Das geborgte Leben der Viktoria von R.
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About this ebook
Die Arbeit fasziniert und erschöpft ihn gleichermaßen und beansprucht ihn vollständig.
Allein auf einige wenige alte Fotografien und die bruchstückhaften Erinnerungen seiner Auftraggeberin angewiesen, erfindet er ihr Leben neu:
Viktorias Kindheit in Hannover und Bad Rehburg, dem damaligen "Madeira des Nordens", in dem der Hannoversche Adel kurte und die Familie von Riefenstein regelmäßig den Sommer verbrachte, den strengen Vater und die gefühlsarme Mutter, ihre beiden Geschwister und die liebevolle Gouvernante, die Viktoria einfühlsam begleitet, als sie sich in einen jungen Leutnant unsterblich verliebt.
Und Viktorias Leben in einem Göttinger Höheren Töchterheim, ihre erste Begegnung mit dem Nationalsozialismus, der auch das behütete und einst so leichte Leben Viktorias zu beeinflussen beginnt, und die Begegnung mit einem jungen Theologiestudenten, die sie die erste Liebe vergessen lässt.
Erst im Laufe seiner Arbeit erkennt der Erzähler die Fragwürdigkeit seines Unterfangens und seine Verantwortung, als er versucht, seine Geschichte mit der historischen Realität in Einklang zu bringen.
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Das geborgte Leben der Viktoria von R. - Klaus Melcher
Kapitel 1
Die Idee war an einem Samstagabend geboren worden, etwas zwischen elf Uhr und Mitternacht.
Die letzten Tropfen der zweiten Flasche Rotweins waren geleert und gerecht auf die Gläser verteilt. Wir hatten den kümmerlichen Inhalt unserer Portemonnaies auf den Tisch geschüttet, in der vergeblichen Hoffnung, noch eine dritte Flasche bestellen zu können.
Er reichte nur noch zu einem Beutel Erdnusskerne, einem gesalzene Mandeln und einem kleinen Trinkgeld für die nette Serviererin.
Trotzdem waren wir zufrieden, lachten viel und manchmal auch etwas laut, so dass andere Gäste schon mal missbilligend herüber sahen.
Benjamin, der Älteste von uns und nicht gerade besonders erfolgreicher Lokalreporter, fragte aus irgendeiner Laune heraus, was wir wohl anders machen würden, wenn wir noch einmal beginnen könnten.
Wir lachten, doch er schien es wirklich ernst zu meinen.
Thomas, der sich, Frau und Kind mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielt und seine sicheren Bezüge über Harzt IV bezog, wollte alles so lassen, wie es war. Etwas Besseres könnte ihm gar nicht passieren, sagte er. Das Geld wäre zwar knapp und sie müssten sich einschränken, aber sie wären frei. Sie lebten wie die Vögel in der Bibel: „Sie säen nicht, und sie ernten nicht, und der Herr im Himmel ernähret sie doch."
Nur eins wollte er ändern: Ein Kind wäre ihm viel zu wenig. Man müsste mehrere Kinder haben, wäre auch für die Kinder besser, wenn sie mit Geschwistern aufwüchsen. Außerdem, er machte sein Denkergesicht, das ihm immer den Eindruck besonderer Seriosität verlieh, außerdem wären viele Kinder auch finanziell durchaus attraktiv. Er hätte es mal genau durchgerechnet. Gerne hätte er uns seine Berechnung in allen Einzelheiten erläutert, doch wir wurden ungeduldig und nickten August zu.
August - ein schrecklicher Name, und August litt tatsächlich unter ihm - war eigentlich der einzige von uns, der wirklich Geld verdiente. Er verkaufte Möbel in einer großen Möbelkette.
Nicht, dass er etwa die Küchenabteilung geleitet hätte oder eine andere Fachabteilung, dafür fehlte ihm das Wissen, auch Polstermöbel oder Betten hatte man ihm nicht anvertraut, er war der Herr – oder besser: einer der Herren – über Kleinmöbel, Hocker, kleine Tischchen und Kommoden, alle nicht teurer als einhundert Euro.
Und schließlich kam ich.
Wenn ich ehrlich bin, ich gehörte auch in die Rubrik: Gescheiterte Existenzen.
Was hatte ich bisher geleistet?
Kurz vor dem Abi hatte ich die Schule geschmissen.
„Was soll ich mit all dem Müll, den die in uns hineinpressen?", hatte ich meinen Vater gefragt, und er hatte zunächst ganz entgeistert gefragt, ob das etwa mein Ernst wäre, dann aber widerwillig eingewilligt, als er meine Entschlossenheit sah.
