Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Siebenhundertfünfundachtzig
Siebenhundertfünfundachtzig
Siebenhundertfünfundachtzig
Ebook527 pages7 hours

Siebenhundertfünfundachtzig

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Über Jahrhunderte lebten die Sachsen im heutigen Nordwestdeutschland als freie Männer und Frauen, war es nicht Herkunft, sondern Leistung, welche ihre Stellung in der Gemeinschaft bestimmte, verehrten sie Tiere als Boten der Götter und die Edelsten von ihnen, die Pferde, als Götter selbst. Sie kannten keine Könige und keine Vasallen, bis ein fremdes Volk in ihr Land einfiel. Trotz heldenhaften Kampfes gelang es ihnen nicht, die Freiheit zu behaupten. Ihr bekanntester Führer, Widukind, unterwarf sich schließlich dem Frankenkönig Karl und ließ sich 785 taufen. Danach verlor sich seine Spur in der Geschichte. Warum? Und welches Geheimnis barg Karl, als man anfing, ihn den Großen zu nennen? Die Antworten gibt dieses Buch.
LanguageDeutsch
Publisherneobooks
Release dateMar 19, 2014
ISBN9783847680017
Siebenhundertfünfundachtzig

Read more from Frans Diether

Related to Siebenhundertfünfundachtzig

Related ebooks

Historical Fiction For You

View More

Related articles

Related categories

Reviews for Siebenhundertfünfundachtzig

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Siebenhundertfünfundachtzig - Frans Diether

    Vorwort

    Über Jahrhunderte lebten die Sachsen im heutigen Nordwestdeutschland als freie Männer und Frauen, war es nicht Herkunft, sondern Leistung, welche ihre Stellung in der Gemeinschaft bestimmte, verehrten sie Tiere als Boten der Götter und die Edelsten von ihnen, die Pferde, als Götter selbst. Sie kannten keine Könige und keine Vasallen, bis ein fremdes Volk in ihr Land einfiel, zunächst unter dem Hausmeier Karl Martell, später dann unter dessen Sohn Pippin dem Jüngeren. Doch erst dessen Sohn Karl, den man den Großen nennt, vollendete das schändliche Werk, welches Kultur, Lebensweise und Glauben der sächsischen Stämme, heute würde man sie indigen nennen, vernichtete.

    Siebenhundertdreiundfünfzig, Karls Geburt jährte sich zum elften Male, nahm ihn der Vater mit auf den Feldzug gen Norden, gegen die Barbaren, wie sie die in kleinen Familienverbänden lebenden Bewohner der wald- und wasserreichen Gegend nannten. Und der zukünftige König sah, mit welchem Mut die Feinde kämpften und lernte, sie zu besiegen, bedurfte größter Entschlossenheit und Härte. Während er mit den Kindern der Hauptleute Sachsenjagd spielte, jagte sein Vater, fern der Ehefrau und getrieben von männlichem Verlangen, den Sachsenweibern nach und weihte auch den Sohn schon früh in die Freuden des Liebesspiels ein.

    Warnechin, der Sachse, ließ seine wunderschöne Frau Gunilda und den gemeinsamen Sohn Widukind auf dem Hof zurück, stellte sich mit anderen tapferen Männern der fränkischen Streitmacht entgegen, war nicht zu Hause, als die Frankenkrieger sein Heim überfielen, die Frau verschleppten, der Sohn nur überlebte, weil er sich unter den Leibern der Getöteten verbarg. Und der König tat der schönen Sächsin Gewalt an. Erst in der folgenden Nacht konnte sie entfliehen, seinen Siegelring als Preis mit sich nehmend.

    Pippins Truppen zogen sich zurück. Der Frankenkönig fand noch viele Frauen auf seinem Weg, ließ seinen Schreiber ob des verlorenen Siegels auspeitschen, vergaß Gunilda, so wie er die anderen Frauen vergaß. Doch Gunilda vergaß ihn nicht, hatte das Zusammensein doch Folgen, welche neun Monate später offenbar wurden. Zwillinge kamen zur Welt, Kunibert und Adalmar. Und obwohl sie wusste, dass beide Früchte des Gewaltakts waren, liebte sie die Kinder von Herzen, erzog sie mit aller Weisheit und als freie Männer. Doch ihr Mann, zurückgekehrt nach langem Kampf, verstieß die Bastarde, gab seinen ganzen Hass an den eigenen Sohn Widukind weiter, der schwor, niemals einer fremden Macht zu weichen und stets das Land der Sachsen, die Götter der Sachsen, die Freiheit der Sachsen zu verteidigen. Adalmar und Kunibert hingegen mussten bei der Familie eines Unfreien leben, von morgens bis abends hart arbeiten. Hunger hieß nun ihr Vater und Angst ihre Mutter. Doch während Kunibert lernte, durch Gewalt zu bestehen, steckte Adalmar alle Demütigungen ein. Und während sein Bruder sich mit fünfzehn Jahren, im Todesjahr seines Vaters, zwei Wegelagerern anschloss, sich einem Leben des Raubens, Mordens aber auch des Wohlergehens zuwandte und die Vergangenheit hinter sich ließ, betrachtete Adalmar oft den Ring, den ihm die Mutter gab, kurz bevor er auf ewig von ihr getrennt wurde.

    Er stammt von deinem Vater, sagte sie damals.

    Und Adalmar holte Erkundigung ein, forschte nach seinen Wurzeln, wusste es irgendwann sicher, sein Vater war ein König. Als ein Missionar, das Evangelium des Christus, die Lehre des neuen, einzigen, wahren Gottes predigend, die armselige Hütte von Adalmars Pflegeeltern aufgrund ihrer Schäbigkeit schon hinter sich lassen und einem reichen Hofe zustrebten wollte, rannte ihm der Junge nach, wich ihm nicht mehr von der Seite, folgte ihm bis ins Frankenreich. Die neue Lehre ergriff Adalmars Seele. Der einzige und wahre Gott versprach Heil und ewiges Leben und absolute Gerechtigkeit. Und der Sohn eines Königs schloss daraus, sein Recht einzufordern. So zog er denn mit dem Ring als Unterpfand bis an Karls Hof, bis zu seinem Halbbruder.

