nur, „viele Leute hier sind ja schon älter, die denken halt an die Schrecken des Ersten Weltkriegs und dessen furchtbares Ende. Aber davon weißt du ja kaum etwas. Ein Krieg ist eben immer etwas Furchtbares! Die Worte meines Vaters machten einen starken Eindruck auf mich. Aber bald kamen die triumphalen Siegesmeldungen des Oberkommandos der Wehrmacht von der deutsch-polnischen Front, die diesen Eindruck zunächst einmal wieder verwischten.

    Nachträglich würde ich mir wünschen, dass Daniel Goldhagen mit seiner berühmten These vom deutschen Volk als „Hitlers willigen Vollstreckern" die düstere Stimmung der Einwohner von Groß Strehlitz miterlebt hätte. Ich kann mir jedenfalls vorstellen, dass viele Deutsche so empfanden wie die in Groß Strehlitz, dass sie keinen Krieg wollten und keine Verbrechen an anderen Völkern. Freilich, sie standen nicht gegen Hitler auf, machten keine Rebellion, geschweige Revolution gegen ihn. Aber in welchem Volk unter welcher Diktatur geschieht das schon? Und die Nazi-Diktatur war ja eine der technisch bestorganisierten und am strengsten kontrollierenden der Geschichte. Dieses Übermaß an Mut, an Zivilcourage, das nötig gewesen wäre, um z.B. ein Attentat auf Hitler zu planen und durchzuführen – dazu waren natürlich nur wenige fähig.

    Aber kehren wir zur Hauptfrage dieses einleitenden Kapitels zurück. Groß Strehlitz ist auch deshalb für die Geschichte des Dritten Reiches nicht ohne Bedeutung, weil es die erste Stadt Schlesiens in den vor Beginn des Zweiten Weltkrieges bestehenden Grenzen des Deutschen Reiches war, die von der Sowjetarmee eingenommen wurde. Es war die Nacht vom 20. zum 21. Januar 1945, also noch fast vier Monate vor dem offiziellen Ende dieses Krieges am 8. Mai desselben Jahres. Dieser Einmarsch der Russen und die Folgen sind nicht Thema des vorliegenden Buches. Ich habe dieses Thema aber ausführlich und detailliert in meinem Buch „Zwischen Gott und Genossen" behandelt und verweise den interessierten Leser auf die dortigen Ausführungen.

    Diese wenigen Hinweise auf die Bedeutung meiner Heimatstadt mögen vorerst genügen. Ich hoffe, der Leser kann erkennen, dass Groß Strehlitz zwar nur ein Mosaikstein in der Geschichte des Dritten Reiches ist, dass aber dieser Stein einen unverzichtbaren Bestandteil dieser Geschichte darstellt, was sich in den folgenden Ausführungen des vorliegenden Buches noch deutlicher zeigen wird. Lassen sich doch diese Ausführungen sehr wohl auf einige Gesamtaspekte des Dritten Reiches hin verallgemeinern.

    Zweites Kapitel

    Meine Eltern und das Dritte Reich

    Als das Dritte Reich begann, war mein Vater, Heinrich Mynarek, gerade 40 Jahre alt geworden. In der ersten Begeisterungswelle für Hitler trat er 1933 der Nazi-Partei, der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei), bei, trat aber noch im selben Jahr aus ihr auch wieder aus, als er bemerkte, dass sie mit dem, was er unter Moral, Ethik, Humanität und Christlichkeit verstand, wenig oder gar nichts im Sinn hatte. Ihn störte das arrogant-überhebliche, grobschlächtige Auftreten der SA-Leute; die Gleichschaltung der Presse, so dass in allen Zeitungen jetzt nur noch eine Meinung, die des Regimes, geduldet wurde; die Tatsache, dass anständige Leute, die er zu seinem Bekanntenkreis zählte, nur deshalb ständig verhört wurden bzw. ins Gefängnis kamen, weil sie der Sozialdemokratie, dem Zentrum oder irgendeiner anderen nichtbraunen Partei der Weimarer Zeit angehört hatten.