„Du wirst es später bereuen", hatte er mir prophezeit.
„Das muss ich mit mir selbst ausmachen!", hatte ich geantwortet und mich ungeheuer cool gefühlt.
„Nicht, dass du nachher ankommst und willst wieder auf die Schule!"
Ich versuchte mich in allen möglichen Lehren, Steuerfachgehilfe, Kaufmann in einem Fotogroßhandel, bis ich dann doch, überall gescheitert, das Abi machen wollte, und alle Einwände meiner Eltern zerstoben. Der Junge war zur Vernunft gekommen, nur das zählte.
Und tatsächlich machte ich das Abi, mit einjähriger Verspätung zwar, aber immerhin. Ich zog das Studium der Sonderschulpädagogik durch. Nur die Prüfung nicht so ganz. Die hatten etwas gegen mich.
Dann war ich bei einem Autohändler. Als das auch nicht ging, wechselte ich zu einem Pharmakonzern als Pharmareferent, und nun bin ich Privatdetektiv. Das heißt, ich bin es nicht, ich nenne mich nur so.
Für meine Berufswahl sprach einiges: Ich brauchte nicht unbedingt eine Ausbildung, wenn ich es nicht auf meinem Briefkopf erwähnte. Ich brauchte auch keine teure Ausrüstung. Zwei Telefone, eins Handy und eins Festnetz, ein Fotoapparat, ein Notebook und ein Drucker reichten aus.
Ein Auto wäre ganz hilfreich gewesen, aber mit Öffis und Fahrrad war man beweglicher. Und manchen Kunden, ich nannte sie lieber ‚Klienten’, schien es seriöser und vor allem authentischer als ein Auto. Dass ich kein Geld für ein Auto hatte, brauchte ich ja nicht zu sagen.
Tatsächlich kam auch bald der erste Auftrag, war nicht viel, aber immerhin ein Auftrag, der mir zeigte, dass der eingeschlagene Weg der richtige war.
Ich musste nur Geduld haben, der Durchbruch lag greifbar vor mir.
Dass es etwas länger dauerte, als ich erhofft hatte, war sicher nicht meine Schuld. Manchmal gibt es Widrigkeiten im Leben, die man geduldig ertragen muss, und ich war darin geübt.
Als ich an einem Samstag müde nach einer fast durchzechten Nacht nach Hause kam, empfing mich mein blinkender Anrufbeantworter.
Normalerweise stellte ich ihn an, während ich ins Wohnzimmer ging, meine Jacke aufs Sofa warf, mir aus der Bar ein Glas nahm und einen nicht zu kleinen Brandy einschenkte.
Heute hatte ich keine Lust. Ich war zu müde.
Und dann ließ mir dieses verdammte flackernde Licht doch keine Ruhe.
Ob ich noch einen Termin frei hätte, fragte eine ältere Frauenstimme und gab eine Telefonnummer an, mit der Bitte um Rückruf.
Gerne hätte ich sofort angerufen, doch es war lange nach Mitternacht und so bezwang ich mich. Ich ging schlafen.
Morgen war auch noch ein Tag.
Die alte Dame, sie war wohl wirklich alt, und eine Dame schien sie auch zu sein, so kultiviert wie sie sprach, hatte über irgendeine Bekannte von mir gehört und würde sich freuen, wenn ich sie in einer sehr vertraulichen Angelegenheit aufsuchen würde.
Viktoria Freiin von Riefenstein, empfing mich in ihrer Wohnung im dritten Stock eines exklusiven Neubaus am Südufer des Steinhuder Meeres.
Es war eine der Wohnungen, um die ich die Eigentümer immer beneidete, mit einem fantastischen Blick über das ganze Meer, bis weit über den Wilhelmstein hinaus.
„Ja", sagte Frau von Riefenstein, nachdem sie mich über den Flur in ihr Wohnzimmer geführt hatte.
„Sehen Sie sich in aller Ruhe um, während ich uns ein wenig Gebäck zum Tee hole. Sie trinken doch Tee?"
Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie, und ich hörte sie in der Küche hantieren.
Das Wohnzimmer schätzte ich auf etwa vierzig Quadratmeter. Die dem Meer zugewandte Wand war total verglast und durch raumhohe Glastüren von dem großen Balkon getrennt, der sich über die gesamte Breite des Wohnzimmers erstreckte. Vor ihnen hingen duftige Gardinen mit zarten Blumenbouquets, die sich in leicht veränderter Form auf den Tapeten wiederholten.
Einige Scherenschnitte, vorwiegend Frauen- und Männerportraits in meist ovalen Rahmen, hingen über einem kleinen Sekretär gleich neben der rechten Balkontür.