    Rasch verbreitete sich die Kunde von Pippins unbekanntem Nachkommen. Rasch erfuhr auch Karl davon und rasch handelte er. Schon sein Bruder Karlmann, mit dem er das Reich des Vaters teilen musste, bereitete ihm ständige Qual. Da kam ein weiterer Besitzanspruchsteller höchst ungelegen. Ohne dass Adalmar den jungen König je sah, hatte der bereits über sein Schicksal entschieden, ihn betäuben, binden, auf einem harten Wagen davonbringen, in einem finsteren Kerker anketten und abgeschottet von der Welt ein erbärmliches Dasein fristen lassen, streng bewacht von Männern, die seine Geschichte nicht kannten und ihn für verrückt hielten, da er sich als Bruder des Königs bezeichnete.

    Einen wie dich muss man ja wegsperren, riefen sie und lachten laut. Auf den Bruder des Königs, möge er seinen Schmuck mit Würde tragen.

    Adalmar schäumte dann immer vor Wut, zerrte an seinen Ketten, rüttelte an diesem grauenvollen Schmuck. Doch ändern konnte er nichts.

    Noch ein Hinweis, zur besseren Verständlichkeit werden bei geografischen Angaben die heute gebräuchlichen Namen verwendet.

    1. Kapitel

    Pfeilschnell flog ein schneeweißes Pferd am Ufer der Weser entlang. Auf dem ungesattelten Rücken trug es einen braun gebrannten Jungen. Dessen Finger krallten sich in die wehende Mähne, deren vom Wind getragenes Haar sich mit den langen blonden Strähnen des Reiters mischte. Nackt bis zum Gürtel schmiegte er seinen schmalen Oberkörper eng an den Hals des Tieres. Seine schuhlosen Füße umklammerten die Flanken des Freundes. Die beiden, Tier und Mensch, schienen eins zu sein und untrennbar. Gemeinsam flogen sie dahin unter der goldenen Septembersonne, die ihre glitzernden Strahlen vom wolkenlosen Blau des Himmels schickte und das Braun des Jungen auf dem Fell des Pferdes wie einen von Schnee gesäumten Flecken Erde erscheinen ließ. Sanft wogendes Gras, hoch fliegende Schwalben, den Spätsommer besingende Grillen, all das malte ein Bild des Friedens, ein Bild des Glücks. Das Dorf war bereits hinter dicht stehenden Bäumen verschwunden. Nach der nächsten Biegung würden die Felder beginnen, deren reife Ähren genug Nahrung für den Winter bieten sollten.

    Die Biegung war genommen, die Felder kamen in Sicht. Doch statt satter Ähren standen dort verkohlte Stoppel. Und verbrannter Geruch griff nach dem Jungen, ließ Falko, den Dreizehnjährigen, Sohn des Eno und der Gefion, nicht mehr los. Er durchdrang seinen Körper, als die Fremden sein Dorf anzündeten. Er schwebte im Wald, als er davonlief, zog bis in den letzten Winkel, in dem er sich tagelang versteckte. Der Geruch verschwand nicht, als das Feuer erlosch. Er blieb allgegenwärtig, so wie das Bild des sterbenden Bruders Beron und dessen letzte Worte. Rette unseren Vater!

    Beron zeigte dabei nach Norden, dann fiel sein Arm zu Boden, wirbelte eine Staubwolke auf und blieb schlaff in der Asche liegen. Und Falko schwor es dem Bruder, schwor bei allen Göttern und allem, was ihm lieb und teuer war. Unter Aufbietung aller Kräfte trug er die Toten zusammen. Tränen verschleierten seinen Blick. Als er sie sah, seine kleine Schwester Birin, den todbringenden Pfeil noch im Rücken und von diesem gleichsam ans Herz der Mutter genagelt, versagten seine Beine. Auf Knien rutschend, brachte er sie zu den Anderen, übergab ihre Leiber den heiligen Flammen, befreite ihren Geist aus der nutzlos gewordenen Hülle. Dann jagte er los, so wie er vom Feld kam, ohne Nahrung, ohne Waffe, ohne Hemd, ohne Schuhe, aber gemeinsam mit seinem treuen Freund Gis, seinem Pferd. Er musste nur den Spuren folgen, den Pferdeabdrücken der Sieger und den Fußabdrücken der Verlierer. Er würde die Fremden finden. Er würde kämpfen. Er würde Eno, den Vater, befreien oder sterben. Und er jagte vorbei an den verkohlten Stoppeln, an der vernichteten Ernte, die jetzt gleichsam dort war, wo auch seine Mutter, seine Geschwister, sein Stamm waren, im Reich des Todes.

    Längst stand die Sonne flach zu seiner Linken. Sollte er weiter hasten oder ein Nachtlager suchen? Er war sicher schneller als eine große Schar berittener Krieger nebst ihren Gefangenen. Das Pferd brauchte Ruhe. Er wollte sie ihm gönnen, wollte auch selbst zur Ruhe kommen, die Gedanken ordnen, einen Plan schmieden. Was konnte ein Junge gegen wehrhafte Männer ausrichten? Nur durch List würde es gelingen. So lenkte er Gis in ein nahes Waldstück, ließ den treuen Gefährten auf einer kleinen Lichtung grasen, trug Äste und Laub für ein Nachtlager zusammen. Früchte und Wurzeln bildeten sein Mahl. Sein Magen wollte rebellieren. Die schrecklichen Bilder, der süßliche Geruch des Fleisches und der scharfe Gestank der verbrannten Hütten schnürten seine Eingeweide zusammen. Doch er zwang sich zu essen. Er hatte eine Aufgabe. Es ging nicht um ihn. Es ging um die Zukunft seines Stammes.

    Lange stand Falko im munteren Wasser eines Quellbachs. Die kühle Strömung streichelte seine Knöchel, beruhigte seinen aufgewühlten Geist. Den Kopf untertauchen, das reine Nass auf Brust und Rücken verteilen, wie gut das tat. Erschrocken zuckte er zusammen, als ihn etwas an der Schulter berührte. Doch es gab keinen Grund, ängstlich zu sein. Sein lieber Freund stand neben ihm. Die weichen Pferdelippen knabberten an seiner erfrischten Haut. Er schlang die dünnen Arme um den Hals des Tieres. Gemeinsam gingen sie zum Lagerplatz dieser Nacht. Gemeinsam schmiegten sie sich in das weiche Laub. Sein Gesicht ins Fell des Pferdes pressend, atmete Falko den wilden und doch so vertrauten Geruch. Und er hielt seine Tränen nicht länger zurück. Hemmungslos schluchzend weinte er sich in den Schlaf.

    Am nächsten Morgen, um die Zeit des Sonnenaufgangs, weckte der sich erhebende Gis den Jungen. Von oben herab betrachtete das schöne Tier den ihm vertrauten Menschen.