    Vaters Austritt aus der Partei war zwar keine revolutionäre Tat, aber ein sehr mutiger Schritt war es schon, denn er wusste, was ihm nun blühte: Zwar kein Berufsverbot, denn er war ein selbstständiger Handwerker, Sattlermeister, aber der Entzug aller staatlichen und behördlichen Aufträge. Keine Koppel mehr für die Wehrmacht, keine Sattel und anderes Pferdegeschirr für die berittene Polizei und die Reitertruppe des Militärs, keine Aktentaschen für die Angestellten und Beamten des Rathauses und des Landratsamtes in Groß Strehlitz, keine Hand- und Fußbälle für die Schulen (die Bälle stellte man damals noch weitgehend in Handarbeit her) usw. usf. In einer Kleinstadt wie Groß Strehlitz spricht sich alles sehr schnell herum. Also kauften viele, die sich bei den Nazis nicht unbeliebt machen wollten, auch nicht mehr im Geschäft meiner Mutter ein. (Die Mutter führte unser Lederwaren- und Polstereigeschäft am Alten Ring, der Vater hatte die Sattlerei an der Malapaner Straße). 

    Die Folgen von Vaters Austritt aus der NSDAP wogen umso schwerer, als er das Geschäft und die Werkstatt gerade erst aufgebaut hatte. Stammte er doch aus ärmsten Verhältnissen (als Kind bekam er manchmal Kartoffeln in die Hand gedrückt, weil ihm die Eltern kein Brot für die Schule mitgeben konnten), und so war er besonders stolz darauf, es zu etwas gebracht zu haben, nachdem er, als mittelloser Soldat aus dem Ersten Weltkrieg gekommen, 1920 die Existenzgründung seiner Sattlerwerkstatt mit nur einer Ahle und einem Ledermesser (!) vollzogen hatte. Und nun sollte diese langsam, aber stetig wachsende Prosperität seiner beiden Unternehmen (Werkstatt und Geschäft) durch seinen Parteiaustritt jäh wieder unterbrochen sein.

    Zum Glück zog damals meine Mutter mit, die eine sehr selbstbewusste, selbstständige, bisweilen auch eigensinnige Frau war. Beim Vater dominierte der Verstand, die Intelligenz, und diese brachte mich immer wieder zum Erstaunen, weil ich doch wusste, dass er nur die Volksschule eines Dorfes (Hohenkirch, heute Wysoka, am Annaberg) und nie ein höheres Bildungsinstitut besucht hatte. Umso mehr bewunderte ich seinen Scharfsinn, die Logik seiner Rede, das Denken in größeren Zusammenhängen. Mutter war nicht unintelligent, aber bei ihr dominierte das Emotionale. Und das war in dieser Situation von Vorteil. Denn meine Mutter hatte ganz instinktiv, ganz intuitiv-emotional einen Widerwillen gegen die Nazis, insbesondere gegen Hitler. Deshalb war sie voll einverstanden mit Vaters Entscheidung, aus der Nazipartei auszutreten, und zwar ohne Rücksicht auf die Folgen.