An ihn schloss sich eine Anrichte an, ebenfalls wie alle anderen Möbel in diesem Raum selbst für mich unverkennbarer Biedermeier. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Vitrinenschrank, in dessen verglastem Mittelteil Frau von Riefenstein altes Porzellan präsentierte.
Die Essgruppe mit ihren sechs Stühlen und dem doch recht großen Tisch schien mir für eine einzelne Person sehr üppig bemessen.
Die wichtigsten Möbel in dem Raum schienen ein Sofa und drei bequeme Sessel zu sein, die sich um einen runden Tisch gruppierten.
Den Tisch hatte Frau von Riefenstein bereits eingedeckt.
„Sie fragen sich sicher, was ich von Ihnen will."
Ohne dass ich es bemerkt hatte, war sie wieder eingetreten, hatte eine Schale mit Keksen in die Mitte des Tisches gestellt und ging gerade mit der ersten Tasse zum Samowar, der auf der Anrichte stand.
Es war ein älteres Gerät, noch nicht elektrifiziert, sondern mit Holzkohle beheizt, das im Laufe der vielen Jahre, die es seinen Dienst getan hatte, wohl oft geputzt worden war. An einigen Stellen war die Silberauflage schon abgerieben und das Rot des Kupfers schimmerte durch.
„Ist es so recht?", fragte sie, als sie die Tasse zur Hälfte mit starkem, dunklem Tee gefüllt hatte und jetzt siedendes Wasser aus dem Kessel zugab.
Sie schien meine Zustimmung vorauszusetzen, denn sie stellte die Tasse auf den Couchtisch.
Als sie auch ihre Tasse gefüllt hatte, setzten wir uns einander gegenüber auf die erstaunlich bequemen Sessel.
Andächtig rührte sie um, gab vorsichtig einen Teelöffel braunen Zucker zu und probierte.
Nachdem sie die Tasse wieder abgesetzt hatte, sah sie mich an, als hätte sie mich bisher noch gar nicht bemerkt.
„Habe ich Ihnen eigentlich schon gesagt, warum ich Sie hergebeten habe? Nein?"
Sie machte eine Pause und schien über irgendetwas nachzudenken.
„Wissen Sie, ich bin in letzter Zeit etwas vergesslich geworden", setzte sie nach einer Weile fort. „Deshalb muss ich mir Klarheit verschaffen, bevor ich alles vergessen habe."
Ich verstand überhaupt nichts und musste wohl auch so ausgesehen haben, denn sie lachte plötzlich ein helles, fast glockenreines und dabei sanftes Lachen, wie ich es noch nie gehört hatte.
„Darf ich Sie bitten, die obere rechte Tür der Vitrine zu öffnen?"
Es waren nur drei Schritte zu dem Schrank, und ganz sicher hätte sie die auch geschafft, denn dass sie gehbehindert war, war mir bisher nicht aufgefallen. Aber ich folgte ihrer Bitte sofort, denn schließlich wollte ich den Auftrag haben, welcher Art er auch sein würde.
Ich setzte also die Tasse ab und erhob mich, ging die drei Schritte zum Vitrinenschrank und öffnete die rechte obere Tür neben dem Glasteil.
In dem Fach herrschte eine penible Ordnung. Auf dem obersten Regalboden waren kleine bunte Pappschachteln übereinander gestapelt. Den mittleren nahmen lediglich zwei sehr viel größere Kartons ein, beide mit Blümchenstoff bezogen, der linke mit zarten rosa Röschen, der rechte mit blauen Vergissmeinnichtsträußen.
Und unten standen kleine quadratische Bücher, aufwändig in Seide gebunden, mit und ohne Bändchen zum Verschließen, Poesiealben, wie mir schien.
„Ich glaube, wir beginnen mit dem blauen Karton", sagte sie.
Ich nahm ihn heraus und stellte ihn auf den Tisch. Frau von Riefenstein schob die Keksschale zur Seite und zog die breite rote Schleife auf, mit der der Karton verschlossen war.
Er war bis zur Hälfte mit Fotos gefüllt, die ungeordnet hineingeworfen worden waren.
„Sehen Sie, junger Mann, das ist es, was mir Sorgen macht. Diese Unordnung! Ich hasse Unordnung. Sonst schaffe ich es ja noch, Ordnung zu halten, aber nicht in meiner Erinnerung. Da läuft alles durcheinander, vermischt sich miteinander, und manchmal frage ich mich wirklich, sie verstummte plötzlich, als wagte sie nicht auszusprechen, was sie gerade dachte, „wer ich bin. Haben Sie das schon mal erlebt? Aber Sie sind ja noch jung. Da hat man noch die Übersicht über sein Leben.