    Geh nur und stärke dich für diesen Tag, rief dieser blinzelnd und stand selbst vom gemeinsamen Nachtlager auf, als er das Pferd friedlich grasen sah. Er wandte seinen Schritt in Richtung Bach, erfrischte sich in dem herrlichen klaren Wasser. Eine Handvoll vom Vortag verbliebener Beeren musste anschließend als Frühstück genügen. Er durfte nicht trödeln, kannte zwar die Richtung, in der sie abzogen, nicht jedoch das Ziel der fränkischen Kämpfer. Und in ihm reifte ein Plan. Im Traum der letzten Nacht hatte die weise Irmina von der Überlegenheit der geistigen über die körperlichen Kräfte gesprochen, von der Überlegenheit der vielen Götter über den Einen, von der Überlegenheit freier Männer über abhängige Knechte und von dem magischen Feuer, welches im Herzen der Aufrechten brannte. Dieses Feuer würde die Welt entzünden, das Böse verzehren und das Gute befreien. Bei Wodan und Saxnot, es musste gelingen. Er würde Feuer im Lager der Franken legen. In dem entstehenden Durcheinander sollten sich der Vater und die anderen Männer seines Stammes selbst befreien können.

    Komm mein Freund, es geht weiter. Auf Gis Rücken flog Falko den Mördern hinterher. Saxnot selbst, der Gott, der ihnen allen den Namen gab, verlieh den beiden Flügel, dem Sachsenjungen und dem Sachsenpferd.

    Die Spuren folgten dem Fluss. Noch nie hatte sich Falko so weit von seinem Dorf entfernt. Doch er musste weiter. Sein Dorf gab es nicht mehr. Und die Männer, die es wieder aufbauen konnten, wurden in die Fremde geführt, auf eben diesem vor ihm liegenden Weg. Es war noch früh am Morgen. Der Flusslauf wendete sich gen Osten. Die Sonne stach in Falkos Augen, blendete ihn, ließ ihn die Gefahr zu spät erkennen. Plötzlich war er neben ihm, der Reiter auf dem schwarzen Pferd. Plötzlich war sie über ihm, diese verdammte Schlinge. Rasend schnell zog sie sich fest, schnürte seine Brust zusammen. Sie nahm ihm die Luft zum Atmen. Sie band ihn an den anderen Reiter, hielt ihn fest, während Gis weiterlief. Ein scharfer Schmerz, Falko schrie auf, dann folgte Stille.

    Er wacht auf, der Sachsenjunge erwacht.

    Falkos Schädel dröhnte. Das Geschrei der Kinder verursachte heftiges Klopfen in seinem Kopf. Die Augen konnte er kaum öffnen. Wie dicke Kissen lagen die geschwollenen Lider darüber. Und er war gelähmt, konnte weder Arme noch Beine bewegen, war ein elender Krüppel. Langsam kehrte seine Erinnerung zurück, das schwarze Pferd, der lassoschwingende Reiter, der scharfe Ruck, der harte Schlag. Er musste das Bewusstsein verloren haben. Doch einige Bruchstücke des Erlebten hatten sich in seinem Hirn festgesetzt, die starken Arme, welche seine Arme wie Eisen umklammerten, die festen Stricke, welche das Werk der starken Arme fortsetzten, der Mann in Lederkleidung. Und dann machte sich Erleichterung breit. Er war nicht gelähmt, nur gebunden. Er konnte sie nicht sehen, doch er konnte sie spüren, die rauen Seile, welche ihm Hände und Füße auf dem Rücken hielten.

    Haltet euch fern von ihm. Er könnte gefährlich sein. Die dunkle Stimme klang warm, fast freundlich, doch in Falko erzeugte sie nichts als Hass. Was habe ich euch getan? Warum haltet ihr mich auf? Ich muss meinen Vater retten, wollte er rufen. Doch sein wiedererwachender Geist gebot ihm, zu schweigen. Sollten sie sich sicher fühlen, die Fremden, ihn einfach liegen lassen. Mit etwas Zeit könnte er die Fesseln bestimmt abstreifen. Und dann ließe er sich nicht wieder einfangen. Und auf dem Rückweg würden sie sich rächen, der Vater und er. Sie waren freie Männer. Niemand machte sie ungestraft zu Gefangenen.

    Verstehst du mich? Wieder grub sich die dunkle Stimme in Falkos Ohren. Er verstand die Worte. Doch er wollte nicht antworten. So riss er nur an seinen Stricken, spürte den heißen Schmerz an den Gelenken. Schmerz bedeutet Leben. Leben bedeutet Hoffnung. Lasst mich heute Nacht allein. Morgen seid ihr mich los. Mit diesen Gedanken tröstete sich Falko, entspannte seine Muskeln, öffnete die Augen, soweit es ihm möglich war. Er lag auf der Seite. Heu hing in seinem Gesicht. Vor ihm standen mächtige braune Schuhe aus Leder, darüber Wadenwickel aus Leinen, gefolgt von einer engen blauen Hose. Noch bevor Falko seinen Kopf weiterdrehen und dem Sprecher ins Gesicht sehen konnte, packten ihn vier kräftige Hände an den Schultern, hoben ihn auf die Knie und ermöglichten ihm damit, seinen Gegenüber in ganzer Größe zu betrachten. Ein schwarzer Kittel bedeckte dessen Oberkörper, im Hüftbereich von einem prachtvollen Gürtel zusammengehalten, in dem ein überaus wertvolles Messer steckte. Sehnsüchtig blickte Falko auf das glänzende Metall. Der fremde Mann schien seinen Blick wohl zu verstehen.

    So was hättest du wohl gern? Erst die Fesseln zerschneiden und dann meine Kehle? Vergiss es. Ich werde dich an die Franken verkaufen. Sie zahlen gut, wenn man ihnen Verräter ausliefert. Und du bist doch einer dieser Verräter, dieser Wortbrüchigen, welche die wahre Lehre verschmähen und nicht von ihren Götzen lassen können. Gestern erst haben sie einen ganzen Haufen von euch hier vorbeigeführt. Vielleicht sogar deine Verwandtschaft? Rede endlich, sonst endest du wie diese Elenden. Wie eine Peitsche, so prasselten die Worte auf Falko nieder, wie eine schwere Bullenpeitsche. Er rang mit sich. Wer stand ihm da gegenüber? Vermutlich kein Franke, eher ein Überläufer. Nein, mit so jemandem wollte er nichts zu tun haben. Er spuckte dem Mann auf die Schuhe, voller Hass, der noch größer wurde, als er das Blut in seinem Speichel sah. Es hatte ihn schwer erwischt.