    Ich hatte so manchmal große Angst um meine Mutter, denn sie hielt sich auch vor Kunden im Geschäft vor Schimpfereien gegen die Nazis nicht zurück. In unserem Lederwarenladen hing zwar ein Bild von Hitler, weil das der Kreisleiter so angeordnet hatte, aber immer wieder entfuhr es ihr unwillkürlich, auch wenn Leute im Geschäft waren, die sie näher gar nicht kannte: „Wenn ich nur die Visage von diesem Mann sehe, wird mir schlecht. Wie oft dachte ich: „Die kommen eines Tages und werden meine Mutter abholen! Meinem Vater wäre das ganz sicher passiert, wenn er solche Reden gegen die Nazis geführt hätte. Aber bei einer Frau ließen die Nazis doch mehr durchgehen. Anders kann ich mir nicht erklären, warum sie nicht gegen meine Mutter vorgingen. Denn Mutter lieferte ihnen ja immer noch weitere Gründe, gegen sie vorzugehen. Ich denke da ganz besonders an ihre Rolle beim Judenpogrom des Jahres 1938.¹ Denn auch in Groß Strehlitz wie in vielen Städten Deutschlands brannte die Synagoge, wurden jüdische Geschäfte demoliert, jüdische Privatwohnungen „erstürmt". Damals war ich zwar erst 9 1/2 Jahre alt (geb. im April 1929), aber die Erschütterung über diese Vorgänge wirkte lange in mir nach, weil ich sie aus unmittelbarer Nähe miterlebt hatte. Wir wohnten im Zentrum der Stadt (Alter Ring, Nr. 25), in einem großen schönen Zweifamilienhaus. (Dieses Haus gibt es jetzt nicht mehr. Es wurde wie alle Häuser des Platzes von den Sowjets 1945 zerstört, die Polen haben viele Jahre später neue, kleinere Häuser an deren Stelle gesetzt). In der Mitte des Alten Ringes stand und steht heute noch das Rathaus, das zwar auch ausgebrannt war, aber in seinem Innenraum von den Polen wiederhergestellt werden konnte, weil die Grundmauern dem Brand widerstanden hatten. lm Haus, in dem meine Eltern und wir Kinder – fünf an der Zahl, drei Mädchen, zwei Jungen – wohnten, befand sich links unten im Erdgeschoss neben unserem Geschäft, nur durch einen Hauseingang getrennt, die Praxis des jüdisches Arztes Dr. König. Seine Familie mit Ehefrau und ebenfalls fünf Kindern, zwischen siebzehn und drei Jahre alt, bewohnte die Räume im ersten Stock über der Praxis und dem Geschäft. lm zweiten Stock wohnte unsere Familie.

    Zwischen unseren Familien herrschten gut nachbarliche Beziehungen. Es waren aber keine engen Beziehungen. Die gewisse Distanz hatte wohl ihren Grund in der sehr streng jüdisch-orthodoxen Frömmigkeit dieses Arztes und seiner Familie. Meine Eltern respektierten diese Art von Religiosität, auch wenn sie schon mal mit einem gewissen Mitleid vor uns erwähnten, dass diese nicht getauften Juden noch immer den Messias, der doch längst gekommen sei, erwarteten. Aber davon war selten die Rede, im Grunde eigentlich nur dann, wenn Familie König ihre auf Hebräisch gesungenen Abendgebete sehr lang und sehr laut durchs ganze Haus hallen ließ.

    Dann kam jener Abend des Jahres 1938, an dem die Praxis des jüdischen Arztes gestürmt wurde. Meine Mutter und ich standen gerade vor unserem Geschäft, als eine Meute von etwa hundert SA-Männern und Zivilisten, die letzteren meist jugendliche Rowdies aus den Außenbezirken der Stadt, auf dem Platz vor dem Rathaus erschien, Steine aus dem Straßenpflaster herausriss und damit bewaffnet auf die Praxis losstürmte. Die Fensterscheiben krachten, und schon sprangen die ersten aus der Meute durch die Fenster in die Räume der Arztpraxis, wo sie die teuren Geräte mit Steinen bombardieren, die Sessel aufritzten und die Arzneiflaschen an die Wände schmetterten. Die draußen Gebliebenen „begnügten sich damit, frenetisch-hasserfüllt „Juden raus zu grölen und Steine in die Fenster der Wohnung im ersten Stock zu werfen, wo sich, wie wir später erfuhren, die jüdische Familie in panischer Angst in die hintersten Räume geflüchtet hatte.