Wie gedankenverloren kramte sie in dem Karton herum, nahm dieses oder jenes Bild in die Hand, hielt es dicht an die Augen, legte es wieder zurück, bis sie endlich gefunden hatte, wonach sie zu suchen schien.
„Wie alt, meinen Sie, ist dieses Mädchen?"
Sie reichte mir das Foto über den Tisch.
Es war sehr alt, schon etwas fleckig.
Ein hübsches junges Mädchen, wohl zwischen fünfzehn und siebzehn Jahre alt, stand kerzengerade an eine Säule gelehnt und schützte sich vor der Sonne mit einem zierlichen weißen Sonnenschirm. Es trug einen dunklen knöchellangen Rock und eine hochgeschlossene weiße Bluse.
„Das war ich", sagte sie. Ihre Frage hatte sie bereits vergessen.
Sie kramte in der Schachtel weiter, schien langsam ungeduldig zu werden, bis sie endlich ein Bild gefunden hatte, das sie die ganze Zeit gesucht hatte.
„Und das ist ER."
In der Hand hielt sie eine kolorierte Daguerreotypie.
Sie stellte einen gut aussehenden jungen Mann in Uniform dar. Auch er hielt sich so kerzengerade, als hätte er einen Besenstiel verschluckt, sein Blick war in die Ferne gerichtet, sein kleiner Oberlippenbart war gewichst und ordentlich gezwirbelt.
„Das war ER", wiederholte Frau von Riefenstein ganz leise.
Ich legte beide Aufnahmen vorsichtig beiseite. Nicht, dass ich befürchtete, sie zu beschmutzen, denn über meine Tollpatschigkeit hat sich bisher noch niemand beklagen müssen, aber es verlangte einfach die Achtung vor diesen alten Aufnahmen, deren persönlicher Wert sicher unermesslich war. Sie waren unersetzbare Unikate.
„Wer war ER?", fragte ich nach einer Weile, denn ich wollte Frau von Riefensteins Andacht nicht stören – ja, so würde ich diesen eigentümlichen Zustand bezeichnen, in dem sie gerade befand.
Sie hatte immer noch die Augen halb geschlossen und lächelte auf eine eigenartige Weise.
Langsam öffnete sie wieder die Augen und sah mich an.
„Das war mein Liebster. Das war mein Verlobter", sagte sie, und ihre Stimme klang jetzt ganz fest.
„Und Sie sind der Erste, der das erfährt", fügte sie hinzu und lächelte spitzbübisch.
„Wollen Sie mir etwas darüber erzählen?", fragte ich.
Ich wollte nicht indiskret sein und um Himmelswillen nicht voyeuristisch erscheinen, aber wenn ich mich mit der Angelegenheit, von der ich immer noch keine klarere Vorstellung als am Anfang hatte, beschäftigen sollte, dann brauchte ich doch einige Informationen.
Sie schien zu überlegen.
„Wir haben uns im Kurpark kennen gelernt", antwortete sie endlich.
„Ich war mit meinen Eltern und meiner Schwester Friederike da und unserer Gouvernante natürlich. Die war eigentlich ganz ordentlich, nicht so streng wie unsere erste."
Wieder schien sie in ihren Erinnerungen zu versinken.
Langsam wurde der Himmel über dem Steinhuder Meer dunkel. Die Insel Wilhelmstein verlor ihre Konturen, die letzten Segelboote hatten an ihrem Steg angelegt oder fuhren noch zum Nordufer, von den Tretbooten war keins mehr auf dem Wasser zu sehen.
Heimlich sah ich auf die Uhr.
Zeit auch für mich aufzubrechen, wenn ich meinen Bus nach Wunstorf noch erreichen wollte.
„Warten Sie noch einen Augenblick, bitte."
Sie legte mir die Hand auf den Arm, als wollte sie mich festhalten, aber nicht Besitz ergreifend, eher beschwichtigend.
„Etwas muss ich Ihnen noch erzählen, bevor Sie gehen. Er hat mich nicht angesprochen, aus Angst, mich zu kompromittieren. Ich habe es anders erfahren, dass er sich in mich verguckt hatte."
Sie machte ein nachdenkliches Gesicht, und inzwischen wusste ich, sie dachte nach, versuchte sich zu erinnern, doch es fiel ihr einfach nicht ein, wie sie sich kennen gelernt hatten.
Kapitel 2
Viktoria Freiin von Riefenstein, empfing mich in ihrer Wohnung im dritten Stock eines exklusiven Neubaus am Südufer des Steinhuder Meeres.