    So einer bist du also, nicht reden aber spucken. Warte nur, das treibe ich dir alsbald aus. Der Sprecher wandte sich an die Umstehenden. Werft ihn in den Stall. Die Tiere melden sich, wenn er zu fliehen versucht. Und kontrolliert regelmäßig seine Fesseln. In ihm brennte das Feuer des Hasses. Er darf niemals wieder freikommen.

    Die beiden Männer, die ihn auf die Knie gehoben hatten, dem Aussehen nach Bauern, schleiften ihn über den Hof zu einer runden Hütte, öffneten die Tür und warfen ihn hinein.

    Da lag er nun zwischen lauter Ziegen, die schmerzenden Glieder unbrauchbar. Wenigstens nahm die Schwellung seiner Augenlider ab. Sie hatten ihn in den Ziegenstall gesperrt. Die Tiere leckten an seinen Haaren, an seinen Fußsohlen. Wie das kitzelte. Falkos Gesicht verzog sich zu einem verkrampften Lachen. Doch seine Gedanken richteten sich auf ein anderes Ziel.

    Gis, dem lauten Ruf folgte Stille. Dann flog die Stalltür auf.

    Der Herr kann ja doch sprechen. Diese Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen und wenn ich jedes Wort aus dir herauspeitschen muss. Der Fremde durchschnitt den Strick an Falkos Sprunggelenken.

    Hoch mit dir.

    Taumelnd, von den steifen Beinen kaum getragen, stolperte Falko aus dem Stall. Der Fremde stieß ihn vorwärts, bis er vor einem Langhaus stand. Dann drückte er ihn gegen die kräftigen Holzbohlen. Wie sie dufteten. Das Haus konnte nicht alt sein. Und wie warm sie sich anfühlten, fast wie zu Hause.

    Also, stumm bist du nicht. Meine Sprache sprichst du auch. Dann antworte endlich. Wer ist Gis?

    Falko schwieg und erntete den ersten Schlag. Wie Feuer brannte es zwischen seinen Schultern. Angst ergriff ihn. Warum sollte er kämpfen? Er musste doch seinen Vater retten. So gab er das Schweigen auf.

    Gis ist mein Pferd, sagte er leise.

    Wie bitte?, flüsterte der Mann und schrie dann los. Ich hab nicht verstanden.

    Der zweite Schlag traf Falkos rechte Schulter, ließ ihn auf die Knie sinken. Gis ist mein Pferd, rief er, so laut er konnte.

    Wird doch, erschallte die zufriedene Stimme des Mannes. Dreh dich um zu mir.

    Falko bot ein grauenvolles Bild, die Haut von Blut und Dreck verschmiert, die Hose zerrissen, die Haare im Gesicht klebend, stand er zitternd vor seinem Bezwinger.

    So, du Held. Dachtest wohl, du könntest mir trotzen, mir, Bodowin dem Starken. Aber sei nicht traurig. Vor mir lagen schon ausgewachsene Männer im Staub. Wie ist dein Name?

    Falko.

    Und wer sind deine Eltern?

    Eno und Gefion.

    Und was hast du hier zu suchen?

    Falko überlegte krampfhaft. Sollte er seine Pläne preisgeben? Würden sie dann nicht undurchführbar? Ein brennender Schmerz auf Wange und Brust ließ ihn die Antwort finden. Ich will zu meinem Vater. Er wurde weggeführt.

    Bodowin begriff sofort. Hatte er es doch gleich vermutet. Der Kleine gehörte zu jenen Aufständischen, welche als Gefangene der fränkischen Kämpfer durch sein Dorf getrieben wurden.

    Dann solltest du meine Füße küssen, dass ich dich aufgehalten habe. Dort wo dein Vater hingeht, wohnt der Tod. Das kann niemand ändern, du schon gar nicht. Bodowin spuckte auf den Boden. Was für ein Schwachsinn, dachte er, während sich Falkos Augen mit Tränen füllten. Die Kraft des Jungen war verbraucht.

    Vielleicht ist es das, was ich suche, den Tod. Wenn ihr mich nicht ziehen lasst, so erschlagt mich doch. Der Satz endete in heftigem Schluchzen.

    Was sind denn das für Worte. Eben noch hat dich die Peitsche das Fürchten gelehrt und jetzt soll ich dich erschlagen? Nein, du sollst leben. Ich gebe dir eine Chance. Dein Vater ist verloren. Er gehört zu den Abtrünnigen und dafür wird er sterben. Du aber sollst leben. Du reitest wie der Teufel. Du kannst eine Menge einstecken. Deine Arme sind stark. So einen wie dich können wir hier gut brauchen. Bodowin redete sich in Rasche. Der Junge tat ihm leid, konnte doch nichts dafür, dass seine Eltern den rechten Glauben nicht annahmen. Er selbst hatte auch erst nach langem Ringen mit dem alten Leben abgeschlossen. Doch besser Vasall der Franken, als dem Tode geweiht. Der neue Gott war zu stark. Kein Wodan, kein Saxnot und auch keiner ihrer anderen Götter hielten die Fremden auf. Mit dem Fall der Irminsul fiel auch die als ewig geltende Ordnung. Kein Gott würde die Zerstörung seines größten Heiligtums zulassen, es sei denn, er ist selbst geschlagen. Und Wodan war geschlagen, und Saxnot auch. Sie waren dem Gott der Franken unterlegen. Wer leben wollte, musste sich auf die Seite des Siegers stellen. Und Bodowin wollte leben, wollte vor allem, dass die Seinen lebten. Sicher, viele ehemals Freie verloren ihr Mitspracherecht, viele wurden abhängig, fast zu Sklaven. Aber sie lebten. Von denen, die den Aufstand wagten, die Widukind folgten, von diesen Unbelehrbaren gab es dagegen immer weniger, denn ihr Begleiter war der Tod.

    Du sollst nicht sterben. Ich zeige dir ein neues Leben, hier in unserem Dorf. Ich löse jetzt deine Fessel. Versprich mir, nicht zu fliehen. Bodowin versuchte es mit freundlichen Worten. Er konnte den Jungen nicht ewig anbinden.

    Niemals. Lasst mich ziehen edler Herr. Ihr könnt mich nicht halten.