    Nun geschah etwas, was mich noch mehr als das bisher Geschehene mit stechender Angst erfüllte. Denn, obwohl noch ein Kind, spürte ich, dass gegen diese bösartige Übermacht im Augenblick jeder Widerstand sinnlos war. Meine Mutter, außer sich vor Erregung, hatte nämlich plötzlich zu schreien und zu schimpfen angefangen, aber nicht etwa mit der Meute, sondern gegen sie. „Ihr Idioten, ihr, Banditen, schrie sie, „was hat euch denn dieser Mann gemacht? Ihr seid doch alle zu ihm hingelaufen, wenn Ihr krank wart. Und – hier sprach wohl der praktische Sinn aus meiner Mutter – „wenn ihr jetzt die teuren Instrumente in seiner Praxis zerschlagt, kann er euch doch nicht mehr behandeln. Einen Augenblick lang legte sich lähmende Stille über die makabre Szene. Dann schrie ein SA-Mann: „Schafft diese kreischende Hexe weg. Ein höhnisches Gelächter folgte, und dann machte sich die Meute wieder an ihre Arbeit, als wäre nichts geschehen. Ein Schupo fasste meine Mutter hart am Arm und zerrte sie in unseren Laden. Nachdem er die Tür von innen geschlossen hatte, mahnte er sie: „Frau Mynarek, halten Sie den Mund. Sie reden sich um Kopf und Kragen. Ich muss Sie verhaften, wenn sie noch mal so etwas tun." Er sagte das alles ohne Gehässigkeit. Ich würde heute meinen, dass er mit der Aktion der Horde da draußen innerlich keineswegs übereinstimmte.

    Meine Mutter hatte sicher keine tieferen weltanschaulichen Gründe, so zu handeln. Es war einfach die instinktiv-emotionale Reaktion auf ganz offensichtliches Unrecht. Aber merkwürdigerweise war sogar eine solche unmittelbare, humane Reaktion fast allen Mitbürgern unserer Stadt bereits abhandengekommen, denn niemand leistete den geringsten Widerstand, als an diesem Abend noch weitere jüdische Geschäfte und Wohnungen angegriffen wurden und die Synagoge in Flammen aufging. Dabei hatte es bis zu diesem Zeitpunkt sogar teilweise recht dicke Freundschaften zwischen jüdischen und „arischen" Kaufleuten gegeben und von Feindschaft zwischen Juden und Christen war meinen Eltern und uns Kindern nie etwas aufgefallen.

    Nach der Kristallnacht war es für die Juden in unserer Stadt praktisch unmöglich, unbehelligt auf die Straße oder in die Geschäfte zu gehen. Es war für die Nichtjuden schon gefährlich, mit ihnen Kontakte zu haben. Meine Mutter focht das nicht an. Sie versorgte die Familie König, von der es keiner mehr wagte, das Haus zu verlassen, mit Lebensmitteln und allem Notwendigen. Verhindern aber konnte sie auch nicht, dass eines Tages alle Angehörigen dieser Familie auf einen Lastwagen verladen wurden und für immer aus unserem Gesichtskreis verschwanden.²

    Man kann mit dem lähmenden Bewusstsein offensichtlichen Unrechts, das anderen geschieht, nicht lange leben, ohne zu resignieren, ohne depressiv und apathisch zu werden. Meine Mutter aber war ein reger, energisch-praktischer Typ. So tröstete auch sie sich mit der offiziellen Version, die in Groß Strehlitz nach dem Abtransport aller Juden ausgegeben worden war und die davon sprach, dass diese Menschen in eine rein jüdische Stadt in Polen verbracht würden, wo sie in völliger Ruhe und ungestörtem Frieden ganz unter sich sein könnten. Auch der Rest unserer Familie glaubte dieser Version gern.

    Eines Tages aber wurde dieser Glaube bei jedem zerstört. Es klingt absurd, aber ich wurde diesbezüglich durch einen „Witz eines Schulkameraden aufgeklärt. Irgendwann Ende 1943 oder Anfang 1944 erzählte mir dieser: „Zwei Juden treffen sich. Nachdem sie ein längeres Gespräch miteinander geführt haben, verabschieden sie sich mit der Bemerkung: >Also auf Wiedersehen in der Seifenschublade irgendeiner Apotheke!< Mein Schulkamerad lachte grölend. Aber ich verstand nichts. „Was, du Naivling weißt nicht, dass man die Juden vergast und Seife aus ihnen macht? „Das glaube ich nicht, sagte ich entrüstet. Er wisse es ganz genau, antwortete er, sein Bruder sei doch bei der Waffen-SS und wenn er auf Urlaub komme, erzähle er noch ganz andere Sachen; zum Beispiel, wie er mit seinen Kameraden jüdische Mütter mit Kindern auf dem Arm vor ausgeschaufelten Gräbern postiere

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