Es war eine der Wohnungen, um die ich die Eigentümer immer beneidete, mit einem fantastischen Blick über das ganze Meer, bis weit über den Wilhelmstein hinaus.
„Ja", sagte Frau von Riefenstein, nachdem sie mich über den Flur in ihr Wohnzimmer geführt hatte.
„Sehen Sie sich in aller Ruhe um, während ich uns ein wenig Gebäck zum Tee hole. Sie trinken doch Tee?"
Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie, und ich hörte sie in der Küche hantieren.
Das Wohnzimmer schätzte ich auf etwa vierzig Quadratmeter. Die dem Meer zugewandte Wand war total verglast und durch raumhohe Glastüren von dem großen Balkon getrennt, der sich über die gesamte Breite des Wohnzimmers erstreckte. Vor ihnen hingen duftige Gardinen mit zarten Blumenbouquets, die sich in leicht veränderter Form auf den Tapeten wiederholten.
Einige Scherenschnitte, vorwiegend Frauen- und Männerportraits in meist ovalen Rahmen, hingen über einem kleinen Sekretär gleich neben der rechten Balkontür.
An ihn schloss sich eine Anrichte an, ebenfalls wie alle anderen Möbel in diesem Raum selbst für mich unverkennbarer Biedermeier. An der gegenüberliegenden Wand stand ein Vitrinenschrank, in dessen verglastem Mittelteil Frau von Riefenstein altes Porzellan präsentierte.
Die Essgruppe mit ihren sechs Stühlen und dem doch recht großen Tisch schien mir für eine einzelne Person sehr üppig bemessen.
Die wichtigsten Möbel in dem Raum schienen ein Sofa und drei bequeme Sessel zu sein, die sich um einen runden Tisch gruppierten.
Den Tisch hatte Frau von Riefenstein bereits eingedeckt.
„Sie fragen sich sicher, was ich von Ihnen will."
Ohne dass ich es bemerkt hatte, war sie wieder eingetreten, hatte eine Schale mit Keksen in die Mitte des Tisches gestellt und ging gerade mit der ersten Tasse zum Samowar, der auf der Anrichte stand.
Es war ein älteres Gerät, noch nicht elektrifiziert, sondern mit Holzkohle beheizt, das im Laufe der vielen Jahre, die es seinen Dienst getan hatte, wohl oft geputzt worden war. An einigen Stellen war die Silberauflage schon abgerieben und das Rot des Kupfers schimmerte durch.
„Ist es so recht?", fragte sie, als sie die Tasse zur Hälfte mit starkem, dunklem Tee gefüllt hatte und jetzt siedendes Wasser aus dem Kessel zugab.
Sie schien meine Zustimmung vorauszusetzen, denn sie stellte die Tasse auf den Couchtisch.
Als sie auch ihre Tasse gefüllt hatte, setzten wir uns einander gegenüber auf die erstaunlich bequemen Sessel.
Andächtig rührte sie um, gab vorsichtig einen Teelöffel braunen Zucker zu und probierte.
Nachdem sie die Tasse wieder abgesetzt hatte, sah sie mich an, als hätte sie mich bisher noch gar nicht bemerkt.
„Habe ich Ihnen eigentlich schon gesagt, warum ich Sie hergebeten habe? Nein?"
Sie machte eine Pause und schien über irgendetwas nachzudenken.
„Wissen Sie, ich bin in letzter Zeit etwas vergesslich geworden", setzte sie nach einer Weile fort. „Deshalb muss ich mir Klarheit verschaffen, bevor ich alles vergessen habe."
Ich verstand überhaupt nichts und musste wohl auch so ausgesehen haben, denn sie lachte plötzlich ein helles, fast glockenreines und dabei sanftes Lachen, wie ich es noch nie gehört hatte.
„Darf ich Sie bitten, die obere rechte Tür der Vitrine zu öffnen?"
Es waren nur drei Schritte zu dem Schrank, und ganz sicher hätte sie die auch geschafft, denn dass sie gehbehindert war, war mir bisher nicht aufgefallen. Aber ich folgte ihrer Bitte sofort, denn schließlich wollte ich den Auftrag haben, welcher Art er auch sein würde.
Ich setzte also die Tasse ab und erhob mich, ging die drei Schritte zum Vitrinenschrank und öffnete die rechte obere Tür neben dem Glasteil.
In dem Fach herrschte eine penible Ordnung. Auf dem obersten Regalboden waren kleine bunte Pappschachteln übereinander gestapelt. Den mittleren nahmen lediglich zwei sehr viel größere Kartons ein,