    Bist du sicher? Riskierst du den Tod deines Freundes?

    Falko ahnte sofort, was Bodowin meinte. Sein Körper fröstelte, während er ein tonloses Nein erklingen lies.

    Dann schwöre bei allem, was dir heilig ist, bei deinem Vater und deiner Mutter, dass du nicht fliehst und deine Hand nicht gegen mich oder ein Mitglied meines Hauses erhebst. Brichst du deinen Schwur, sieht Gis die Sonne nicht mehr aufgehen.

    Hin- und hergerissen zwischen seinem Schwur, den Vater zu befreien und die Familienehre wiederherzustellen auf der einen, sowie dem absoluten Unvermögen, Gis zu opfern, auf der anderen Seite, wünschte sich Falko nichts sehnlicher, als den eigenen Tod. Warum musste gerade er überleben? Er würde aufstehen, trotz der gefesselten Hände den fremden Mann, der sich Bodowin nannte, angreifen und sich von ihm erschlagen lassen. Er krallte seine Zehen bereits in die staubige Erde, da zerriss ein Blitz den heiteren Himmel. Wie gebannt starten alle nach oben. Sie waren nicht tot, die alten Götter. Und Falko deutete das Zeichen. Er sollte leben. Er war auserwählt, seinen Stamm zu befreien. Er musste auf Bodowins Forderung eingehen. Wäre er selbst erst frei, könnte er neu entscheiden. Die Götter entbanden ihn bereits jetzt davon, seinen Schwur zu halten.

    Ich schwöre, sagte er laut und kreuzte seine Finger hinter dem Rücken.

    Es hatte sich eine gute Zahl Dorfbewohner um die beiden, den Grundherren und dessen Gefangenen, versammelt. Alle Augen richteten sich auf Falko, dessen Hände Bodowin mit einem Schnitt befreite. Obwohl seine Frau abwehrend die Arme ausstreckte, fasste er das Kind an der Schulter und schob es in seine Hütte. Inzwischen war das Gewitter mit voller Kraft herangezogen. Blitze zuckten. Donner ließ die Erde zittern. Regen prasselte herab, als habe der Himmel seine Schleusen geöffnet. Bald lag der Dorfplatz verlassen, sprachen die Bauern in ihren Langhäusern über den Zorn der Götter. Bodowins Frau Astrid, seit dem ersten Zusammentreffen mit einem christlichen Missionar angetan von der frohen Botschaft, sträubte sich gegen die Aufnahme des Heiden.

    Was soll der Junge bei uns. Verkauf ihn oder lass ihn ziehen. Er bringt Unglück über dein Haus, flüsterte sie, damit es nur ihr Mann hörte.

    Du irrst, meine Liebe. Verkaufen kann ich ihn nicht. Das bringe ich nicht übers Herz. Wenn ich ihn aber ziehen lasse, wird es Unglück bringen. Unser Lehnsherr wird es erfahren und uns bestrafen. Wenn ich aus ihm jedoch einen guten christlichen Untertan mache, Karls Untertanen einen weiteren willigen Kopf hinzufüge, dann wird er mir danken und meine Privilegien nicht antasten. Bodowin schüttelte seine tropfnasse Mähne. Er gestand es sich nicht ein, doch der Junge faszinierte ihn. Und er brachte es beim besten Willen nicht übers Herz, diesen als Sklave zu verkaufen. Und auf Astrid hören, den Kerl laufen lassen? Natürlich war Astrid eine gute Frau. Sie schenkte ihm bereits fünf gesunde Kinder. Doch leider keinen Sohn. Insgeheim wünschte er sich, Falko könne diese Stelle einnehmen, die männliche Linie fortsetzen, sein Erbe antreten, sein Haus bewahren. Und Astrid kannte ihren Mann, wusste um seine Sturheit, fügte sich in das Unabänderliche. Doch sie wusste noch etwas. Der Knabe würde seinen Schwur brechen. Das las sie in seinen Augen, deren stechendes Grün katzengleich durch die Tränen leuchtete.

    Dann soll er wenigstens wie ein ordentlicher Christ gekleidet gehen, sagte sie trotzig und warf Falko einen Kittel zu. Zieh das über.

    Falko zögerte noch, doch Bodowins mach schon ließ ihn in das grobe Leinen schlüpfen. Wenn ich mich gehorsam zeige, bekomme ich vielleicht einen Gürtel und vielleicht sogar ein Messer, versuchte er, sich zu beruhigen.

    Bodowins Hütte wurde im Gegensatz zu den Langhäusern der Bauern nur von einer, seiner Familie bewohnt. Als Grundherr verfügte er in der fränkischen Ordnung über Privilegien, welche die noch im alten, auf Gleichheit freier Menschen beruhenden System lebenden Sachsen nicht kannten. Neben der Einsicht, der überlegenen militärischen Kraft nicht standhalten zu können, war es diese Besserstellung, welche Bodowin zum Untertanen des Frankenkönigs Karl machte. Er genoss seine Privilegien, versuchte jedoch stets, ein gütiger Herr und gerechter Richter zu sein. Das ging nicht immer ohne Gewalt. Auch diesen Jungen aus der Fremde musste er zunächst bändigen wie ein wildes Pferd. Doch der Kleine würde ihm eines Tages dankbar sein.

    Schon am Abend dieses ereignisreichen Tages hatte sich Falko äußerlich beruhigt, schlief sanft und friedlich auf seinem Lager aus Stroh, neben Bodowins Töchtern, seinen zukünftigen Schwestern. Astrid konnte nicht anders. Ihr Herz als Mutter begann zu sprechen. Was muss der Junge mitgemacht haben? Selbst wenn er dem Teufel verfallen wäre, so blieb er doch ein Kind. Sie zog die wärmende Decke über den Kleinen mit den zerzausten blonden Haaren, den dünnen Armen, den dreckigen Füßen. Er bleibt ohnehin nicht hier, beruhigte sie ihr Gewissen.

    Das Gewitter zog vorüber. Gegen Mitternacht riss die Wolkendecke auf und gab den Blick auf den vollen Mond frei. Astrid ging trotz der fortgeschrittenen Stunde in die kleine Kapelle, welche der heilige Johannes vor einem Jahr geweiht hatte. Ihr Gebet kam aus tiefem Herzen. Inständig bat sie um Weisheit, um Erkenntnis des rechten Weges, um Kraft, diesen Weg zu gehen und um Wohlergehen für den Gatten, die Kinder, die Bauern ihres Dorfes, den großen König Karl und für den fremden Jungen. Lieber Gott, errette ihn von der Sünde des falschen Glaubens, bewahre ihn vor Gewalttätigkeit gegen gute Christen, und lass ihn dankbar unsere Liebe annehmen.

    Als sie in die kühle Nacht trat, stand Bodowin vor ihr. Er nahm sie in die Arme und flüsterte: Es wird alles gut. Hätte ich den Jungen über unser Land ziehen lassen, wären wir schwer bestraft worden. Jetzt, wo er bei uns bleibt, haben wir nichts zu befürchten.

    Ich hoffe so sehr, dass du recht hast. Ich betete von ganzem Herzen, dass er zum wahren Glauben findet. Doch wie kann ein Kind seinen Vater aufgeben? Astrid drückte sich fest an den geliebten Mann. Er war stark. Er würde sie schützen. Doch sah er auch die Gefahr?

    Falkos Vater ist so gut wie tot. Den abtrünnigen Sachsenführern wird der Prozess gemacht. Sie haben ihr Leben verwirkt.

    Woher weißt du das?

    Kunibert erzählte es mir. Im ganzen Lande suchen fränkische Soldaten nach Aufständischen, brennen ihre Dörfer nieder, töten ihre Familien und führen ihre Edlen gefangen nach Verden, wo ein großer Prozess stattfinden soll. Bodowin glaubte den Worten Kuniberts, auch wenn er ihm sonst nicht traute, ihn gar für einen Wegelagerer hielt. Sah er doch selbst die fränkischen Truppen mit ihren Gefangenen doch durch sein Dorf ziehen.

    Falko träumte, warf sich hin und her, zog an der Decke, welche ihn und Bodowins fünf Töchter vor der nächtlichen Kälte schützte.

    Lieg gefälligst ruhig, rief Lioba, die Jüngste von ihnen und zerrte das grob gewebte Tuch wieder über ihren Körper. Falko wagte nicht mehr, sich zu bewegen. Sein Blick hing im Dunkel der Hütte. Doch seine Gedanken flogen über verbrannte Felder, streiften zwischen verkohlten Pfosten, erschauderten vor dem Stöhnen der Sterbenden. Was tue ich hier, fragte sich der Junge. Er sollte nicht ruhen, sollte dem Vater nacheilen, für seinen Stamm kämpfen und wenn es sein musste auch sterben. Darf ich meine Liebe zu meinem Pferd über die Liebe zu meinem Vater stellen? Er konnte sich nicht entscheiden. Und wie wäre es, wenn ich mich jetzt davonstehle und mit Gis in der Nacht verschwinde? Alles um ihn herum war ruhig. Der Mädchen regelmäßiger Atem sagte ihm, dass sie schliefen. Ganz vorsichtig zog Falko die Beine an den Körper, setzte sich völlig lautlos auf. Die Mädchen rührten sich nicht. Wo lag sein Kittel? Egal, er suchte nicht lange. Geschmeidig wie eine Katze schlich er zur Tür, öffnete diese Stück für Stück. Ein Geräusch, ein Knarren, Falko erstarrte zu Stein. Doch schon bald zeigte ihm leises Schnarchen, dass die Mädchen noch immer im Land der Träume weilten. Die Tür stand lediglich einen Spalt offen. Für den schlanken Körper genügte es. Endlich durchatmen, den Kopf vom Nachtwind freiblasen lassen.

    Verdammter Vollmond, jeder Umriss war zu erkennen. Doch das Dorf lag wie ausgestorben. Geduckt, sich immer wieder der eigenen Unentdecktheit versichernd, schaffte es Falko über den Versammlungsplatz bis zu dem strohgedeckten Gebäude zu gelangen, hinter dessen Mauern aus grob behauenen Stämmen die Pferde des Dorfes standen, der wertvollste Besitz, den ein Sachse haben konnte, sei er nun Christ oder Anhänger der alten Götter. Schlangengleich wand er sich hinein, atmete den betörenden Duft der edlen Tiere. Er befand sich auf verbotenem Gebiet. Doch wer durfte ihm etwas verbieten?

    Gis, leise kam der geliebte Name über Falkos Lippen.

    Plötzlich erhellte ein Licht den Raum, eine Fackel, Bodowin hielt sie in der Hand, in der Anderen ein Messer. Es funkelte im Schein der Flamme. Und es saß an Gis Kehle.

    Du trägst die Schuld, du Mörder, polterte der kräftige Mann.

    Nein!, schrie Falko und wollte sich auf Bodowin stürzen.

    Bleib stehen, wenn er nicht sterben soll! Aus Bodowins Worten war zu hören, dass er es ernst meinte. Falko wagte sich keinen Schritt weiter.

    Du hast deinen Schwur gebrochen, mein Vertrauen missbraucht. Du weißt, was das bedeutet.

    Bitte, bitte, edler Herr, tut ihm nichts. Falko fiel vor Bodowin auf die Knie. Er sah Gis endlich wieder und nun sollte dieser sterben.

    Dann sag mir, wie ich dich bestrafen soll, denn dass ich dich bestrafen muss, ist dir sicher klar. Bodowin drückte das Messer noch immer an die Kehle des festgebundenen, unruhig tänzelnden Pferdes. Es hatte die Stimme seines Besitzers, seines Freundes, seines Bruders vernommen, doch es konnte seinen Kopf nicht drehen. Der Strick war zu kurz.

    Schlagt mich, lasst mich arbeiten, gebt mir nichts zu essen, aber verschont ihn. Aus tiefster Seele flehte der Junge. Tränen liefen über seine Wangen, rührten das Herz des äußerlich grobschlächtigen, in seinem Innern jedoch weichen und verletzlichen Bodowin.

    Ich lasse ihn am Leben, deinen Freund, diesmal. Aber du solltest mich nicht erneut versuchen. Bodowin ließ die Hand mit dem Messer sinken.

    Aber ich muss doch zu meinem Vater. Wer soll ihn sonst retten? Falko nahm all seinen Mut zusammen. Warum verstand ihn der Fremde nicht? Würde er von seinem Sohn nicht das Gleiche verlangen?

    Wie willst du ihn retten? Dein Kopf fällt noch schneller als seiner, wenn du dich den Franken näherst. Er hat sein Leben verwirkt. Niemand kann ihn retten.

    So spricht nur ein Feigling. Falko setzte alles auf eine Karte. Und er traf Bodowin an einer empfindlichen Stelle.

    So, in deinen Augen bin ich also ein Feigling? Was weißt du schon? Warst du dabei, als ich mit den Franken rang? Hast du vielleicht dein Dorf gerettet, durch Verstand und List Leben erhalten? Nein, du und dein Vater, eure gesamte Sippe, ihr kämpftet blindwütig, und ihr unterlagt, ihr Dummköpfe. Und die Köpfe der Dummen werden rollen, während wir die Unsrigen zwischen den Schultern behalten. Entscheide dich für das Leben. Das erfordert wahren Mut. Die wirklichen Feiglinge sind die, welche sich stumpfsinnig opfern, nicht bereit, die neue Zeit zu akzeptieren. Bodowin schnaufte wild. Eine solch lange Rede hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gehalten. Und dann fasste er eine Entscheidung. Keiner sollte ihn einen Feigling nennen.

    Damit du siehst, dass ich mich zwar den neuen Herren beuge, jedoch niemals meinen Stolz opfere, breche ich auf nach Verden. Denn dort wird man Gericht halten über die Abtrünnigen. Ich werde deinen Vater finden und ihm zur Flucht verhelfen. Du jedoch bleibst hier. Und damit du nicht auf dumme Gedanken kommst, nehme ich Gis mit mir. Finde ich dich bei meiner Rückkehr nicht wieder, stirbt er ohne Chance auf Gnade.

    Nebelschwaden wanderten zwischen den Bäumen, streckten vorsichtig die zarten Finger zwischen die Hütten des unterworfenen Sachsendorfes, so, als fürchteten sich die alten Mächte vor dem neuen Gott und den zu ihm Bekehrten. Doch die starke Mutter Sonne kannte keine Angst. Sie schickte ihre warmen Strahlen über den Horizont, ließ die feinen Tautröpfchen des beginnenden Morgens schillern, stand als Sinnbild des Lebens sowohl für die Anhänger des neuen als auch die des alten Glaubens. Sie ging auf über Bodowin und Falko, dem kräftigen Mann und dem gefangenen Jungen, machte keinen Unterschied zwischen Gut und Böse, kündete vom steten Kreis des Lebens und weckte eine Spur Hoffnung in Falkos gequältem Herzen. Neben dem Grundherrn des Dorfes trabte er in Richtung der bewohnten Hütten, weg von Gis, weg von seinem Freund. Nasse Halme ließen seine Füße versinken, kühlten sein aufgepeitschtes Blut. Saxnot würde ihn leiten, Bodowin zu einem Werkzeug machen, dem Vater zur Freiheit verhelfen. Und wenn der Vater erst frei war, hätte er auch einen Fluchtplan für die anderen Gefangenen. Alles wird gut, frohlockte Falkos Herz. Nur zu gern wollte auch sein Kopf der Hoffnung folgen. Allein er vermochte es nicht. Doch sein Kopf unterwarf sich der Macht des Stärkeren, der Macht des Herzens. Er musste hoffen und warten, sich in Geduld üben. So schwer es ihm fiel, er schuldete es Gis, und er schuldete es seinem Stamm.

    Ganz leise öffneten die Männer die Tür zur Hütte, nicht vorsichtig genug. Astrid stand breitbeinig vor ihnen. Es bereitete ihr keine Mühe, die Ereignisse zu rekonstruieren.

    Hättest ihn gehen lassen sollen, zischte sie ihren Mann an. Bodowins Gesicht färbte sich Rot vor Zorn. Nur um seiner schlafenden Kinder willen sprach er mit unterdrückter Stimme.

    Schweig Weib und akzeptiere meine Worte. Der Knabe bleibt hier. Alles andere bringt Unglück. Dann wandte er sich an Falko.

    Wecke deine Schwestern, das letzte Wort betonte er besonders, dann geht an den Brunnen, euch zu waschen.

    Kaum waren Falko und Bodowins fünf Töchter verschwunden, fasste der bärenstarke Mann die zarte Hand seiner Frau. Er liebte sie doch. Warum verstand sie denn nicht? Ich weiß, wovon ich spreche, wenn ich sage, der Junge darf unser Dorf nicht verlassen. Die Franken lassen uns in Ruhe, weil wir unseren Göttern ab- und ihnen Treue schworen. Doch sie warten nur darauf, dass wir unseren Eid brechen.

    Dann willst du den Kleinen für immer hier behalten? Es wird dir nicht gelingen. Astrid gab sich nicht so leicht geschlagen.

    Vielleicht nicht für immer, aber doch mindestens so lange, bis zu Verden Gericht gehalten wurde. Bodowin ließ sich auf den Boden fallen, zog Astrid, deren Hand er noch immer hielt, mit sich, nahm all seinen Mut zusammen und erzählte von seinem aberwitzigen Plan, Falkos Vater zu helfen. Er wusste, dass er seine eigenen Worte Lügen strafte. Wenn bereits die Unterstützung eines sächsischen Jungen ein Vergehen war, wie viel mehr würden die Franken die Befreiung eines Abtrünnigen bestrafen. Er konnte Astrid nichts vormachen, konnte nur auf seine Macht als der Stärkere setzen.

    Es geht um meine Ehre. Mein Entschluss steht fest. Es wird alles gut werden. Damit war das Gespräch beendet.

    2. Kapitel

    Die Sonne schaffte es kaum noch, sich gegen die dicken Wolken durchzusetzen. Kräftiger Wind raubte den Bäumen die Blätter. Tagelang regnete es in Strömen. In Bodowins Dorf war man froh, die reiche Ernte bereits eingebracht zu haben. Sie hatten für den Winter gut vorgesorgt. Der Herr ihres Dorfes hingegen weilte noch immer auf seiner geheimnisvollen Mission. Allein die Angst vor schwerer Strafe hinderte andere Männer, um seine Stelle zu kämpfen. Doch wie lange würden sie noch stillhalten? Und was würde aus Astrid, wenn ihr Gemahl nicht zurückkehrte? Sie allein kannte Bodowins Pläne. Vieles konnte passieren, ja musste passieren. Warum waren Männer nur so stolz? Warum suchten sie stets die Gefahr? Doch es gab einen, der war so völlig anders. Bei dem Gedanken an ihn wurde es um Astrids Herz ganz warm.

    Bruder Johannes, schallte es laut übers Land, den Missionar schon von Weitem ankündigend, lange bevor er auf einem braunen, groß gewachsenen Pferd aus dem dichten Wald auftauchte. Die Bauern fürchteten den Mönch, beschwor er doch die schlimmsten Höllenqualen, welche jeden Sünder ereilen, ihn bis in alle Ewigkeit martern würden.

    Kommt herbei meine Schäfchen. Euer guter Hirte ist da, rief der in eine dunkelbraune Kutte gehüllte, von gutem Essen und noch besserem Trinken mit einem stattlichen Bauch gesegnete Mann. Kurze Zeit später versammelte sich das ganze Dorf im großen Langhaus, welches seit ihrer Bekehrung dem Gottesdienst vorbehalten blieb. Astrid, vermutlich die Einzige, welche dem neuen Glauben Zugang zur Tiefe ihres Herzens gewährt hatte, zog auch Falko mit sich. Wenn er schon hier lebt, dann soll er auch ein ordentlicher Christ werden, dachte sie und verabreichte dem sich sträubenden Jungen eine kräftige Ohrfeige.

    Gehorsam ist oberste Christenpflicht, sagte sie dabei. Falko musste ihr wohl oder übel folgen. Und bald schon wich seine Abneigung der Neugierde. Interessiert sah er sich in dem mit Fackeln erleuchteten, aus groben Stämmen gebauten, strohgedeckten Haus um. Viele Dorfbewohner hatten sich bereits versammelt, den Blick zu einem riesigen, von der Decke hängenden Kreuz gerichtet, unter dem ein schwerer Tisch stand, gedeckt mit edlem weißen Stoff, darauf eine Schale und ein Krug. Astrid besaß als Frau des Grundherren das Recht auf die erste Reihe. Genau dorthin ging sie, Falko noch immer an der Hand haltend. Dieser fühlte sich bald wieder unwohl. Die ängstliche Stille bedrückte ihn. Im Fackelschein tanzten Schatten wie Geister, schnitten grässliche Fratzen, griffen nach den gesenkten Köpfen der Wartenden. Endlich begann der Kuttenmann zu sprechen. Doch was war das für eine Sprache? Falko verstand kein Wort, merkte sich nur den letzten Satz. In nomine patris et filii et spiritus sancti. Amen.

    Der Mönch hielt dabei die Arme beschwörend in die Höhe. Er hatte die ganze Zeit mit dem Gesicht zum Kreuz, den Versammelten seinen Rücken zukehrend, gesprochen. Jetzt ging er feierlich hinter den Tisch, drehte er sich um, nahm Brot aus der Schale und sprach: Dies ist der Leib unseres Herrn Jesus, der für euch hingegeben wurde, nehmet und esset alle davon.

    Dann nahm er den Krug und sprach weiter: Und dies ist sein Blut, das für euch vergossen wurde, zur Vergebung eurer Sünden. Kommet und trinket alle davon.

    Nacheinander traten die Sachsen an den Tisch, ließen sich ein Stück Brot in den Mund stecken und tranken aus dem Krug. Falko musste sich fast übergeben. Der Gedanke, eines Menschen Fleisch zu essen und eines Menschen Blut zu trinken, ließ ihn erschaudern. Doch Bruder Johannes schien keiner, dem man sich straflos widersetzte. So fügte sich Falko in das unabänderlich Scheinende. Er wusste ja nicht, dass er keinen Anteil am Abendmahl hätte haben dürfen. Und Johannes wusste nichts von der fehlenden Taufe des Kindes. Doch während Johannes, verklärt ob des großen Zuspruchs der ehemaligen Heiden, seine Gemeinde zufrieden lächelnd entließ, rannte Falko, von Krämpfen gewürgt, hinaus in den Wald, entleerte seinen Magen bis auf den letzten Krümel, spie alles aus, was ihm zuvor eingeflößt wurde. Nein, er war kein Kannibale. Niemals würde er den neuen Glauben annehmen. In seiner Not rief er zu Wodan, schrie er zu Saxnot. Doch es antworteten nur die Vögel des Waldes, oder? Erschrocken fuhr Falko herum. Eine Hand lag auf seiner Schulter, Evelinas Hand. Er wusste nicht, wie lange Bodowins älteste Tochter schon hinter ihm stand.

    Es bedurfte vieler Worte der Fünfzehnjährigen, bis sich Falkos Atem beruhigte. Evelina ging sogar soweit, ihre eigene Mutter bloßzustellen, um Falkos Vertrauen zu gewinnen. Johannes ist sowohl ein Hexer, als auch ein Mann wie jeder andere. Seine Worte klingen schön, aber sie kommen nicht aus seinem Herzen. Sein Herz trägt er zwischen den Beinen. Er lebt seinen Trieb wie viele Männer.

    Evelina kauerte vor Falko, der ihr erstaunt in die Augen sah.

    Nein, nein, er ist kein Hexer. Und er verdammt die Lust des Fleisches. Er ist mit seinem Heiland verheiratet, so eng, dass er ihn frisst und sein Blut trinkt. Falko schüttelte sich angeekelt.

    Kein Hexer? Was weißt du schon davon. Er hat sogar meine Mutter verhext. Jetzt, wo alle im Dorf ehrfürchtig seiner Predigt gedenken, begrapscht er ihre Brüste mit seinen dreckigen Pfoten und steckt seine Geilheit noch wo ganz anders hin. Die junge Frau bereute ihre Worte, kaum dass sie ausgesprochen waren. Dennoch fühlte sie sich erleichtert. Noch nie hatte sie mit jemandem über ihre schreckliche Beobachtung sprechen können. Der fremde Junge schien ihr der erste vertrauenswürdige Mensch, war er doch in einer ähnlich verzweifelten Situation. Falko jedoch, beschützt und behütet im Hause eines angesehenen freien Mannes aufgewachsen, konnte sich nicht vorstellen, was zwischen Männern und Frauen alles passierte. Er kannte nur die Liebe und Treue seiner Eltern, hatte sich keine Gedanken gemacht, wenn sein Vater und seine Mutter gemeinsam unter der Decke lagen, der Vater keuchte, die Mutter mühsam ein Stöhnen unterdrückte. Sein eigenes Lager befand sich abseits davon. Er konnte die Eltern bei ihrem Liebesspiel nicht sehen. Umso erstaunter vernahm er Evelinas Worte. Selbst wenn ihre Mutter bei einem anderen lag, wie konnte die Tochter nur darüber sprechen. Es musste eine Lüge sein, ein Versuch ihn zu beschwichtigen.

    Ich glaube dir nicht. Falko zog ein trotziges Gesicht. Weibergeschwätz, sollte ihn nur ablenken. Er

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1